KAPITEL 8

Die Stunde der Amateure

Die Europäer waren der Meinung, dass sie einem talentierten
jungen Amateur beim Üben mit dem Bumerang zusahen,
bis sie zu ihrem Entsetzen erkannten, dass er sich selbst ausgeschaltet hatte.
Sie waren bestürzt darüber, dass man einen so unerfahrenen Menschen
mit einer so tödlichen Waffe spielen ließ.

DEAN ACHESON ÜBER DIE ROLLE PRÄSIDENT KENNEDYS WÄHREND DES
FIASKOS IN DER SCHWEINEBUCHT, JUNI 19611

 

 

Ich begreife Kennedy nicht. Ist er wirklich so unentschlossen?

PARTEICHEF CHRUSCHTSCHOW ZU SEINEM SOHN SERGEJ NACH DER
SCHWEINEBUCHT-AFFÄRE2

WEISSES HAUS, WASH I NGTON, D.C.
FREITAG, 7. APRIL 1961

Es war der erste warme Frühlingstag in Washington, die ideale Temperatur für Präsident Kennedys Spaziergang durch den Rosengarten des Weißen Hauses mit Dean Acheson. Kennedy hatte das Treffen vorgeschlagen und Acheson erklärt, dass er dringend Rat brauche.3 Kennedy ging zwar in kurzen Ärmeln, doch Acheson blieb wie gewohnt bei dem förmlicheren Jackett samt Fliege. Als einziges Zugeständnis an das warme Wetter hatte er die Melone abgenommen und trug sie unter dem Arm.

Der ehemalige US-Außenminister nahm an, dass Kennedy ihn zu den laufenden NATO- oder Berlin-Projekten befragen würde, weil er am nächsten Tag nach Europa flog, um die Bündnispartner über seine Fortschritte zu informieren. 4 Kennedy sagte, er habe noch eine andere, dringendere Sache auf dem Herzen. »Kommen Sie doch mit in den Garten, und setzen wir uns in die Sonne«, meinte der Präsident und führte Acheson zu einer Bank. Er setzte sich neben ihn. »Wissen Sie etwas über diesen Kuba-Vorschlag?«

Acheson gestand, dass er nicht einmal wusste, dass es einen Vorschlag zu Kuba gab.

Also schilderte Kennedy in groben Zügen den Plan, über den er derzeit nachdachte. Eine Truppe aus 1200 bis 1500 Exilkubanern – Soldaten, die von der CIA in Guatemala ausgebildet worden waren – sollte auf der Insel landen. Aus der Luft sollten sie von B-26-Bombern unterstützt werden, die ebenfalls von Exilkubanern geflogen wurden. Dahinter steckte der Gedanke, dass 7000 Rebellen und Gegner Castros, die sich bereits auf der Insel befanden, einen Aufstand anzetteln würden, sobald die Exilkubaner einen Brückenkopf eingerichtet hatten. Ohne dass es nötig wäre, amerikanische Soldaten oder Flugzeuge einzusetzen, würden die Vereinigten Staaten auf diese Weise Fidel Castro stürzen und durch ein freundlich gesinntes Regime ersetzen. Der Plan war ursprünglich von der Eisenhower-Administration ausgeheckt worden, aber in den ersten Wochen von Kennedys Amtszeit hatte man ihn überarbeitet. Er wurde durchweg von der Führungsriege der US-Geheimdienste, von Ausbildern und Planern unterstützt.

Acheson machte keinen Hehl aus seiner Bestürzung. Er sagte, er hoffe, dass der Präsident diesen verrückten Plan doch nicht ernst meine.

»Ich weiß nicht, ob es mir ernst ist oder nicht«, sagte Kennedy. »Aber so lautet der Vorschlag, und ich denke darüber nach, in diesem Sinn ist es ernst. Ich habe mich noch nicht entschieden, aber ich ziehe ihn sehr stark in Betracht. «

In Wahrheit hatte der Präsident für den Plan schon einen Monat zuvor, am 11. März 1961, grünes Licht gegeben. Er hatte die letzten Details am 5. April unterschrieben, zwei Tage vor dem Gespräch mit Acheson, und nur zwei wichtige Aspekte geändert: Den Ort der Landung hatte er verlegt, damit die Invasion nicht zu viel Aufsehen erregte, und er hatte dafür gesorgt, dass ein geeigneter Landeplatz für die taktische Luftunterstützung in der Nähe lag. Ansonsten war die »Operation Mongoose« (Manguste) zum großen Teil der Plan, den die Eisenhower-Administration Kennedy hinterlassen hatte.

Darauf meinte Acheson, er brauche nicht zuerst die Rating-Agentur »Price Waterhouse anzurufen«, um zu der Ansicht zu gelangen, dass Kennedys 1500 Kubaner keine Entsprechung zu Castros 25 000 Kubanern seien. Er warnte Kennedy, dass eine derartige Invasion verheerende Folgen für Amerikas Ansehen in Europa und für die Beziehungen zu den Sowjets mit Blick auf Berlin haben könne, wo sie aller Wahrscheinlichkeit nach ihrerseits mit einem aggressiven Akt antworten würden.5

Aber gerade wegen Berlin legte Kennedy ja großen Wert darauf, dass auf den ersten Blick keine amerikanischen Truppen beteiligt waren. Er wollte den Sowjets auf keinen Fall einen Vorwand für ein ähnliches Störmanöver in Berlin bieten.

Die beiden Männer unterhielten sich peinlich berührt noch eine Weile, bis Acheson den Rosengarten verließ, ohne dass er mit dem Präsidenten über etwas anderes außer Kuba gesprochen hätte. Bei der Abreise nach Europa verdrängte Acheson die Kuba-Geschichte, weil sie ihm »als eine derart abstruse Idee erschien«.6

Er war zuversichtlich, dass sich die besonneneren Köpfe durchsetzen würden.

RHÖNDORF
SONNTAG, 9. APRIL 1961

Bundeskanzler Konrad Adenauer war inzwischen so unsicher, wie er sich Kennedy gegenüber verhalten sollte, dass er seinen Freund Dean Acheson vor seinem Besuch in den Vereinigten Staaten zu sich nach Bonn bestellte, um mit ihm über die Strategie zu sprechen.

Scharenweise schlenderten deutsche Bürger beim sonntäglichen Spaziergang unter den blühenden Obstbäumen den Rhein entlang, während Adenauer, längst nicht so entspannt, mit Acheson in seinem Mercedes vom Flughafen zu sich nach Hause raste. Der Kanzler genoss schnelles Fahren in der Luxuslimousine. Acheson hingegen hielt sich an seinem Sitz fest, als Adenauers Chauffeur beschleunigte, damit der vorausfahrende Militärjeep ihn nicht abhängte.

Ein Soldat saß auf dem offenen Heck des Jeeps und gab mit ausgestreckter Kelle Anweisungen. Wenn der Soldat die Kelle nach rechts hielt, war das ein Zeichen für Adenauers Fahrer, dass der Jeep über den Gehweg am Verkehr vorbeifahren werde. Wenn der Soldat mit der Kelle nach links zeigte, dann hieß das, dass der Fahrer den Gegenverkehr kurzerhand das Fürchten lehrte, weil er nach dieser Seite ausscheren wollte. Acheson verzog später verächtlich das Gesicht über Adenauer und bemerkte: »Der alte Mann amüsierte sich einfach köstlich.«

Ein paar Nachbarn Adenauers hatten sich versammelt und klatschten bei der Ankunft des legendären Politikergespanns am Haus des Kanzlers in Rhöndorf am Rhein Beifall. Der fünfundachtzigjährige Adenauer warf einen Blick auf die Zickzacktreppe, die gut dreißig Meter von der Straße aufwärts bis zur Haustür führte, und sagte zu seinem siebenundsechzigjährigen Gast: »Mein Freund, Sie sind nicht mehr so jung, wie Sie waren, als wir uns kennen lernten, und ich muss Sie bitten, die Stufen nicht zu schnell hinaufzusteigen.«

»Herzlichen Dank, Herr Bundeskanzler« erwiderte Acheson mit einem Lächeln. »Wenn ich müde werden sollte – darf ich dann Ihren Arm nehmen?«

Adenauer gluckste und fragte, ob Acheson ihn womöglich auf den Arm nehmen wolle.

»Das würde ich mir nie erlauben«, gab Acheson grinsend zurück.7 Das neckische Geplänkel war Balsam für Adenauers geplagte Seele.

Während eines großen Teils des Tages bemühte sich Acheson, einen Adenauer zu beruhigen, der, wie Acheson feststellte, wegen Kennedy »aufs Tiefste besorgt – einfach völlig besorgt« war. Adenauers größte Sorge war, dass Kennedy die Absicht haben könnte, hinter seinem Rücken mit den Russen einen Friedensabschluss mit etlichen Punkten auszuhandeln, durch die deutsche Interessen verkauft und die Berliner im Stich gelassen würden.8 Er war auch über die neuerdings wiederum gestiegene Feindseligkeit unter Amerikanern gegenüber den Deutschen beunruhigt, und das nach jahrelanger Besserung seit dem Krieg. Die schockierenden Enthüllungen in William Shirers unlängst erschienenem Buch Aufstieg und Fall des Dritten Reichs und der bevorstehende Prozess gegen den NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann in Israel hatten die Stimmung aufgeheizt.

Abgesehen davon, sagte Adenauer, sei er beunruhigt durch Meldungen, dass die Kennedy-Administration ihre Abschreckungsstrategie von der Stützung auf Atomwaffen zu der relativ neuen Auffassung der sogenannten »flexible response«, der flexiblen Antwort, verlagere. Dies sei mit einer stärkeren Betonung der konventionellen Waffen in sämtlichen militärischen Einsatzplänen zu Berlin verbunden. Obwohl ein derartiger Kurswechsel erhebliche Auswirkungen auf die westdeutsche Sicherheit haben könne, habe die Kennedy-Administration weder Adenauer noch andere westdeutsche Gesprächspartner zurate gezogen, geschweige denn informiert.9

Während Adenauer gegen die neue Strategie zu Felde zog, war ihm nicht bewusst, dass ausgerechnet Acheson zu ihren führenden Verfechtern und Architekten zählte. Adenauer war überzeugt, dass der Westen Moskau nur dann eindämmen konnte, wenn Chruschtschow davon ausgehen musste, dass ein sowjetisches Vorgehen gegen Berlin einen verheerenden Atomschlag der USA nach sich zog. Er fürchtete, dass Moskau jeden Wechsel beim US-Ansatz als eine Einladung auffassen würde, die Entschlossenheit Washingtons auf die Probe zu stellen. Auch wenn Acheson es Adenauer damals nicht direkt sagte, war er anderer Meinung, weil er zweifelte, dass ein US-Präsident jemals das Leben von Millionen Amerikanern für Berlin riskieren würde – und er ging davon aus, dass Chruschtschow das auch wusste.

Also bemühte sich Acheson in erster Linie darum, Adenauer zu versichern, dass Kennedy ebenso entschlossen wie seine Vorgänger sei, die Freiheit der Westdeutschen und Westberliner zu verteidigen. Acheson informierte Adenauer ausführlich über die militärische Planung der Kennedy-Administration hinsichtlich Berlins und über Kennedys eigene Skepsis bezüglich der Intentionen der Russen.10

Adenauer atmete erleichtert auf. »Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen.«

Gleichzeitig musste Acheson jedoch den Kanzler in Bezug auf einen seiner innigsten Wünsche enttäuschen. Derzeit lehnte Kennedy den Plan ab, den Eisenhower in Betracht gezogen hatte: eine Flotte amerikanischer Polaris-U-Boote unter NATO-Befehl zu stellen und damit das Bündnis zu einer vierten Atommacht zu machen. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich wollten ihr Monopol behalten.11 Zwar hatte Kennedy die Absicht, der NATO fünf oder mehr Polaris-U-Boote zur Verfügung zu stellen, jedoch unter einem Kommandanten der US-Flotte. Überdies behielten die Amerikaner sich große Einschränkungen für ihren Einsatz vor, und das Prozedere dabei war derart kompliziert, dass dieses Angebot gewiss nicht Adenauers Wunsch nach einer schneller verfügbaren atomaren Abschreckung entsprach.12

Kurzum, allmählich gelangte Kennedy mit Blick auf die militärischen Ernstfallpläne für Berlin zu der Anschauung – die sich auch in KGB-Berichten aus jener Zeit aus Paris und anderen Orten spiegelte –, dass er dafür sorgen wollte, dass jeder Konflikt um Berlin lokalen Charakter behielt und nicht zu einem Weltkrieg eskalierte. Zu diesem Zweck war es nicht nur unabdingbar, sich von dem bisherigen amerikanischen Konzept der atomaren Abschreckung zu verabschieden, sondern auch die Vorstellung einer Atommacht NATO rundweg abzulehnen.13

Adenauer beendete den Tag in bewährter Tradition, indem er den Gast zu einer Partie Boccia im Garten einlud. Er legte das Jackett ab, behielt aber die Krawatte an und rollte die Ärmel nicht hoch. Der Kanzler sah geradezu entwaffnend förmlich aus, als er das Wurfspiel begann, indem er die kleinere Kugel als Erste warf, gefolgt von einer größeren Kugel. Ziel des Spiels ist es, möglichst nahe an die erste Kugel heranzukommen.

Als es so aussah, als würde Acheson gewinnen, änderte der Kanzler kurzerhand die Spielregeln und fing an, die Kugeln über die Seitenlinie hinauszuschießen. Auf die gegnerischen Proteste hin grinste Adenauer: »Sie befinden sich jetzt in Deutschland – und in Deutschland mache ich die Regeln.«14

Acheson lächelte, weil er wusste, dass er sein Ziel erreicht hatte. Er hatte Adenauers Besorgnis wegen Kennedy gelindert, ihm im Vorfeld auf eine erträgliche Weise die enttäuschenden Neuigkeiten überbracht, die ihn in Washington eventuell erwarteten, und eine günstigere Stimmung für das erste Treffen zwischen Adenauer und Kennedy geschaffen.

Auf zwei Ereignisse, die Adenauers Besuch überschatten sollten, hatte Acheson jedoch keinen Einfluss: auf den historischen Weltraumflug der Sowjets und das amerikanische Fiasko in Kuba.

HALBINSEL PIZUNDA, SOWJETUNION
DIENSTAG, 11. APRIL 1961

An dem Tag, als Adenauer nach Washington flog, erholte sich Chruschtschow in seiner Villa bei Sotschi, auf der Halbinsel Pizunda an der Ostküste des Schwarzen Meeres. Regelmäßig wurde er dort über die Vorbereitungen für den am nächsten Morgen geplanten ersten Aufenthalt eines Menschen im All informiert. Außerdem hatte er mit der Planung des XXII. Parteitags im Oktober begonnen.15

Später erklärte Chruschtschow seine häufigen Erholungsaufenthalte am Schwarzen Meer mit folgenden Worten: »Ein Huhn muss eine gewisse Zeit still sitzen, wenn es ein Ei legen will.«16 Auch wenn die Metapher einen negativen Beiklang hat, legte Chruschtschow sie im positiven Sinn aus: »Wenn ich etwas ausbrüten will, dann muss ich mir Zeit nehmen, damit ich es richtig mache.« Hier auf Pizunda gönnte er sich eine Pause von dem hektischen Lauf der Weltgeschichte oder schrieb selbst ein paar Seiten Geschichte. Beispielsweise hatte er hier zwischen seinen Spaziergängen durch den Kiefernwald und entlang der Umkleidekabinen am Strand seine Rede von 1956 aufgesetzt, die den Bruch mit Stalin markierte. Er stellte seinen Gästen gern die uralten Bäume vor, denen er zum großen Teil Menschennamen gegeben hatte. Oder er zeigte ihnen seinen kleinen Fitnessraum und einen privaten verglasten Swimmingpool.

Man kann es durchaus als Indikator für die Bedeutung werten, die Chruschtschow der Beziehung zu Kennedy beimaß, dass er neben all den anderen Verpflichtungen an jenem Morgen bereit war, den legendären einundsiebzigjährigen amerikanischen Kolumnisten Walter Lippmann und seine Frau Helen zu empfangen.17 Chruschtschow schätzte Lippmann nicht nur wegen seines landesweiten Einflusses und Zugangs zu Kennedy, sondern auch wegen des Umstands, dass seine Kolumnen den Sowjets durchweg wohlgesinnt waren.

Da der Zeitplan für den Raketenstart jedoch bereits feststand, ließ Chruschtschow Lippmann, der bereits in der Maschine nach Rom saß, noch auf dem Rollfeld in Washington die Nachricht zukommen, dass ihr Treffen verschoben werden müsse. »Unmöglich«, kritzelte Lippmann forsch als Antwort auf einen Zettel für den sowjetischen Botschafter Menschikow.18

Bei der Landung der Lippmanns war Chruschtschow mittlerweile zu dem Schluss gelangt, dass er sie empfangen, aber mit keiner Silbe die Pläne für den potenziell historischen Weltraumflug mit dem Kosmonauten Jurij Gagarin am nächsten Morgen erwähnen werde.

Chruschtschow hatte den ursprünglich für den 1. Mai geplanten Start nach einem Trainingsunfall am 23. März, bei dem der zuerst für den Flug vorgesehene Leutnant Walentin Bondarenko umgekommen war, vorgezogen.19 Abgekürzte Tests der Sowjets, um noch vor den Amerikanern die erste bemannte Rakete ins Weltall zu schicken, hatten vermutlich zum Tod Bondarenkos beigetragen. Er starb an Verbrennungen, nachdem seine mit Sauerstoff angereicherte Trainingszelle in Brand geraten war. Die Sowjets gaben keine Einzelheiten über diesen Unfall bekannt. Sie meldeten nicht einmal den Tod des Kosmonauten und retuschierten Bondarenko aus allen Aufnahmen des sowjetischen Weltraumteams heraus.

Davon unerschüttert, war der Parteichef nur umso entschlossener, das Projekt durchzuziehen, und verlegte den Tag für den Raketenstart auf den 12. April. Der Zeitpunkt wurde bewusst so gewählt, damit Moskau die Nase vorn hatte vor dem US-Projekt Mercury, das laut Plan den Astronauten Alan Shepard am 5. Mai ins All schicken sollte. Falls der Weltraumflug ein Erfolg wurde, würde Chruschtschow nicht nur Geschichte schreiben, sondern er bekäme auch den dringend benötigten politischen Rückhalt. Wenn Gagarins Mission scheiterte, würde Chruschtschow eilends sämtliche Beweise für den Raketenstart verschwinden lassen.

Ohne etwas von diesen dramatischen Ereignissen zu ahnen, kam das Ehepaar Lippmann um 11:30 Uhr in Chruschtschows Feriendomizil an und blieb dort acht Stunden. Sie machten Spaziergänge mit dem Parteichef, schwammen, aßen, tranken und plauderten gemütlich vor dem Schlafengehen.

Lippmann genoss geradezu seinen Zugang zu amerikanischen und internationalen Politikern; eine Steigerung zu dieser Begegnung mit dem Führer der kommunistischen Welt in seinem Refugium am Schwarzen Meer war kaum möglich.20 Vor Beginn seiner journalistischen Tätigkeit war Lippmann Berater von Präsident Woodrow Wilson gewesen und hatte als Delegierter an der Pariser Friedenskonferenz von 1919 teilgenommen, die mit dem Friedensvertrag von Versailles endete. Von Lippmann stammte der Begriff »Kalter Krieg«, und er plädierte in den USA als einer der Ersten dafür, dass Washington die neue sowjetische Einflusssphäre in Europa akzeptieren müsse. Moskau hatte so großes Interesse an Lippmann, dass ein ganzer Agentenring des KGB in den Vereinigten Staaten über seine Sekretärin Mary Price Informationen zu seinen Quellen und interessanten Themen sammelte – eine Unterwanderung, die Lippmann damals noch nicht bemerkt hatte.

Der hochgewachsene Lippmann überragte den kleinen, stämmigen Chruschtschow, als sie über das Gelände schlenderten. Bei einer munteren Partie Badminton am Nachmittag schlug der extrem ehrgeizige Chruschtschow, der mit der korpulenten Aufpasserin des US-Außenministeriums ein Doppel bildete, trotzdem die athletischeren Lippmanns vernichtend, die über seine Beweglichkeit staunten. Chruschtschow schlug den Federball immer wieder nur wenige Zentimeter über der Netzkante scharf zurück und zielte dabei häufig auf die Köpfe der Gegenspieler.

Bei einer Mittagspause stieß Chruschtschows rechte Hand, Anastas Mikojan, zu einem dreieinhalbstündigen Gespräch zu der Gruppe. Die Unterhaltung drehte sich fast ausschließlich um Berlin, sodass Lippmann, genau wie Botschafter Thompson, zu dem Schluss kam, dass es für den sowjetischen Parteichef kein wichtigeres Thema als Berlins Zukunft gab.21

Das Weiße Haus, das US-Außenministerium und die CIA hatten Lippmann vor seiner Abreise instruiert, sodass er in ihrem Namen eine Art Versuchsballon starten konnte. Lippmann fragte Chruschtschow direkt, weshalb er denn so dringend die Berlin-Frage klären wolle und warum sie nicht ein Berlin-Moratorium von fünf oder zehn Jahren vereinbarten, während dessen sich die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion den anderen Problemen in ihren Beziehungen widmen und eine Atmosphäre schaffen könnten, die einem Berlin-Vertrag zuträglicher sei?

Als Chruschtschow scharf die Vorstellung einer weiteren Verzögerung zurückwies, wollte Lippmann die Gründe dafür wissen. Eine deutsche Lösung müsse gefunden werden, so Chruschtschow, »bevor Hitlers Generäle mit ihren zwölf NATO-Divisionen Atomwaffen von Frankreich und den Vereinigten Staaten bekommen«.22 Ehe dieses Szenario denkbar sei wolle er einen Friedensvertrag, der die aktuellen Grenzen Polens und der Tschechoslowakei festschreibe und den Fortbestand Ostdeutschlands garantiere. Andernfalls würde Westdeutschland die NATO in einen Krieg ziehen, der die deutsche Wiedervereinigung und eine Wiederherstellung der Ostgrenze von 1939 zum Ziel habe, betonte er nachdrücklich.

Lippmann merkte sich Chruschtschows Position, während seine Frau das Gespräch wörtlich mitschrieb. Beide bemühten sich, nüchtern zu bleiben, indem sie die beträchtlichen Mengen an Wodka und armenischem Wein, die Mikojan ihnen servierte, in eine Schüssel schütteten, die der Parteichef ihnen hingestellt hatte.

Immer wieder betonte Chruschtschow gegenüber Lippmann – und meinte damit eindeutig Kennedy –, dass er fest entschlossen sei, noch in diesem Jahr »die deutsche Frage zur Entscheidung zu bringen«. Später berichtete Lippmann in einer seiner Kolumnen, dass der sowjetische Parteichef »fest entschlossen sei beziehungsweise sich endgültig verpflichtet fühle zu einem Showdown« in Berlin, um den Flüchtlingsstrom zu stoppen und den kommunistischen Staat in Ostdeutschland zu retten.

Chruschtschow legte Lippmann seine Ansichten zu Berlin in drei Teilen dar, und zwar weit ausführlicher als bislang in der Öffentlichkeit. Mit dem dreiteiligen Bericht über die Gespräche sollte Lippmann später den Pulitzer-Preis gewinnen – und die Artikel erschienen in 450 Zeitungen.23

Als Erstes wünsche er sich, sagte Chruschtschow dem Kolumnisten, dass der Westen akzeptiere, dass »es in Wirklichkeit zwei deutsche Staaten gibt«, die niemals wiedervereinigt werden. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sollten deshalb über Friedensverträge die drei Bestandteile Deutschlands näher definieren: Ostdeutschland, Westdeutschland und Westberlin. Zusätzlich würde durch ein völkerrechtliches Statut der Status Westberlins als »Freie Stadt« festgeschrieben. Anschließend könnten der Zugang und die Freiheit über symbolische Kontingente französischer, britischer, amerikanischer und russischer Truppen und durch neutrale, von den Vereinten Nationen zugeteilte Truppen garantiert werden. Die vier Besatzungsmächte würden mit beiden deutschen Staaten ein Abkommen unterzeichnen, das dieses Ergebnis zur Folge hätte.

Da Chruschtschow jedoch zweifelte, dass Kennedy diese Option akzeptieren würde, skizzierte er für Lippmann seine »Rückzugsposition«, wie er es nannte. Er würde eine vorübergehende Vereinbarung akzeptieren, die den beiden deutschen Staaten eine Frist von zwei oder drei Jahren einräume, innerhalb derer sie sich auf eine lose Konföderation oder eine andere Form des Zusammenschlusses einigen konnten. Falls beide Seiten in diesem Zeitraum zu einer Einigung gelangten, sollte diese in einem Vertrag festgeschrieben werden. Falls sie scheiterten, sollten sämtliche Besatzungsrechte enden und alle ausländischen Truppen aus Deutschland abziehen.

Für den Fall, dass sich die Vereinigten Staaten weigerten, über eine dieser beiden Optionen zu verhandeln, teilte Chruschtschow Lippmann mit, dass seine »dritte Position« darin bestehe, mit Ostdeutschland einen separaten Friedensvertrag zu unterzeichnen, der Ulbricht die volle Kontrolle über sämtliche Zufahrten nach Westberlin einräume. Wenn sich die Alliierten gegen diese neue Rolle Ostdeutschlands wehrten, werde er, so Chruschtschow, das sowjetische Militär einsetzen, um die Stadt völlig abzuriegeln.24

Um seine Drohung ein wenig abzuschwächen, versicherte Chruschtschow Lippmann, dass er eine Krise nicht forcieren werde, solange er keine Gelegenheit hatte, diese Angelegenheit mit Kennedy unter vier Augen zu erörtern. Mit anderen Worten, er eröffnete seine Verhandlungen mit dem Präsidenten über den Kolumnisten.

Indem Lippmann inoffiziell die Rolle eines US-Verhandlungsführers übernahm, schlug er Chruschtschow ein fünfjähriges Moratorium für Berlin-Gespräche vor, in dessen Verlauf der Status quo eingefroren werden solle. Aus den Briefings vor seiner Reise hatte Lippmann erfahren, dass Kennedy diese Lösung bevorzugte.

Chruschtschow wedelte ablehnend mit der Hand. Seit seinem Berlin-Ultimatum seien dreißig Monate vergangen, und er werde weder einem so langen Aufschub der Entscheidung zustimmen, noch sei er bereit, mit der Klärung der Angelegenheit bis nach dem Parteitag im Oktober zu warten. Seine Frist für eine Lösung der Berlin-Frage sei Herbst oder Winter 1961.

Chruschtschow vertraute Lippmann an, dass er ohnehin der Meinung sei, dass nicht Kennedy die Entscheidung fälle. Er umfasste die treibenden Kräfte hinter Kennedy mit einem einzigen Wort: Rockefeller. In seinen Augen wurde Kennedy von den Wirtschaftsbossen manipuliert. Trotz »ihres imperialistischen Wesens« glaubte er, diese Kapitalisten könne man mit dem gesunden Menschenverstand überzeugen. Falls sie gezwungen wären, zwischen einem beiderseitig vorteilhaften Abkommen oder einer unilateralen sowjetischen Aktion oder gar einem Krieg zu wählen, so Chruschtschow, sei er überzeugt, dass Rockefeller und Co. sich auf einen Deal einlassen würden.

Er sagte, er sei bereit, den atomaren Bluff der Amerikaner auffliegen zu lassen. »Meiner Meinung nach«, sagte Chruschtschow, »sind die Staatsmänner im Westen nicht so dumm, dass sie einen Krieg auslösen, bei dem Hunderte Millionen von Menschen umkommen würden, nur weil wir einen Friedensvertrag mit der DDR unterschreiben, der einen Sonderstatus der ›Freien Stadt‹ Westberlin mit ihren 2,5 Millionen Einwohnern fordert. Ein derartiger Dummkopf muss erst noch geboren werden.«25

Am Ende des Tages fühlten sich die Lippmanns, nicht Chruschtschow, ganz erschlagen und gingen ins Bett. Der Parteichef umarmte beide fest und innig, bevor sie sich müde und angetrunken in ihr Hotelzimmer im nahe gelegenen Garga zurückzogen. Lippmann merkte nichts von der Müdigkeit, die Botschafter Thompson noch einen Monat zuvor an Chruschtschow aufgefallen war. Allerdings dürfte kaum etwas den sowjetischen Führer stärker elektrisiert haben als die Neuigkeit, die er am nächsten Morgen erfuhr.

HALBINSEL PIZUNDA, SOWJETUNION
MITTWOCH, 12. APRIL 1961

Chruschtschow hatte nur eine einzige Frage, als Sergej Koroljow, der legendäre Raketeningenieur und Leiter des sowjetischen Raumfahrtprogramms, ihm telefonisch die gute Nachricht mitteilte: »Sag mir nur: Ist er am Leben?«26

Jawohl, antwortete Koroljow, und sogar noch mehr als das: Jurij Gagarin sei unversehrt zur Erde zurückgekehrt, nachdem er als erster Mensch im All gewesen sei und als erster Mensch die Erde umkreist habe.27 Die Sowjets hatten diese Mission »Wostok« (Osten) genannt, um ihren technologischen Aufstieg noch zu unterstreichen. Und das Projekt hatte seinen Zweck voll erfüllt. Zur Freude Chruschtschows hatte Gagarin auf seinem 108-minütigen Flug eine patriotische Melodie gepfiffen, die Dmitrij Schostakowitsch 1951 komponiert hatte: »Dein Vaterland hört, dein Vaterland weiß, wo sein Sohn im Himmel fliegt.« Gegen die Proteste führender Militärs beförderte der begeisterte sowjetische Regierungschef Gagarin kurzerhand um zwei Ränge höher zum Major.

Chruschtschow platzte fast vor Freude und Stolz. Wie schon bei der Sputnik-Mission im Jahr 1957 hatte er wiederum die Amerikaner im Wettrennen um das All geschlagen. Gleichzeitig hatte er eine Raketentechnologie von eindeutig militärischer Bedeutung präsentiert, mit Blick auf die sowjetischen Fortschritte bei der nuklearen Kapazität. Und das Allerwichtigste: Das Projekt »Wostok« verschaffte ihm den politischen Auftrieb, den er vor dem Parteitag im Oktober dringend benötigte – und brachte seine Gegner zum Schweigen.

Eine große Schlagzeile in der Parteizeitung Iswestija, deren Ausgabe ganz dem Flug gewidmet war, lautete: GROSSARTIGER SIEG, UNSER LAND, UNSERE WISSENSCHAFT, UNSERE TECHNIK, UNSERE MÄNNER.

Chruschtschow jubelte vor seinem Sohn, dass er eine großartige Veranstaltung organisieren werde, damit das sowjetische Volk seine echten Helden feiern könne.28 Sergej versuchte, seinen Vater davon abzubringen, sofort nach Moskau zurückzukehren, weil das anstrengende Jahr nicht spurlos an ihm vorübergegangen war, aber Chruschtschow ließ sich nicht abhalten. Dem KGB gefiel die Vorstellung einer riesigen Menschenmenge, die er nicht völlig unter Kontrolle hatte, überhaupt nicht, aber Chruschtschow schlug auch dessen Warnungen in den Wind.

Der Parteichef ordnete an, die größte Parade und landesweit die größten Festlichkeiten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs am 9. Mai 1945 zu veranstalten. Er verspürte eine so große Freude über den Triumph, dass er spontan in die offene Limousine stieg, die Gagarin und seine Frau über den ganzen Lenin-Prospekt bis zum Roten Platz chauffierte. Bei strahlendem Sonnenschein winkten sie gemeinsam den jubelnden Menschen zu, die auf Bäume kletterten oder sich weit aus den Fenstern lehnten, um eine bessere Sicht zu haben. Die Balkone an der Straße waren so überfüllt, dass Chruschtschow fürchtete, sie könnten einstürzen.29

Von der Plattform des Lenin-Mausoleums aus sprach Chruschtschow zu der Menge und nannte den Kosmonauten bei seinem Kosenamen: »Lasst jeden, der seine Messer gegen uns wetzt, wissen, […] dass Jurka im Weltraum war, dass er alles gesehen hat und weiß.« Er zog hämisch über all jene her, die die Sowjetunion belächelt und gedacht hatten, die Russen würden »barfuß und ohne Kleider« herumlaufen. Gagarins Flug schien ebenso sehr eine persönliche Bestätigung für Chruschtschows Führung zu sein als auch eine Botschaft an die ganze Welt über die technischen Fähigkeiten dieses Landes. Der Bauernjunge, der keine Schuhe hatte und erst als Erwachsener lesen lernte, hatte Kennedy und sein weit fortschrittlicheres Land übertroffen.30

Mehr als drei Wochen danach wurde Alan Shepard mit dem Projekt »Mercury« zum zweiten Menschen und ersten Amerikaner im Weltall. Aber in den Geschichtsbüchern wird für alle Zeiten stehen, dass Gagarin unter Chruschtschows Regime der erste Mensch im Weltall war.

WASHINGTON, D.C.
MITTWOCH, 12. APRIL 1961

Adenauer hätte sich kaum einen ungünstigeren Zeitpunkt aussuchen können.

Der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland erreichte Washington nur wenige Stunden, nachdem Jurij Gagarin unversehrt mit dem Fallschirm in Kasachstan gelandet war. Er saß im Oval Office bei einem US-Präsidenten, der es kaum abwarten konnte, den Deutschen wieder loszuwerden und die Invasionspläne für Kuba voranzutreiben.

Noch schwerer wog: Adenauer kam ungefähr einen Monat nach dem Besuch Willy Brandts, des damaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin, und Egon Bahrs, des Leiters des Presse- und Informationsamts und zugleich Sprechers des Berliner Senats, nach Washington. Das hatte es praktisch noch nie gegeben, dass ein frisch gewählter US-Präsident ein Treffen mit führenden Vertretern der Opposition eines Bündnispartners anberaumte, bevor er sich mit dem Regierungschef traf, aber es war bezeichnend für die angespannte Beziehung zwischen Kennedy und Adenauer.

Kennedy hatte zu Brandt damals gesagt, dass »von allen Vermächtnissen des Zweiten Weltkriegs, die der Westen geerbt hatte, Berlin das heikelste« sei.31 Der Präsident hatte jedoch erklärt, dass er sich keine vernünftige Lösung für das Problem vorstellen könne, Brandt im Übrigen ebenso wenig. »Wir werden wohl einfach mit der Situation leben müssen«, hatte Kennedy gesagt.

Auch Brandt hatte zu Kennedy gesagt, dass Chruschtschow aller Wahrscheinlichkeit nach noch vor dem Parteitag im Oktober eine Veränderung des Status von Berlin anstreben werde. Um die Entschlossenheit des Westens auf die Probe zu stellen, würden die Ostdeutschen und die Sowjets, so Brandt, ihre Störmanöver der zivilen und militärischen Bewegungen zwischen den beiden Teilen Berlins intensivieren. Für den Fall, dass die Sowjets Westberlin erneut blockierten, habe die Stadt Vorräte an Brennstoff und Lebensmitteln angelegt, die für sechs Monate ausreichen würden. Das würde Kennedy Zeit geben, eine Verhandlungslösung aus jeder Schwierigkeit zu finden.32

Brandt hatte sich während der vierzig Minuten im Oval Office bemüht, in Kennedy eine stärkere Leidenschaft für die Freiheit Berlins zu entfachen. Er nannte Westberlin ein Fenster zur freien Welt, das die ostdeutschen Hoffnungen auf eine mögliche Befreiung am Leben erhalten habe. Ohne Westberlin würde diese Hoffnung sterben, sagte er, und eine amerikanische Präsenz sei die unverzichtbare Garantie für den Fortbestand der Stadt.33 Mit Erleichterung hörte Brandt, dass Kennedy den sowjetischen Vorschlag, Westberlin den Status einer »Freien Stadt« unter dem Schutz der Vereinten Nationen zu geben, ablehnte – es hatte Gerüchte gegeben, dass Kennedy dieses Ergebnis unterstütze. Brandt versicherte seinerseits Kennedy, dass das bisherige Liebäugeln der Sozialdemokraten mit dem sowjetischen Angebot einer Neutralität inzwischen passé sei.34

Einen Monat später sollten Kennedys Gespräche mit Adenauer nicht so einvernehmlich verlaufen. Kennedy stellte Adenauer zum großen Teil die gleichen Fragen, die er an Brandt gerichtet hatte, allerdings mit weniger befriedigenden Ergebnissen. Auf die Frage, was die Sowjets im Jahr 1961 in Berlin denn unternehmen könnten, erwiderte Adenauer, es könne alles oder gar nichts geschehen, er sei doch kein Hellseher.35 Adenauer sagte, im November 1958, als Chruschtschow sein sechsmonatiges Ultimatum gestellt hatte, habe niemand erwartet, dass er so geduldig sein würde, und er habe seine Drohungen immer noch nicht wahr gemacht.

Kennedy erkundigte sich, wie nach Adenauers Ansicht die Vereinigten Staaten reagieren sollten, wenn die Sowjetunion einen separaten Friedensvertrag mit Ostdeutschland unterzeichnen würde, einmal angenommen, der Zugang zu Berlin werde dadurch nicht eingeschränkt.

Daraufhin hielt Adenauer dem jungen Präsidenten einen Vortrag darüber, wie kompliziert die rechtliche Lage mit Blick auf Deutschland war. Ob der Präsident sich darüber im Klaren sei, fragte er, dass immer noch kein Friedensvertrag zwischen den vier Mächten und Deutschland insgesamt unterzeichnet worden sei? Und ob sich der Präsident, erkundigte sich Adenauer weiter, der wenig bekannten Tatsache bewusst sei, dass die Sowjetunion immer noch Militärmissionen in Teilen Westdeutschlands unterhalte? Die drei Westalliierten hätten Adenauer gebeten, darüber keine großen Worte zu verlieren, sagte der Kanzler, weil sie ebenfalls Vorposten in Ostdeutschland unterhielten, die ihnen die Aufklärungsarbeit erleichterten.36

Da sein Chef es versäumt hatte, auf Kennedys Frage direkt zu antworten, beurteilte Außenminister Heinrich von Brentano die sowjetischen Handlungsalternativen. Die erste Option war eine weitere Berlin-Blockade, die er für unwahrscheinlich hielt. Die zweite war die Übertragung der Regierungskontrolle über Berlin an die ostdeutsche Führung, gefolgt von Störmanövern, die den Zugang zur Stadt behinderten – dieses Szenario erschien Brentano plausibler. Er schlug deshalb vor, Pläne für diesen Ernstfall auszuarbeiten.

In diesem Fall werde Westdeutschland, so Adenauer, seinen militärischen Verpflichtungen im Rahmen der NATO nachkommen und westliche Streitkräfte gegen einen sowjetischen Angriff verteidigen. Wenn Berlin falle, so wäre dies »das Todesurteil für Europa und die westliche Welt«, sagte Brentano.

Es folgte eine komplexe Diskussion über die Frage, welche Seite in einer Berlin-Krise welche Rechte in welchem Ernstfall habe. Welche Rechte hatte Westdeutschland gemäß dem Völkerrecht auf Berlin? Welche Rechte wünschte es sich? Mit welchem Recht versorgten und verteidigten die vier Mächte eigentlich die Berliner? Worin bestand der Kern der NATO-Garantie für Berlin? Wann konnte sie angewendet werden und von wem? An welchem Punkt ging der Westen in einem Berlin-Konflikt zu atomarer Abschreckung über?

Alle diese Fragen müssten erörtert werden, sagte Adenauer.

Kennedy hielt es kaum noch auf seinem Stuhl, während er sich ungeduldig die Übersetzung anhörte.

Für Adenauer bestand die Lösung der Berlin-Krise in einer Verstärkung der Teilung der Stadt in einen Ost- und Westteil nach dem Muster ganz Deutschlands. In seinen Augen war die Integration Westdeutschlands in den Westen eine Voraussetzung für eine spätere Vereinigung, weil sie die Chancen erhöhte, aus einer Position der Stärke heraus zu verhandeln. Er sagte Kennedy, dass Westdeutschland überhaupt kein Interesse daran habe, bilaterale Gespräche mit den Sowjets aufzunehmen. In dem großen Spiel der Welt sei Westdeutschland, so Adenauer sinngemäß, letztlich nur eine sehr kleine Figur. Er brauche jedoch ein absolut engagiertes Amerika, damit sein Ansatz, direkte Gespräche mit Moskau über Berlin abzulehnen, auch funktioniere.

Kennedy sagte, er sei besorgt wegen der 350 Millionen Dollar »Geldschwund«, den die Stationierung von US-Truppen in Deutschland jedes Jahr verursache – eine Situation, die durch den Kurs der DM nicht gerade erleichtert werde. Er nannte dies »einen der Hauptfaktoren in unserer Zahlungsbilanz«. Der Bundeskanzler sollte ihm helfen, die Kosten in Deutschland zu senken und die deutschen Importe von militärischen und anderen Waren aus den Vereinigten Staaten zu steigern. Der US-Präsident wollte von Adenauer keine direkte Entlastung des Staatshaushalts, wie im vorigen Dezember nach dem Besuch von Eisenhowers Finanzminister Robert Anderson gemunkelt worden war. Aber er wollte, dass ein reicheres Westdeutschland schwächer entwickelte Länder stärker unterstützte, nicht zuletzt um die weltweite Belastung für die Vereinigten Staaten zu verringern. Adenauer sagte diese und andere wirtschaftliche Maßnahmen zu, die die Belastung der USA verringerten.37

Die Diskussion um die Auswirkungen der Sicherheitsgarantie für Westdeutschland auf den US-Haushalt markierte einen wichtigen Perspektivwechsel. Kennedy engagierte sich persönlich nicht so stark für Deutschland wie seine Vorgänger und war abgesehen davon der Ansicht, dass ein prosperierendes Deutschland auch imstande sein müsse, die amerikanischen Kosten zu senken.

Das Kommuniqué am Ende der Gespräche zwischen Kennedy und Adenauer war enttäuschend. Es blieb in den Punkten, wo sie sich geeinigt hatten, vage und klammerte die Themen völlig aus, in denen die beiden Seiten verschiedener Meinung waren.38 Der Korrespondent des Magazins Der Spiegel berichtete, dass Adenauer bitter enttäuscht sei von einem Besuch, der hinsichtlich der größten Sorgen Bonns überhaupt nichts bewirkt hatte. Die drei langen Sitzungen von Adenauer und Kennedy in zwei Tagen, so hieß es dort, »hatten die Körperkräfte des westdeutschen Kanzlers aufgezehrt, hatten sein politisches Konzept zerstört«. Adenauer sei nach den Gesprächen »sichtlich erschöpft, die Urlaubsbräune auf dem eingefallenen Antlitz fahl-gelb geblichen […] todernst die Stufen am Weißen Haus in Washington« hinabgestiegen. 39 Der Spiegel berichtete ferner, dass die Kennedy-Administration den Wunsch Adenauers, das Wochenende nach den Gesprächen im Weißen Haus bei seinem Freund, dem ehemaligen Präsidenten Eisenhower, in Pennsylvania zu verbringen, nicht berücksichtigte. Stattdessen »verbannten« Kennedys Mitarbeiter Adenauer »nach Texas auf die abgelegene Viehfarm des Vizepräsidenten Johnson«.40

Angesichts des wachsenden wirtschaftlichen Erfolgs seines Landes litt Adenauer doch unter der sinkenden Bedeutung seiner eigenen Person in Washington. Die Verbündeten in den Vereinigten Staaten, mit denen er den Marshall-Plan umgesetzt, sein Land wiederaufgebaut, den Eintritt in die NATO geplant und den Sowjets die Stirn geboten hatte, hatten sich zum größten Teil aus der Politik verabschiedet. Sein engster Weggefährte, John Foster Dulles, war zwei Jahre zuvor gestorben. Ein paar deutsche Reporter schluckten die Version des Weißen Hauses, dass Adenauer und Kennedy ein tiefes persönliches Band geknüpft hätten, aber im Grunde gab es keine konkreten Indizien dafür.

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Bild 3

Adenauer und Kennedy loben einander auf einer Pressekonferenz – obwohl keiner dem anderen über den Weg traut.

Am Ende des Besuchs in Washington trat Kennedy in der rauen Kälte des im April üblichen Nebels auf den Rasen vor dem Weißen Haus und lobte Adenauer, dem er so wenig Anerkennung gewährt hatte. »Die Geschichte wird ein überaus positives Urteil über ihn fällen«, sagte Kennedy. »Er hat Außergewöhnliches bei der Vereinigung der Nationen Westeuropas geleistet, bei der Stärkung der Bande, die die Vereinigten Staaten und die Bundesrepublik miteinander verbinden.«41

Adenauer revanchierte sich für Kennedys Wohlwollen, indem er den Mann, an dem er so sehr zweifelte, einen »großen Staatschef« nannte, der enorme Verantwortung für das Schicksal der freien Welt trage.

Hingegen beachtete kaum jemand die Antwort Adenauers auf die Frage eines Reporters im National Press Club nach den Gerüchten, entlang des Eisernen Vorhangs werde womöglich eine Betonmauer errichtet. Im Raketenzeitalter hätten Betonmauern wenig Bedeutung, erwiderte Adenauer nach einer kurzen Pause.42

STON EWALL, TEXAS
SONNTAG, 16. APRIL 1961

Bei strahlendem Sonnenschein flog Adenauer am Sonntag um 12 Uhr mit seiner Tochter Libet und Außenminister Brentano von Washington nach Austin, Texas. Von dort ging es mit dem Hubschrauber knapp hundert Kilometer weiter nach Stonewall, einem Ort mit weniger als fünfhundert Einwohnern, dem Geburtsort von Vizepräsident Johnson und Sitz seiner LBJ-Ranch. Adenauer wechselte aus einer Welt realer Probleme in eine mit einem geradezu mythischen Reiz für jeden Deutschen: die weiten Räume des Wilden Westens, die Karl May (der übrigens nie in Amerika war) mit seinen Bestsellerromanen so populär gemacht hatte.

Das Zentrum von Texas mit seinen Ranchs und bewaldeten Hügeln war ein Jahrhundert zuvor von deutschen Pionieren besiedelt worden. Ihre Nachfahren hießen den Bundeskanzler mit Schildern herzlich willkommen, auf denen Botschaften wie WILLKOMMEN ADENAUER UND HOWDY PODNUR standen. Pater Wunibald Schneider veranstaltetete für Adenauer in der St. Francis Xavier Church von Stonewall einen Nachmittagsgottesdienst.43

Als Adenauer dem benachbarten Fredericksburg einen Besuch abstattete, wo immer noch viele Bewohner Deutsch sprachen, sagte er in seiner Muttersprache, dass er »zwei Dinge in [seinem] langen Leben gelernt habe, ein Mensch kann Texaner werden, aber ein Texaner kann nicht aufhören, einer zu sein. Und zweitens – es gibt nur eins auf dieser Welt, das größer ist als Texas, und das ist der Pazifische Ozean!«44 Die Menge war, genauso wie Johnson, begeistert. Mit deutschen Starreportern im Schlepptau nutzte Adenauer Texas als Gegenmittel zu seinen Enttäuschungen in Washington und als Zwischenstopp im Wahlkampf zu den anstehenden Bundestagswahlen. US-Vizepräsident Johnson war zwar nicht sonderlich glücklich über Kennedys Laufburschenjobs für ihn, aber er hielt sich an dessen Anweisungen, Adenauer »um den Bart« zu gehen, obwohl er lieber in Washington gewesen wäre, um seine unnachgiebige Haltung in der Kuba-Politik zu vertreten.45

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Bild 6

16. April: Johnson richtet auf seiner Ranch in Texas für Adenauer ein Barbecue aus. Auf dem Weg zum Flughafen erzählt er ihm dann von der »Operation Schweinebucht«, die gerade in vollem Gange ist.

Ungefähr um die Zeit, als Adenauer sich bei einem texanischen Barbecue in zwei riesigen Zelten am Ufer des Pedernales, der durch Johnsons Ranch fließt, eine Wurst schmecken ließ, kam die von der CIA unterstützte Brigade 2506 schwer beladen mit Waffen und Vorräten am Treffpunkt gut 60 Kilometer südlich von Kuba an. Johnson setzte dem Kanzler einen breitkrempigen »Zweiundvierzig-Gallonen-Hut« auf, mit dem Adenauer für ein denkwürdiges Porträt posierte, das in allen deutschen Zeitungen erscheinen sollte. Johnson gab ihm einen Sattel und Sporen und lobte, wie mutig Adenauer das Pferd der Freiheit durch den Kalten Krieg geritten hatte. Adenauer schwärmte, dass er sich in Texas wie zu Hause fühle.

Auf der Fahrt zu Adenauers Rückflug am Montag, dem 17. April, erhielt Johnson einen Anruf von Kennedy. Er richtete dem Kanzler vom Präsidenten Grüße aus sowie dessen Aussage, dass Kennedy Westdeutschland als eine »Großmacht« betrachte. Anschließend flüsterte Johnson Adenauer ins Ohr, dass in Kuba ein Aufstand begonnen habe, der durch eine Invasion von Exilkubanern ausgelöst worden sei – eine soeben von Kennedy durchgegebene Information. 46

Man müsse die weitere Entwicklung abwarten, sagte Johnson zu Adenauer.

WEISSES HAUS, WASH I NGTON, D.C.
DIENSTAGABEND, 18. APRIL 1961

Als Adenauer wieder in Bonn war, gönnte sich Präsident Kennedy eine Auszeit von der aufziehenden Kuba-Krise. Er warf sich in Schale und trank mit Kongressmitgliedern und deren Ehegattinnen Champagner. Sie alle sonnten sich in dem Glanz und Zauber, der mit den Kennedys in Washington Einzug gehalten hatte.

Die wenigsten Gäste wussten, dass am Tag zuvor 1400 Exilkubaner, die von der CIA in Guatemala ausgebildet und ausgerüstet worden waren, eine Landung in der Schweinebucht begonnen hatten, geschweige denn, dass die Operation bereits drohte, in einer Katastrophe zu enden.47

Zwei Tage zuvor hatten acht B-26-Bomber mit kubanischen Kennzeichen, die von einem geheimen Luftstützpunkt der CIA im nicaraguanischen Puerto Cabezas gestartet waren, ihre Luftangriffe zur Vorbereitung der Landung verpfuscht. Sie hatten lediglich fünf der drei Dutzend Kampfflugzeuge Castros zerstört, sodass die Boote des Landungskommandos bereits angreifbar waren, bevor sie unvermutet auf Korallenriffe aufgelaufen waren.48

Castros Jagdflugzeuge versenkten zwei Frachter, die mit Munition und Kommunikationsausrüstung beladen waren. Viele Männer der von den Vereinigten Staaten unterstützten kubanischen Brigade waren an den falschen Orten gelandet, und alle hatten unzureichende Vorräte. Am Morgen des Galadinners hatte der US-Sicherheitsberater McGeorge Bundy dem Präsidenten die schlechte Nachricht überbracht: »Die kubanischen Streitkräfte sind stärker, die Reaktion im Volk ist zurückhaltender, und unsere taktische Position ist schwächer, als wir gehofft hatten.«49

Dennoch spielte die Kapelle der US-Marine an jenem Abend und stimmte die Melodie von »Mr Wonderful« an. Ein Sänger schmetterte die Strophen des Broadwayhits, als das ideale Paar – der Präsident und die First Lady – mit seinem perfekten Lächeln auf den Lippen unter donnerndem Applaus die mit rotem Teppich ausgelegten Stufen hinunterschritt.

Jackie tanzte mit Senatoren. Der Präsident plauderte, beschwingt von Umfragewerten, die immer noch eine Zustimmung von über 70 Prozent auswiesen.

Um 23:45 Uhr zog sich der Präsident von den Gästen zurück zu einer Besprechung, die eine letzte Gelegenheit bot, die sich abzeichnende Katastrophe in Kuba zu verhindern. Es war eine Szene wie aus einem Hollywoodfilm: Der Präsident und seine Kabinettsmitglieder im Smoking berieten mit einer Militärführung in Galauniform, mit allen Orden an der Brust, über Schlachtpläne. Unterdessen wurden in Kuba die Männer, die sie in den Kampf geschickt hatten, niedergemetzelt. Kennedy hatte zwar versucht, sich die Möglichkeit offenzuhalten, alles abzustreiten, indem weder amerikanische Soldaten noch Flugzeuge bei der Operation eingesetzt wurden, aber er hatte überall seine Fingerabdrücke hinterlassen.

Die meisten hohen Militärs im Raum hatten bereits unter Eisenhower ihren Posten innegehabt, als dieser im Januar 1960 den Plan zum Sturz Castros genehmigt hatte. Allen Dulles, der achtundsechzigjährige CIA-Direktor, den Kennedy aus der Eisenhower-Administration übernommen hatte, überwachte die Operation. Er hatte den ersten Plan für die Landung vorgelegt, der den erfolgreichen Staatsstreich von 1954 in Guatemala zum Vorbild hatte. Damals war eine linke Regierung von hundertfünfzig Exilguatemalteken und US-Piloten gestürzt worden, die eine Handvoll Jagdflugzeuge aus dem Zweiten Weltkrieg geflogen hatten. Die an Guatemala beteiligten CIA-Leute hatten auch als Dulles’ Vorkämpfer für den aktuellen Kuba-Plan fungiert.50

Der wichtigste Mann auf dem Treffen war Richard Bissell, genau der Typ des hochintelligenten, erstklassigen, streng geheimen Akteurs, der Kennedys Bruder mit seinem Faible für die Agentenwelt geradezu magisch anzog. Der hochgewachsene, gebeugt gehende ehemalige Wirtschaftsprofessor in Yale war der CIA-Einsatzleiter und hatte unmittelbar Einfluss auf die Operation in Kuba. Mit feiner Selbstironie hatte er Kennedy amüsiert, als er sich bei der ersten Begegnung als »menschenfressender Hai« vorstellte. Damals hatten CIA-Offiziere für den neuen Präsidenten ein Dinner in dem Männer vorbehaltenen »Alibi Club« veranstaltet.51

Die beiden inzwischen für Kennedy arbeitenden Dulles und Bissell hatten einem Plan für eine umfassende amphibische Landung von rund 1400 Exilkubanern den letzten Schliff gegeben. Nach dem Plan sollte die erfolgreiche Landung in irgendeiner Form einen Aufstand gegen Castro unter 25 Prozent der Bevölkerung (laut Schätzung der US-Geheimdienste) auslösen, angezettelt von 2500 Mitgliedern von Widerstandsorganisationen und 20 000 Sympathisanten. 52

Kennedy hatte diese Zahlen nie infrage gestellt, jedoch einige Änderungen angeordnet, die die Erfolgsaussichten schmälerten. Er hatte den Landungsplatz von Trinidad, einer kubanischen Stadt an der Südküste, an die Schweinebucht verlegt mit dem Argument, hier sei eine weniger Aufsehen erregende Landung möglich, bei der die Wahrscheinlichkeit, auf Widerstand zu stoßen, geringer sei. Kennedy hatte darauf bestanden, dass keine Luft- oder sonstige Unterstützung eingesetzt wurde, die den Vereinigten Staaten zugeordnet werden konnte. Außerdem hatte er den vorbereitenden Luftangriff von sechzehn auf acht Flugzeuge verringert – einmal mehr, um »das Ausmaß der Invasion herunterzuspielen«. Berlin war ein wichtiger Faktor bei den Überlegungen des Präsidenten gewesen: Er wollte auf keinen Fall Chruschtschow durch eine allzu offene US-Beteiligung an der Kuba-Invasion einen Vorwand für eine sowjetische Militäraktion in der geteilten Stadt geben.53

Die Änderungswünsche Kennedys in letzter Minute hatten so rasch umgesetzt werden müssen, dass es zu etlichen Versäumnissen kam. Niemand hatte die tückischen Korallenriffe in der Schweinebucht berücksichtigt. Außerdem hatte niemand daran gedacht, die bisherige Fluchtroute für die Invasoren in die Berge zu ändern, falls etwas schiefgehen sollte. Und schließlich waren etliche Details bereits an die Öffentlichkeit durchgesickert. Schon am 10. Januar hatte die New York Times auf der Titelseite eine Schlagzeile über drei Spalten gebracht: USA HELFEN BEI AUSBILDUNG EINER ANTI-CASTRO-TRUPPE AUF GEHEIMEM LUFTSTÜTZPUNKT IN GUATEMALA. Nur wenige Stunden vor der Invasion musste Kennedy über seinen Mitarbeiter Arthur Schlesinger die Zeitschrift New Republic dazu überreden, eine Story mit detailreichen und korrekten Einzelheiten über die Pläne für die Landung in Kuba zurückzuhalten.54

»Castro braucht gar keine Agenten bei uns im Land«, hatte sich Kennedy damals beschwert. »Er braucht nur unsere Zeitungen zu lesen.«

Die Invasion vom 17. April löste einen scharfen Briefwechsel zwischen Kennedy und Chruschtschow aus.55 Der sowjetische Parteichef, der zu der Zeit noch nicht wusste, wie kläglich die Operation scheiterte, gab am 18. April um 14 Uhr Moskauer Zeit mit den schärfsten Worten, die er Kennedy gegenüber jemals gebraucht hatte, einen Warnschuss ab. Mit folgender Formulierung stellte er die gefürchtete Verbindung zwischen Kuba und Berlin her: »Die militärische Rüstung und die weltpolitische Lage sehen momentan so aus, dass jeder sogenannte ›kleine Krieg‹ in allen Teilen der Welt eine Kettenreaktion auslösen kann.«

Chruschtschow kaufte Kennedy alle seine Dementis nicht ab, sondern erwiderte, es sei allgemein bekannt, dass die Vereinigten Staaten die Invasionsstreitmacht ausgebildet und die Flugzeuge und Bomben zur Verfügung gestellt hätten. Der Parteichef warnte Kennedy vor der Wahrscheinlichkeit einer »militärischen Katastrophe« und schwor: »Nur damit wir uns richtig verstehen: Wir werden dem kubanischen Volk und seiner Regierung alle notwendige Hilfe zukommen lassen, um einen bewaffneten Angriff auf Kuba zurückzuschlagen. «56

Kennedy antwortete auf Chruschtschows Note noch am selben Tag gegen 18 Uhr Washingtoner Zeit. »Sie haben ein völlig falsches Bild«, protestierte er gegenüber dem sowjetischen Parteichef. Er zählte sämtliche Gründe auf, weshalb die Kubaner den Verlust ihrer demokratischen Freiheiten als »unerträglich« empfänden und inwiefern dies bei über hunderttausend Flüchtlingen einen wachsenden Widerstand gegen Castro genährt habe. Anschließend hielt er die Fiktion der amerikanischen Nichteinmischung aufrecht und warnte Chruschtschow, ebenfalls die Finger davon zu lassen. »Die Vereinigten Staaten planen keine militärische Intervention in Kuba«, sagte er, doch falls die Sowjets als Antwort intervenieren sollten, würden die Vereinigten Staaten ihrer Pflicht nachkommen, »diese Hemisphäre vor einer Aggression von außen zu schützen«.57

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Bild 33

22. April: Kennedy und Eisenhower treffen sich in Camp David, um die Auswirkungen der Schweinebucht- Katastrophe zu besprechen.

Da diese Korrespondenz sich Kennedy lebhaft ins Gedächtnis einprägte, widersetzte er sich allen Forderungen nach einer stärkeren amerikanischen Beteiligung. Er lehnte Bissells Argument ab, dass er den Exilkubanern unbedingt begrenzte Luftunterstützung gewähren müsse, mit der Bissell zufolge der Sieg immer noch möglich sei. Bissell sagte, dass er lediglich zwei Jäger von dem Flugzeugträger USS Essex brauche, die feindliche Flugzeuge abschossen und das gestrandete Kontingent unterstützten.

Der Präsident blieb bei seinem Nein.58

Nur sechs Tage zuvor war Kennedy regelrecht verärgert gewesen, als Mitarbeiter ihre Bedenken hinsichtlich der Mission geäußert hatten. »Ich weiß, dass alle sich den Kopf deswegen zerbrechen«, hatte er gesagt. Jetzt war er ebenso genervt, als dieselben Leute, die ihn in den Schlamassel hineingeritten hatten, ihm mitteilten, dass er keinen Erfolg haben werde, ohne die militärische Aktion auf eine Weise zur Eskalation zu bringen, die ganz eindeutig die amerikanische Handschrift trug.

»Sobald ich auch nur einen Marineinfanteristen landen lasse, stecken wir bis zum Hals drin«, sagte er Bissell. »Ich kann nicht die Vereinigten Staaten in einen Krieg hineinziehen und ihn dann verlieren, ganz gleich, was es kostet.« Außerdem wollte Kennedy auf keinen Fall ein zweites »amerikanisches Ungarn« riskieren, eine Situation, in der man gemeinhin davon ausging, dass die Vereinigten Staaten einen Aufstand geschürt hätten, für dessen Verteidigung sie am Ende aber keinen Finger rührten. »Das könnte nämlich dabei herauskommen, ein verdammtes Blutbad. Ist das klar, meine Herren?«59

Wenn der Präsident keine Kampfflugzeuge einsetzen wollte, argumentierte Admiral Arleigh Burke, der Befehlshaber der US-Marine und Held des Zweiten Weltkriegs und des Korea-Kriegs, könne er doch die kubanische Brigade mit den Kanonen eines amerikanischen Zerstörers unterstützen. Der Admiral mit dem Spitznamen »31-Knoten-Burke« wegen der Neigung, seine Zerstörer mit halsbrecherischer Geschwindigkeit übers Wasser zu jagen, wollte, dass Kennedy endlich ein wenig Dampf machte. Seiner Meinung nach konnte Kennedy den Kämpfen noch eine andere Richtung geben, wenn nur ein Zerstörer »Castros Panzer zur Schnecke machte«, was keine Schwierigkeit sei, wie er betonte.

»Burke«, platzte dem Präsidenten beinahe der Kragen, »ich möchte nicht, dass die Vereinigten Staaten in diese Sache verwickelt werden.«

»Verdammt noch mal, Mr Präsident, wir sind bereits darin verwickelt«, gab Burke zurück, und zwar im Ton eines Vier-Sterne-Generals gegenüber einem frischgebackenen Kapitän eines Patrouillenboots. Er hatte oft genug erlebt, wie die Unentschlossenheit der Politik Menschenleben kosten und den Ausgang von Schlachten verändern konnte.60

Kennedy beendete das dreistündige Treffen nachts um 2:45 Uhr mit einem halbherzigen Kompromiss. Er genehmigte einen Plan, nach dem sechs nicht gekennzeichnete Jagdflugzeuge zum Schutz der B-26-Bomber der Exilkubaner ausgesandt wurden, während diese Vorräte und Munition abwarfen. Doch die Bomber trafen eine Stunde vor der US-Eskorte ein, und die kubanischen Soldaten schossen zwei Flugzeuge ab.61

Am Ende der ganzen Operation hatten Castros Streitkräfte 114 der von der CIA ausgebildeten Männer getötet und 1189 gefangen genommen. Fidel Castro hatte nach nur drei Tage langen Kämpfen seine Gegner zur Kapitulation gezwungen.

 

Acheson erkannte sofort, dass sich Kennedys Scheitern in Kuba unweigerlich negativ auf Chruschtschows Denken und auf das Vertrauen der Alliierten auswirken musste. Er hielt die ganze Aktion für »eine völlig undurchdachte, unverantwortliche Angelegenheit«.62

In einem Vortrag vor Diplomaten im Foreign Service Institute erklärte er: »Die Europäer waren der Meinung, dass sie einem talentierten jungen Amateur beim Üben mit dem Bumerang zusahen, bis sie zu ihrem Entsetzen erkannten, dass er sich selbst ausgeschaltet hatte.« Acheson sagte seinem Publikum, die Europäer seien darüber »bestürzt [gewesen], dass man einen so unerfahrenen Menschen mit einer so tödlichen Waffe spielen ließ.«63

Der fassungslose Acheson schrieb seinem ehemaligen Vorgesetzten Truman nach der Rückkehr aus Europa und spielte in dem Brief auf das Treffen mit Kennedy im Rosengarten an, ohne den Präsidenten jedoch namentlich zu nennen. »Warum wir uns jemals auf dieses dämliche Kuba-Abenteuer eingelassen haben«, schrieb er, »will mir nicht in den Kopf. Vor meiner Abreise erwähnte es jemand mir gegenüber, und ich sagte den Informanten, wie Sie und ich seinerzeit ähnliche Vorschläge für den Iran und Guatemala abgelehnt hätten und aus welchen Gründen. Ich nahm an, dass man diese Kuba-Idee ad acta gelegt hatte, was auch besser gewesen wäre.«64

Er sagte Truman, das Fiasko in Kuba werde großen Einfluss auf die europäische Denkweise über Kennedy haben. »Die Leitung dieser Regierung scheint überraschend schwach«, sagte er über Kennedy. »Soweit ich das beurteilen kann, litt die Durchführung der ganzen Aktion unter den Schwächen des Eisenhower-Plans. Die gegenwärtige Regierung tat ein Übriges und entfernte auch noch jene Elemente der Stärke, die für den Erfolg unerlässlich gewesen wären. Verstand ist kein Ersatz für Urteilsvermögen. Kennedy hat, zumindest im Ausland, einen sehr großen Teil von der fast schon fanatischen Bewunderung verloren, die seine Jugend und sein gutes Aussehen geweckt hatten.« Acheson teilte Truman ferner mit, dass Washington »eine bedrückte Stadt« sei, in der »die Moral im State Department den Tiefpunkt erreicht« habe.

Achesons Bemerkungen vor Diplomaten in der Ausbildung kamen Kennedy zu Ohren, der prompt ein vollständiges Transkript von dem Gespräch verlangte. Von da an stellte Acheson »eine unglückliche Auswirkung« auf Kennedys Vertrauen zu ihm und eine drastische Verringerung seines persönlichen Zugangs zum Präsidenten fest.

Die vernichtende Kritik Achesons hatte Kennedy tief getroffen.

MOS KAU
DONNERSTAG, 20. APRIL 1961

Chruschtschow konnte sein Glück kaum fassen.

Er hatte schon längst gewusst, dass Kennedy in Kuba handeln würde, und gegenüber dem Kolumnisten Lippmann hatte er in Sotschi entsprechende Bemerkungen fallen gelassen. Aber selbst in seinen kühnsten Träumen hätte er nie eine derartige Inkompetenz vermutet. Bei seiner ersten großen außenpolitischen Bewährungsprobe hatte der neue US-Präsident nicht einmal die geringsten Erwartungen Chruschtschows erfüllt. Kennedy hatte unter Beschuss Schwäche gezeigt. Ihm hatte das nötige Rückgrat gefehlt, Eisenhowers Pläne einfach zu streichen, oder die Charakterstärke, sie als seine eigenen zum Erfolg zu führen. Er hatte die Entschlossenheit vermissen lassen, eine Aktion von so großer Bedeutung für das amerikanische Prestige erfolgreich zu Ende zu führen.65

Kennedy hatte es somit zwar vermieden, Chruschtschow einen Vorwand für einen Gegenschlag in Berlin zu geben, gleichzeitig hatte er dem Parteichef aber durch sein Scheitern wertvolle Informationen über den Charakter des Mannes geliefert, der an der Spitze der Vereinigten Staaten stand.66 »Ich begreife Kennedy nicht«, sagte Chruschtschow zu seinem Sohn Sergej. »Ist er wirklich so unentschlossen?« Er verglich die Operation in der Schweinebucht mit seiner eigenen blutigen, aber entschlossenen Intervention sowjetischer Truppen in Ungarn, um dafür zu sorgen, dass das Land in der kommunistischen Einflusssphäre blieb.67

Danach bereitete Chruschtschow die Möglichkeit Kopfzerbrechen, dass CIA-Chef Dulles, dem er die Schuld an dem U-2-Zwischenfall im Vorjahr gegeben hatte, möglicherweise die Invasion nur zu dem Zweck durchgezogen hatte, die Vorbereitungen für ein amerikanisch-sowjetisches Gipfeltreffen zu torpedieren. Chruschtschow war sogar so egozentrisch, dass er glaubte, Kennedy habe die Landung in Kuba womöglich mit dem Ziel gestartet, den sowjetischen Parteichef an seinem Geburtstag, dem 17. April, zu demütigen. Statt ihm das Fest zu verderben, erhielt Chruschtschow durch Kennedys Fiasko jedoch ein unvermutetes Geschenk.68

Die folgenden KGB-Berichte über Kennedy kamen Chruschtschow zugleich ermutigend und beunruhigend vor. Auf der positiven Seite berichtete der KGB aus London (offenkundig von Quellen der amerikanischen Botschaft), Kennedy habe im Zuge der Kuba-Krise Kollegen mitgeteilt, er bedauere es inzwischen, dass er Republikaner wie Allen Dulles und C. Douglas Dillon als CIA-Chef beziehungsweise Finanzminister behalten habe. Gleichzeitig fragte sich Chruschtschow jedoch, was die gescheiterte Operation denn über das Wesen der Präsidentschaft Kennedys aussagte. Hatte der Präsident wirklich das Sagen, oder wurde er von antikommunistischen Falken wie Dulles manipuliert? War Kennedy am Ende selbst ein Falke? Oder ließ der verpfuschte Plan vielmehr darauf schließen, dass Kennedy womöglich etwas weit Gefährlicheres war, nämlich ein unberechenbarer und undurchschaubarer Widersacher?

Wie dem auch sei, es ließ sich jedenfalls nicht bestreiten, dass sich Chruschtschows Aussichten binnen einer einzigen Woche erheblich zum Besseren hin gewendet hatten. Ein drastischerer Richtungswechsel als das Zusammentreffen von Gagarins Triumph im All und dem amerikanischen Fiasko in der Schweinebucht war kaum vorstellbar. Vor nicht einmal sechs Wochen hatte Chruschtschow Botschafter Thompson in Sibirien empfangen und ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er zögerte, Kennedys Einladung zu einem Gipfeltreffen anzunehmen. Jetzt, da Kennedy so angeschlagen war, tendierte Chruschtschow eher dazu, das Risiko einzugehen, mit ihm in den Ring zu steigen.

Obwohl das Glück des sowjetischen Führers sich schneller als vermutet gewendet hatte, wusste er genau, dass er noch schneller handeln musste. An der Lage vor Ort in Berlin hatte sich immer noch nicht das Geringste geändert. Eine ganz neue Generation strömte nach Berlin und wollte unbedingt die Sehenswürdigkeiten und die Atmosphäre der einzigen Stadt auf der Welt erleben, wo man beobachten konnte, wie die beiden verfeindeten Staatssysteme der Welt offen und ohne Vermittler miteinander wetteiferten.

Chruschtschow wollte kein Risiko eingehen, wohin das Ganze auch führen mochte.

Jörn Donner entdeckt die Stadt

Den jungen finnischen Schriftsteller Jörn Donner trieb vor allem die Überzeugung nach Berlin, dass der Ort viel stärker eine Idee als eine Stadt war. Aus diesem Grund eignete sich Berlin viel besser als alle denkbaren Alternativen für seine Abenteuerlust nach dem Hochschulexamen und für neue Inspirationen.

Das linke Pariser Seine-Ufer hatte Sartre und seine Anhänger, Roms Via Veneto hatte das berühmte Dolce Vita zu bieten, und kein Ort konnte es mit Londons Soho aufnehmen, wenn es um die Suche nach dem vereinten Reiz der Lehre und der Wollust ging. Aber nur Berlin konnte Donner ein so einzigartiges Fenster auf die geteilte Welt bieten, in der er lebte.69

In Donners Augen war der Unterschied zwischen Ost- und Westberlinern allein durch die äußeren Umstände bedingt, insofern dienten sie als die idealen Versuchskaninchen für das wohl bedeutendste soziale Experiment der Weltgeschichte. Bis zum Jahr 1945 waren sie die gleichen Berliner, geprägt von der gleichen Geschichte, gewesen, doch seither blieben wegen der jähen Umsetzung unterschiedlicher Systeme der einen Seite die dekadenten Laster des Wohlstands, der anderen hingegen die Tugenden einer Zwangsjacke. Die Berliner waren geografisch immer schon zwischen Westeuropa und Russland eingezwängt gewesen, doch der Kalte Krieg hatte aus dieser Geografie ein psychisches und geopolitisches Drama gemacht.70

Zwanzig Jahre später sollte Donner Ingmar Bergmans Film »Fanny und Alexander« produzieren, der mit vier Oscars ausgezeichnet wurde. Doch im Augenblick gab er sich als moderner Christopher Isherwood, und nach dem Abschluss seines Studiums an der Stockholmer Universität wollte Donner seine künstlerische Karriere mit einer Chronik Berlins als lebendiger Geschichte seiner Zeit beginnen.

Isherwoods Roman »Leb wohl Berlin« hatte die Straßenkämpfe zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten zu Beginn der Dreißigerjahre zum Hintergrundthema, die eine Art Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg und Holocaust waren. Donner hielt die Geschichte, die er erzählen wollte, für wenigstens ebenso bedeutend, obwohl die Rolle der Berliner selbst eher die der passiven Zuschauer der großen Politik war, die sich rings um sie herum abspielte.

Im Allgemeinen sprach man herablassend von der Berliner Schnauze, wenn man sich auf die Respektlosigkeit der Berliner bezog, und daran hatte sich auch unter der Besatzung nichts geändert.

Der britische Autor Stephen Spender beschrieb die augenscheinliche Couragiertheit der Berliner im Kalten Krieg einmal folgendermaßen: »Wenn Berliner eine besondere Furchtlosigkeit an den Tag legen, die das fast ungläubige Staunen der ganzen Welt erregt, so liegt das daran, dass sie jenen Ort jenseits der Angst erreicht haben, an dem sie, da sie dem Konflikt der Großmächte auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, das Gefühl haben, dass es keinen Sinn hat, Angst zu haben, und aus diesem Grund haben sie auch vor nichts und niemand Angst.«

In der feuchten Kälte der Westberliner U-Bahn studierte Donner die unfreundlichen, desinteressierten Gesichter, die im Zentrum seines Dramas standen. Obwohl sich möglicherweise das Schicksal der gesamten Menschheit in ihrer Stadt entschied, hielt Donner die Berliner für merkwürdig apathisch, als ob ihnen die Realität zu viel wäre, um sie aufzunehmen.

Auf der Suche nach der geeigneten Metapher, um die geteilte Stadt zu beschreiben, sollte sich Donner später bei seinen Lesern dafür entschuldigen, dass er »der fast schon automatischen Manie eines Schlafwandlers« nicht widerstehen konnte, die Teilung der Stadt am gegensätzlichen Charakter der beiden prominentesten Boulevards zu illustrieren: Westberlins Kurfürstendamm und Ostberlins Stalinallee.

Genau wie Westberlin war auch der Ku’damm aus dem Chaos der Nachkriegsjahre wieder auferstanden, er pulsierte geradezu vor Energie und Neonlichtern. Anspruchsvolle Modeboutiquen, neue Cafés und Bars warben um die prall gefüllten Portemonnaies. Genau wie Ostberlin vertuschte auch die Stalinallee mit zentral geplantem neoklassizistischem Pomp die darunter verborgene Zerbrechlichkeit der Gesellschaft. Alles war zentral vorgegeben – von der Größe jeder einzelnen Wohnung bis hin zur Breite der Korridore und Höhe der Fenster. Die Anweisungen der Staatssicherheit legten genau fest, wie viele Spitzel in eine bestimmte Zahl von Einwohnern eingeschleust werden mussten.71

Obwohl der Ku’damm nur dreieinhalb Kilometer lang war, waren hier siebzehn der teuersten Juwelierläden ganz Deutschlands, zehn Autohändler und die exklusivsten Restaurants der Stadt zu finden. Kriegerwitwen bettelten an Straßenecken, wo die prominentesten Bürger der Stadt vorbeigingen, wie sie genau wussten. Ein guter Platz war zum Beispiel direkt vor dem Ausstellungsraum von Eduard Winters Volkswagenfiliale, wo der reichste Berliner bekanntlich am Tag dreißig Autos verkaufte, wenn er sich nicht gerade um seinen Coca-Cola-Vertrieb kümmerte.

Isherwood, dessen Roman als Vorlage für den Film »Cabaret« diente, schilderte den Ku’damm wie folgt: »die vielen kostspieligen Hotels, Bars, Kinos und Läden ... funkelnd wie ein falscher Brillant in dem dürftigen Dämmerlicht der Stadt«. Die Atmosphäre war im Kalten Krieg noch ganz ähnlich, auch wenn beim Wiederaufbau nach dem Krieg die schärferen Konturen aus Beton und Glas der Fünfzigerjahre Einzug gehalten hatten.

Die verruchtere Seite des Ku’damms hatte ebenfalls den Krieg überlebt. In einem aufgemotzten Etablissement namens »The Old-Fashioned« beobachtete Donner einen Düsseldorfer Geschäftsmann, der eine blonde Bardame am Ohr leckte, bis sie sich wegdrehte und seine Lippen in ihre Armbeuge rutschten. Berlin war ein Ort, zu dem die Deutschen kamen, um in der Anonymität und ohne nächtliche Sperrstunde ihren Spaß zu suchen, von Transvestitenbars bis hin zu konventionelleren Vergnügungen. Was in Berlin passierte, blieb in Berlin.

Auf der anderen Seite der Stadt, im kommunistischen Ostberlin, entdeckte Donner das Gegenstück zum Ku’damm. Im Jahr 1949, am siebzigsten Geburtstag Stalins, benannte Ulbricht die breite Frankfurter Straße nach dem Diktator um, und diesen Namen behielt sie bis zum November 1961, obwohl Stalin inzwischen tot war und Chruschtschow sich längst von Stalin distanziert hatte.72 In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs hatten sowjetische Soldaten Nazis an den Bäumen entlang der Straße aufgehängt; häufig war an der Leiche ein Zettel mit der Aufschrift befestigt: HIER HÄNGT XXX, WEIL ER SICH WEIGERTE, FRAU UND KIND ZU VERTEIDIGEN.

Ulbricht hatte die Straße unter dem Namen Stalinallee als ein Aushängeschild für die Stärke und Leistungsfähigkeit des Kommunismus neu aufgebaut, sozusagen »die erste sozialistische Straße auf deutschem Boden«, deren Zweck es war, »der Arbeiterklasse Paläste« zu verschaffen. Also zogen Bautrupps von 1952 bis 1960 eine lange Reihe achtstöckiger Mietshäuser in dem monumentalen stalinistischen Baustil hoch. Der Schutt aus dem Krieg wurde umgewandelt zu Wohnungen mit Balkon, Aufzug, Keramikfliesen, Marmortreppen und – zu jener Zeit ein echter Luxus – einem Bad in jeder Wohnung. Damit die Stalinallee auch für Militärparaden breit und lang genug war, legten die Stadtplaner die Straße als eine mit Bäumen besetzte, sechsspurige, neunzig Meter breite, zwei Kilometer lange Schnellstraße an. Die Stalinallee bot künftig die Kulisse für die alljährliche Parade zum Tag der Arbeit, aber von hier aus begann im Jahr 1953 auch der Arbeiteraufstand.

Unweit der Stalinallee beschrieb Donner die stille Verzweiflung der Ostberliner, die der Zweite Weltkrieg arg gebeutelt hatte – und jetzt waren sie wiederum auf der falschen Seite der Geschichte gelandet. Die Raabe-Diele zählte zu den ältesten Kneipen in Berlin und lag in der Sperlingsgasse, einer schmalen Passage, die in der Mitte immer noch von Kriegstrümmern blockiert war, die bislang niemand weggeräumt hatte. Die Kneipe hatte nur drei Tische, eine Theke, Sitzbänke entlang den Wänden und schlichte, ramponierte Stühle.

Alleinige Inhaberin war Frau Friedrich Konarske, die mit ihren zweiundachtzig Jahren an derselben Theke schon seit siebenundfünfzig Jahren bediente. Sie mochte nicht über ihr eigenes trauriges Leben sprechen, plauderte aber munter mit Donner über ihre Kundschaft, ausschließlich Männer bis auf eine laute Frau in den Vierzigern, die einen Schnaps nach dem anderen kippte, während sie allen von ihren Magenoperationen erzählte.

»Zehn betrunkene Männer sind besser als eine halb nüchterne Frau«, klagte Konarske.

Zwei Männer mittleren Alters zupften an einem Fenstertisch auf ihren Gitarren und sangen sentimentale Lieder. Als sie anfingen, ihre Sachen zu packen, rief ein buckliger Mann mit krächzender Stimme einen letzten Liederwunsch: »Spielt ›Lili Marleen‹. Dett möcht ick hören. Dann jeb ick einen aus.«

Der am besten gekleidete Mann in der Bar (den die anderen deshalb für ein Parteimitglied oder für einen Stasi-Mitarbeiter hielten) erhob dagegen Einspruch mit der Begründung, das sei ein Lieblingslied Hitlers gewesen.

Der Bucklige protestierte wütend. »Wat soll dat heißen? ›Lili Marleen‹ wurde im Krieg jespielt, um die Sehnsucht der Soldaten nach Frieden zum Ausdruck zu bringen – jawohl zum Ausdruck zu bringen. Dett hat überhaupt nischt mit dem Nationalsozialismus zu tun.« Und da hatte er recht: Das Lied hatte der Soldat Hans Leip im Ersten Weltkrieg vor seiner Abfahrt an die russische Front geschrieben. Sogar Amerikaner und Engländer würden das Lied lieben, protestierte der Bucklige.

»Es ist eine universale Melodie!«, rief ein angetrunkener junger Mann, der mit seiner großen, platten Nase, mit den Blumenkohlohren und gelb verfärbten Fingerspitzen wie ein ehemaliger Boxer aussah. Ein Gast nach dem anderen in Frau Konarskes Bar schloss sich der Auflehnung gegen den mutmaßlichen Kommunisten an, aber die Sänger zögerten noch, weil schon ein kurzer Akt des Widerstands mit einer langen Gefängnisstrafe enden konnte.

Vom Alkohol ermutigt drohte der Boxertyp dem gut gekleideten Mann: »Wenn Se nicht zuhören wollen, können Se ja jehen.« Dann stimmte er allein die erste Strophe an, die Musiker fielen ein, gefolgt von einer Stimme nach der anderen, bis die ganze Kneipe rings um den schweigsamen Mann im dunklen Anzug, der gemächlich sein Bier trank, das Lied grölte.

Frau Konarske verkündete, das nächste Getränk gehe auf Rechnung des Hauses. Dann nahm sie Donner beiseite und zeigte ihm den kleinen, eingerahmten Text hinter ihr an der Wand, der aus dem Zweiten Weltkrieg stammte: Dort hieß es: WIR ZIEHEN EBENSO NACKT IN DEN TOD, WIE WIR INS LEBEN GEKOMMEN SIND.

Sie fragte den Fremden: »Jloben Se, dass mal jemand meinen Platz einnimmt, wenn ick nicht mehr da bin? Meine Verwandten und Freunde sind alle in Westdeutschland. Jloben Se, die wollen nach Ostberlin kommen und in ’nem kleenen Loch von zehne morgens bis um zwei in der Nacht malochen?«

Sie beantwortete ihre Frage selbst: »Nee.«