KAPITEL 7
Frühling für Chruschtschow
Westberlin ist ein Knochen im Hals
der sowjetisch -amerikanischen
Beziehungen. […] Wenn Adenauer Krieg haben will,
ist Westberlin ein
guter Ort, um damit zu beginnen.
PARTEICHEF CHRUSCHTSCHOW AN US-BOTSCHAFTER
LLEWELLYN E. THOMPSON JUN., 9. MÄRZ 19611
Höchstwahrscheinlich wird die
UdSSR noch in diesem Jahr eine Krise
wegen Berlin provozieren. Sämtliche
Handlungsoptionen sind riskant und
nicht sehr vielversprechend. Untätigkeit ist
allerdings noch schlimmer.
Es heißt: Friss oder stirb. Wenn es zu einer Krise
kommt, könnte sich ein
mutiger und riskanter Kurs als der sicherste
erweisen.
EX-US-AUSSENMINISTER DEAN ACHESON, MEMORANDUM ZU
BERLIN
FÜR PRÄSIDENT KENNEDY, 3. APRIL 19612
NOWOSIBIRSK,
SIBIRIEN
SONNTAG, 9. MÄRZ 1961
Nikita Chruschtschow war in schlechter gesundheitlicher Verfassung und nicht bei Laune. Der Parteichef hatte ein wachsweißes Gesicht, sein Körper war in sich zusammengesackt, und seine Augen waren leblos – ein Aussehen, das in einem so krassen Kontrast zu seinem üblichen draufgängerischen Temperament stand, dass US-Botschafter Llewellyn »Tommy« Thompson und seine beiden Reisegefährten, der junge politische Berater der US-Regierung Boris Klosson und Anatolij Dobrynin, der Amerika-Experte im sowjetischen Außenministerium, regelrecht schockiert waren.3
Zehn Tage lang hatte Thompson immer wieder nachgefragt, bis es ihm endlich gelungen war, eine Audienz bei Chruschtschow zu bekommen, um dem Parteichef den ersten persönlichen Brief des US-Präsidenten mit der längst erwarteten Einladung zu einem Treffen zu übergeben.4 Und selbst dann war Thompson gezwungen gewesen, fast 3000 Kilometer zu fliegen, um Chruschtschow in Akademgorodok abzufangen, einer riesigen Forschungsstadt, die auf Befehl Chruschtschows nicht weit von Nowosibirsk in der westsibirischen Ebene aus dem Boden gestampft worden war.
Der Parteichef hatte den Anspruch gehabt, in Sibirien das weltweit führende Forschungszentrum zu bauen, aber wie so viele Träume von ihm hatte auch dieser sich nicht erfüllt. In derselben Woche hatte er einen Genetiker entlassen, dessen Theorien ihm nicht gefallen hatten, und er hatte angeordnet, von den laut Bauplan vorgesehenen neun Stockwerken für die Akademie vier wieder zu streichen, damit der Bau eher der sowjetischen Standardgröße entsprach. 5 Die Enttäuschung wegen Akademgorodok war jedoch nur ein Beispiel aus einer immer länger werdenden Liste sowjetischer Fehlschläge, die am Selbstvertrauen des Parteichefs kratzten.
Die landwirtschaftliche Inspektionsreise durch das Land hatte bei Chruschtschow physisch und emotional ihren Tribut gefordert und ihm die wirtschaftlichen Mängel seines Landes umso klarer bewusst gemacht. Albanien hatte in geradezu ketzerischer Weise öffentlich Moskau die Treue aufgekündigt und war auf die Seite Chinas gewechselt – ein beunruhigender erster Riss in der sowjetischen Führungsrolle in der weltweiten kommunistischen Bewegung. Moskaus Verbündeter im Kongo, Patrice Lumumba, war ermordet worden; für diesen Tod machte Chruschtschow UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld persönlich verantwortlich.6
Noch schwerwiegender war: Die kapitalistische Welt erwies sich als weit zäher, als seine Propagandisten vorhergesagt hatten. Die Entkolonialisierung in Afrika hatte das Ansehen des Westens in den jetzt unabhängigen Entwicklungsländern nicht so nachhaltig geschädigt, wie seine Experten sich das vorgestellt hatten. Ungeachtet aller sowjetischen Bemühungen, das Bündnis zu spalten, vertiefte sich die Integration der NATO, und die westdeutsche Bundeswehr weitete ihre Kapazitäten so rasch aus, dass sich dadurch das militärische Kräfteverhältnis in Europa verschob. Sowohl in seinen Äußerungen als auch mit seinen Rüstungsausgaben zeigte sich US-Präsident Kennedy eher noch antikommunistischer als Eisenhower. Und Monat für Monat stieg die Zahl der Flüchtlinge aus Ostdeutschland auf neue Rekordhöhen. Wenn Chruschtschow nicht bald Erfolge vorweisen konnte, musste der Sowjetführer befürchten, dass er auf dem Parteitag im Oktober ums eigene Überleben kämpfen würde.
Vor diesem Hintergrund erklärte sich Chruschtschow erst dann zu einem Treffen mit Thompson bereit, als der US-Botschafter gegenüber dem New-York-Times- Korrespondenten Seymour Topping (sowie einigen Diplomaten in Moskau) durchsickern ließ, dass der Sowjetführer ihm ausgerechnet zu einer Zeit die kalte Schulter biete, als Kennedy ihm die Hand reichen wollte. Am 3. März hatte Topping pflichtgetreu berichtet, dass Thompson derzeit vergeblich versuche, eine wichtige Botschaft Kennedys an Chruschtschow weiterzuleiten. Der Präsident hoffe, auf diese Weise »ein ernstes Unglück in unseren Beziehungen zu verhindern«. Topping schrieb, dass Thompson ein neues Mandat habe, »eine Reihe von Sondierungsgesprächen zu beginnen, die substanzielle Verhandlungen zu einer ganzen Reihe west-östlicher Meinungsunterschiede zum Ziel hätten«.7
Selbst danach stimmte Chruschtschow nur widerwillig einem Treffen mit Thompson zu. Sein Berater Oleg Trojanowskij hatte beobachtet, dass sich die hochgespannten Hoffnungen seines Chefs in den vier Monaten seit Kennedys Wahl »rasch in Luft aufgelöst hatten«.8 Es dürfte kaum ein besseres Barometer für die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen geben als Trojanowskij, den allgegenwärtigen Berater Chruschtschows, der die Sidwell Friends School in Washington, D.C., besucht hatte, da sein Vater zwischen 1934 und 1939 als erster sowjetischer Botschafter in Washington gedient hatte. Er konnte ebenso fließend Marx zitieren, wie er amerikanischen Slang beherrschte.
Trojanowskij hatte mit eigenen Augen verfolgt, dass Chruschtschow der Verzögerungstaktik Kennedys müde geworden war, nachdem er die lang ersehnte Gelegenheit verpasst hatte, den neuen amerikanischen Staatschef zu erreichen, ehe dieser von den, wie Chruschtschows meinte, antisowjetischen Vorurteilen in Washington infiziert wurde. Nicht einmal ein Jahr nach dem U-2-Zwischenfall und dem gescheiterten Pariser Gipfeltreffen konnte sich Chruschtschow kein zweites gescheitertes Treffen mit einem US-Präsidenten leisten. Doch derzeit schien kaum ein anderer Ausgang eines solchen Gipfels möglich in Anbetracht der Entschlossenheit Kennedys, sich in der Berlin-Frage Zeit zu lassen und hartnäckig ein Atomteststopp-Abkommen zu verlangen, das vom sowjetischen Militär auf keinen Fall erwünscht war. Chruschtschow hatte sich bereits wegen Truppenkürzungen bei hohen Militärs unbeliebt gemacht; diese würden sich entschieden gegen alle Maßnahmen zur Wehr setzen, die die atomare Entwicklung hemmen oder die Forschungsarbeiten für neugierige Inspektoren offenlegen würden.
Die Besuche landwirtschaftlicher Kolchosen auf dem Weg nach Nowosibirsk hatten seine Unzufriedenheit nur gesteigert. Laut einem aktuellen offiziellen statistischen Jahrbuch hatte die Sowjetunion rund 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Vereinigten Staaten erreicht, aber das war sicherlich übertrieben.9 Die CIA nämlich bezifferte die Größe der sowjetischen Volkswirtschaft im Vergleich zu den USA nur auf rund 40 Prozent, und manche Experten schätzten, dass die sowjetische Wirtschaft allenfalls 25 Prozent des amerikanischen Niveaus erreiche. Die landwirtschaftliche Produktivität liege nur bei einem Drittel – Tendenz: sinkend.
Bei seinen Reisen hatte Chruschtschow die hässliche Wahrheit hinter den allzu optimistischen Berichten der Speichellecker in der Provinz gesehen. Die sowjetische Landwirtschaft scheiterte wegen falscher Planung, Missernten und katastrophal schlechten Verteilersystemen, die häufig am Verrotten der Ernte schuld waren. Jede Woche schäumte Chruschtschow über Aufstellungen, die inkompetente Untergebene ihm vorlegten. Viele frisierten die Zahlen, um ihr eigenes Scheitern zu kaschieren, während andere zwar die eigenen Mängel zugaben, aber nichts dagegen unternahmen. Ein Parteisekretär namens Solotuchin aus der westrussischen Provinzhauptstadt Tambow am Fluss Zna gestand seine Unzulänglichkeit. Dann ließ er die Hose herunter und forderte Chruschtschow dreimal auf, ihn auszupeitschen.
»Warum legen Sie denn so großen Wert darauf, die Hose runterzulassen und uns Ihren Arsch zu zeigen?«, hatte Chruschtschow ihn angebrüllt. »Glauben Sie vielleicht, dass uns das einen besonderen Nervenkitzel verschafft? Wieso behalten wir solche Sekretäre eigentlich noch?«10
Auf einer lokalen Parteiversammlung nach der anderen forderte Chruschtschow seine Arbeitskräfte auf, die amerikanischen industriellen und landwirtschaftlichen Produktionsraten zu erreichen und die amerikanische Milch- und Fleischproduktion zu übertreffen – diese Ziele waren seit seinem Besuch von 1959 im amerikanischen Mittleren Westen eine fixe Idee von ihm. Als Genossen fragten, ob es klug sei, mit den Imperialisten zu konkurrieren, erklärte Chruschtschow, Amerika sei »das höchste Stadium des Kapitalismus«, während die Sowjets erst vor kurzem angefangen hätten, das Fundament für das Haus des Kommunismus zu legen: »Und unsere Dachziegel sind Produktion und Konsumgüter.«11
Den Menschen in der Sowjetunion blieb das wirtschaftliche Scheitern keineswegs verborgen. Das äußerte sich durch schwarzen Humor und Witze, die man sich in Lebensmittelschlangen erzählte, während Chruschtschow durchs Land tourte:12
Frage: Welche Nationalität hatten Adam und Eva?
Antwort: Die sowjetische.
Frage: Woher wollen Sie das wissen?
Antwort: Weil beide nackt waren, nur einen Apfel zum Essen hatten und glaubten, sie wären im Paradies.
In manchen Witzen kam sogar der neue US-Präsident vor:
Präsident John F. Kennedy kommt zu Gott und fragt: »Sag mir, lieber Gott, wie viele Jahre dauert es, bis mein Volk glücklich wird?«
»Fünfzig Jahre«, erwidert Gott.
Kennedy weint und geht.
Charles de Gaulle kommt zu Gott und fragt: »Sag mir, lieber Gott, wie viele Jahre dauert es, bis mein Volk glücklich wird?«
»Hundert Jahre«, erwidert Gott.
De Gaulle weint und geht.
Chruschtschow kommt zu Gott und fragt: »Sag mir, lieber Gott, wie viele Jahre dauert es, bis mein Volk glücklich wird?«
Der liebe Gott weint und geht.
So schlecht gelaunt Chruschtschow schon bei Thompsons Ankunft gewesen war, seine Laune wurde noch schlechter, als der Parteichef die russische Übersetzung von Kennedys Brief las. Chruschtschow fand darin kein einziges Wort zu Berlin. Seelenruhig und betont langsam erklärte er Thompson, dass Kennedy sich darüber im Klaren sein müsse, dass er niemals von seiner Forderung, über »die deutsche Frage« zu verhandeln, Abstand nehmen werde. Mit der Zeit habe er, so Chruschtschow, selbst Eisenhower überzeugt, dass man Berlin-Gespräche nicht länger hinausschieben könne, aber dann hätten amerikanische Militaristen mit ihrem U-2-Spionageflug »bewusst die Beziehungen torpediert«.13
Wegen der ausdrücklichen Anweisung, sich nicht auf Berlin einzulassen, entgegnete Thompson lediglich, dass Kennedy »unsere Deutschland-Politik prüfe und nach Möglichkeit mit Adenauer und anderen Verbündeten darüber diskutieren möchte, bevor wir Schlüsse ziehen«.
Da Chruschtschow inzwischen die Nase voll hatte von der – in seinen Augen – Verzögerungstaktik der USA, schnaubte er verächtlich bei der Vorstellung, dass das mächtigste Land der Welt es nötig habe, jemanden zurate zu ziehen, bevor es handelte. Kein Wunder, wenn man bedenkt, wie geringschätzig er selbst mit seinen Bündnispartnern im Warschauer Pakt umsprang. »West-berlin ist ein Knochen im Hals der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen«, sagte Chruschtschow zu Thompson, und jetzt sei der Zeitpunkt günstig, ihn zu entfernen. »Wenn Adenauer Krieg haben will«, so Chruschtschow, »ist Westberlin ein guter Ort, um damit zu beginnen.«
Obwohl Kennedy noch nicht bereit war, mit Chruschtschow über Berlin zu verhandeln, legte der sowjetische Parteichef Thompson eifrig seine Verhandlungsposition dar, damit der Boschafter sie an den US-Präsidenten weiterleiten konnte. Chruschtschow sagte Thompson, dass er bereit sei, jeder Vereinbarung zuzustimmen, dass die Westberliner das politische System ihrer Wahl behalten dürften, selbst wenn es ein kapitalistisches sei. Allerdings müssten sich die Amerikaner im Gegenzug von der Vorstellung einer deutschen Vereinigung verabschieden, auch wenn sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Sowjets sie langfristig wünschen mochten. Das Gerede von der Wiedervereinigung müsse aufhören, sagte er, wenn die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten ein Abkommen unterzeichnen sollten, das den Krieg beendete und beide Teile Deutschlands als souveräne Staaten anerkannte.
Chruschtschow versicherte seinerseits Thompson, dass er das sowjetische Imperium nicht weiter nach Westen ausdehnen werde, aber auch wünsche, dass Washington davon Abstand nehme, die Sowjetunion aus dem Territorium zurückzudrängen, das bereits zu ihrer Einflusssphäre gehöre. Mit gesenkter Stimme, als wolle er eine Intimität zwischen alten Freunden andeuten, teilte Chruschtschow Thompson mit, dass es sein »aufrichtiger Wunsch« sei, die Beziehung zu Kennedy zu verbessern und einen Atomkrieg unmöglich zu machen. Aber, so sagte er, das könne er nicht allein.
Chruschtschow drängte Thompson weit über die genehmigten Gesprächsthemen hinaus. Der amerikanische Botschafter warnte Chruschtschow, keine rasche Veränderung der amerikanischen Haltung zu Berlin zu erwarten, ermahnte ihn gar, falls der Sowjetführer unilateral handle, werde er die Spannungen lediglich verschärfen. »Wenn es etwas gibt, das eine massive Steigerung der amerikanischen Rüstungsausgaben auslösen könnte, vergleichbar mit derjenigen zur Zeit des Korea-Kriegs«, sagte Thompson, »dann ist das die Überzeugung, dass die Sowjets tatsächlich versuchen, uns aus Berlin zu vertreiben.«14
Chruschtschow überging Thompsons Warnung. »Was fasziniert den Westen eigentlich so sehr an Berlin?«, entgegnete er.
Das liege daran, dass Amerika den Berlinern ein feierliches Versprechen gegeben habe, erwiderte Thompson, deshalb habe sein Land das eigene Ansehen mit ihrem Schicksal verknüpft.
Chruschtschow antwortete achselzuckend, dass die Westmächte überhaupt erst nach der deutschen Kapitulation am Ende des Zweiten Weltkriegs nach Berlin gelangt wären. »Lassen Sie uns gemeinsam einen Status für West-berlin ausarbeiten«, sagte er. »Wir können es bei der UNO eintragen. Gründen wir eine gemeinsame Polizeitruppe auf der Basis eines Friedensvertrags, der von den vier Mächten garantiert wird, oder eine symbolische Einheit der vier Mächte könnte in Westberlin stationiert werden.« Seine einzige Bedingung sei, dass Ostberlin bei diesen Plänen ausgeklammert werde, weil die sowjetische Zone der Großstadt auf jeden Fall die Hauptstadt Ostdeutschlands bleiben werde.
Da Berlin für Moskau politisch nicht sonderlich wichtig war, wiederholte Chruschtschow, dass er den Vereinigten Staaten jede gewünschte Garantie geben werde, um ihr Ansehen zu wahren und das gegenwärtige politische System Westberlins zu gewährleisten.15 Er sei bereit, Westberlin als kapitalistische Enklave in Ostdeutschland zu akzeptieren, sagte er, weil die Sowjetunion ohnehin Westdeutschland schon 1965 beim Pro-Kopf-Einkommen übertreffen werde und nach weiteren fünf Jahren auch die Vereinigten Staaten. Um die Bedeutungslosigkeit Westberlins noch drastischer zu veranschaulichen, sagte Chruschtschow: Da die sowjetische Bevölkerung jährlich um dreieinhalb Millionen wachse, sei die Gesamtbevölkerung Westberlins mit zwei Millionen lediglich »die Arbeit einer Nacht« für sein sexuell produktives Land.16
Gewissermaßen als Advocatus Diaboli wandte Thompson ein, auch wenn Westberlin für die Sowjets bedeutungslos sei, so sei »Ulbricht sehr wohl daran interessiert«, und es sei unwahrscheinlich, dass er Chruschtschows Garantie für ein demokratisches, kapitalistisches System billigen würde. Mit einer abschätzigen Handbewegung, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen, erklärte Chruschtschow, er könne Ulbricht zwingen, allem zuzustimmen, was er und Kennedy beschlössen.
Um das heikle Thema Berlin endlich abzuhaken, wechselte Thompson zur Liberalisierung des amerikanisch-sowjetischen Handels. In dieser Angelegenheit hatte er ein Angebot, von dem er hoffte, dass es den Parteichef besänftigen würde. Die US-Regierung habe, so Thompson, die Hoffnung, in Kürze sämtliche Beschränkungen für sowjetische Krabbenfleischimporte in die Vereinigten Staaten aufzuheben.17
Statt auf die Geste einzugehen, machte Chruschtschow seinem ganzen Zorn über die unlängst erfolgte Entscheidung der US-Regierung Luft, aus Gründen der nationalen Sicherheit den Verkauf fortschrittlicher Mahlwerkzeuge an Moskau zu stornieren. »Die UdSSR kann auch ohne amerikanische Maschinen ihre Raketen fliegen lassen!«, fauchte er. Er schimpfte noch weiter über die verzögerte Genehmigung des Kaufs einer Düngemittelfabrik, die ebenfalls auf die potenzielle militärische Verwendung zurückzuführen war, angeblich für die Herstellung chemischer Waffen. Laut Chruschtschow war die Harnstofftechnologie inzwischen so verbreitet, dass er in den Niederlanden schon drei solche Werke hätte kaufen können.18
Allerdings hatte keine noch so große Menge an Kunstdünger für Chruschtschow eine auch nur annähernd so große Bedeutung wie Berlin, und der sowjetische Parteichef kam immer wieder auf das Thema zu sprechen, bis Thompson widerwillig darauf einging. Er versicherte Chruschtschow, der US-Präsident wisse, dass die Situation für beide Seiten unbefriedigend sei, dass er »das ganze Problem Deutschland und Berlin erneut prüfe« und durchaus »bereit sei, etwas zur Entspannung zu unternehmen«. Aber Thompson wiederholte, dass er Kennedys Ansichten nicht wiedergeben könne, solange sich der Präsident nicht persönlich mit den Verbündeten beraten hätte – und das werde er auf den Treffen im März und April tun, noch vor dem vorgeschlagenen Gipfeltermin.
Chruschtschow beklagte sich, dass Kennedy sich nicht voll darüber im Klaren sei, was in Berlin auf dem Spiel stehe. Wenn er und Kennedy einen Vertrag unterzeichnen könnten, der den Nachkriegsstatus der Stadt beende, dann würde dies die Spannungen auf der ganzen Welt entschärfen, sagte er Thompson. Falls es ihnen jedoch nicht gelingen sollte, die Meinungsverschiedenheiten um Berlin zu beseitigen, würden ihre Truppen weiterhin einander gegenüberstehen, in einem Zustand »des Waffenstillstands zwar, aber nicht des Friedens«. Chruschtschow wollte nichts hören von Kennedys Vorstellung, dass über Abrüstungsverhandlungen das nötige Vertrauen aufgebaut werden könne, um die schwierigere Berlin-Frage anzugehen. Genau umgekehrt, sagte er: Erst ein amerikanischer und sowjetischer Truppenabzug aus Deutschland werde die geeignete Atmosphäre für Abrüstungen schaffen.19
Nachdem Chruschtschow wochenlang versucht hatte, ein Treffen mit Kennedy zustande zu bringen, antwortete er nunmehr zurückhaltend auf die Einladung des US-Präsidenten. Er sagte lediglich, dass er »geneigt sei«, Kennedys Angebot anzunehmen, sich in der ersten Maiwoche, in rund zwei Monaten, zu treffen, nach Besuchen des britischen Premiers Macmillan und des westdeutschen Kanzlers Adenauer in Washington sowie nach einem Besuch Kennedys in Paris, wo er de Gaulle treffen wollte. Kennedy hatte entweder Wien oder Stockholm als Treffpunkt vorgeschlagen. Chruschtschow meinte, er ziehe Wien zwar vor, schließe Schweden aber keineswegs aus. Der sowjetische Parteichef meinte achselzuckend, dass es sicher hilfreich sei, Kennedy persönlich kennen zu lernen; beiläufig schob er nach, dass sie sich 1959 ja nur kurz begegnet seien, als der damalige Senator zu spät zu dem Besuch des sowjetischen Parteiführers im Senatsausschuss für Auswärtige Beziehungen erschienen sei. Ohne die Einladung anzunehmen oder abzulehnen, sagte Chruschtschow jedoch zu Thompson, dass »es notwendig sei, einen Anlass für das Treffen zu finden«.
Am Ende des anschließenden Mittagessens hob Chruschtschow ein Glas mit seinem geliebten Pfefferwodka zu einem lauen Trinkspruch auf Kennedy, der in einem eklatanten Gegensatz zu der enthusiastischen Neujahrsansprache stand. Er verzichtete auf die üblichen Wünsche zu Kennedys Gesundheit: »Da er so jung ist, hat er solche Wünsche nicht nötig.« Nachdem er die im vorigen Jahr ausgesprochene Einladung an Eisenhower, die Sowjetunion zu besuchen, zurückgezogen hatte, bedauerte er es, dass die Zeit noch nicht reif sei, Kennedy und seine Familie die traditionelle Gastfreundschaft seines Landes erleben zu lassen.
Thompson kehrte noch am selben Abend mit dem Flugzeug zum schneebedeckten Flughafen Wnukowo in Moskau zurück, und sein Fahrer brachte ihn über vereiste Straßen zur Botschaft, wo Thompson seinen Bericht nach Washington telegrafierte.20 Obwohl er seit achtzehn Stunden auf den Beinen war, hielt ein Adrenalinschub ihn wach, während er tippte.
Nach Thompsons Erfahrung war Chruschtschow noch nie so einseitig auf Berlin fixiert gewesen. Der sowjetische Parteichef hatte bei Thompson den Eindruck erweckt, dass er das Problem nicht länger hinausschieben werde. »Alle meine diplomatischen Kollegen, die diese Angelegenheit erörtert haben, sind der Meinung, dass Chruschtschow, wenn es nicht zu Verhandlungen kommt, noch in diesem Jahr […] eine Berlin-Krise herbeiführen wird«, schrieb er.21
Eine Woche später drängte Thompson seine Vorgesetzten in einem weiteren Telegramm, ihre Krisenplanung für ein eventuelles sowjetisches Vorgehen gegen Berlin zu beschleunigen.22 Die Beziehungen zwischen Chruschtschow und der Kennedy-Administration seien so schlecht, argumentierte der Botschafter, dass der sowjetische Führer den Eindruck haben könnte, dass er bei Berlin viel zu gewinnen und wenig zu verlieren hätte. Thompson fügte jedoch hinzu, dass Chruschtschow eine militärische Konfrontation mit dem Westen immer noch vermeiden wolle und die Ostdeutschen anweisen werde, den Zugang des alliierten Militärs zu der Stadt in keiner Weise einzuschränken.
Thompson zählte die Ursachen für die wachsenden sowjetisch-amerikanischen Spannungen auf, die sich in den ersten Wochen der Kennedy-Administration angesammelt hatten: Der Kreml habe kein Interesse an dem US-Vorschlag eines Stopps aller Kernwaffentests; er halte Kennedy für militanter als Eisenhower aufgrund des aufgestockten Rüstungsbudgets; er sei beunruhigt über die amerikanischen Vorbereitungen für Guerillakriege in der Dritten Welt; und er sei ungehalten über die zunehmenden Beschränkungen der Kennedy-Administration für den Verkauf sensibler Technologie an die Sowjets. Außerordentlich verärgert sei der Kreml über die persönliche und öffentlich geäußerte Zusage Kennedys, Radio Free Europe stärker zu unterstützen, das sich als ein wirkungsvolles Werkzeug entpuppt hatte, um das Informationsmonopol kommunistischer Regime zu durchbrechen. In Afrika und Südamerika würden die Stellvertreterkriege, so Thompson, fortgesetzt werden und sich womöglich noch zuspitzen.
Seine Gedanken, was der Brennpunkt des mutmaßlichen Treffens mit Chruschtschow sein werde, legte Thompson für Präsident Kennedy wie folgt dar: »Die Erörterung des deutschen Problems wird, was [Chruschtschow] betrifft, das Hauptthema der Veranstaltung sein. Vermutlich legt der sowjetische Parteichef seinen Kurs bezüglich Berlins auf diesem Treffen oder unmittelbar danach fest.« Laut Thompson sei es die schwerste Aufgabe des Präsidenten, Chruschtschow zu überzeugen, dass die Vereinigten Staaten eher kämpfen würden, als die Westberliner im Stich zu lassen. Andererseits führe eine völlig unnachgiebige Haltung zwangsläufig zur Konfrontation. Chruschtschow werde dieses Thema noch vor dem Parteitag im Oktober forcieren, prophezeite Thompson. Und in diesem Fall »könnte dies die reale Gefahr eines Weltkriegs mit sich bringen, und wir würden so gut wie sicher auf eine verschärfte Kalter-Krieg-Beziehung zurückfallen«.
Thompson wiederholte seine Überzeugung, dass man die Risiken von Verhandlungen mit Chruschtschow gegen die Realität abwägen müsse und dass die Vereinigten Staaten im Grunde keine Alternative hätten. Bei allen Nachteilen, so Thompson, sei Chruschtschow »aus unserer Sicht vermutlich noch besser als jeder, der ihm wahrscheinlich nachfolgen wird«. Somit lag es in Amerikas Interesse, Chruschtschow an der Macht zu halten, auch wenn Thompson einräumte, dass seine Botschaft viel zu wenig über die innere Funktionsweise des Kremls wisse, um einen verlässlichen Ratschlag zu erteilen, wie Kennedy die Auseinandersetzungen innerhalb der kommunistischen Partei beeinflussen könne.
Mit einer geradezu unheimlichen Weitsichtigkeit fügte Thompson hinzu: »Falls wir davon ausgehen, dass die Sowjets die Berlin-Krise nicht weiter verschärfen, dann müssen wir zumindest damit rechnen, dass die Ostdeutschen die Sektorengrenze abriegeln, um den für sie unerträglichen Flüchtlingsstrom durch Berlin zu stoppen.«23
Mit diesem Gedanken war Thompson möglicherweise der erste US-Diplomat, der den Bau der Berliner Mauer vorhersagte.
Anschließend schlug Thompson eine Verhandlungsposition vor, die die Sowjets seiner Meinung nach akzeptieren könnten und die es Washington gestatten würde, wiederum die Initiative an sich zu reißen. Kennedy sollte Chruschtschow eine Übergangslösung zu Berlin vorschlagen, nach der den beiden deutschen Staaten sieben Jahre eingeräumt würden, um eine langfristige Lösung auszuhandeln. Während dieser Zeit, gewissermaßen im Gegenzug für eine sowjetische Garantie des freien Zugangs zu Westberlin, würden die Vereinigten Staaten den Sowjets versichern, dass Westdeutschland keinen Versuch unternehmen werde, die östlichen Territorien zurückzugewinnen, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verloren hatte.
Mit diesem Deal könnten die Ostdeutschen, so Thompson, den Flüchtlingsstrom stoppen, was sowohl im amerikanischen als auch im sowjetischen Interesse liege, weil die wachsende Zahl der Flüchtlinge die Region destabilisiere. Um seinen Plan zu konkretisieren, schlug Thompson als vertrauensbildende Maßnahme vor, die westlichen verdeckten Aktivitäten zu verringern, die von Berlin aus durchgeführt wurden, sowie die Schließung des amerikanischen Rundfunksenders RIAS, der von Westberlin aus Berichte in die sowjetische Zone ausstrahlte. Selbst wenn Chruschtschow ein entsprechendes US-Angebot ablehne, werde Thompsons Ansicht nach schon allein der Vorschlag es Kennedy ermöglichen, die öffentliche Meinung auf seine Seite zu ziehen, und dann werde es für Chruschtschow schwieriger werden, unilateral zu handeln.
Kennedy konnte die von seinem Botschafter vermittelte Dringlichkeit jedoch nicht nachvollziehen. Er und sein Bruder Robert hatten allmählich den Verdacht, dass Thompson der alten Krankheit der »Klientelpolitik« des US-Außenministeriums verfallen sei und sich allzu bereitwillig die sowjetischen Positionen aneigne. Der Präsident räumte gegenüber Freunden ein, dass er Chruschtschow immer noch nicht »begreife«. Immerhin hatte Eisenhower das Berlin-Ultimatum des sowjetischen Parteichefs von 1958 ebenfalls ignoriert, ohne dass dies irgendwelche Konsequenzen gehabt hätte. Kennedy wollte nicht einsehen, dass die Dringlichkeit inzwischen höher als damals war.
Die besten Köpfe in den US-Geheimdienstkreisen bestätigten diese Ansicht. Das Intelligence Board’s Special Subcommittee zur Berlin-Frage der US-Regierung, das maßgebliche Gremium der Agentenwelt zu diesem Thema, erklärte, es sei unwahrscheinlich, dass Chruschtschow »zum jetzigen Zeitpunkt die Spannungen wegen Berlin verschärfen« werde. Nach ihrer Einschätzung würde Moskau den Druck nur dann erhöhen, wenn Chruschtschow glaube, er könne auf diese Weise Kennedy zu Gipfelgesprächen zwingen. Ihr Fazit: Wenn Kennedy zeigte, dass verschärfte sowjetische Drohungen ihn nicht sonderlich beeindruckten, dann werde Chruschtschow die Lage in Berlin nicht eskalieren lassen.24
Also beschloss der Präsident einmal mehr, dass das Thema Berlin noch warten könne. Zwei andere Angelegenheiten prägten ebenfalls allmählich sein Denken. Zum einen sollte Dean Acheson in Kürze dem Präsidenten seinen ersten Bericht zur Berlin-Politik vorlegen – exakt der Gegenpol der Falken zu Thompsons weicherer Linie. Zum anderen wurde Kennedy zunehmend von einer Angelegenheit in Anspruch genommen, die sich vor der eigenen Haustür abspielte. Seine Topagenten trafen die letzten Vorbereitungen für eine Invasion Kubas durch Exilkubaner, die von der CIA ausgebildet und ausgerüstet worden waren.
WASHINGTON,
D.C.
MONTAG, 3. APRIL 1961
Achesons Bericht, die erste längere Denkschrift der Kennedy-Administration zur Berlin-Politik, landete einen Tag vor der Ankunft des britischen Premierministers Harold Macmillan in Washington auf dem Schreibtisch von US-Außenminister Dean Rusk. In seiner charakteristischen Art hatte Acheson, Außenminister unter Präsident Truman, den Zeitpunkt für die Abgabe so gewählt, dass das Papier eine möglichst große Wirkung erzielte und gleich zu Beginn einer Reihe alliierter Besucher eine harte Linie vorgab.25
Sein zentrales Argument lautete, dass Kennedy die Bereitschaft signalisieren müsse, um Berlin zu kämpfen, wenn er eine sowjetische Vorherrschaft in Europa und danach in Asien und Afrika verhindern wolle. Indem er seine Worte wie Waffen ins Feld führte, schrieb Acheson, falls die Vereinigten Staaten »eine kommunistische Machtübernahme in Berlin akzeptierten – ganz gleich nach welcher Hinhaltetaktik, um das Gesicht zu wahren –, dann würde das Machtverhältnis in Europa drastisch verändert, und Deutschland und vermutlich auch Frankreich, Italien und die Beneluxländer würden sich entsprechend anpassen. Das Vereinigte Königreich würde hoffen, dass sich irgendeine Möglichkeit ergeben würde. Aber vergeblich.«
Acheson kannte Kennedy so gut, dass er sich sicher sein konnte, dass der Präsident sowohl seinem Urteil vertraute als auch sein Misstrauen gegen die Sowjets teilte. Auf der Suche nach einem Außenminister während der Übergangsphase hatte Kennedy Acheson, seinen Nachbarn in Georgetown, um Rat gefragt. Während eine Meute Fotografen vor der Haustür wartete, hatte der gewählte Präsident Acheson anvertraut, dass er »in den letzten Jahren so viel Zeit investiert hatte, Menschen kennen zu lernen, die ihm helfen konnten, Präsident zu werden, um nunmehr festzustellen, dass er sehr wenig Menschen kannte, die ihm halfen, Präsident zu sein.« 26
Anschließend trug Acheson maßgeblich dazu bei, Kennedy davon abzubringen, Senator William Fulbright in die engere Wahl zu nehmen. In seinen Augen war der Senator »nicht solide und ernsthaft genug für diesen Posten. Ich war immer der Meinung, dass er etliche Eigenschaften eines Dilettanten in sich vereinte.«27 Stattdessen lenkte er Kennedy zu dem Mann, der am Ende gewählt wurde: Dean Rusk, der in seiner Funktion als Leiter des Ressorts für Fernost unter Truman Außenminister Acheson tatkräftig beim Kampf gegen Appeasementpolitiker und den Kommunismus in Asien unterstützt hatte. Hinsichtlich anderer Kabinetts- und Botschaftsposten gab Acheson manchen Namen seinen Segen und vernichtete andere, er frönte damit der Washingtoner Hetzjagd, die er so sehr liebte. Er lehnte auch Kennedys Angebot, US-Botschafter bei der NATO zu werden, ab mit dem Argument, er ziehe es vor, seine unabhängige Kanzlei und das Einkommen als Anwalt zu behalten, ohne dass »alle diese Statuten Einfluss auf mich haben«.
Abgesehen davon genoss Acheson es, seinen Einfluss auf die Regierung zu erneuern, indem er sich maßgeblich in die Diskussion zweier Themen mit oberster Priorität für Amerika einschaltete: die Zukunft der NATO und die damit zusammenhängenden Fragen des Atomwaffeneinsatzes sowie die Verteidigung Westberlins. Acheson hatte seinen Platz in der Geschichte bereits sicher, weil er federführend an der Gründung des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und des Marshall-Plans beteiligt gewesen war. Er war der wichtigste Gestalter der NATO gewesen – hatte etwa die Abneigung Amerikas gegen langfristige Bündnisse überwunden – und hatte gemeinsam mit George Marshall die Truman-Doktrin von 1947 ausgearbeitet, der zufolge der außenpolitische Grundsatz der USA lautete, »allen Völkern, deren Freiheit von militanten Minderheiten oder durch einen äußeren Druck bedroht ist«, Beistand zu gewähren, auf der ganzen Welt den Kommunismus zu bekämpfen und die Demokratie zu unterstützen. Die Tatsache, dass Kennedy ihn einlud, sich wiederum zu engagieren, war für Acheson ein Zeichen dafür, dass seine Fähigkeiten noch geschätzt und gebraucht wurden.
Selbst im Alter von fast achtundsechzig Jahren war Acheson noch eine einnehmende Persönlichkeit.28 Der stets ebenso tadellos gekleidete wie informierte Acheson sagte Freunden gern im Vertrauen, dass ihm der Selbstzweifel völlig fehle, der seine Widersacher so sehr plage. Mit der Melone, dem spöttischen Grinsen, stahlblauen Augen und nach oben gezwirbeltem Schnurrbart fiel er ohnehin überall auf. Der scharfsinnige, über ein Meter achtzig große, schlaksige Acheson, der für Dummköpfe nichts übrighatte, widmete sich seinem neuen Studienobjekt Berlin mit derselben Entschlossenheit, die Sowjets auszumanövrieren und zu überspielen, die seine Karriere so sehr geprägt hatte. Eben diese harte Linie hatte ein so merkwürdiges Band zwischen Acheson und Präsident Truman geknüpft – zwischen dem in Yale geschulten, Martini trinkenden Sohn eines Pfarrers der Episkopalen Kirche und dem Politiker aus dem Mittleren Westen ohne College-Abschluss, der kein Blatt vor den Mund nahm.
Kurz nach Kennedys Wahl hatte sich Acheson in einem Brief an Truman über ihn lustig gemacht, weil der Ex-Präsident Bedenken wegen Kennedys Katholizismus geäußert hatte. »Machen Sie sich wirklich Sorgen, weil Jack Katholik ist?«, hatte er Truman gefragt, der Kennedy abschätzig »den jungen Mann« nannte. Acheson erinnerte Truman daran, es habe ihm nie etwas ausgemacht, dass de Gaulle und Adenauer Katholiken waren. »Außerdem«, fügte Acheson wissend hinzu, »glaube ich nicht, dass er ein sehr guter Katholik ist.«29
Seit Kennedys Auftrag vom Februar hatte Acheson intensiv sämtliche Eventualitäten für Berlin geprüft. Er stimmte Thompson zu, dass es noch in diesem Jahr vermutlich zu einem Showdown kommen werde, aber da hörte die Einhelligkeit auch schon auf. Er riet dem Präsidenten, mehr Stärke zu zeigen und jede Hoffnung auf eine Verhandlungslösung aufzugeben, die den Status quo verbessern könnte. »Sämtliche Handlungsoptionen sind riskant und nicht sehr vielversprechend«, schrieb Acheson. »Untätigkeit ist allerdings noch schlimmer. Es heißt: Friss oder stirb. Wenn es zu einer Krise kommt, könnte sich ein mutiger und riskanter Kurs als der sicherste erweisen.«
Eisenhower hatte Achesons Ratschlag zurückgewiesen, der seinerzeit von außerhalb der Regierung kam, dass der US-Präsident energischer auf die wiederholten Tests Moskaus, wie stark Amerika sich in Europa und Berlin engagieren werde, reagieren müsse, nämlich mit einer massiven militärischen Aufrüstung. Acheson hoffte, bei Kennedy auf offenere Ohren zu stoßen. Rusk und Bundy hatte er bereits überzeugt, und er konnte sich auf die beiden anderen einflussreichsten Regierungsvertreter zum Thema Berlin verlassen: Paul Nitze aus dem Pentagon und Foy Kohler vom Außenministerium.
Das wohl umstrittenste Argument Achesons in seinem Memorandum war die These, dass die Gefahr eines weltweiten Atomkriegs möglicherweise nicht mehr ausreiche, um Chruschtschow in Berlin abzuschrecken – falls sie denn jemals ausgereicht hatte. Laut Acheson war das bisherige Zögern Chruschtschows eher auf den Wunsch zurückzuführen, einen Abbruch der Beziehungen zum Westen zu vermeiden, als auf die Überzeugung, dass die USA einen Atomkrieg riskieren würden, um Berlin zu verteidigen. Folglich empfahl Acheson Präsident Kennedy eine massive konventionelle Aufrüstung in Europa und riet ihm gleichzeitig, die Alliierten, insbesondere die Westdeutschen, zu überreden, »im Voraus einem Kampf um Berlin zuzustimmen«.
Acheson zählte für Kennedy auf, was er für die fünf Hauptziele Chruschtschows mit Blick auf Berlin hielt:
Das ostdeutsche Regime stabilisieren und seine spätere internationale Anerkennung vorbereiten.
Die deutschen Ostgrenzen bestätigen.
Westberlin in einem ersten Schritt neutralisieren und die spätere Übernahme durch die Deutsche Demokratische Republik vorbereiten.
Das Bündnis NATO schwächen oder gar spalten.
Die Vereinigten Staaten diskreditieren oder zumindest ihrem Ansehen erheblich schaden.30
Genau wie Adenauer war Acheson überzeugt, dass das Berlin-Problem ohne Wiedervereinigung nicht gelöst und diese erst in ferner Zukunft durch eine konsequente Demonstration der westlichen Stärke erreicht werden könne. Aus diesem Grund war nach Achesons Ansicht derzeit in der Berlin-Frage allenfalls eine Einigung mit Moskau möglich, die den Westen verwundbarer machte. Folglich hätten Gespräche überhaupt keinen Sinn.
Berlin sei »der Schlüssel zur Machtstellung in Europa«, legte Acheson dar. Somit war die Bereitschaft, es zu verteidigen, von zentraler Bedeutung, um den Kreml auch anderswo in Schach zu halten. Welchen Kurs Kennedy auch einschlug, Acheson riet dem Präsidenten, »rasch zu entscheiden, welche Kriterien den Ausschlag für einen Kampf um Berlin geben«, und Amerikas Verbündete dazu zu bringen, diesen Kriterien zuzustimmen.
Achesons Fazit für Kennedy: »Wir müssen uns momentan mit der Wahrung des Status quo in Berlin zufriedengeben. Wir können nicht erwarten, dass Chruschtschow sich mit weniger begnügen wird – wir dürfen uns aber auch selbst nicht mit weniger abfinden.«
Sein bahnbrechender Aufsatz konzentrierte sich anschließend auf die geeigneten militärischen Mittel – im Rahmen der amerikanischen Möglichkeiten – , um Chruschtschow abzuschrecken. Die Drohung eines Atomschlags war lange das As im Ärmel gewesen, aber Acheson wagte es, geradezu ketzerisch zu argumentieren, dass dies eigentlich keine Option sei, weil den Russen »völlig klar« sei, dass Washington wegen Berlin nicht das Leben von Millionen Amerikanern aufs Spiel setzen werde. Acheson wies darauf hin, dass manche Militärs als Alternative für den »begrenzten Einsatz nuklearer Waffen« plädierten, »das heißt, eine Bombe irgendwo abzuwerfen«.
Er verwarf diese Idee ebenso rasch, wie er sie zur Sprache gebracht hatte: »Wenn man eine Bombe abwirft, dann ist das nicht die Drohung, die Bombe abzuwerfen, sondern ein Abwurf – und sobald das geschieht, ist es entweder ein Anzeichen dafür, dass man noch mehr abwerfen wird, oder man lädt die Gegenseite ein, ihrerseits Bomben zu werfen.« Das hielt Acheson für »eine unverantwortliche und nicht ratsame Maßnahme im Zusammenhang mit dem Problem Berlin«.
Also präsentierte Acheson Kennedy einen Vorschlag, der die Entschlossenheit des Westens unmissverständlich deutlich machen sollte. Er wollte, dass der Präsident die konventionellen Streitkräfte in Deutschland erheblich aufstockte, sodass die Sowjets klar erkennen würden, wie entschlossen die Vereinigten Staaten waren, Berlin zu verteidigen – ein Kurs, der kaum in einem größeren Gegensatz zu Thompsons Anregung eines siebenjährigen Moratoriums stehen könnte, während dessen Dauer die beiden deutschen Staaten über ihre Meinungsverschiedenheiten verhandeln sollten. Durch diese Aufrüstung würden sich die Vereinigten Staaten Acheson zufolge »ohnehin viel zu sehr engagieren, um noch einen Rückzieher zu machen – und wenn hier jemand einen Rückzieher macht, dann müssen sie das tun«.
Acheson räumte ein, dass es gewisse Risiken barg, wenn Amerika sich nicht mehr ganz so stark auf die nukleare Abschreckung verließ, fügte aber hinzu, dass »dies der einzige Weg ist, zu demonstrieren, dass wir es ernst meinen, ohne etwas vollkommen Verrücktes zu tun«. Er schlug nicht vor, das Truppenkontingent in Berlin zu vergrößern, wo die Truppen nur in der Falle säßen und wenig nutzen würden, sondern drei oder mehr Divisionen anderswo in Westdeutschland zu stationieren. Er würde die US-Reserven um sage und schreibe sechs Divisionen aufstocken und mehr Transportfahrzeuge für alle neuen Soldaten zur Verfügung stellen, damit man sie im Notfall nach Berlin verlegen könne.31
Verteidigungsminister McNamara billigte Achesons Denkschrift. Kennedy nahm sie immerhin so ernst, dass er auf ihrer Basis eine erneute Prüfung durch das Pentagon anordnete, wie man eine künftige Berlin-Blockade brechen könne. Acheson wusste jedoch, dass eine wichtige Gruppe seine Ansichten ablehnen würde: die Bündnispartner Amerikas. Die Franzosen und Deutschen würden gegen jede Verwässerung der atomaren Abschreckung plädieren, von der sie glaubten, sie reiche völlig aus, um ein langfristiges Engagement der Vereinigten Staaten für ihre Verteidigung zu gewährleisten. Und die Briten wollten verstärkt Verhandlungen mit den Sowjets – ein Kurs, den Acheson ablehnte. Da sich die Alliierten nicht einmal untereinander einigen konnten, wie man am besten Berlin verteidigen müsse, lautete Achesons Rat an Kennedy, unilateral seinen Kurs zu wählen und die Alliierten vor vollendete Tatsachen zu stellen.32
Im Vorfeld des Treffens mit Macmillan ließ Bundy noch schnell Kennedy das, wie er sagte, »erstklassige« Memorandum seines Freunds Acheson zukommen. Er riet Kennedy, dass er seinen britischen Gästen, die in der Berlin-Frage bekanntlich »weich« waren, klarmachen müsse, dass er entschlossen war, standhaft zu bleiben.33 Rusk wiederholte Achesons Worte, dass die Berlin-Gespräche in der Vergangenheit gescheitert seien und dass kein Anlass zu der Ansicht bestehe, dass sie derzeit größere Erfolgsaussichten hätten.
Fast über Nacht hatte Acheson die Initiative zur Berlin-Frage übernommen, indem er ein Vakuum in der Administration ausfüllte. Unter Berufung auf die Denkschrift riet der Nationale Sicherheitsberater Bundy dem US-Präsidenten, sich höflich alle Pläne anzuhören, die London vorbringen mochte, »aber im Gegenzug sollten wir energisch darauf drängen, die Zusage zu bekommen, dass die Briten im Augenblick der Wahrheit standhaft bleiben werden«.
OVAL OFFICE, WEISSES
HAUS, WASH I NGTON, D.C.
MITTWOCH, 5. APRIL 1961
Der britische Premierminister Macmillan war bestürzt, als Kennedy Acheson zunickte und ihn aufforderte zu erklären, warum er mit Blick auf die Sowjets und Berlin glaube, dass ein Konfrontationskurs mit höherer Wahrscheinlichkeit letztlich zu einer akzeptablen Kompromisslösung führen werde.34 Der Präsident war von seinem nationalen Sicherheitsteam sowie David Bruce, dem US-Botschafter in London, umgeben. Macmillan hatte unter anderen den britischen Außenminister Alec Douglas-Home, mitgebracht. Aber die Köpfe aller Anwesenden wandten sich Acheson zu, und einer der schillerndsten Selbstdarsteller auf der diplomatischen Bühne gab eine Vorstellung, die die Briten tief beunruhigte.
Kennedy sagte mit keinem Wort, ob er Achesons harte Linie teilte, allerdings musste Macmillan davon ausgehen. Acheson leitete die Diskussion mit der Erklärung ein, dass er bei seinen Studien zu Berlin noch keine endgültigen Schlussfolgerungen gezogen habe, führte aber anschließend genau das aus, was er bereits beschlossen hatte. Kennedy hörte schweigend zu.
Macmillan und Acheson waren fast gleich alt. Achesons Kleidung, sein manieriertes Auftreten und die anglokanadische Herkunft hätten eine kulturelle Gemeinsamkeit vermuten lassen. Doch die beiden Männer hätten in ihrer Einschätzung, wie man mit den Sowjets umgehen musste, nicht weiter auseinanderliegen können.35 Macmillan hatte seine Begeisterung für eben jene Gespräche mit Moskau auf höchster Ebene noch nicht verloren, die laut Acheson kaum etwas genutzt hatten. Diese Haltung reichte bis zu einer Sitzung des Ausschusses für Auswärtige Beziehungen von 1947 zurück, als Acheson erklärt hatte: »Ich halte es für einen Fehler zu glauben, dass man sich jemals mit den Russen an einen Tisch setzen und Fragen lösen kann.«
Er zählte seine »Semi-Prämissen«, wie er es nannte, auf:
Eine befriedigende Lösung des Berlin-Problems, getrennt von einer umfassenderen Lösung der Teilung Deutschlands insgesamt, gibt es nicht.
Und es hat nicht den Anschein, dass eine solche Lösung in absehbarer Zeit erreicht wird.
Mit großer Wahrscheinlichkeit ist davon auszugehen, dass die Sowjetunion die Berlin-Frage in Laufe des Jahres verschärfen wird.
Derzeit lässt sich keine Verhandlungslösung vorstellen, die den Westen in eine günstigere Position bezüglich Berlins als die jetzige bringt.
»Somit müssen wir uns«, sagte Acheson, »dem Thema stellen und uns jetzt auf alle Eventualitäten vorbereiten. Berlin ist von höchster Bedeutung. Aus diesem Grund forcieren die Sowjets das Thema. Wenn der Westen diesen Test nicht besteht, dann wird Deutschland von der Allianz abgespalten werden.«
Der Präsident unterbrach Achesons Vortrag mit keinem Wort, und deshalb wagte es auch kein anderer. Acheson erklärte, Verhandlungen und andere nicht militärische Mittel, welche die Briten, wie alle Anwesenden wohl wüssten, vorziehen würden, seien unzureichend. Man müsse eine militärische Antwort ermöglichen, sagte Acheson, aber wie solle sie aussehen und unter welchen Bedingungen?
Macmillan und Lord Home verbargen ihre Bestürzung. Sie kamen direkt aus Paris, wo sie mit anhören mussten, wie sich de Gaulle – der bereits versuchte, Adenauer für eine gaullistische Vision eines Europas ohne die Briten zu gewinnen – ebenfalls vehement gegen Berlin-Gespräche mit den Sowjets ausgesprochen hatte. Die Briten wollten Kennedy nicht auf dieser Seite wissen.
Im Alter von siebenundsechzig Jahren war Macmillan zunehmend zu der Ansicht gelangt, dass ein Großteil der Ansprüche Londons in der Welt von seiner Fähigkeit abhing, Washington zu beeinflussen. Das hing wiederum davon ab, wie er mit dem neuen US-Präsidenten zurechtkam. Als begeisterter Amateurhistoriker hatte Macmillan erkannt, dass die Amerikaner so etwas wie »das neue Römische Reich« repräsentierten, »und wir Briten mussten, ähnlich wie die Griechen der Antike, ihnen jetzt beibringen, wie das funktioniert. […] Wir können allenfalls hoffen, sie zu zivilisieren und gelegentlich zu beeinflussen. «36 Aber wie wollte er Kennedys Zustimmung erhalten, das Rom zu Macmillans Griechenland zu spielen?
Nach Premierminister Anthony Edens politischem Absturz im Zuge der Suez-Krise hatte sein Nachfolger Harold Macmillan ganz auf den Wiederaufbau einer »Sonderbeziehung« zu den Vereinigten Staaten gesetzt, nämlich über seine Freundschaft zu Präsident Eisenhower, die er im Zweiten Weltkrieg geknüpft hatte. Macmillan hatte die maßgebliche Rolle eines »ehrlichen Maklers« gespielt, als es darum ging, Präsident Eisenhower zu Gesprächen mit Chruschtschow über Berlins Zukunft zu überreden, und er hatte das Scheitern des Pariser Gipfels als persönliche Niederlage empfunden. Er hatte Chruschtschow vergeblich angefleht, die Gespräche nicht abzubrechen.
Vor diesem Hintergrund hatte Macmillan so viele Informationen über Kennedy gesammelt, wie er beschaffen konnte, damit er einen Zugang zu dem Mann fand, der vierundzwanzig Jahre jünger als er war. Macmillan hatte seinem Freund Henry Brandon, einem Kolumnisten, sein Leid geklagt, dass es ihm nie gelingen werde, noch einmal eine so einzigartige Beziehung aufzubauen wie die, die ihn mit Eisenhower verbunden hatte, einem Mann derselben Generation, mit dem er die grausamen Kriegserlebnisse geteilt hatte. »Und jetzt sitzt dort dieser großspurige, junge Ire«, hatte er gesagt.37
Eisenhowers Botschafter in London, John Hay »Jock« Whitney, hatte Macmillan gewarnt, dass Kennedy »eigensinnig, empfindlich, skrupellos und äußerst triebhaft« sei.38 Ihre Unterschiede im Benehmen sollten jedoch erst etliche Monate später zutage treten, als Kennedy den monogam lebenden, puritanischen Schotten mit der impertinenten Frage schockierte: »Ich frage mich, wie das bei Ihnen ist, Harold? Wenn ich drei Tage lang keine Frau hatte, dann bekomme ich furchtbare Kopfschmerzen.«39
Weit stärker als der Alters- und Charakterunterschied zu Kennedy beunruhigte Macmillan jedoch, dass der Präsident womöglich allzu sehr von seinem antikommunistischen, isolationistischen Vater beeinflusst sein könnte. Der wohl unbeliebteste US-Botschafter am Hof von St. James, Joseph Kennedy, hatte einst Präsident Roosevelt gewarnt, die amerikanische Unterstützung für Großbritannien gegen Hitler nicht zu übertreiben, damit sie nicht »in einem Krieg die Sache ausbaden mussten, in dem die Alliierten davon ausgehen müssen, dass sie geschlagen werden«. Folglich war Macmillan erleichtert, als seine Nachforschungen ergaben, dass der interventionistische Churchill Kennedys Held war – zumindest das hatten sie gemeinsam.40
Um Kennedys Denkweise zu beeinflussen, hatte Macmillan in der Übergangsphase einen Brief an den gewählten Präsidenten geschrieben, der ein »Grand Design« für die Zukunft vorschlug.41 Während Macmillan seine Beziehung zu Eisenhower auf ihre gemeinsamen Kriegserinnerungen gegründet hatte, hatte er am Tag der Wahl Kennedys beschlossen, dass er auf der Basis des Intellekts einen Zugang zum neuen Präsidenten anstreben werde. Also versuchte er, sich als Mann zu präsentieren, der » trotz fortgeschrittenen Alters junge und frische Gedanken hat«.
Mit der flinken Feder eines wortgewandten Mannes aus einer Familie mit verlegerischer Tradition appellierte Macmillan an Kennedys Eitelkeit, indem er aus den früheren Schriften des Präsidenten zitierte, ehe er eine bevorstehende, gefährliche Ära skizzierte, in der die »freie Welt« (die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Westeuropa) die wachsende Attraktivität des Kommunismus lediglich durch die stetige Steigerung des wirtschaftlichen Wohlstands und Gemeinsinns besiegen könne. Folglich hielt er eine engere transatlantische Koordination, um eine gemeinsame Geld- und Wirtschaftspolitik zu erreichen, für wichtiger als politische und militärische Bündnisse.
Seit diesem Brief war Macmillan auf vorbereitenden Besuchen bei Bündnispartnern mit seinem »Grand Design« nicht viel weiter gekommen. De Gaulle in Paris sympathisierte zwar mit Macmillans Ansichten, wehrte sich aber hartnäckig gegen seinen Wunsch, Großbritannien in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu führen.42 Bei einem Treffen mit Adenauer in London erhielt der britische Premier vom Bundeskanzler noch weniger Rückhalt. Macmillan gelangte zu dem Schluss, dass das aufblühende Westdeutschland allzu »reich und selbstsüchtig« geworden sei, um seinen Vorschlag zu verstehen. 43 Im Vorfeld von Macmillans Besuch im Weißen Haus hatte Kennedy entdeckt, dass er sein Exemplar des »Grand Design« verlegt hatte. Das ganze Weiße Haus wurde auf den Kopf gestellt, am Ende fand man den Brief im Kinderzimmer Carolines, seiner dreijährigen Tochter.44
Trotz Macmillans anfänglicher Bedenken hatten er und Kennedy schon vor dem Washingtoner Treffen ein engeres Band geknüpft, als der britische Premier erwartet hatte: ein Ergebnis gemeinsamen Scharfsinns, Überlegens und Verstandes – sowie der bewussten Bemühungen Macmillans. Im Übrigen waren sie entfernt miteinander verschwägert: Kennedys Schwester Kathleen hatte Macmillans Neffen geheiratet. Genau wie John F. Kennedy hatte auch Harold Macmillan von Geburt an im Wohlstand gelebt und weidlich von der Lizenz zu unabhängigem Denken und exzentrischem Auftreten Gebrauch gemacht. Der Premier war elegant und hochgewachsen, gut einsachtzig groß und hatte unter seinem Schnurrbart stets ein typisch britisches Lächeln auf den Lippen. Er machte um die maßgeschneiderten Anzüge ebenso wenig Aufhebens wie um seinen scharfen Verstand. Macmillan gefiel, dass Kennedy in seinem Buch Zivilcourage so großen Wert auf mutiges Eintreten legte, weil er selbst im Ersten Weltkrieg dreimal verwundet worden war. Während Macmillan in der Schlacht an der Somme mit einer Kugel im Becken auf die Rettung wartete, hatte er Aischylos im griechischen Original gelesen.
Zur Erleichterung des britischen Premiers hatten er und Kennedy schon zehn Tage vorher einen guten Draht zueinander gefunden, als der Präsident ihn in letzter Minute zu einem Besuch in Key West, Florida, zu einem Gedankenaustausch über die drohende Krise in Laos einlud.45 Kennedy hatte wohlwollend Macmillans Rat angehört, von jeder militärischen Intervention in Laos Abstand zu nehmen, und der Premier wurde eingeladen, zu verfolgen, wie der Präsident die Generäle in seinem Umfeld lenkte – statt von ihnen gelenkt zu werden. Macmillan war fasziniert von Kennedys »großem Charme […] und seiner leichten Art. Da so viele Amerikaner so schwerfällig sind, ist das ein willkommene Veränderung.«46
Aber nach diesem positiven Anfang in Key West waren Macmillan und Lord Home nun umso beunruhigter über Kennedys augenscheinlich militante Haltung gegenüber den Sowjets, die Acheson darlegte und förderte.47 Bei allen Überlegungen, wie Berlin verteidigt werden könne, sollten sich die Briten, laut Acheson, auf die drei militärischen Optionen konzentrieren: Luftwaffe, Bodentruppen und Atomwaffen. In Anbetracht der Tatsache, dass die nukleare Option »leichtfertig und nicht glaubwürdig« sei, sprach Acheson in erster Linie über die beiden anderen. Einen Gegenschlag aus der Luft verwarf er, weil die sowjetischen »Boden-Luft-Raketen mittlerweile so zielgenau sind, dass ein Flugzeug keine Chance hat. Folglich ist ein Test der Entschlossenheit in der Luft ausgeschlossen. Die Russen würden einfach mit ihren Raketen die Flugzeuge abschießen.«
Acheson legte überzeugend seine Ansicht dar, dass die Vereinigten Staaten und ihre Bündnispartner im Grunde nur eine glaubwürdige Antwort auf einen möglichen Showdown in Berlin hätten – nämlich eine Bodenoffensive mit konventionellen Truppen, um »den Russen zu zeigen, dass es sich nicht lohne, ein wirklich mutiges Vorgehen des Westens zu stoppen«. Um das zu ermöglichen, sei jedoch eine massive Aufrüstung erforderlich. Acheson zählte munter die potenziellen militärischen Gegenmaßnahmen bei den verschiedenen Varianten einer Berlin-Blockade auf, unter anderen die Entsendung einer Division über die Autobahn, um sich gewaltsam Zutritt nach Berlin zu verschaffen. Falls dieser blockiert werde, so Acheson, wisse der Westen, woran er sei und könne wie schon im Korea-Krieg Bündnispartner suchen und aufrüsten.48
Kennedy sagte Macmillan, dessen hochgezogene Augenbrauen und Seitenblicke unmissverständlich seine Skepsis zum Ausdruck gebracht hatten, dass er sich noch kein abschließendes Urteil über Achesons Ansichten gebildet habe. Er stimmte jedoch seinem neuen Berater zu, dass die Planungen für den Ernstfall in Berlin mit Blick auf die wachsende Wahrscheinlichkeit einer Konfrontation in irgendeiner Form derzeit »nicht ernsthaft genug« seien.
Macmillan richtete seinen Widerstand gezielt gegen Achesons Vorschlag, auf eine Berlin-Blockade mit der Entsendung einer Division zu antworten, weil dies »ein sehr angreifbares Kontingent sei, wenn es auf einer schmalen Front vorrücke«. Falls es zu Feindseligkeiten kommen sollte, müssten die Truppen unweigerlich die Autobahn verlassen, und das würde eine ganze Palette von Schwierigkeiten nach sich ziehen. Auf Kennedys Nachfrage hin pflichtete er jedoch Acheson bei, dass die Luftbrücke wegen der verbesserten sowjetischen Luftabwehrfähigkeiten nicht wiederholt werden könne.
Amerikanische und britische Regierungsvertreter erörterten anschließend, welche neue militärische Planung und Ausbildung erforderlich sei, um eine intensivere Vorbereitung auf alle Eventualitäten im Fall Berlin zu ermöglichen. Außenminister Rusk begrüßte eine britisch-amerikanische bilaterale Planung, regte aber an, dass die Westdeutschen mit ihrer erhöhten militärischen Kapazität und Bereitschaft, Berlin zu verteidigen, »rasch« ins Boot geholt werden sollten. Lord Home runzelte missbilligend die Stirn. Die Briten trauten den Deutschen längst nicht so wie die Amerikaner und waren überzeugt, dass Adenauers Nachrichtendienst und andere Regierungsbehörden von einer Flut von Spionen unterwandert seien. Obwohl Lord Home das Vergnügen hatte, mit den Amerikanern über die Zukunft Deutschlands zu sprechen, war er zu einem vergleichbaren Gespräch mit den Deutschen nicht bereit.
Home wollte die Amerikaner von ihrem Augenmerk auf die militärische Seite abbringen und mögliche Eröffnungen für Berlin-Gespräche mit dem Kreml erörtern. Er argumentierte, dass Chruschtschow nur eine öffentliche Erklärung abgegeben habe, die seinen Verhandlungsspielraum einenge: nämlich die Verpflichtung, den Besatzungsstatus von Berlin zu beenden. Lord Home glaubte, Chruschtschow könne »aus dieser Patsche herauskommen«, wenn die Alliierten einen Vertrag unterzeichneten, der den Status quo für einen Zeitraum von etwa zehn Jahren verlängere, aber im Laufe der Zeit den Status Berlins ändern würde.
»Chruschtschow steckt keineswegs in der Patsche«, gab Acheson zurück, »und kann deshalb auch nicht herausgezogen werden.« Acheson hatte nichts übrig für die, wie er meinte, Rückgratlosigkeit der Briten gegenüber Moskau. Er erinnerte Home scharf daran, dass sich Chruschtschow »nicht an den Rahmen der Legalität hält. Chruschtschow legt es darauf an, die Alliierten zu spalten. Er wird keinen Vertrag schließen, der uns weiterhilft. Unsere Position ist gut, so wie sie ist, und wir sollten sie beibehalten.« Acheson fürchtete, dass schon die Überlegung, einen Vertrag mit Ostdeutschland zu schließen, der nur den sowjetischen Interessen diene, »den deutschen Geist untergraben werde«.
Die Spannung zwischen Home und Acheson füllte den ganzen Raum. Nach einer peinlichen Stille pflichtete Rusk Acheson bei, dass sämtliche Gespräche über die Akzeptanz eines solchen Vertrags bedeuteten, dass man »sich auf dünnes Eis« begebe. Er sagte, die Vereinigten Staaten müssten klarstellen, dass sie als Folge des Kriegs in Berlin stünden, nicht »aufgrund der Gnade Chruschtschows«. Die Vereinigten Staaten, betonte Rusk gegenüber den Briten, seien eine Großmacht, die sich nicht aus Berlin vertreiben lasse.
Home warnte seine amerikanischen Freunde vor den Konsequenzen für die öffentliche Meinung im Westen, wenn Chruschtschow ganz offen vorschlug, was als eine vernünftige Änderung des rechtlichen Status von Berlin erscheinen könnte, und wenn der Westen es versäumte, einen Alternativvorschlag zu präsentieren. Die Präsenz des Westens müsse eine legale Grundlage erhalten, betonte er, weil das derzeitige »Eroberungsrecht« für die Besetzung Berlins allmählich »fadenscheinig« werde.
Womöglich werde, schoss Acheson prompt zurück, »vielmehr unsere Macht allmählich fadenscheinig«.
Am nächsten Morgen kam man fast in der gleichen Zusammensetzung erneut zusammen, lediglich Acheson war – zur Erleichterung der Briten – wegen einer Mission abwesend. Aber sein Geist schwebte dennoch im Raum. Präsident Kennedy erkundigte sich bei seinen amerikanischen und britischen Experten, warum Chruschtschow nicht schon längst in Berlin gehandelt habe. Was hielt ihn denn zurück ?
»War es die Gefahr einer westlichen Reaktion?«, fragte er.
Lord Home sagte, seiner Meinung nach werde Chruschtschow »nicht viel länger warten«.
Botschafter Charles E. »Chip« Bohlen stimmte ihm zu. Der führende Sowjetunionexperte des US-Außenministeriums, der von 1953 bis 1957 Botschafter in Moskau gewesen war, glaubte, dass die wachsende Herausforderung der Chinesen sowie die »hartnäckigen Forderungen seitens der Ostdeutschen« Chruschtschow zwingen würden, eine militantere Haltung einzunehmen. Die Sowjets würden sich eigentlich gar nichts aus Berlin machen, betonte Bohlen, aber sie seien zu dem Schluss gelangt, dass der Verlust zur Auflösung ihres ganzen Imperiums im Osten führen könnte.
Kennedy brachte die Diskussion auf Achesons Memorandum zurück. Wenn Chruschtschow sich bislang von der Drohung einer militärischen Konfrontation mit dem Westen zurückhalten ließ, sagte Kennedy, »sollten wir überlegen, wie wir diese Drohung verstärken könnten. Im Fall Berlins haben wir keinen Verhandlungsspielraum. Folglich sollten wir überlegen, so wie Mr Acheson gestern vorschlug, wie wir Chruschtschow den Fall so unverblümt wie möglich präsentieren.«
Nachdem Acheson somit wieder präsent war, auch ohne anwesend zu sein, erörterte die Gruppe, welchen Zug Chruschtschow als Nächstes machen könnte und wie der Westen darauf reagieren sollte.49 Die Briten sahen keine Möglichkeit, Gespräche zu vermeiden, die Mehrheit der amerikanischen Teilnehmer zweifelte hingegen an ihrem Nutzen. Kennedys Botschafter in Großbritannien David Bruce, ein ehemaliger Nachrichtenoffizier, der unter Eisenhower Botschafter in Westdeutschland gewesen war, sagte, dass die Vereinigten Staaten auf die wenigen noch verbliebenen Rechte in Berlin nicht verzichten sollten: »Wir dürfen nicht die Konsequenzen außer Acht lassen, die eine Schwächung in Berlin für Mitteleuropa und Westdeutschland hätte.«
Macmillan war unzufrieden, als sich sein Treffen mit Kennedy dem Ende näherte. Er wisse immer noch nicht, sagte er, an welchem Punkt der Westen »weich werde« und Maßnahmen gegen russische Schritte bezüglich Berlin ergreifen werde. Ohne diese klare Linie fürchtete er, dass Kennedy in einen Krieg hineingezogen werden könnte, den er gar nicht wollte, wegen eines viel zu geringfügigen Anlasses – und dass er anschließend Großbritannien in die Feindseligkeiten verwickeln könnte.
Im Gegensatz zu Acheson erklärte Kennedy, seiner Meinung nach halte die atomare Abschreckung »die Kommunisten davon ab, uns wegen Berlin in eine größere Auseinandersetzung hineinzuziehen«. Folglich sei es notwendig, so Kennedy, die Tatsache dieser Abschreckung »deutlich aufrechtzuerhalten«.
Macmillan hingegen fragte sich, was in Westdeutschland nach Adenauers Tod passieren würde – ob das Spiel um Berlin unter einem weniger resoluten Regierungschef möglicherweise gegen die Sowjets verloren würde. »Früher oder später, sagen wir in fünf oder zehn Jahren, könnten die Russen versuchen, den Westdeutschen die Einheit im Gegenzug für die Neutralität anzubieten«, sinnierte er und wiederholte damit die hartnäckigen Zweifel der Briten an der Zuverlässigkeit der Deutschen.
Bohlen sagte zu Macmillan, die Zeit sei vorbei, in der die Westdeutschen »den Köder der Neutralität« schlucken würden. Die Sowjets könnten es sich ebenfalls nicht länger leisten, den Sozialismus in Ostdeutschland vor die Hunde gehen zu lassen. Bruce argumentierte, dass derzeit das weit größere Problem darin bestehe, dass ostdeutsche Flüchtlinge »all das schwächten, was das normale Leben eines Staates ausmacht«, wenn zweihunderttausend Menschen im Jahr 1960 das Land verließen, darunter gut 70 Prozent aus wichtigen Altersgruppen.
Ein abschließendes internes Memorandum zu dem Treffen übertünchte den Streit zwischen den beiden Seiten. Darin hieß es, dass sowohl die Vereinigten Staaten als auch Großbritannien im Jahr 1961 eine Eskalation der Berlin-Krise erwarteten, sie sich einig seien, dass der Verlust Westberlins eine Katastrophe wäre und dass die Alliierten ihrer Meinung nach ihre Entschlossenheit im Fall Berlin den Sowjets deutlicher zeigen müssten. Das Dokument verlangte ferner eine verstärkte militärische Planung des Ernstfalls.50
In der klaren Frühlingssonne des Rosengartens beim Weißen Haus stand Kennedy neben Macmillan und verlas eine gemeinsame Erklärung, in der die Rede war von einem »sehr hohen Maß an Übereinstimmung in unserer Einschätzung der Natur der Probleme, vor denen wir stehen«. Darin wurden die erheblichen Meinungsunterschiede mit schwammigen Worten beschönigt, und es wurde festgehalten, dass sich die beiden Männer über »die Bedeutung und Schwierigkeit« einig seien, »auf eine befriedigende Beziehung zur Sowjetunion hinzuarbeiten«.51
Macmillan hatte bei Kennedy wenig erreicht. Immerhin hatte Kennedy ausdrücklich die britischen Bestrebungen, in den europäischen gemeinsamen Markt einzutreten, als Teil seines »Grand Design« unterstützt, was im Hinblick auf den französischen Widerstand von einiger Bedeutung war. Darüber hinaus hatten die beiden Männer in zwei langen privaten Gesprächen eine persönliche Beziehung geknüpft.
Dennoch war Macmillan mit vielen Zielen, die für ihn oberste Priorität hatten, gescheitert. Kennedy hatte sich den britischen Bemühungen widersetzt, China in die Vereinten Nationen aufzunehmen, und hatte klargestellt, dass er anders als Eisenhower Macmillan nicht als Vermittler mit Moskau einsetzen wolle. Und das Wichtigste: Die Amerikaner hatten die Absicht, ein Gipfeltreffen mit einem sowjetischen Parteichef auf europäischem Boden einzuberufen, und zwar zum ersten Mal, ohne ihre britischen oder französischen Verbündeten dazu einzuladen. Allem Anschein nach hatte Kennedy Achesons Haltung übernommen, dass London in der Berlin-Frage zu weich war.
Britische Vertreter überraschten die Amerikaner, indem sie an ihre eigene Presse durchsickern ließen, dass die Gespräche zwischen Kennedy und Macmillan »rau, und heikel« gewesen seien, in vielerlei Hinsicht ergebnislos und mit Sicherheit schwieriger, als das Kommuniqué vermuten ließ.52
Es sollte noch schlimmer kommen.