KAPITEL 10
Wien: Grüner Junge trifft Al Capone
Also befinden wir uns in einer
geradezu lächerlichen Situation.
Es scheint doch geradezu unsinnig für uns, einen
Atomkrieg wegen
eines Vertrags zu riskieren, der Berlin als die
künftige Hauptstadt eines
vereinigten Deutschlands garantiert, wenn wir alle
genau wissen,
dass Deutschland wahrscheinlich nie wiedervereinigt
wird. Aber wir sind
an diesen Vertrag gebunden, genau wie die Russen,
deshalb dürfen wir
nicht zulassen, dass sie sich davon
verabschieden.
PRÄSIDENT KENNEDY ZU SEINEN MITARBEITERN,
WÄHREND ER SICH IN DER BADEWANNE AALTE, 1. JUNI 1961,
PARIS1
Die USA sind nicht bereit, die Lage am gefährlichsten Ort der Welt zu normalisieren. Die UdSSR will einen chirurgischen Eingriff an diesem schlimmen Ort vornehmen – um diesen Dorn, dieses Krebsgeschwür zu beseitigen –, ohne die Interessen einer Seite zu beeinträchtigen, sondern zur Zufriedenheit aller Völker der Welt.
PARTEICHEF CHRUSCHTSCHOW ZU PRÄSIDENT KENNEDY 4. JUNI 1961, WIEN2
PARIS
MITTWOCH, 31. MAI 1961
Die Franzosen lagen dem US-Präsidenten zu Füßen, die französische Küche übertraf sich selbst, und tausend Korrespondenten, die über die Reise berichteten, sorgten für einen beispiellosen Medienrummel. Doch die schönsten Augenblicke verbrachte Kennedy in einer riesigen vergoldeten Badewanne in der »Königskammer« eines Palastes aus dem 19. Jahrhundert am Quai d’Orsay.
»O Mann, so eine Badewanne müssten wir im Weißen Haus haben«, sagte der Präsident zu seinem Vermittler Kenny O’Donnell, während er in das dampfende Wasser eintauchte, um seine furchtbaren Rückenschmerzen zu lindern. Nach O’Donnells Schätzung war die Wanne so lang und breit wie eine Tischtennisplatte. Der Mitarbeiter David Powers meinte, wenn der Präsident »es geschickt anstellte«, würde de Gaulle sie ihm vielleicht als Souvenir schenken.3
Damit nahmen die »Badewannengespräche«, wie die drei Männer es später nennen sollten, ihren Anfang. De Gaulle hatte Kennedy während des dreitägigen Aufenthalts in Paris auf dem Weg nach Wien in dem Palais einquartiert. In den Pausen des dicht gefüllten Terminkalenders nahm Kennedy ein Bad und teilte seine aktuellen Eindrücke den beiden engsten Freunden im Weißen Haus mit, beide Veteranen des Zweiten Weltkriegs und seiner politischen Kampagnen. Nominell war O’Donnell zuständig für Kennedys Termine, aber seine langjährige Freundschaft mit den Kennedys hatte begonnen, als er sich mit Bobby in Harvard das Zimmer geteilt hatte. Powers war Kennedys Mann für vergnügliche Stunden, der ihn bei Laune hielt, genau nach Plan, und mit Sexpartnerinnen versorgte.4
Entlang der Straßen hatten sich eine halbe bis eine Million Menschen gedrängt, um an jenem Morgen das berühmteste Paar der Welt zu begrüßen – das hing davon ab, von wem die Zahl stammte (die französische Polizei war zurückhaltender als das Büro des Weißen Hauses). In Anbetracht der frostigen Beziehung de Gaulles zu Kennedys Vorgängern Eisenhower und Roosevelt war der herzliche Empfang für Kennedy ein Neuanfang. De Gaulle hatte alle US-Präsidenten im Verdacht, dass sie die Führungsstellung Frankreichs in Europa untergraben und eine eigene errichten wollten. Abgesehen davon sonnte er sich jedoch munter in der Berühmtheit des Präsidentenpaares, dessen Bilder die Titelblätter aller französischen Zeitschriften zierten. Der Altersunterschied mochte ebenfalls zur Entkrampfung beigetragen haben, weil de Gaulle so seine Lieblingsrolle des weisen, legendären Akteurs der Geschichte spielen konnte, der den jungen, vielversprechenden Amerikaner unter seine Fittiche nahm.5
Auf dem Flughafen Orly hatte de Gaulle am selben Morgen um 10 Uhr Kennedy auf einem riesigen roten Teppich begrüßt, flankiert von fünfzig schwarzen Citroëns und einer berittenen Ehrenwache der Republikanischen Garde. Mit seinen einsneunzig stieg »le Général« im Zweireiher aus dem Wagen und stand stramm, während eine Kapelle die »Marseillaise« spielte.
»Seite an Seite«, berichtete die New York Times, »bewegten sich die beiden Männer den ganzen Tag durch Paris – alt neben jung, Größe neben Nonchalance, Mystizismus neben Pragmatismus, Ernsthaftigkeit neben Eifer.«6
Die Jubelrufe ertönten so laut, während die beiden Männer über den Boulevard Saint-Michel am linken Seine-Ufer fuhren, dass de Gaulle den US-Präsidenten überredete, vom Rücksitz der offenen Limousine aufzustehen. Prompt schwoll der Jubel der Menge noch stärker an. Trotz eines kühlen Windes fuhr Kennedy ohne Kopfbedeckung und nur mit einem dünnen Mantel bekleidet. Er zog sich auch am Nachmittag nicht wärmer an, als ein Regenguss die beiden Männer bei ihrem kurzen Ausflug zu den Champs-Élysées bis auf die Haut durchnässte – was de Gaulle ohne ein Wort der Klage ertrug.7
Hinter dem ganzen irreführenden Spektakel verbarg sich jedoch ein US-Präsident, der in die bislang wohl wichtigste Woche seiner Amtszeit als müder, angeschlagener Oberbefehlshaber ging, der für das, was ihn in Wien erwartete, unzureichend vorbereitet und körperlich nicht fit genug war. Chruschtschow würde insbesondere nach der Schweinebucht-Affäre sorgfältig nach Kennedys Schwächen Ausschau halten.
Im eigenen Land sah sich Kennedy mit gewalttätigen Rassenkonflikten konfrontiert, die in den Südstaaten ausgebrochen waren, weil die Afroamerikaner inzwischen entschlossen waren, ihre zweihundertjährige Unterdrückung zu beenden. Ganz akut drehte sich derzeit das Problem um die sogenannten »Freedom Riders«, die sich darum bemühten, die Rassentrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln aufzuheben. Die Kennedy-Administration hatte die Aktion nur halbherzig unterstützt, und fast zwei Drittel der Amerikaner lehnten sie ab.
Außenpolitisch war die Reise nach Paris und Wien wegen des Scheiterns in Kuba, des ungelösten Laos-Konflikts und der wachsenden Spannungen um Berlin mit starken Risiken behaftet. Kennedy stellte für sich sogar eine Verbindung zu Berlin her, wenn er sich mit Rassenproblemen im eigenen Land auseinandersetzte. Als Pater Theodore Hesburgh, ein Mitglied seiner Bürgerrechtskommission, das Zögern des Präsidenten ansprach, mutigere Maßnahmen zur Aufhebung der Rassentrennung in den Vereinigten Staaten zu ergreifen, erwiderte Kennedy: »Sehen Sie, Pater, es kann durchaus sein, dass ich schon morgen die Nationalgarde von Alabama nach Berlin schicken muss, und ich möchte das nicht mitten in einer Revolution im eigenen Land tun.«8
Man hätte es als eines der vielen anfänglichen Missgeschicke seiner Präsidentschaft deuten können, dass sich Kennedy ernsthaft die Rückenmuskeln verletzt hatte, als er in Ottawa einen Baum pflanzte. Auf dem langen Flug nach Europa waren die Schmerzen noch stärker geworden. Zum ersten Mal seit seiner Rückenoperation von 1954 zur Versteifung der Wirbelsäule ging er wieder mit Krücken. In der Öffentlichkeit weigerte er sich, sie zu benutzen, aber dadurch verstärkte er während seines Frankreich-Aufenthalts nur die Schmerzen, weil der Rücken stärker belastet wurde.9
Kennedys persönliche Ärztin, Janet Travell, die ihn nach Paris begleitete, machte sich Sorgen wegen der verstärkten Schmerzen und der Auswirkungen, die deren Behandlung auf seine Ausdauer und Laune während der Reise haben würde. An manchen Tagen badete oder duschte der Präsident fünfmal heiß, um den Schmerz zu lindern. Die Amerikaner wussten damals zwar nichts davon, aber der berühmte Schaukelstuhl stand eigentlich nur deshalb im Oval Office, weil beim Schaukeln das Pochen im Lendenwirbelbereich, in den die Ärzte fast ein Jahrzehnt lang Procain gespritzt hatten – ein hochwirksames Lokalanästhetikum, das hauptsächlich unter dem Markennamen Novocain bekannt ist –, verringert wurde. Travell behandelte Kennedy darüber hinaus wegen chronischer Nebennierenleiden, hohen Fiebers, erhöhten Cholesterinspiegels, Schlaflosigkeit und Beschwerden im Magen-Darm-Bereich und an der Prostata.
Jahre später erinnerte sich Travell, dass die Tage in Paris der Beginn »einer sehr schwierigen Phase« waren. Sie gab Kennedy zwei bis drei Spritzen täglich. Der Arzt des Weißen Hauses, George Burkley, war besorgt, weil das Procain nur eine vorübergehende Taubheit verursachte, auf die ein noch heftigeres Brennen folgte. Anschließend brauchte man noch höhere Dosen und noch stärkere Anästhetika. Burkley hatte mehr Bewegung und Krankengymnastik verordnet, aber Kennedy zog die raschere Lösung mittels Arzneimittel vor.10
Travell führte fein säuberlich Buch über die Medikation, um nicht den Überblick über den Cocktail aus Pillen und Spritzen zu verlieren, die sie dem Präsidenten verabreichte: Penicillin gegen Harnwegsinfektionen und Abszesse, Tuinal zum Einschlafen, Transentin, um Durchfall und Gewichtsverlust zu bremsen, sowie eine Reihe anderer Medikamente wie Testosteron und Phenobarbital. Allerdings war sie außerstande, die Anwendungen eines unkonventionelleren Mediziners zu dokumentieren, der nicht ganz offiziell nach Paris und Wien mitgereist war.
Der von seinen berühmten Patienten, zu denen Tennessee Williams und Truman Capote zählten, nur »Dr. Feelgood« genannte Dr. Max Jacobson versorgte Kennedy mit Spritzen, die Hormone, organische Zellen von Tieren, Steroide, Vitamine, Enzyme und – vor allem – Amphetamine enthielten, um Ermüdungserscheinungen und Depressionen zu bekämpfen.11
Kennedy war mit Jacobsons Arzneien so zufrieden, dass er sie auch Jackie nach der schwierigen Entbindung ihres Sohnes John-John im November empfohlen hatte – und vor der Paris-Reise ebenfalls, um ihre Ausdauer zu steigern. 12 Am Abend des großen Staatsbanketts mit de Gaulle in Versailles verabreichte Dr. Feelgood Kennedy die übliche Spritze. Der kleine dunkelhaarige Arzt mit seinen roten Backen begab sich anschließend durch die Suite des Präsidentenpaares in Jackies Schlafzimmer, wo sie gerade ein elegantes Abendkleid, das der französische Modeschöpfer Givenchy entworfen hatte, einem Kleid des amerikanischen Designers Oleg Cassini vorzog, um ihre Zuneigung zum Gastland zu dokumentieren.13
Als Dr. Jacobson kam, schickte sie alle aus dem Zimmer. Dann steckte er eine Nadel in ihr Hinterteil und spritzte ihr eine Flüssigkeit, die ihr helfen sollte, ein Sechs-Gänge-Menü im Spiegelsaal mit einem strahlenden Lächeln zu überstehen. Truman Capote pries Jacobsons Behandlungsmethode später mit den Worten: »Man fühlt sich wie Superman. Man fliegt förmlich. Mit Lichtgeschwindigkeit kommen einem Gedanken. Man hält zweiundsiebzig Stunden durch, allenfalls mit einer Kaffeepause.«14
Diese Cocktails für den militärischen Oberbefehlshaber konnten unter Umständen jedoch erhebliche Konsequenzen für die nationale Sicherheit haben, und das so kurz vor dem wichtigen Treffen mit dem sowjetischen Parteichef. Abgesehen davon, dass die Wirkstoffe, die Kennedy einnahm, süchtig machen konnten, zählten Hyperaktivität, Hypertonie, beeinträchtigtes Urteilsvermögen und Nervosität zu den potenziellen Nebenwirkungen. Zwischen den einzelnen Dosen konnte seine Stimmung von übersteigertem Selbstvertrauen bis hin zu depressiven Anfällen extrem schwanken.15
Auf Drängen seines Bruders Robert leitete der Präsident später Proben von Jacobsons Gebräu an die Food and Drug Administration, die Lebens- und Arzneimittelaufsicht, zur Analyse weiter. Kennedy störte es nicht im Geringsten, als die FDA ihm mitteilte, dass Dr. Feelgood ihn mit Steroiden und Amphetaminen aufputschte. »Und wenn es Pferdepisse ist, das ist mir egal«, erwiderte Kennedy. »Es ist das Einzige, was mir hilft.«16
Bei der Ausarbeitung der Strategie für Paris hatte sich Kennedy drei Hauptziele gesetzt, die alle mit Wien und den Folgen für Berlin zu tun hatten. Erstens wollte er de Gaulles Rat hören, wie er in Wien am besten Chruschtschow beeinflussen könne. Zweitens wollte er wissen, welche Maßnahmen der französische Staatspräsident den Verbündeten in der nächsten Berlin-Krise empfehlen würde, die seiner Meinung nach höchstwahrscheinlich in Kürze ausbrechen dürfte. Schließlich wollte Kennedy den Aufenthalt in Paris dazu nutzen, sein Image in der Öffentlichkeit aufzupolieren und dadurch seine Position für Wien zu stärken.
Als Kennedy de Gaulle von Chruschtschows Drohungen berichtete, die er mit Blick auf Berlin Thompson gegenüber im Sportpalast ausgesprochen hatte, schob der französische Präsident sie mit einer Handbewegung beiseite. »Herr Chruschtschow«, erklärte er geringschätzig, »hat schon einmal gesagt und wiederholt, dass in der Berlin-Frage sein Ansehen auf dem Spiel stehe und dass er binnen sechs Monaten eine Lösung wünsche, und dann wiederum in sechs Monaten und dann noch einmal in sechs Monaten.« Der Franzose zuckte mit den Achseln. »Wenn er wegen Berlin einen Krieg gewollt hätte, dann hätte er längst gehandelt.«
De Gaulle teilte Kennedy mit, dass er Berlin in erster Linie für eine psychologische Angelegenheit halte: »Es ist für beide Seiten überaus ärgerlich, dass Berlin ausgerechnet dort sein muss, wo es liegt; aber es ist nun einmal da.«
Das Treffen zwischen Kennedy und de Gaulle verlief von Anfang an besser als die bisherigen Treffen von US-Präsidenten und dem französischen Staatsoberhaupt. Eisenhower hatte Kennedy gewarnt, dass de Gaulle mit seiner nationalistischen Geringschätzung für die Vereinigten Staaten und die NATO das gesamte nordatlantische Bündnis gefährde. Franklin Roosevelt hatte einst de Gaulles stürmisches Temperament mit dem der Jungfrau von Orléans verglichen. »Je älter ich werde«, sagte Eisenhower zu Kennedy, »desto mehr habe ich die Nase voll von ihnen – nicht von den Franzosen, sondern von ihren Regierungen.«17
Gegenüber seinen Vorgängern hatte Kennedy zwei Vorteile beim Umgang mit dem französischen Staatsoberhaupt: seine Bereitschaft, die Rolle des Juniorpartners von de Gaulle zu spielen, und die Wirkung, die seine Frau mit ihrer an der Sorbonne erworbenen Bildung und ihrer akzentfreien Aussprache auf den eitlen General hatte. Nachdem Jackie Kennedy beim Essen freundschaftlich mit de Gaulle über die Bourbonen und Ludwig XVI. geplaudert hatte, wandte sich der General zu Kennedy und schwärmte: »Ihre Frau weiß besser über die französische Geschichte Bescheid als die meisten Französinnen.«18
Beim Entspannen in der Badewanne erzählte Kennedy seinen Freunden: »De Gaulle und ich kommen gut miteinander aus, vermutlich weil ich eine so bezaubernde Frau habe.«19
KIEWER BAHNHOF,
MOSKAU
SAMSTAG, 27. MAI 1961
Während Kennedy den Rummel in Paris über sich ergehen ließ, legte Chruschtschow die 1900 Kilometer von Moskau nach Wien komfortabel an Bord eines Sonderzugs mit sechs Waggons zurück. Unterwegs machte er in Kiew, Prag und Bratislava Station, und an sämtlichen Dorfbahnhöfen auf der Strecke jubelte die Menge ihm begeistert zu.20
Kommunistische Parteizellen hatten Tausende von Menschen zusammengetrommelt, um ihn am Kiewer Bahnhof in Moskau zu verabschieden.21 Vor der Abfahrt nahm Chruschtschow Botschafter Thompson noch zu einem letzten Gedankenaustausch zur Seite. In einem Telegramm berichtete Thompson über die kurze Unterhaltung und gab sich vorsichtig optimistisch: »Ich glaube, Chruschtschow liegt daran, dass das Treffen mit dem Präsidenten angenehm verläuft«, schrieb er, »und dass er, wenn möglich, gern einen Vorschlag machen oder eine Position zu manchen Problemen einnehmen möchte, die den Effekt hätten, die Atmosphäre und die Beziehungen zu verbessern. Es fällt mir jedoch schwer, mir vorzustellen, was das sein könnte.«22
Als Chruschtschow in den Zug steigen wollte, rannte ein kleines Mädchen auf ihn zu und überreichte ihm einen riesigen Strauß roter Rosen. In seiner charakteristischen, impulsiven Art winkte Chruschtschow die Frau des US-Botschafters, Jane Thompson, zu sich und schenkte ihr unter dem Jubel der Menge die Blumen.
Wenig zuversichtlich erklärte Thompson vor den versammelten Pressevertretern: »Ich hoffe, es geht alles gut.« Insgeheim fürchtete Thompson bereits, dass Kennedy bei der Berlin-Frage in einen Hinterhalt gelockt würde. Das letzte Indiz war ein scharf formulierter Leitartikel in dem offiziellen Parteiorgan Iswestija gewesen, in dem es am Tag der Abreise Chruschtschows hieß, die Sowjetunion könne nicht länger auf eine Einigung mit dem Westen warten, bevor sie in Berlin in Aktion trete.23
Chruschtschow platzte geradezu vor Stolz, als er den begeisterten Menschen winkte, die sich an den unzähligen Bahnhöfen längs seiner Reiseroute versammelt hatten. Viele Gebäude waren mit Flaggen, Plakaten und Wimpeln geschmückt. Besonders berührte Chruschtschow ein dunkelrotes Banner, das die ganze Front des Provinzbahnhofs bei Mukatschewo in der ukrainischen Gegend nahe seinem Geburtsort bedeckte: MÖGE ES DIR GUT GEHEN, LIEBER NIKITA SERGEJEWITSCH!24
In Kiew jubelten ihm tausende zu, als er durch die Stadt fuhr und einen Kranz am Grab des beliebten Dichters Taras Schewtschenko niederlegte. In Čierna, der ersten Station auf tschechoslowakischem Boden, hatte der Parteichef des Landes, Antonín Novotný, dafür gesorgt, dass sein eigenes, riesiges Porträt immer neben dem von Chruschtschow hing. Eine Kapelle spielte mit Glockenspiel und Trompeten beide Nationalhymnen. Uniformierte Jungpioniere, die Jugendorganisation der Partei, überschütteten Chruschtschow geradezu mit Blumen, und hübsche kleine Mädchen in bestickten Blusen boten ihm die traditionellen Gastgeschenke Brot und Salz dar.
Seine Gastgeber in Bratislava inszenierten sorgfältig den letzten Aufenthalt vor Wien. Öffentliche Gebäude waren mit Bannern geschmückt: RUHM CHRUSCHTSCHOW – DEM UNERSCHÜTTERLICHEN FRIEDENSKÄMPFER. Er und Novotný erklärten vor den Menschenmengen, dass man eine »endgültige Lösung« für das Berlin-Problem anstrebe. Dabei waren sie sich offenbar nicht darüber im Klaren, welche Parallelen man bei dieser Wortwahl zu Hitlers »Endlösung« ziehen könnte. Die Einheimischen feierten am Vorabend des Wiener Gipfeltreffens mit einem Feuerwerk über der mittelalterlichen Burg in der Altstadt Trenčin, wo sowjetische Truppen im April 1945 das Gestapo-Hauptquartier erobert hatten.
Mit einer letzten vorsorglichen Maßnahme verschob Chruschtschow die Abfahrt von Bratislava nach Wien auf 14 Uhr, vier Stunden später als ursprünglich geplant. Nach den Meldungen von Menschenmengen, die Kennedy in Paris feierten, gelangten Chruschtschows Berater zu dem Schluss, dass sie nur dann einen würdigen Empfang in Wien gewährleisten konnten, wenn die kommunistischen Gewerkschaften Gelegenheit hatten, ihre Mitglieder nach Feierabend zusammenzutrommeln.
PARIS
MITTWOCH, 31. MAI 1961
In der Rolle des selbst ernannten Mentors erzählte de Gaulle Kennedy, wie er mit Chruschtschow bei seinen jähzornigen Anfällen umgegangen war. Er warnte Kennedy, dass Chruschtschow bei den Gesprächen in Wien früher oder später unweigerlich auch mit Krieg drohen werde.
De Gaulle rief sich in Erinnerung, wie er dem sowjetischen Führer einst gesagt hatte: »Sie behaupten, Sie würden Entspannung anstreben. Wenn das stimmt, dann tun Sie doch etwas für die Entspannung. Wenn Sie Frieden wollen, dann fangen Sie mit Abrüstungsverhandlungen an. Unter diesen Umständen könnte sich die ganze Weltsituation nach und nach verändern, und dann werden wir die Frage Berlins und die ganze deutsche Frage lösen. Wenn Sie jedoch daran festhalten, die Berlin-Frage im Kontext des Kalten Kriegs aufzuwerfen, dann ist keine Lösung möglich. Was wollen Sie eigentlich? Wollen Sie einen Krieg?«25
Daraufhin hatte Chruschtschow geantwortet, dass er keinen Krieg wolle.
In diesem Fall, belehrte ihn der Franzose, solle er auch nichts tun, um ihn herbeizuführen.
Kennedy glaubte nicht, dass der Umgang mit Chruschtschow so einfach sein würde. Er sagte dem französischen Präsidenten beispielsweise, er wisse wohl, dass er, de Gaulle, eben aus diesem Grund eigene Atomwaffen wünsche, weil er daran zweifle, dass die Vereinigten Staaten jemals bei einem nuklearen Schlagabtausch mit Russland New York für Paris – geschweige denn Berlin – riskieren würden. Wenn schon der General so sehr an der amerikanischen Entschlossenheit zweifle, warum sollte es da Chruschtschow anders ergehen, wollte Kennedy wissen.26
De Gaulle ließ sich darauf nicht ein. Das sei der Moment für ein klares Signal der amerikanischen Entschlossenheit, unabhängig davon, ob der französische Präsident selbst daran glaube. »Es ist wichtig zu zeigen, dass wir nicht die Absicht haben, eine Änderung der Situation zuzulassen«, sagte de Gaulle. »Jeder Rückzug aus Berlin, jede Veränderung des Status, jeder Truppenabzug, jede weitere Behinderung der Verkehrswege und Kommunikation würde eine Niederlage bedeuten. Sie hätte einen fast völligen Verlust Deutschlands und sehr schwere Verluste in Frankreich, Italien und anderswo zur Folge.« Überdies müsse man, so de Gaulle, Chruschtschow deutlich zu verstehen geben, dass er, »wenn er einen Krieg will, ihn auch bekommen wird«. Der französische Präsident war überzeugt, dass Chruschtschow niemals eine militärische Konfrontation riskieren werde, wenn Kennedy sich weigerte, dem sowjetischen Diktat Folge zu leisten.
Hingegen fürchtete de Gaulle viel mehr den sowjetischen und ostdeutschen Ansatz, allmählich die westliche Position in Berlin zu untergraben: Dann hätten »wir verloren, ohne dass es so aussah, als hätten wir verloren, und doch auf eine Weise, die die ganze Welt verstehen würde. Insbesondere besteht die Bevölkerung Berlins nicht ausschließlich aus Helden. Angesichts dessen, was sie als unsere Schwäche interpretieren würden, könnten sie anfangen, Berlin zu verlassen, sodass die Stadt zu einer leeren Hülle würde, die vom Osten geschluckt wird.«
Es verblüffte Kennedy, dass de Gaulle es sich herausnahm, so große Reden über Berlin zu schwingen, weil Frankreich nicht Amerikas Sicherheitsbürde in der Stadt teilen musste. De Gaulle blieb in der Frage möglicher Lösungen so vage, dass Kennedy versuchte, eine klarere Antwort zu bekommen. Er sagte, er sei ein praktisch denkender Mensch, der sich wünsche, dass de Gaulle konkret den Punkt nenne, an dem der französische Staatschef wegen Berlin in den Krieg ziehen würde.
De Gaulle erwiderte, dass er wegen keiner einzigen Frage, die derzeit diskutiert werde, einen Krieg beginnen würde: etwa wenn die Sowjets unilateral einen Friedensvertrag mit Ostdeutschland unterzeichneten oder den Vier-Mächte-Status in der Stadt änderten, um den Ostdeutschen eine größere Souveränität über Ostberlin zu gewähren – zum Beispiel indem sie ihnen die Befugnis übertrügen, an den Grenzübergängen Reisedokumente abzustempeln. »Das ist an sich noch kein Grund für einen militärischen Vergeltungsschlag von unserer Seite«, sagte er.
Deshalb hakte Kennedy noch einmal nach: »Auf welche Weise und zu welchem Zeitpunkt sollen wir also Druck ausüben?« Der US-Präsident klagte, dass die Sowjets und Ostdeutschen unzählige Möglichkeiten hätten, die Lage in Berlin zu erschweren oder gar Westberlins Ruin herbeizuführen, aber ausschließlich mit Methoden, die nicht unbedingt eine Reaktion des Westens auslösen würden. »Wie antworten wir darauf?«, fragte er.
Der Westen solle nur dann militärisch antworten, meinte de Gaulle, wenn die Sowjets oder die Ostdeutschen militärisch vorgingen. »Wenn entweder Chruschtschow oder seine Lakaien gewaltsam unsere Verbindungen zu Berlin kappen, dann müssen wir Gewalt einsetzen.«
Dem stimmte Kennedy zu, war jedoch nicht der Meinung, dass jede Schwächung der westlichen Position in Berlin sofort eine Katastrophe herbeiführe. Er sagte, das wäre für Westdeutschland und ganz Europa gewiss ein Schlag, »der zwar nicht tödlich, aber auf jeden Fall heftig« wäre.
Kennedy fragte de Gaulle um Rat, wie er in Wien Chruschtschow am besten die Standhaftigkeit des Westens verdeutlichen könne angesichts der Tatsache, dass der sowjetische Führer seit der Invasion in der Schweinebucht die amerikanische Entschlossenheit stark anzweifelte. Er wollte wissen, was der französische Staatschef von den amerikanischen und alliierten Eventualplänen hielt, um auf jede neue Berlin-Blockade mit einer Demonstration von annähernd der Stärke einer Kompanie, wenn nötig gar einer Brigade, zu antworten.
Angesichts der konventionellen Überlegenheit der Sowjets hinsichtlich Berlins, so erklärte de Gaulle Kennedy, könne er die Sowjets nur mit der Bereitschaft, Kernwaffen einzusetzen, abschrecken. Aber genau das wollte der US-Präsident eigentlich vermeiden.
»Wir müssen auf jeden Fall deutlich zu verstehen geben, dass es einen allgemeinen Krieg bedeutet, falls es zu irgendwelchen Kämpfen um Berlin kommen sollte«, sagte de Gaulle.
Bis zum großen Festbankett im Élysée-Palast am selben Abend hatten Jack und Jackie, wie die Franzosen das Präsidentenpaar nannten, das Land bereits im Sturm erobert. Sie setzten sich gemeinsam mit dreihundert anderen Gästen in dem mit Spiegeln und Gobelins geschmückten Speisesaal an eine riesi-ge Tafel, die von einem einzigen Tischtuch aus weißer Organza und goldener Stickerei bedeckt war. Die Kennedys wunderten sich, wie jemand so etwas herstellen konnte. Das Kammerorchester der Republikanischen Garde spielte verschiedene Stücke von Gershwin bis Ravel, wobei jedes eine amerikanischfranzösische Anspielung enthielt.
In seinen Kommentaren machte Kennedy einen Scherz darüber, wie stark sein Leben französisch geprägt war: »Ich schlafe in einem französischen Bett. Am Morgen wird mir das Frühstück von einem französischen Küchenchef serviert; ich gehe ins Büro, und die schlechten Nachrichten des Tages werden mir von meinem Pressesprecher, Pierre Salinger, überbracht, wenn auch nicht in seiner Muttersprache [Französisch], und ich bin mit einer Tochter Frankreichs verheiratet.«27
Die hohen französischen Fenster gaben den Blick auf einen regnerischen Abend draußen frei, wo die Rasenflächen und Springbrunnen im Licht der Scheinwerfer smaragdgrün erstrahlten. Zu dem Empfang nach dem Bankett waren insgesamt tausend Gäste geladen, die die Washington Post als »unbeschreiblich elegant« bezeichnete. Die Franzosen stolzierten mit breiten Schärpen über der Hemdbrust umher, riesige Sterne und Kreuze baumelten an ihren Fräcken, und sie hatten sich ganze Reihen von Orden ans Revers geheftet. Die Frauen trugen lange Handschuhe und Juwelen, und ein paar ältere Damen hatten sich einen extravaganten Kopfschmuck aufgesetzt.28
Doch der Star des Abends war Jackie, die ein blassrosa Abendkleid mit einer weißen Borte im Stil des griechisch angehauchten Directoire trug. Alexandre, der Coiffeur der Pariser High Society, flüsterte dem Korrespondenten der New York Times zu, dass er für diesen Abend das Haar der First Lady um einen Zoll gekürzt und den Pony geschnitten hatte, sodass sie wie »eine gotische Madonna« wirkte. Für das nächste Bankett in Versailles versprach der Starfriseur eher eine Frisur im Stil Ludwigs XIV., mit diamantbesetzten Flammenspangen im Haar, um »ihr ein elfenähnliches Aussehen zu verleihen«.
Kennedys Mutter Rose, die »schlank wie eine Tanne« war, trug ein bodenlanges Abendkleid des Designers Cristobal Balenciaga aus weißer Seide, verziert mit rosa Blumen, die echte Diamanten in ihrer Mitte hatten. Die Pariser Zeitungen schwärmten geradezu, wie erfrischend europäisch doch alle Kennedys auftraten.29
Während der »Badewannengespräche« am nächsten Tag dachte Kennedy mit seinen Freunden über de Gaulles Beobachtung nach, dass der Westen niemals die Freiheit Westberlins gewährleisten könne, wenn er nicht bereit sei, die Atombombe einzusetzen.
»Also befinden wir uns in einer geradezu lächerlichen Situation«, sagte Kennedy, während das Wasser einlief. »Es scheint doch geradezu unsinnig für uns, einen Atomkrieg wegen eines Vertrags zu riskieren, der Berlin als die künftige Hauptstadt eines vereinigten Deutschlands garantiert, wenn wir alle genau wissen, dass Deutschland wahrscheinlich nie wiedervereinigt wird. Aber wir sind an diesen Vertrag gebunden, genau wie die Russen, deshalb dürfen wir nicht zulassen, dass sie sich davon verabschieden.«30
WIEN
SAMSTAG, 3. JUNI 1961
Kennedys Vorhut hatte die Ankunft des US-Präsidenten in Wien bewusst so inszeniert, dass Chruschtschow sich darüber ärgerte. Der Parteichef hatte seinen Mitarbeitern bereits anvertraut, dass er auf die steigende Popularität Kennedys eifersüchtig war. Je stärker sich die Sowjets gegen einen großartigen Empfang auf dem Flughafen und gegen eine Wagenkolonne wehrten, desto energischer hatte O’Donnell darauf bestanden. Nach jedem sowjetischen Einspruch forderte er noch mehr Limousinen und Fahnen.
Wien sonnte sich in dem Wettstreit um die Aufmerksamkeit. Noch nie hatte eine Begegnung zweier Staatsoberhäupter einen so großen Medienrummel ausgelöst. Mindestens 1500 Reporter mit ihrer gesamten Ausrüstung und allen Assistenten waren vor Ort, um über die beiden Männer und die Gespräche zu berichten.
Hektisch machten die Fotografen Schnappschüsse von der historischen ersten Begegnung der beiden Männer um 12:45 Uhr auf dem roten Teppich auf der Eingangstreppe zur Residenz des US-Botschafters, wo sie unter dem Vordach des grauen Stuckgebäudes mit den braunen Steinsäulen posierten. Ein kleiner, kreisrunder Hof war im Hintergrund, verborgen von dichten Tannen und regenschweren Weiden, gerade noch auszumachen.31
Wenige Minuten zuvor hatte der sowjetische Parteichef seine stämmigen Beine aus der schwarzen sowjetischen Limousine geschwungen, während Kennedy locker die Stufen hinunterlief, um ihn zu empfangen. Die chronischen Schmerzen, die von Spritzen, Pillen und einem eng geschnürten Korsett gelindert wurden, merkte man ihm überhaupt nicht an. In Anbetracht der hohen Erwartungshaltung ließ es sich kaum vermeiden, dass die erste Begegnung zwischen Chruschtschow und Kennedy peinlich verlief.
In dem geübten Tonfall eines politischen Wahlkämpfers gab Kennedy in breitem Bostoner Englisch eine reflexartige Begrüßung von sich: »Wie geht es Ihnen? Es freut mich, Sie kennen zu lernen.«
»Ganz meinerseits«, antwortete Chruschtschow über den Dolmetscher.
Der kahle Kopf des kommunistischen Machthabers reichte Kennedy nur bis zur Nase. O’Donnell erinnerte sich später, dass er es sehr bedauerte, die Kamera nicht mitgenommen zu haben, um diesen historischen Augenblick festzuhalten. Ihm fiel auf, dass Kennedy »den stämmigen kleinen Sowjetführer« eine Spur zu offensichtlich musterte.32
Kennedy trat zurück, die eine Hand in der Jackentasche, und ließ langsam mit unverhohlener Neugier den Blick über Chruschtschow wandern. Selbst als die Fotografen um weitere gestellte Händedrücke baten, beäugte Kennedy Chruschtschow immer noch wie ein Großwildjäger, der nach jahrelanger Suche auf eine unbekannte Spezies getroffen war.
Chruschtschow sagte halblaut etwas zu Außenminister Gromyko und ging dann ins Gebäude.
In seiner Chronik der ersten Begegnung zwischen Kennedy und Chruschtschow sinnierte Russell Baker, der Reporter der New York Times, wie sehr sich doch die Begrüßungszeremonie geändert hatte, seit sich 146 Jahre zuvor Metternich, Talleyrand und andere europäische Diplomaten in Wien getroffen hatten, um auf dem Wiener Kongress eine hundert Jahre währende Stabilität in Europa zu schaffen. »Hier in der Heimat des Walzers und des Schmalzes, der heißen Würstchen und der Habsburger trafen sich die beiden mächtigsten Männer heute in einem Musikzimmer«, schrieb er.33
Das Wall Street Journal stellte die beiden Männer fast schon wie Boxer vor, die zu einem Schwergewichtskampf in den Ring traten: »Der amerikanische Präsident ist rund eine Generation jünger, hochgebildet; Chruschtschow hingegen machte harte Lehrjahre durch, seine wichtigsten politischen Ziele lagen eher hinter als vor ihm. Die Auseinandersetzung dieser beiden Männer – die in ihrer Zeit so mächtig sind wie einst Napoleon und Alexander I., als sie sich 1807 auf einem Floß auf der Memel trafen, um die Landkarte Europas neu zu gestalten – vor der Kulisse des alten Wien, einst selbst ein Machtzentrum, heute die Hauptstadt eines kleinen Staates, der einfach nur in Frieden gelassen werden möchte, diese Auseinandersetzung hat eindeutig etwas Dramatisches. «
Das Blatt war der Meinung, dass es »das am wenigsten schlimme« Ergebnis wäre, wenn Kennedy sich einfach an seine Zusage hielte, dass er nur gekommen sei, um Chruschtschow persönlich kennen zu lernen, und wenn er mit ihm weder über Berlin noch über etwas anderes verhandeln würde.
Die europäischen Zeitungen ergingen sich weitschweifig in den historischen Konsequenzen des Treffens. Die Neue Zürcher Zeitung bedauerte es, dass Kennedy, gegen früheren Rat, unvorbereitet gekommen sei, um sich mit einem uneinsichtigen Kremlchef zu treffen. Die Wochenzeitung Die Zeit berichtete aus Wien: »Die Frage, um die es dabei für den Westen geht, ist dieselbe, die einst Demosthenes in seinen Reden gegen Philipp von Mazedonien den Athenern vorlegte: ›Wenn aber ein anderer mit den Waffen in der Hand und an der Spitze einer großen Macht euch gegenüber zwar den Friedfertigen spielt, in Wahrheit aber Krieg führt, was bleibt dann übrig, als sich in Verteidigungszustand zu setzen?‹«34
Sechs Jahre zuvor hatten die Österreicher ihren Staatsvertrag mit den vier Alliierten des Weltkriegs unterzeichnet, der es ihnen ermöglichte, dem Schicksal der benachbarten Staaten des Warschauer Pakts zu entgehen und ein freies, souveränes, demokratisches und neutrales Land aufzubauen. Deshalb waren die Wiener besonders angetan von ihrer frisch geschaffenen Bühne als neutralem Boden für ein Treffen der Supermächte. Herbert von Karajan dirigierte an der Staatsoper Wagner, und in den Wiener Kaffeehäusern und Straßen drängelten sich die Einheimischen, die ein Schwätzchen halten wollten und hofften, einen kurzen Blick auf ihre Gäste zu erhaschen.
Der Wiener Teenager Erich Frankl kritzelte in sein Tagebuch, dass er und seine Freunde Kennedy als eine Art »Popidol« anbeteten. Er hatte in seinem Zimmer ein Foto von ihm aufgehängt und bedauerte es, dass das eigene Land keine solchen Vorbilder hervorbrachte. Die etwa gleichaltrige Veronika Seyr machte sich wegen des Rummels um den Gipfel mehr Sorgen. Da sie nur fünf Jahre zuvor erlebt hatte, mit welcher Brutalität die Sowjets in Budapest vorgegangen waren, bekam sie bei der verstärkten Polizeipräsenz in ganz Wien regelrecht Angst. Von einem Kirschbaum aus sah sie sowjetische Jagdflugzeuge und Hubschrauber über der Stadt kreisen, als Chruschtschow ankam. Vor Schreck, weil sie eine neuerliche Invasion fürchtete, fiel sie vom Baum und lag eine Zeitlang »wie ein Maikäfer« auf dem Rücken und sah immer noch den Hubschraubern über ihr zu.35
Da Kennedy ahnte, dass ihm zwei Tage voller anstrengender Diskussionen bevorstanden, eröffnete er das Gespräch mit ein wenig Smalltalk über ihre erste Begegnung von 1959 im Senatsausschuss für auswärtige Beziehungen während des ersten Besuchs des sowjetischen Führers in den Vereinigten Staaten.36
Wie um zu beweisen, dass er hier die Nase vorn haben werde, entgegnete Chruschtschow, er könne sich noch gut an die Begegnung erinnern, habe aber »nurmehr die Zeit gehabt, einige Worte zu wechseln«, weil der damalige Senator zu spät gekommen sei – so sollte es Kennedy bei den Gesprächen noch oft ergehen.
Der sowjetische Führer erinnerte Kennedy daran, dass er schon damals weitsichtig bemerkt habe, er habe gehört, Kennedy sei ein junger und vielversprechender Politiker. Der Präsident gab zurück, Chruschtschow habe damals auch gesagt, dass Kennedy für einen Senator zu jung wirke.
»Habe ich das wirklich gesagt?«, wunderte sich der Sowjetführer und fügte hinzu: »Ich bin gewöhnlich bemüht, jungen Menschen nicht zu sagen, dass sie jung sind, weil ich weiß, dass die Jungen immer älter aussehen wollen, ebenso wie die Alten immer jünger aussehen wollen, als sie sind.« Chruschtschow meinte, er habe ebenfalls jünger als sein Alter ausgesehen, bevor er mit zweiundzwanzig frühzeitig ergraut sei. Er lachte und sagte, dass er »gern das Alter mit dem US-Präsidenten tauschen beziehungsweise den Überschuss an Jahren mit ihm teilen« würde.
Nach diesem anfänglichen Geplänkel bestimmte Chruschtschow den Ton und das Tempo der Unterhaltung, indem er Kennedys kurze Stellungnahmen und Fragen mit weitschweifigen Auslassungen beantwortete. Um gleich zu Beginn einen Vorteil zu haben, hatten die Amerikaner gewünscht, dass die Gespräche am ersten Tag in der Residenz des US-Botschafters stattfanden. Die Sowjets hatten akzeptiert, dass die beiden mächtigsten Männer der Welt am zweiten Tag auf sowjetisches Territorium umzogen. Aber auch in der US-Botschaft fühlte sich Chruschtschow wie zu Hause.
Bemüht, die Kontrolle des Gesprächs wiederzugewinnen, umriss Kennedy seine Hoffnungen für die Gespräche. Er sagte, er würde sich wünschen, dass ihre beiden mächtigen Länder – »die zahlreiche Verbündete haben und in verschiedenen sozialen Systemen leben, Länder, die in den verschiedenen Teilen der Erde im Wettbewerb miteinander stehen« – Mittel und Wege fänden, um Situationen zu vermeiden, die zu einem Konflikt führen könnten.
Im Gegenzug zählte Chruschtschow bis ins Kleinste seine langjährigen Bemühungen auf, die, wie er sagte, »Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten auf die Sicherung einer friedlichen und freundschaftlichen Entwicklung« hin auszurichten. Gleichzeitig wolle die Sowjetunion jedoch, wandte er ein, »keine Verständigung auf Kosten ihrer Verbündeten, auf Kosten irgendwelcher dritter Staaten, denn ein solches Bestreben würde nicht den Wunsch bedeuten, den Frieden zu sichern«.
Die beiden Männer hatten sich darauf geeinigt, die Diskussion über Berlin für den zweiten Tag aufzuheben, und deshalb ging es in den ersten Gesprächen vor allem um die allgemeine Beziehung und Abrüstungsfragen.
Chruschtschow meinte, es sei seine größte Sorge, dass die Vereinigten Staaten versuchen könnten, ihre wirtschaftliche Überlegenheit über die Sowjets auf eine Weise einzusetzen, die einen Konflikt auslösen könnte – eine versteckte Anspielung auf die wachsende Abhängigkeit der Sowjetunion vom Handel mit dem Westen und seinen Krediten. Er erklärte, dass er im Laufe der Zeit die Sowjetunion reicher als die Vereinigten Staaten machen werde, »nicht durch Eroberungen«, sondern durch bessere Nutzung der eigenen Ressourcen.
Kennedys Einwurf, wie beeindruckt er von den steigenden sowjetischen Wachstumsraten gewesen sei, beachtete Chruschtschow kaum und riss wiederum das Heft des Handelns an sich. Er beschwerte sich, dass John Foster Dulles, Eisenhowers Außenminister von 1953 bis 1959 und Gegner des Sowjetsystems, versucht habe, den Kommunismus abzuschaffen. Dulles habe sich, so Chruschtschow, der den Namen wie einen Fluch aussprach, sowohl de facto als auch de jure gegen den Eindruck gewehrt, dass beide Systeme nebeneinander existieren könnten. Chruschtschow sagte zu Kennedy, dass er während ihrer Gespräche nicht versuchen werde, den Präsidenten zu bekehren, »denn ich bin überzeugt, dass ich Sie nicht von den Vorzügen des Kommunismus überzeugen kann, ebenso wie Sie mich nicht von den Vorzügen des Kapitalismus überzeugen können«.
In Gesprächen vor dem Gipfel hatte Botschafter Thompson Kennedy gewarnt, sich auf eine ideologische Debatte mit Chruschtschow einzulassen, weil dieser Kurs nur wertvolle Zeit verschlingen würde. Im Übrigen konnte Kennedy die Auseinandersetzung nach Thompsons Einschätzung gegen einen Kommunisten mit lebenslanger Erfahrung in der dialektischen Argumentationsweise nicht gewinnen. Kennedy war jedoch, als er nach Wien kam, von seiner eigenen Überredungskunst zu sehr überzeugt, um der Versuchung zu widerstehen.37
Chruschtschows Äußerungen würden »das Hauptproblem« berühren, sagte Kennedy. Der Präsident nannte es »eine für uns sehr ernste Quelle der Besorgnis«, dass Chruschtschow der Meinung sei, man könne es für angebracht befinden, freie Systeme in Ländern, die mit den Vereinigten Staaten verbündet seien, abzuschaffen, aber gegen sämtliche Bemühungen des Westens zu protestieren, den Kommunismus in der sowjetischen Einflusssphäre zurückzudrängen.
Mit ruhiger Stimme erklärte Chruschtschow Kennedy, er lege »unsere Politik falsch aus«. Die Sowjetunion oktroyiere niemals anderen ihr System auf, sondern begleite lediglich den historischen Wandel. Darauf hielt Chruschtschow eine Art Geschichtsvorlesung über den Lauf der Weltgeschichte vom Feudalismus bis zur Französischen Revolution. Das sowjetische System werde am Ende wegen seiner Vorteile den Sieg davontragen, sagte er, fügte aber hinzu, dass Kennedy wohl genau das Gegenteil glaube. »Aber das ist keine Streitfrage zwischen uns und noch weniger ein Grund für bewaffnete Konflikte«, meinte er.
Auch im Folgenden schlug Kennedy den Rat seiner Experten in den Wind und beschloss erneut, sich mit dem sowjetischen Führer in ideologischen Fragen zu messen. Später erklärte der US-Präsident, er sei überzeugt gewesen, dass er sich in einer ideologischen Debatte gegen Chruschtschow behaupten musste, wenn er bei anderen Themen ernst genommen werden wollte. Die Vereinigten Staaten stünden auf dem Standpunkt, dass ein Volk »aufgrund der freien Entscheidung« sein System wählen solle, sagte Kennedy zu Chruschtschow. Dem Präsidenten bereite es jedoch Sorge, dass Minderheitsregierungen, die nicht den Willen des Volkes ausdrückten – und die von Freunden Moskaus regiert würden –, die Macht an Orten an sich rissen, an denen die Vereinigten Staaten ein großes Interesse hätten. Die UdSSR halte dies für »historisch unvermeidlich«, betonte Kennedy, die Vereinigten Staaten keinesfalls. Der Präsident fürchtete, dass solche Situationen zu einem militärischen Konflikt zwischen der UdSSR und den USA führen könnten.38
Chruschtschow fragte sich daraufhin, ob Kennedy vielleicht »einen Staudamm gegen die Entwicklung des menschlichen Geistes errichten« wolle. Falls dem so sei, so stehe das nicht in der Macht des Menschen. »Ideen kann man nicht vernichten. […] Seinerzeit haben die spanischen Inquisitoren Andersgläubige auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Aber eine Idee kann man nicht verbrennen. Wenn man bestrebt ist, eine Idee zu vernichten, so führt das unvermeidlich zu Konflikten. Eine Idee kann man nicht einfangen und in Ketten legen.«
Der sowjetische Führer genoss geradezu den Schlagabtausch. In einem verzweifelten Versuch, einen gemeinsamen Nenner zu finden, argumentierte Kennedy, der Kommunismus könne dort angesiedelt bleiben, wo er bereits existiere, nämlich in Ländern wie Polen und der Tschechoslowakei, er könne aber dort nicht akzeptiert werden, wo das sowjetische System noch nicht etabliert sei. Amerikanische Regierungsvertreter, die später die Mitschriften lasen, zeigten sich schockiert darüber, dass Kennedy eine weit größere Bereitschaft als irgendein Präsident vor ihm an den Tag legte, die bestehende Spaltung Europas in Einflusssphären zu akzeptieren. Kennedy schien anzudeuten, dass er die Zukunft derjenigen opfern würde, die in Ländern des Warschauer Pakts um die Freiheit kämpften, falls der Kreml die Hoffnung aufgäbe, den Kommunismus anderswo auszubreiten.
Chruschtschow stellte Kennedys offenkundige Überzeugung infrage, die Sowjetunion sei für sämtliche kommunistischen Bewegungen auf der Welt verantwortlich. Wenn Kennedy damit sagen wolle, dass er den Vormarsch kommunistischer Ideen überall zu bekämpfen vorhabe, wo sie bislang noch nicht existierten, argumentierte Chruschtschow, dann werde »das unvermeidlich zu Konflikten zwischen uns führen«.
Im Stil einer weiteren Lehrstunde für einen begriffsstutzigen Schüler erinnerte Chruschtschow den US-Präsidenten daran, dass ursprünglich nicht Russen die kommunistischen Gedanken formuliert hatten, sondern die in Deutschland geborenen Karl Marx und Friedrich Engels. Er meinte im Scherz, dass sich die Konzepte – selbst wenn er sich vom Kommunismus lossagen würde (wobei er natürlich keinesfalls die Absicht hatte) – dennoch weiterentwickeln würden. Er forderte Kennedy auf, ihm zuzustimmen, dass es »für die Entwicklung friedlicher Beziehungen zwischen unseren Ländern erforderlich« sei, anzuerkennen, dass Kommunismus und Kapitalismus die zwei Hauptideologien der Welt seien. Naturgemäß freue sich jede Seite darüber, so Chruschtschow, wenn sich ihre Ideologie ausbreite.
Wenn das Gipfeltreffen danach entschieden werden sollte, welche Seite das Gespräch stärker unter Kontrolle hatte, so ging Chruschtschow gleich zu Beginn deutlich in Führung. In seinem ganzen Leben hatte Kennedy nichts erlebt, das ihn auf die unerschütterliche Kraft Chruschtschows vorbereitet hätte. Dabei wusste Thompson, der das Geschehen mit anderen aus der US-Delegation vom Rand aus verfolgte, aus Erfahrung, dass der Parteichef erst warmlief.
»Ideen kann man nicht auf Bajonettspitzen in ein Land tragen, wie man früher sagte, obwohl es heute richtiger wäre zu sagen – auf Raketenspitzen«, sagte Chruschtschow. In einem Krieg der Ideen würde sich die sowjetische Politik auch ohne gewaltsame Methoden durchsetzen.
Ob denn Mao Tse-tung nicht erklärt habe, wandte Kennedy ein, »die [politische] Macht würde auf Bajonetten in ein Land getragen«? Kennedy war über die wachsenden chinesisch-sowjetischen Spannungen unterrichtet worden und startete einen Versuchsballon.
»Mao Tse-tung konnte das nicht sagen«, leugnete Chruschtschow dies ganz einfach, nachdem er selbst Maos Lust auf einen Krieg gegen den Westen ver-spürt hatte. Mao sei, stellte Chruschtschow fest, »ein Marxist, ein Kommunist, und wir Kommunisten waren […] stets Gegner von Kriegen«.
Um zu seiner Agenda des Abbaus von Spannungen und der Friedenssicherung zurückzukehren, erklärte Kennedy, er wolle unbedingt verhindern, dass »im Fall eines Rechenfehlers von irgendeiner Seite« ein Krieg ausbreche, nach dem »die Wiedergeburt unserer Länder für lange Zeit unmöglich« wäre – eine Anspielung auf die lange radioaktive Strahlung nach einem atomaren Schlagabtausch.
»Rechenfehler?«
Chruschtschow spuckte das Wort wie einen Ekel erregenden Gegenstand aus.
»›Rechenfehler‹! ›Rechenfehler‹! ›Rechenfehler‹! Das lese ich häufig in der Presse der USA und ihrer Verbündeten in Europa, und von überall bekomme ich nichts als dieses verdammte Wort ›Rechenfehler‹ zu hören.«39
Das Wort sei außerordentlich ungenau, brachte Chruschtschow hervor. Welche Bedeutung habe denn dieses Wort ›Rechenfehler‹? Er wiederholte den Begriff ständig, um den Effekt zu steigern. Wolle der Präsident etwa, dass »wir wie Schulkinder in der Schulbank sitzen und die Hände auf den Tisch legen«, fragte er und fügte hinzu, dass er nicht garantieren könne, dass kommunistische Ideen an der sowjetischen Grenze haltmachten. Gewiss, sagte er, »wir verstehen sehr gut, was ein Krieg unter den gegenwärtigen Umständen bedeutet. […] Lassen Sie uns also diese ›Rechenfehler‹ in den Panzerschrank legen. Dieses Wörtchen macht auf uns keinen Eindruck.«
Der verblüffte Kennedy schreckte zurück und ließ den Sturm über sich ergehen.
Kennedy versuchte zu erklären, was er damit gemeint hatte. Nicht zuletzt mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg sagte er: »Die ganze Geschichte Westeuropas bietet viele Beispiele, dass es unmöglich ist, im Voraus zu erraten, wie die eine oder andere Seite als Antwort auf bestimmte Handlungen eines anderen Landes ihr gegenüber reagieren wird.« Die Vereinigten Staaten hatten unlängst nicht die chinesischen Aktionen in Korea vorausgesehen. Er wünsche sich von dem Treffen, »dass jeder von uns eine klarere Vorstellung darüber erhält, wohin jeder von uns geht«.
Vor der Mittagspause sollte Chruschtschow das letzte Wort haben.
Seiner Meinung nach sollten ihre Gespräche dazu dienen, die Beziehungen zu verbessern, nicht zu verschlechtern. Wenn ihm und Kennedy dies gelingen sollte, »dann sind auch die Ausgaben für diese Reise gerechtfertigt«. Mit anderen Worten: Wenn nicht, hätte man das Geld verschwendet und die Hoffnungen der Menschen enttäuscht.
Als die Gesprächspartner auf die Uhr sahen, stellten sie erstaunt fest, dass es bereits 14 Uhr war.
Bei einem Mittagessen mit Beef Wellington im Speisesaal der US-Botschaft gab Chruschtschow weiterhin den Ton an, beschwingt von dem trockenen Martini, den er wie Wodka trank. Er unterhielt die lange Tafel, an der auf jeder Seite neun Berater und hohe Regierungsvertreter saßen, mit Themen aus der Agrarwirtschaft bis hin zur Raumfahrt.40 Er prahlte mit Gagarins Flug als erstem Menschen im Weltall, räumte aber ein, dass Gagarins Vorgesetzte ihm anfangs nicht die Steuerung des Raumschiffs anvertrauen wollten. Man meinte, das sei eine zu große Macht für einen Einzelnen.
Kennedy schlug vor, dass die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion über eine gemeinsame Mondexpedition nachdenken sollten.
Nach anfänglicher Ablehnung überlegte Chruschtschow es sich anders. »Also gut, warum denn nicht?«, sagte er. Das schien der erste Fortschritt des Tages zu sein.41
Nach dem Essen zündete sich Kennedy eine Zigarre an und warf das Streichholz hinter Chruschtschows Stuhl.
Der sowjetische Führer tat so, als wäre er entsetzt. »Wollen Sie mich in Brand stecken?«, fragte er.
Kennedy beruhigte ihn, dass das keinesfalls seine Absicht sei.
»Ah«, sagte Chruschtschow mit einem Grinsen, »ein Kapitalist und kein Brandstifter.«42
In den Trinksprüchen der beiden Männer nach dem Essen spiegelte sich das ungleiche Verhältnis der früheren Gespräche wider. Kennedy fasste sich kurz, beglückwünschte Chruschtschow zu seiner »Energie« und äußerte die Hoffnung auf künftige fruchtbare Treffen.
Der sowjetische Staatsmann antwortete ausführlicher. Er sprach darüber, wie die beiden Länder gemeinsam die Macht hätten, mit vereinten Kräften jeden Krieg zu beenden, den irgendein Land begänne. Er sprach über seine anfangs gute Beziehung zu Eisenhower. Obwohl Eisenhower die Verantwortung für den U-2-Zwischenfall übernommen hatte, der ihre Beziehung belastet hatte, meinte Chruschtschow, er sei sich fast sicher, »dass Präsident Eisenhower nichts von diesem Flug gewusst«, sondern die Schuld »sozusagen aus Ritterlichkeit« auf sich genommen habe. Chruschtschow erklärte, der Flug sei von jenen inszeniert worden, die eine Verschlechterung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen wünschten – und sie hätten Erfolg damit gehabt.43
Er äußerte den Wunsch, Kennedy in der Sowjetunion zu empfangen, sobald »die Zeit kommt«. Anschließend verurteilte er aber den Besuch seines letzten Gastes, des ehemaligen Vizepräsidenten Nixon, der offenbar glaubte, »wenn er nur den Sowjetmenschen eine Traumküche zeige, die überhaupt nie existiert hatte und auch nie in den USA existieren würde, dann würde der Sozialismus gleich zusammenbrechen«. Nur ein Mensch wie Nixon konnte sich einen solchen Unsinn ausdenken, meinte Chruschtschow.
Dann vertraute er Kennedy an, dass ihm persönlich eigentlich das Verdienst an der Wahlniederlage Nixons gebühre, zu der es deshalb gekommen war, weil der Sowjetführer sich geweigert hatte, die verhafteten amerikanischen Flieger freizulassen, die seine Truppen abgeschossen hatten. Wenn er die Männer freigelassen hätte, so Chruschtschow, dann hätte Kennedy die Präsidentschaftswahl mit mindestens zweihunderttausend Stimmen Abstand verloren.
»Erzählen Sie das bloß niemandem«, erwiderte Kennedy lachend. »Wenn Sie allen sagen, dass ich Ihnen besser gefalle als Nixon, bin ich zu Hause ruiniert. «44
Chruschtschow hob sein Glas auf die Gesundheit des Präsidenten und sagte, wie sehr er ihn um seine Jugend beneide. Dabei ertrug Kennedy unter dem Korsett Rückenschmerzen, die gewöhnlich Männer in einem wesentlich höheren Alter haben. Die Wirkung der morgendlichen Spritze von Dr. Feelgood ließ allmählich nach. Das Procain, die Vitamine, Amphetamine und Enzyme konnten gegen die Wucht von Chruschtschows Ansturm nichts ausrichten. 45
Nach dem Essen lud Kennedy Chruschtschow zu einem Spaziergang im Garten nur in Begleitung der Dolmetscher ein. Thompson und andere hatten Kennedy darauf aufmerksam gemacht, dass Chruschtschow zugänglicher war, wenn er nicht von anderen sowjetischen Funktionären umgeben war, vor denen er sich beweisen musste.46
Kennedys Freunde O’Donnell und Powers beobachteten den Spaziergang der Chefs der beiden Supermächte von einem Fenster im ersten Stock der Residenz aus. Chruschtschow lief ständig um Kennedy herum, schnappte wie ein Terrier nach ihm und fuchtelte mit dem Finger herum, während der Präsident neben ihm locker über den Rasen schlenderte und gelegentlich stehen blieb, um ein paar Worte zu sagen. Er ließ sich weder Ärger noch Zorn anmerken.
O’Donnell leerte ein österreichisches Bier in einem Zug und ärgerte sich einmal mehr, weil er keine Kamera dabeihatte. Er stand nahe genug, um zu sehen, wie sehr der Spaziergang Kennedys Rücken plagte. Der Präsident verzog jedes Mal das Gesicht, wenn er sich vorlehnte, um den viel kleineren Chruschtschow besser zu hören.47
Als die beiden Männer wieder ins Haus gingen, schlug Kennedy vor, er und Chruschtschow sollten sich eine Zeitlang unter vier Augen mit den Dolmetschern unterhalten, bevor die Berater wieder zu ihnen stießen. Zufrieden mit dem bisherigen Verlauf des Treffens stimmte Chruschtschow zu.48
Kennedy wollte näher erklären, weshalb er so große Angst vor einem »Rechenfehler« oder Missverständnis hatte. In einem weiteren peinlichen Versuch, sich bei dem Sowjetführer einzuschmeicheln, gestand Kennedy, dass er »hinsichtlich Kubas« ein falsches Urteil gefällt hatte.
Er sagte, dass er Entscheidungen hinsichtlich der amerikanischen Politik treffen müsse, die auf dem basierten, was die UdSSR als Nächstes weltweit unternehmen werde, genauso wie Chruschtschow Entscheidungen »in Bezug auf die Politik und die möglichen Aktionen seitens der USA« treffen müsse. Also wollte er ihre Begegnung dazu nutzen, »ein größeres Verständnis unserer Absichten und unserer Interessen« zu erreichen, sodass ihre beiden Länder diese Phase des Wettbewerbs überleben könnten, ohne die nationale Sicherheit zu gefährden.
Chruschtschow erwiderte, eine Gefahr bestehe nur dann, wenn die Vereinigten Staaten die Ursprünge der Revolution falsch interpretierten, die in erster Linie hausgemacht und nicht von den Sowjets erfunden worden seien, wie er betonte. Als Beispiel wählte er den Iran, damals ein amerikanischer Verbündeter, wo die Sowjetunion angeblich keine Revolution wünschte und auch »gar nichts in dem Land unternahm«, um eine solche Entwicklung zu fördern.
Allerdings lebten die Menschen im Iran, so Chruschtschow, »in einem solchen Elend, dass das Land buchstäblich wie ein Vulkan brodelte. Es besteht kein Zweifel, dass die Unzufriedenheit des Volkes letzten Endes zum Sturz des Schahs führen wird. Sie aber rufen durch Ihre Politik der Unterstützung des maroden Regimes im Iran lediglich die Unzufriedenheit des Volkes mit der USA-Politik hervor. Diese Ihre Politik wird dazu führen, dass das Volk unserem Land mit noch größerer Sympathie gegenübersteht, da es weiß, dass wir für Diktatoren und Tyrannen kein Mitgefühl haben.«
Dann kam er auf Kuba zu sprechen. »Dort hat eine Handvoll patriotisch gesinnter Menschen mit Fidel Castro an der Spitze das diktatorische Regime gestürzt, da das Volk das Elend und die Rechtlosigkeit nicht mehr aushalten konnte«, sagte er. »Aber als Batista gestürzt wurde, geschah es, dass monopolistische Kreise der USA ihn unterstützten, und deshalb übertrug sich der Hass des Volkes gegen den Diktator Batista auf die amerikanischen Monopole. Die vor kurzem erfolgte Landung von Truppen auf Kuba führte im Grunde genommen nur zur Festigung der revolutionären Macht, da sich das Volk noch einmal aus eigener Anschauung davon überzeugen konnte, dass Fidel Castro die Lage seines Volkes verbessern will«, sagte Chruschtschow. »Castro ist doch kein Kommunist. Aber durch Ihre Taten können Sie ihm einen solchen Schulungsunterricht erteilen, dass er letzten Endes wirklich Kommunist wird.«
Mit Blick auf seine eigene Erfahrung sagte Chruschtschow, er sei nicht als Kommunist auf die Welt gekommen. »Die Kapitalisten haben mich zu einem Kommunisten gemacht.« Chruschtschow schnaubte verächtlich über Kennedys Anmerkung, dass Kuba die amerikanische Sicherheit gefährden könne. Ob sechs Millionen Menschen wirklich eine Gefahr für die mächtigen Vereinigten Staaten sein könnten, fragte sich der sowjetische Parteichef.
Chruschtschow forderte Kennedy auf, ihm zu erklären, was für einen globalen Präzedenzfall er unter Umständen schuf, wenn er argumentierte, dass die USA im Fall Kubas nach Belieben schalten und walten konnten. Hieß das etwa, dass es der UdSSR freistehe, sich in die inneren Angelegenheiten der Türkei und des Irans einzumischen, die mit den Vereinigten Staaten verbündet waren und amerikanische Stützpunkte und Raketen hatten? Mit der Invasion in der Schweinebucht hätten die USA, so Chruschtschow, »einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen; Sie beweisen im Grunde genommen, dass, wenn Ihre Nachbarländer eine Politik verfolgen, die sich von der Ihrigen unterscheidet, Sie diese Länder überfallen können. Aber wenn man diese These anerkennt, was sollen wir dann mit solchen Ländern machen wie Iran oder der Türkei, die mit Ihnen durch Militärverträge verbunden sind, die direkt gegen uns gerichtet sind? Aber diese Länder sind doch ebenso viel schwächer als wir, wie Kuba schwächer ist als die USA. Wenn die Großmächte sich das Recht anmaßen werden, sich nur deshalb in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einzumischen, weil ihnen die in diesen Ländern betriebene Politik nicht gefällt, so wird das große Gefahren in sich bergen, und hier werden, um mit Ihren Worten zu sprechen, Rechenfehler nicht ausgeschlossen sein.«
Chruschtschow hielt an dem gefürchteten Begriff fest, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
Indem er Kennedy das Wort im Mund verdrehte, stimmte Chruschtschow zu, dass beide Seiten vereinbaren sollten, »Rechenfehler auszuschließen«. Aus diesem Grund sei er auch froh über die Erklärung des Präsidenten, dass er »in Kuba einen Rechenfehler begangen« habe.
Kennedy versuchte einmal mehr, den brummenden Bär zu besänftigen. Er pflichtete Chruschtschows Einschätzung des Irans bei, dass, falls es nicht gelinge, die Lage der Bevölkerung zu verbessern, »in der Regierung dieses Landes Veränderungen vorgenommen werden«. Nachdem sein Gegenüber ihn in Bezug auf Kuba, die Türkei und den Iran herausgefordert hatte, spürte Kennedy das Bedürfnis, darauf zu reagieren. Er betonte, dass er kein Sympathisant von Batista gewesen sei, aber jetzt fürchte, dass Castro Kuba zu einer Basis für Unruhen in der Region umwandeln werde. Es stimme zwar, dass die Vereinigten Staaten militärische Einrichtungen in der Türkei und im Iran hätten, sagte Kennedy, aber diese beiden Länder »stellen für Sie natürlich keine Bedrohung dar, obwohl es dort unsere Stützpunkte gibt, ebenso wie Kuba von sich aus keine Bedrohung für die USA darstellt«.
Als amerikanische Regierungsvertreter ein paar Tage später die Transkription der Gespräche zwischen den beiden Staatschefs lasen, waren sie einmal mehr entsetzt über die folgende Äußerung. Mit Blick auf Kuba fragte sich Kennedy, wie Chruschtschow wohl reagieren würde, wenn sich in Polen eine Regierung etablieren würde, die dem Westen freundlich gesinnt sei. »Die Hauptsache besteht also darin, dass sämtliche Veränderungen, die sich auf der Welt ereignen und das Kräftegleichgewicht beeinflussen, auf eine Weise erfolgen, die nicht dem Ansehen der vertraglichen Verpflichtungen unserer beiden Länder schadet.« Kennedy wollte damit andeuten, dass Polen wegen der Verpflichtungen im Rahmen des Warschauer Pakts für amerikanische Interventionen tabu war.
Kein US-Präsident hatte jemals gegenüber einem sowjetischen Gesprächspartner die Teilung Europas so eindeutig als akzeptabel und dauerhaft bezeichnet. Um dieses scheinbare Zugeständnis auszugleichen, fügte Kennedy hinzu, dass seiner Meinung nach die Tage für Staatschefs im sowjetischen Block gezählt seien, die ihrem Volk »nicht die Hebung des Lebensstandards« sichern konnten. Gleichzeitig erklärte Kennedy, die Vereinigten Staaten würden sich nicht dort einmischen, wo das Prestige des Kremls auf dem Spiel stehe – und Moskau solle sich an dieselben Regeln halten.
Chruschtschow schoss zurück, dass die amerikanische Politik inkonsequent sei, entschuldigte sich anschließend bei Kennedy, er wolle damit nicht ihn persönlich kritisieren, weil er ja erst seit kurzem im Weißen Haus sitze. Der Sowjetführer kam erneut auf das Thema Iran zu sprechen: Bei aller Betonung der Demokratie seitens der USA unterstütze Washington doch den Schah, der erklären würde, »er hätte seine Macht von Gott erhalten, aber wir wissen doch, wer er ist. Sein Vater hat die Macht durch Mord und Gewalt erobert, vorher war er einfacher Wachtmeister der Kavallerie. Und einen solchen Menschen unterstützen Sie. Sie geben im Iran viel Geld aus, um das reaktionäre Regime des Schahs zu unterstützen, aber die Liebe des Volkes genießt es ohnehin nicht, weil all Ihr Geld von den käuflichen Menschen in der Umgebung des Schahs gestohlen wird.«
Um noch stärker zu verdeutlichen, was er als amerikanische Heuchelei verurteilte, führte Chruschtschow Washingtons Unterstützung des spanischen Diktators Franco ins Feld. »Sie wissen sehr gut, auf welchem Weg er zur Macht gelangte«, sagte der Parteichef, »und trotzdem unterstützen Sie ihn. Es kommt doch so heraus, dass Sie in Wirklichkeit allen reaktionären Regimen Unterstützung gewähren. Das heißt also in den Augen der Völker, dass Sie deren Feinde unterstützen.« Er gab zu, dass Castro tatsächlich ein Kommunist werden könnte, auch wenn er es nicht von Anfang an war. Chruschtschow war der Meinung, dass amerikanische Sanktionen ihn Moskau in die Arme getrieben hätten.
Kennedy steckte ganz schön in der Klemme. Bei aller Bereitschaft, mit Chruschtschow zu diskutieren, versäumte er es, den sowjetischen Regierungs-und Parteichef dort zur Rede zu stellen, wo er am verwundbarsten war. Kennedy verurteilte mit keinem Wort den sowjetischen Gewalteinsatz in der DDR und Ungarn 1953 und 1956. Noch schlimmer, er stellte in diesem Zusammenhang auch nicht die allerwichtigste Frage: Warum flüchteten denn die Ostdeutschen zu hunderttausenden in ein besseres Leben im Westen?
Gegen Ende des ersten Tages griff Kennedy das Thema Polen noch einmal auf und argumentierte, dass bei demokratischen Wahlen in diesem Land die derzeitige sowjetfreundliche Regierung durchaus durch eine ersetzt werden könnte, die dem Westen näherstand. Chruschtschow gab sich regelrecht brüskiert. Es sei nicht gerade respektvoll, meinte er, wenn Kennedy so von einer Regierung spreche, »mit der Ihr Land normale diplomatische Beziehungen unterhält«. Er argumentierte, das polnische Wahlsystem sei »demokratischer als das Wahlsystem der USA«.
Die anschließenden Bemühungen Kennedys, zwischen dem Mehrparteiensystem Amerikas und dem Einparteienstaat Polen zu differenzieren, waren vergeblich. Die beiden Männer konnten sich nicht auf eine Definition von Demokratie einigen, geschweige denn auf die Frage, ob Polen eine Demokratie war.
Sie umkreisten mit Chruschtschows Attacken und Kennedys Paraden den ganzen Globus geografisch wie ideologisch von Angola bis hin zu Laos. Das größte Zugeständnis Chruschtschows an diesem Tag war, dass er ein neutrales, unabhängiges Laos akzeptierte – ein Abkommen, das die Mitarbeiter der beiden Weltmächte am Rand des Wiener Gipfeltreffens aushandeln sollten. Es war völlig untypisch für ihn, dass er dafür wenig im Gegenzug von Kennedy verlangte.
Chruschtschow machte gewissermaßen reinen Tisch für das Thema, das er am nächsten Tag in den Mittelpunkt rücken wollte: Berlin.
Kennedy kündigte um 18:45 Uhr, nach sechs Stunden fast ununterbrochener Gespräche, eine Pause an. Müde und ausgelaugt wies er auf die vorgerückte Uhrzeit hin und schlug vor, den nächsten Punkt auf der Tagesordnung, die Frage eines Verbots von Kernwaffentests, am selben Abend beim Abendessen mit dem österreichischen Bundespräsidenten zu erörtern, damit man sich während des größten Teil des folgenden Tages Berlin widmen könne. Kennedy ließ Chruschtschow aber auch die Option, am nächsten Tag über beide Themen zu sprechen.
Der US-Präsident wollte sichergehen, dass Chruschtschow nicht die Zusage zurücknahm, über einen Atomteststopp zu sprechen (er wusste genau, dass Moskau wenig Interesse daran hatte), ehe sie sich der Berlin-Frage widmeten.
Während Kennedy einen Blick auf die Uhr warf, griff Chruschtschow sofort das Thema Berlin auf. Er sagte, er werde einer Diskussion über das Verbot von Kernwaffentests lediglich im Rahmen allgemeiner Abrüstungsgespräche zustimmen. Diesen Ansatz lehnte Kennedy aus dem simplen Grund ab, dass man sich problemlos rasch auf einen Teststopp einigen könnte, umfassende Abrüstungsvereinbarungen unter Umständen jedoch jahrelange Verhandlungen erforderten.
In Bezug auf Berlin erklärte Chruschtschow, man müsse am nächsten Tag seinen Forderungen nachkommen, sonst werde er unilateral Maßnahmen ergreifen. »Ich möchte hoffen, dass Sie in dieser Frage Verständnis zeigen, um zusammen einen Friedensvertrag abzuschließen«, sagte er. »Das würde zu einer Verbesserung der Beziehungen zwischen unseren Staaten führen. Wenn Sie jedoch nicht die Bereitschaft dazu zeigen, werden wir einseitig einen Friedensvertrag schließen und dabei vor nichts haltmachen.«
Nachdem eine sowjetische Limousine Chruschtschow abgeholt hatte, fragte ein benommener Kennedy auf den Stufen der Residenz Botschafter Thompson: »Ist das immer so?«
»Das ist normal«, sagte Thompson.49
Thompson verzichtete darauf, dem Präsidenten vorzuhalten, dass die Sache besser hätte laufen können, wenn er seinen Rat befolgt hätte, sich nicht auf eine ideologische Diskussion einzulassen. Der Botschafter wusste genau, dass die Berlin-Gespräche am nächsten Tag aller Wahrscheinlichkeit nach noch schwieriger werden würden.
Beim Wiener Gipfeltreffen war erst Halbzeit, aber es war bereits offensichtlich, dass die amerikanische Seite verlieren würde.
Kennedy hatte Chruschtschows Eindruck, er sei schwach, noch verstärkt. »Dieser Mann ist sehr unerfahren, sogar unreif«, sagte der sowjetische Parteichef zu seinem Berater Oleg Trojanowskij. »Verglichen mit ihm ist Eisenhower ein Mann mit Verstand und Vision.«50
In den folgenden Jahren sollte der damals in Wien residierende US-Diplomat William Lloyd Stearman Studenten die Lehren des Gipfeltreffens in einem Vortrag nahebringen, den er selbst »Grüner Junge trifft Al Capone« betitelte. Seiner Meinung nach gab dieser Titel den naiven, fast schon entschuldigenden Ansatz wieder, den Kennedy angesichts der heftigen Attacken Chruschtschows gewählt hatte. In Stearmans Augen hatte die Invasion in der Schweinebucht das Selbstvertrauen des Präsidenten auf dem Gipfel erheblich beeinträchtigt und bei Chruschtschow den Eindruck erweckt, er habe »leichtes Spiel mit Kennedy«.51
Stearmans Erkenntnisse waren fundierter als die der meisten Beobachter, weil er in Wien regelmäßig von seinem Freund Martin Hillenbrand, der die Gespräche stenografierte, informiert wurde. Stearman war der Meinung, dass die Gespräche nicht zuletzt deshalb aus dem Ruder liefen, weil Kennedy von seinen wichtigsten Beratern so schlecht instruiert worden sei.
Den Außenminister Rusk bezeichnete Stearman als einen Asien-Experten, der in sowjetischen Dingen nicht über die nötige Sachkenntnis verfügte. Der Nationale Sicherheitsberater Bundy war eher ein Kopf- als ein Tatmensch. Im Zentrum der Regierung fehlten Berater, die Kennedy die Bedeutung des historischen Moments und die entsprechende strategische Richtung vermitteln konnten, die Dean Acheson und John Foster Dulles einst Truman und Eisenhower gewiesen hatten.
Nach Stearmans Darstellung hatte Kennedy nicht zuletzt schon in der vorbereitenden Planung seine Erfolgsaussichten dadurch verringert, dass er seinen nationalen Sicherheitsstab umgangen und einen großen Teil der Planung heimlich über Bolschakow und seinen Bruder Robert Kennedy erledigt hatte. Als die Gespräche allmählich eine falsche Richtung nahmen, fehlte es Kennedy an Leuten im Hintergrund, die über die Vorbereitungen ausreichend genug informiert waren, um dem entgegenzusteuern.
Zum Glück hatte das Gebäude der US-Botschaft, wo Kennedy sich einquartiert hatte, eine Badewanne, auch wenn sie etwas bescheidener war als das vergoldete Becken in Paris. Während Kennedy im Wasser lag, sprach O’Donnell den Präsidenten auf den peinlichen Moment gleich zu Beginn des Tages an, als er den sowjetischen Führer auf der Eingangstreppe unverhohlen taxiert hatte.
»Nach all den Studien, die ich in den letzten Wochen über ihn angestellt habe, können Sie mir kaum vorwerfen, dass ich darauf neugierig war, ihn zu sehen«, antwortete er.
Ob er anders als erwartet war, wollte O’Donnell wissen.
»Eigentlich nicht«, sagte Kennedy, korrigierte sich dann aber. »Vielleicht ein bisschen unvernünftiger. […] Nach dem, was ich gelesen hatte und mir andere gesagt hatten, habe ich angenommen, dass er klug und hart sein würde. Er musste doch klug und hart sein, wenn er sich in so einer Regierungsform bis an die Spitze vorgearbeitet hatte.«52
Dave Powers erzählte dem Präsidenten, dass er und O’Donnell vom Fenster aus zugesehen hatten, wie der Sowjetführer beim Spaziergang im Garten auf ihn losgegangen sei. »Sie sind erstaunlich ruhig geblieben, als er Ihnen da draußen die Hölle heißmachte.«53
Kennedy zuckte mit den Achseln. »Was hätte ich denn tun sollen?«, fragte er. »Den Schuh ausziehen und ihm damit eins über den Kopf geben?« Er sagte, Chruschtschow habe ihn unablässig wegen Berlin bearbeitet, um ihn mürbe zu machen. Chruschtschow hatte sich gewundert, wie die Vereinigten Staaten an der Idee einer deutschen Vereinigung festhalten konnten. Er hege keinerlei Sympathie für die Deutschen, die im Krieg seinen Sohn umgebracht hatten, sagte der Sowjetführer.54
Seinen Freunden erzählte Kennedy von der heftigen Reaktion Chruschtschows auf seine Bedenken wegen eines möglichen Rechenfehlers auf beiden Seiten, der zum Krieg führen könnte. »Chruschtschow lief geradezu Amok«, sagte er. Er bat O’Donnell, sich zu merken, dass man das Wort während der restlichen Gespräche besser meiden sollte.55
Der österreichische Bundespräsident Adolf Schärf musste vor dem großen Galadinner im Schloss Schönbrunn ein Problem der Etikette lösen. Welcher der beiden hohen Gäste sollte zu seiner Rechten sitzen, fragte er sich.
Einerseits hatte Chruschtschow Wien vor dem drohenden Schicksal einer geteilten Stadt bewahrt, indem er durch den österreichischen Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 zuließ, dass das Land unabhängig und neutral wurde. Aus diesem Grund hatte Chruschtschows Frau Nina Petrowna einen Ehrenplatz verdient. Aber die Wiener liebten die Kennedys geradezu, und die Österreicher fühlten sich, ungeachtet der Neutralität, als Teil des Westens.56
Mit einem diplomatischen Kompromiss setzte Schärf Madame Chruschtschow beim Dinner an seine Rechte, Mrs Kennedy sollte den Ehrenplatz in der zweiten Hälfte des Abends bekommen, während der Vorführungen im Musiksaal.
Es war gewissermaßen Österreichs Entree ins Rampenlicht der politischen Bühne. Über sechstausend Wiener drängten sich um die von Scheinwerfern angestrahlten Tore des mehr als zweihundertfünfzig Jahre alten Schlosses Maria Theresias, um die Ankunft von Kennedy und Chruschtschow zu verfolgen. Die Bediensteten des Palastes hatten den Parkettboden auf Hochglanz gebohnert und die Fensterscheiben blitzblank geputzt. Die wertvollsten Antiquitäten wurden eigens aus den Ausstellungsräumen des Museums geholt und zum Gebrauch aufgestellt. In den Parkanlagen schnitten Gärtner Blumen und arrangierten sie so üppig auf den Tafeln, dass der ganze Saal danach duftete. Die Tische waren mit dem »Goldadlerservice« gedeckt, einem kostbaren Porzellanservice mit dem österreichischen Doppeladler in Gold auf mattweißem Hintergrund, das einst Kaiser Franz Joseph benutzt hatte.57
Abgesehen davon, dass die Speisen kalt serviert wurden, klopften sich die Österreicher selbst für den gelungenen Abend auf die Schulter. Die Gäste bemerkten, wie gut Jackie und Nina Chruschtschowa miteinander auskamen. Jackie trug ein bodenlanges, perlmuttrosa Abendkleid. Das von Oleg Cassini entworfene Kleid war ärmellos und hatte eine tief angesetzte Taille. Chruschtschows Gattin trug ein dunkles, mit einem Goldfaden durchwirktes Seidenkleid – ein proletarischeres Modell.58
Ihre Gatten gaben ein ähnliches Gegensatzpaar ab. Kennedy trug einen Frack mit Fliege und Chruschtschow einen schlichten dunklen Anzug und eine grau karierte Krawatte. Kellner mit weißen Handschuhen, Kniebundhosen und goldenen Tressen glitten mit Tabletts voller Drinks durch die Korridore und die weiten Säle.
»Herr Chruschtschow«, bat ein Fotograf, »würden Sie bitte für uns Herrn Kennedy die Hand geben?«
»Ich würde lieber zuerst ihr die Hand geben«, grinste Chruschtschow und nickte zur Frau des Präsidenten.59
Der Associated-Press-Reporter Eddy Gilmore notierte sich, dass neben Jackie »der harte und oft streitlustige Kommunistenführer wie ein verknallter Schuljunge wirkte, wenn das Eis im Frühling auf der Wolga taut«. Chruschtschow gab sich alle Mühe, neben Jackie zu sitzen, während das Kammerorchester der Wiener Philharmoniker Mozart spielte und anschließend das Ballett der Wiener Staatsoper den »Donauwalzer« vorführte.
Kennedys Auftritt war längst nicht so elegant. Unmittelbar vor Beginn der Musik wollte er sich auf einen Stuhl setzen, musste jedoch feststellen, dass er bereits von Chruschtschows Frau besetzt war. Erst im letzten Moment, bevor er auf ihrem Schoß landete, bemerkte er seinen Fauxpas.60
Er lächelte entschuldigend. Nein, das Wiener Gipfeltreffen lief wirklich nicht gut für ihn.