KAPITEL 15
Die Mauer: Tage der Verzweiflung
Warum hätte Chruschtschow eine
Mauer bauen lassen sollen,
wenn er wirklich die Absicht hätte, Westberlin
einzunehmen? […]
Das ist sein Ausweg aus einer Zwangslage. Es ist
keine besonders angenehme
Lösung, aber eine Mauer ist verdammt viel besser
als ein Krieg.
US-PRÄSIDENT JOHN F. KENNEDY, 13. AUGUST 19611
Die Russen […] haben stark den Eindruck, dass wir, wenn sie unseren Willen in Berlin brechen können, außerstande sein werden, noch etwas Positives zustande zu bringen, und sie die Schlacht im Jahr 1961 gewonnen haben werden.
US-JUSTIZMINISTER ROBERT KENNEDY, 30. AUGUST 19612
TELTOWKANAL,
OSTBERLIN
DONNERSTAG, 24. AUGUST 1961
Der vierundzwanzigjährige Schneider Günter Litfin, der bislang seine kühnsten Taten mit Nadel und Faden vollbracht hatte, nahm elf Tage nach der Schließung der Grenze seinen ganzen Mut zusammen und flüchtete aus Ostberlin.
Bis zum 13. August hatte Litfin das ideale Leben im geteilten Berlin geführt: Als einer der gut 50 000 Grenzgänger der Stadt hatte er die Vorzüge beider Seiten optimal genutzt. Tagsüber arbeitete er in Westberlin und verdiente harte Westmark, wie man sagte, die er auf dem Schwarzmarkt zu einem Wechselkurs von fünf zu eins gegen Ostmark tauschte. Er arbeitete in einem Atelier in der Nähe des Westberliner Bahnhofs Zoo, wo selbst Prominente aus der Film- und Theaterbranche zu seinen Kunden zählten: Heinz Rühmann, Ilse Werner und Grethe Weiser. Vor allem Schauspielerinnen fühlten sich von seiner knabenhaften Art, den dunklen Augen und den schwarzen Locken angezogen. Abends kehrte er in eine komfortable Wohnung im Ostberliner Bezirk Weißensee heim, die er preiswert gemietet hatte.
Über Nacht wurde Litfins traumhaftes Leben allerdings zu einem Albtraum. Wegen der Grenzschließung konnte er nicht mehr nach Westberlin fahren, verlor seinen Job und seine gesellschaftliche Stellung. Damit nicht genug, im Zuge eines ostdeutschen Arbeitsvermittlungsverfahrens drohte Litfin ein öder Job in einer Textilfabrik mit längeren Arbeitszeiten und einem Bruchteil seines bisherigen Lohns.
Litfin hätte sich selbst ohrfeigen können, weil er nicht nach Westberlin umgezogen war, als er noch die Gelegenheit dazu hatte. Ein paar Tage vor der Grenzschließung hatte er eine Einzimmerwohnung im Westberliner Bezirk Charlottenburg in der Suarezstraße gemietet. Gemeinsam mit seinem Bruder hatte er nach und nach in kleinen Fuhren seinen ganzen Haushalt in die Wohnung gebracht. Um keinen Verdacht zu erregen, hatten sie zwei Autos benutzt. Seinen wertvollsten Besitz, die moderne Nähmaschine, hatten sie bereits herausgeschmuggelt: Sie hatten sie zerlegt und in einzelnen Teilen transportiert.
Noch ärgerlicher war, dass Günter Litfin in der Nacht, als die Stadt geteilt wurde, mit seinem Bruder Jürgen auf einer Einweihungsfeier in Westberlin gewesen war. Als sie kurz nach Mitternacht mit der S-Bahn heimfuhren, war ihnen nichts Ungewöhnliches aufgefallen.
Erst am nächsten Morgen um 10 Uhr weckte Jürgen seinen Bruder, nachdem er die schlechte Neuigkeit im Radio gehört hatte: »Sämtliche Straßen sind geschlossen, und alles ist gesperrt«, sagte er zu Günter.3 Die beiden Brüder dachten an den 17. Juni 1953, als Ulbricht die Berliner Grenze geschlossen hatte, nachdem die Sowjets mit Panzern den Arbeiteraufstand niedergeschlagen hatten. Nur wenige Tage danach war wieder Normalität eingekehrt, also vermuteten sie, dass es diesmal ähnlich sein würde. Selbst nach der Berliner Luftbrücke von 1948/49 waren die Stadtgrenzen offen geblieben. Die Litfins konnten sich anfangs nicht vorstellen, dass die Amerikaner es zuließen, dass die Grenze dauerhaft geschlossen wurde, bei allem, was hier auf dem Spiel stand. Die Brüder hatten zwar ihre Zweifel an der britischen und französischen Garantie der Freiheit Berlins gehabt, aber sie hatten immer geglaubt, dass die Amerikaner durchbrechen würden.
Die beiden schwangen sich auf die Fahrräder, um die neuen Gegebenheiten zu inspizieren. Sie machten bei Günters üblichem Grenzübergang an der Bornholmer Brücke halt, wo eine zweispurige Schnellstraße mehrere Eisenbahngleise überquerte. Die Polizei hatte das Pflaster mit Stacheldraht und Panzerfallen blockiert. Günter konnte einfach nicht glauben, dass das so bleiben würde.
Aber mit jedem Tag wuchs die Überzeugung der Brüder, dass die Amerikaner sie nicht retten würden. Die Kommunisten fingen bereits an, die notdürftigen Straßensperren aus Spanischen Reitern und Stacheldraht durch eine drei Meter hohe Mauer zu ersetzen, die aus vorgefertigten Betonteilen und Mörtel errichtet wurde. Ulbricht machte zügig alle Schlupflöcher dicht. Deshalb beschloss Günter, die Flucht zu wagen, bevor es zu spät war.4
Aufmerksam verfolgte er die Meldungen des RIAS über die vielen Fluchtversuche, die seit dem 13. August gelungen waren. Gut hundertfünfzig Ostdeutsche waren seither durch den Teltowkanal in die Freiheit geschwommen, viele sogar mit Kindern im Schlepptau. Bei einer Aktion hatte ein ganzes Dutzend Teenager den Kanal in einem Wettrennen durchschwommen. Ein junger Mann war mit seinem Volkswagen einfach durch den Stacheldraht an der Grenze gefahren und hatte unbeschadet den französischen Sektor erreicht. Ein anderer mutiger Ostberliner hatte einer Grenzwache einfach die Maschinenpistole abgenommen und war dann mit der Waffe über die Grenze gerannt.5
Von diesen Erfolgen ermutigt, beschloss Litfin zu handeln, obwohl er einen Herzfehler hatte. Kurz nach 16 Uhr überquerte Günter Litfin am Donnerstag, dem 24. August, bei helllichtem Tag ein Bahngelände, das zwischen dem Bahnhof Friedrichstraße im Osten und dem Lehrter Bahnhof im Westen lag. Mit einer dünnen braunen Jacke und einer schwarzen Hose bekleidet, sprang er beim Humboldthafen in das warme Wasser der Spree. Günter war kein besonders guter Schwimmer, aber er nahm an, dass er die knapp 40 Meter Wasser, die ihn von der Freiheit trennten, schaffen würde.
Von einer nahe gelegenen Brücke aus forderte ein Transportpolizist (Trapo) Günter fünfmal auf anzuhalten. Doch der Schneider schwamm nur umso kraftvoller. Der Beamte gab zwei Warnschüsse ab, die oberhalb von Günters Kopf das Wasser trafen. Als Litfin weiterschwamm, feuerte der Trapo eine ganze Salve auf ihn ab. Die ersten Kugeln trafen den Schneider, als er nur noch 10 Meter vom Ufer entfernt war.
Der verwundete Günter fuchtelte mit den Armen und tauchte, um weiteren Schüssen von mittlerweile drei Polizisten auszuweichen. Als er auftauchte, um Luft zu holen, und sich mit erhobenen Armen ergeben wollte, riefen die Trapos ihm Schimpfworte zu. Ein Schuss durchschlug seinen Hals, und Günter ging wie ein Stein unter.
Günter Litfin war das erste Opfer, das beim Versuch, Ostberlin zu verlassen, erschossen wurde – ein Opfer des schlechten Timings. Was er nicht gewusst haben konnte, war der Umstand, dass die Polizei am selben Morgen zum ersten Mal die Erlaubnis erhalten hatte, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen, um all jene aufzuhalten, die »Republikflucht« begehen wollten. Wäre Litfin einen Tag früher in den Kanal gesprungen, wäre die Flucht gelungen. So suchten stattdessen zwei ostdeutsche Feuerlöschboote mit Polizeieinheiten an Bord mehr als zwei Stunden lang die Spree ab, ehe drei Froschmänner der Armee Günters Leiche gegen 19 Uhr aus dem Wasser zogen.
Einen Tag nach Günters Tod stellten acht Geheimpolizisten die Wohnung seiner Mutter auf den Kopf, während diese den Tränen freien Lauf ließ. Die Polizisten rissen die Ofentür ab und zerlegten den Ofen. Sie schlitzten Matratzen auf und leerten Schubladen aus. Erst aus der Abendschau im Westberliner Fernsehen erfuhr Litfins Familie, dass man Günter auf der Flucht erschossen hatte.6
Um die Familie noch härter zu bestrafen, erlaubten die Behörden es weder Günters Mutter noch seinem Bruder, den Leichnam vor der Beisetzung anzusehen, nicht einmal zur Identifizierung. An einem strahlenden Sommertag, am Mittwoch, dem 30. August, wurde Günter Litfin in einem geschlossenen Sarg auf dem Friedhof Weißensee in die Erde hinabgelassen. Jürgen sah sich zufrieden den polierten schwarzen Grabstein aus Granit an, den er ausgewählt hatte. Mit den Fingern fuhr er die goldene Inschrift nach: UNSER UNVERGESSENER GÜNTER.
Hunderte von Berlinern waren auf den Friedhof gekommen: Schulfreunde, Familienangehörige und Dutzende Menschen, die Günter überhaupt nicht gekannt hatten, aber durch ihre Anwesenheit ihr Mitgefühl bekunden wollten.
Obwohl so viele Menschen zusahen, brachte Jürgen es nicht übers Herz, seinen Bruder unter der Erde verschwinden zu lassen, ohne sicher zu wissen, dass er es wirklich war. Also sprang er in die Grube und brach mit einem Brecheisen den Sarg auf. Günters Hautfarbe war zwar dunkler als sonst, und ein Verband, der das Austrittsloch der Todeskugel verbarg, deckte einen breiten Streifen unter seinem Mund und über dem Hals ab, doch Jürgen hatte keinen Zweifel an der Identität.
Er sah auf und bedeutete seiner Mutter mit einem Nicken, dass es ihr Sohn war.
In den ersten Tagen nach dem 13. August stand Berlin gewissermaßen unter Schock. Die Stadt machte mehrere Kummerphasen durch: Leugnen, Unglauben, Frustration, Niedergeschlagenheit und schließlich Resignation. Die Reaktion der Berliner hing davon ab, wo sie sich aufhielten: im Osten oder im Westen.
Was die Westberliner betraf, ging die anfängliche Wut über die Kommunisten mittlerweile mit wachsendem Zorn über den Verrat der Amerikaner einher. Das Gesprächsthema der ganzen Stadt war der Umstand, dass die Amerikaner am 13. August keine einzige Einheit ausgesandt hatten, um ihre Solidarität zu demonstrieren, geschweige denn eine Sanktion gegen Ostdeutschland oder die Sowjetunion verhängt hatten.
Hingegen neigten die Ostberliner dazu, sich selbst zu verfluchen, weil sie die Gelegenheit zur Flucht verpasst hatten, vermischt mit einem tiefen Abscheu gegenüber den zynischen kommunistischen Staatschefs, die sie eingesperrt hatten. Mielkes allgegenwärtige Stasi-Spitzel hatten ihren Auftrag erfolgreich ausgeführt. Wer möglicherweise einen Aufstand in Erwägung gezogen hatte, wurde durch die ständige Observierung durch Stasi-Agenten in den Fabriken, den Mietshäusern und Schulen abgeschreckt.7
AN DER GRENZE, BERNAUER
STRASSE, OSTBERLIN
DIENSTAGNACHMITTAG, 15. AUGUST 1961
Nur etwas mehr als zwei Tage nach der Sperrung der Grenze begannen ostdeutsche Bauarbeiter mit einem Baukran, vorgefertigte Betonplatten auf der Bernauer Straße abzusetzen. Jede Platte war genau 1,25 Meter im Quadrat groß und 20 Zentimeter dick. Hunderte davon lagen in der Nähe auf einem Tieflader. Zufrieden, dass die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten vermutlich nichts unternahmen, um sein Vorhaben zu vereiteln, ging Ulbricht zur nächsten Phase über. Er hatte Bautrupps angewiesen, die behelfsmäßigen Grenzsperren an besonders heiklen Stellen durch eine dauerhaftere Konstruktion zu ersetzen.8
CBS-Korrespondent Daniel Schorr begab sich eilends zur Bernauer Straße, um darüber zu berichten. »Wir bemerkten, dass Betonplatten aufgestellt wurden, als wollten sie eine Mauer bauen«, sagte er zögernd. Er verwendete als einer der Ersten das Wort »Mauer«, um das zu beschreiben, was letztlich die Berliner voneinander trennen sollte. Seiner unverkennbaren Baritonstimme hörte man an, wie ungläubig er das Geschehen verfolgte, als er es mit dem verglich, was die Nazis in Warschau errichtet hatten, um die Juden einzuschließen.
Schorr versuchte, seinen amerikanischen Zuhörern zu erklären, warum das US-Militär untätig zusah, während die Kommunisten aus dem metaphorischen Eisernen Vorhang eine konkrete Realität aus Beton und Mörtel machten. »Wir mögen bereit sein, einen Krieg zu führen, um unser Bleiberecht in Berlin zu verteidigen«, sagte er, »aber können wir auch einen Krieg führen, um das Recht der Ostdeutschen zu verteidigen, ihr eigenes Land zu verlassen?«9
Bautrupps hatten inzwischen auch auf dem Potsdamer Platz die Arbeit aufgenommen und schufteten unter riesigen Flutlichtern, mit deren Hilfe es möglich war, rund um die Uhr zu arbeiten. Aber es war die Bernauer Straße, die sowohl zum Brennpunkt als auch zum Symbol für die Entschlossenheit Ulbrichts werden sollte, Berlin dauerhaft zu teilen.
Durch einen Zufall der Stadtplanung vor dem Krieg lag die Bernauer Straße jetzt genau auf der Trennlinie zwischen dem Bezirk Mitte in Ostberlin, im sowjetischen Teil also, und dem Westberliner Stadtbezirk Wedding im französischen Sektor. Bis 1938 war die Bezirksgrenze genau in der Mitte der gut einen Kilometer langen Bernauer Straße verlaufen, aber in diesem Jahr hatten die Straßenkehrer aus Wedding protestiert. Um deren Arbeit zu vereinfachen, hatten dann die Behörden des Dritten Reichs kurzerhand die Bezirksgrenze bis an den Rand der vierstöckigen Mietshäuser an der Südostseite der Straße verlegt, damit hatten die Weddinger Straßenkehrer die gesamte Durchgangsstraße für sich.10
Somit blieben nach der Teilung Berlins im Kalten Krieg die Mietshäuser an der Nordseite sowie die Fahrbahn der Bernauer Straße in Westberlin, alle Gebäude an der Südseite hingegen lagen in Ostberlin. An den ersten beiden Tagen nach dem 13. August konnten diese Bewohner Ostberlins folglich in den Westen flüchten, indem sie entweder durch die Tür auf den Gehweg traten oder an einem Seil oder Bettlaken aus dem Fenster kletterten — je nachdem, wo ihre Wohnung in dem Gebäude lag.11
Wie ein großer Teil der Soldaten, die man für die Operation »Rose« nach Ostberlin verlegt hatte, stammte der neunzehnjährige Hans Conrad Schumann aus einer ländlichen Gegend in Sachsen, wo sein Vater in dem Dorf Leutewitz Schafe gezüchtet hatte. Die Behörden wussten aus Erfahrung, dass Leute dieser Herkunft politisch recht zuverlässig waren. Aber als Schumann am 15. August an der Bernauer Straße auf der ostdeutschen Seite der Grenze Streife ging, konnte er beim besten Willen nicht erkennen, worin die Gefahr für seine sozialistische Heimat bestand, die er laut Befehl hier abwehren musste. Stattdessen sah er zu Recht aufgebrachte, unbewaffnete Demonstranten, die mit den Fäusten drohten und ihn als »Schwein«, »Verräter« oder gar »KZ-Schergen« beschimpften.12
Das war eine völlig irritierende Erfahrung, weil Schumann größere Sympathie für die Menge empfand als für die Soldaten, die sie mit Rauchbomben und Wasserwerfern zerstreuten. In diesem Augenblick fing Schumann an, selbst über Flucht nachzudenken. Bei dem schnellen Tempo, mit dem die Bautrupps vorankamen, so dachte Schumann bei sich, würde innerhalb weniger Tage eine Betonmauer den Stacheldraht ersetzen, der momentan noch den größten Teil der Grenze an der Bernauer Straße markierte. Binnen wenigen Wochen wäre ganz Ostberlin abgeriegelt, und seine Chance wäre vorüber.
Während Schumann sich seine Flucht bildlich vorstellte, drückte er dort, wo er Wache hielt, auf den abgerollten Stacheldraht und prüfte, wie stark er bei Druck nachgab.
»Was machst du da?«, fragte ein Kollege.
Obwohl Schumanns Herz raste, antwortete er ganz ruhig.
»Der Draht ist ja schon rostig«, sagte er. Und das stimmte auch.
Ein junger Fotograf beobachtete Schumann in einigen Schritten Entfernung von Westberlin aus. Peter Leibing, der im Auftrag der Fotoagentur Conti-Press in Hamburg arbeitete, war eigens die 250 Kilometer nach Berlin gefahren, um das historische Ereignis im Bild festzuhalten. Die Aufnahmen waren eindrucksvoll: ostdeutsche Soldaten mit Maschinenpistolen im Anschlag, weinende Frauen, wütende und traurige Gesichter, alles von Stacheldraht umrahmt. Als Leibing zum Mittelpunkt des Geschehens gelangte, zur Bernauer Straße, schloss er sich einer großen Menge Westberliner an, die sich versammelt hatte, um den Bau der Mauer zu beobachten. Wie er da an der Ruppiner Straße im Westen stand, hatte Leibing durch seine Linse Conrad Schumann fest im Blick, der an einem Gebäude im Osten lehnte und eine Zigarette rauchte. Einige Leute sagten zu Leibing, sie hätten Schumann beobachtet, wie er mehrmals an den Stacheldrahtverhau herangetreten sei und jedes Mal den Draht ein Stück weiter nach unten gedrückt habe, um den Widerstand zu prüfen.
Je mehr Zuschauer zusammenliefen, dachte Schumann bei sich, desto größer war seine Erfolgschance, weil die Wahrscheinlichkeit dann geringer war, dass seine Kollegen bei der Flucht auf ihn schossen. Schumann brüllte einen jungen Westberliner, der sich der Grenze näherte, an, er solle zusehen, dass er wegkomme. Aber dann flüsterte er demselben Mann zu: »Ich werde gleich springen.«
Der junge Mann rannte weg, und kurze Zeit später fuhr ein westliches Polizeiauto so nahe heran, wie es ging, ohne Verdacht zu erregen. Leibing stellte seine Linse auf den Punkt im Stacheldraht ein, die Schumann mehrmals getestet hatte. Er hielt es für eine Ironie der Geschichte, dass er ausgerechnet eine ostdeutsche Kamera benutzte: eine Exakta. Je länger er wartete, umso mehr hatte Leibing den Eindruck, dass Schumann den Mut verloren habe oder dass er nie springen würde.
Gegen 16 Uhr sah Schumann, wie zwei seiner Kollegen um die Ecke gingen und außer Sicht waren. Er schnippte die Zigarette weg, rannte los, sprang ab und setzte mit dem rechten Stiefel oben auf dem Drahtverhau auf. Er drückte ihn so weit ein, dass er sich abstoßen konnte, aber nicht im Stacheldraht hängen blieb. Beim Sprung ließ er mit der Rechten die Kalaschnikow fallen, zugleich streckte er die Linke aus, um das Gleichgewicht zu halten. Der jubelnden Menge kam es so vor, als breite er Flügel zum Abheben aus. Sein Stahlhelm saß fest auf dem Kopf, als er den Hals einzog. Wie ein Hürdenläufer landete er mit dem linken Fuß und lief mit ebenso langen Schritten los, bis zur offenen Tür des Polizeiautos, einem Opel Blitz.
Mit seiner Erfahrung beim Fotografieren vom Springreiten drückte Leibing im richtigen Moment den Auslöser und erwischte den Soldaten im Flug genau über dem Hindernis unter ihm. Mit dem manuellen Verschluss der Kamera hatte er nur eine Aufnahme, aber das reichte für ein denkwürdiges Foto.
»Willkommen im Westen, junger Mann«, sagte ein Westberliner Polizeibeamter zu dem zitternden, stillen Schumann. Dann brach der Soldat zusammen. Die Tür wurde zugeschlagen, und das Auto raste davon. Es war ein kurzer Triumph.13
Nach einer Woche war Ulbricht so fest überzeugt, dass Kennedy nicht eingreifen würde, dass er am 22. August begann, den Mauerbau auf mehrere Stellen auszuweiten. Der 13. August ging zwar als Geburtsdatum der Berliner Mauer in die Geschichte ein, aber in Wirklichkeit wuchs sie nur langsam in den folgenden Tagen, sobald die Kommunisten sicher sein konnten, dass sie nicht mit Widerstand rechnen mussten.
RATHAUS SCHÖNEBERG,
WESTBERLIN
MITTWOCH, 16. AUGUST 1961, 16:00 UHR
Willy Brandt war vor einer Rede noch nie so aufgeregt gewesen.
Als er vor dem Rathaus Schöneberg stand, blickte er auf 250 000 wütende Berliner hinab und wusste, dass es schwierig sein würde, den richtigen Ton zu treffen. Er musste den Zorn kanalisieren, durfte die Leute allerdings nicht so sehr aufhetzen, dass sie womöglich die Grenze stürmten und dabei niedergeschossen wurden.
Er wusste auch genau, dass dieser kritische Augenblick eine große Chance für seinen Wahlkampf war. In nur einem Monat standen die Bundestagswahlen an, und Brandt wollte beweisen, dass er wirkungsvoller die Interessen der Deutschen verteidigen konnte als der altersschwache Kanzler Adenauer, der mit seinen amerikanischen Freunden nichts unternommen hatte, um die Grenzschließung zu stoppen, geschweige denn um sie aufzuheben. Adenauer hatte Brandts Einladung zu der Kundgebung abgelehnt und seit dem 13. August Berlin nicht betreten.
Bislang hatte Adenauer dem Druck seiner Partei und der Öffentlichkeit standgehalten, nach Berlin zu fahren, mit der Begründung, sein Auftritt könnte, wie er sagte, politische Unruhen auslösen und falsche Hoffnungen wecken. Was er nicht sagte, war, dass sein Besuch nur seine Ohnmacht unterstreichen würde. Darüber hinaus wollte Adenauer den Sowjets auf keinen Fall einen Vorwand geben, die Freiheit Westberlins und Westdeutschlands zu bedrohen – eine Linie, die Moskau wohlweislich nicht überschritten hatte.
Während sich Brandt auf seine Rede vorbereitete, traf sich Adenauer in Bonn mit dem sowjetischen Botschafter in der Bundesrepublik, Andrej Smirnow. Er erklärte sich bereit, ein Kommuniqué zu unterzeichnen, das der Botschafter zu dem Treffen mitgebracht hatte und garantierte, »dass die Bundesregierung keine Schritte unternimmt, welche die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion erschweren oder die internationale Lage verschlechtern«.14
Keine achtundvierzig Stunden nach der Grenzschließung hatte Adenauer erklärt, dass er, entgegen früheren Drohungen, die Handelsbeziehungen zur DDR nicht abbrechen werde. Selbst sein Verteidigungsminister Franz Josef Strauß, sonst ein Hardliner, hatte zur Ruhe gemahnt. Falls es zu Schießereien kommen sollte, hatte er vor einer westdeutschen Menge gesagt, könne niemand sagen, mit welchen Waffen das enden werde.15
Der britische Premierminister Macmillan, der Bündnispartner, der auf keinen Fall den russischen Bären provozieren wollte, hatte Adenauer dafür gelobt, dass er »mit einem heißen Herzen und kühlen Kopf« geantwortet habe.16 Es sah ganz so aus, als würde Adenauer, nach seinen anfänglichen Bedenken wegen Kennedys Führung, nunmehr die Haltung des US-Präsidenten zur Mauer übernehmen.
Adenauers Reaktion war jedoch eher Resignation als Überzeugung. Er hatte gesehen, dass sich seine schlimmsten Befürchtungen hinsichtlich einer unentschlossenen Führung Kennedys bewahrheitet hatten. Heinrich Krone, der Fraktionsführer der CDU im Bundestag, schrieb in sein Tagebuch: »Der 13. August ist in der Bevölkerung der Tag der größten Ernüchterung und Enttäuschung. Bis dahin glaubte und traute man den Amerikanern blindlings.« Der Bau der Mauer mache zunichte, was Adenauer noch an Vertrauen gehabt haben mochte, die Mitgliedschaft im stärksten Bündnis der Welt könne absolute Sicherheit garantieren.17
Außerdem dachte Adenauer langfristig. Westdeutschland blieb intakt und fest in der NATO verankert. Es hatte keinen Sinn, die Realität zu leugnen, dass sich Ostberlin nunmehr noch fester in kommunistischer Hand befand. Deshalb lautete sein vorrangiges Ziel: die Wahl am 17. September gewinnen und verhindern, dass sein Land den Sozialdemokraten in die Hände fiel.
Smirnow umschmeichelte Adenauer nach dem üblichen sowjetischen Muster, drohte ihm aber zugleich. Er betonte, wie konstruktiv Moskau mit Adenauer zusammengearbeitet habe, warnte ihn aber auch, dass sein Land so gut wie sicher zerstört würde, falls er die deutsche Rolle in den letzten beiden Weltkriegen vergessen und jetzt kriegerische Aktivitäten und einen Eskalationskurs anstreben sollte.
Bei seiner Unterredung mit Smirnow beschloss Adenauer, weder die Sowjets noch Chruschtschow selbst anzugreifen. Vielmehr bedankte er sich bei dem sowjetischen Regierungschef für die Grüße, erinnerte sich herzlich an seine letzte Begegnung mit ihm und sagte, dass er sich nun ganz auf die Bundestagswahl vom 17. September konzentrierte.
Erst an diesem Punkt erwähnte er Berlin. »Es handle sich seiner Ansicht nach hierbei um eine lästige und unangenehme Sache, die über das Nötige hinaus hochgespielt worden sei«, sagte er zu Smirnow. »Er wäre der sowjetischen Regierung dankbar, wenn sie da etwas mildern könnte. Er sei in großer Sorge über die Entwicklung in Berlin und in der Zone, und er habe ganz offen Angst, dass dort unter Umständen Blut fließen könnte.« Er fügte hinzu, er wäre der sowjetischen Regierung »sehr dankbar, wenn sie verhindern würde, dass dort etwas passiert«.18
Wenn Adenauer eine eher zurückhaltende Position gegenüber den Sowjets einnahm, so galt für seinen politischen Gegner Willy Brandt genau das Gegenteil. Adenauer war sich darüber im Klaren, dass die Grenzschließung ihn Wählerstimmen kosten würde. Er wusste auch, dass immer mehr Deutsche sich fragten, ob der alte Mann noch fit genug für die Regierungsgeschäfte sei, und dass Brandt die Sozialdemokratische Partei in die akzeptablere politische Mitte gerückt hatte. Adenauer hoffte, die Wähler würden all dies gegen die blühende westdeutsche Wirtschaft und die Stabilität aufwiegen, die er für sein Land innerhalb der westlichen Allianz erreicht hatte.
Keine achtundvierzig Stunden nachdem die Kommunisten die Grenze geschlossen hatten, trat Adenauer bei einer Wahlkampfveranstaltung in Regensburg auf, statt sich so schnell wie möglich nach Berlin zu begeben. Er sagte dem Publikum, dass er »nicht zur Verschärfung der Situation beitragen« wolle, indem er sich in Berlin ins Rampenlicht stelle. Statt die Kommunisten anzugreifen, entschied er sich für einen hinterhältigen Seitenhieb auf Brandt, indem er öffentlich immer wieder auf dessen uneheliche Herkunft anspielte. »Wenn einer mit der größten Rücksicht behandelt worden ist von seinen politischen Gegnern«, so Adenauer, »dann ist das der Herr Brandt alias Frahm.« Damit spielte er auf den Mädchennamen der unverheirateten Mutter an, den Brandt während seiner Zeit im Exil abgelegt hatte.19
Auf einer Wahlkampfrede am 29. August im westfälischen Hagen behauptete Adenauer vor seinen Anhängern sogar, Chruschtschow habe die Berliner Grenze nur deswegen geschlossen, um dem Sozialdemokraten Brandt bei der anstehenden Wahl zu helfen. Die deutsche Presse griff daraufhin Adenauer heftig an, weil er so boshaft über Brandt redete, aber unter den Wählern säte Adenauer tatsächlich Zweifel über seinen Widersacher.
Brandt, der bislang eher zurückhaltend reagiert hatte, konnte das nicht auf sich sitzen lassen und urteilte ähnlich wie ein Biograf Adenauers: Der Alte habe nicht begriffen, was vorgefallen war, und nichts anderes als die nächsten Wahlen im Kopf. Er gab Adenauer den Rat, »einen friedlichen Lebensabend« anzustreben. Brandt rechnete sich aus, dass es die beste Strategie sei anzukündigen, dass er den Wahlkampf ganz aufgeben werde. »Für mich gibt es nur noch den Kampf um Berlin«, sagte er und erklärte in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit, dass er seine Wahlkampfauftritte auf einen Tag in der Woche beschränken und sich ansonsten ganz auf »das deutsche Schicksal« konzentrieren werde.20
Willy Brandt wurde klar, dass der wohl wichtigste Faktor bei den Wählern sein Umgang mit den Amerikanern sein würde. Am Tag seiner Kundgebung brachte Bild, die meistgelesene Tageszeitung mit einer Auflage von 3,7 Millionen, in fetten Lettern über die ganze obere Hälfte der Titelseite eine Schlagzeile, die die Stimmung der Bevölkerung treffend wiedergab: DER OSTEN HANDELT — WAS TUT DER WESTEN? DER WESTEN TUT NICHTS!
Die Redakteure druckten große Aufnahmen der drei alliierten Regierungschefs unter dem Artikel ab, dazu spöttische Bildlegenden: »US-Präsident Kennedy schweigt / Macmillan geht auf die Jagd / und Adenauer schimpft auf Brandt«.
Im zugehörigen Leitartikel auf der Titelseite hieß es:
Wir sind in das westliche Bündnis gegangen, weil wir geglaubt haben, das sei die beste Lösung für Deutschland wie für den Westen. Die überwältigende Mehrheit der Deutschen ist auch heute noch davon überzeugt. Nur wird diese Überzeugung nicht gerade gestärkt, wenn einige unserer Partner in dem Augenblick, in dem die deutsche Sache in größter Gefahr ist, kühl erklären: »Alliierte Rechte sind nicht betroffen.«
Die deutsche Sache ist in größter Gefahr … Berlin ist plötzlich kein Tor zur Freiheit mehr. Es ist seit drei Tagen zu … Und bisher ist nichts geschehen außer einem Papier-Protest der alliierten Kommandanten.
Wir sind enttäuscht!21
Der sachlichere Berliner Tagesspiegel erfasste die Stimmung des Tages in einem überdimensionierten Comic mit vier Bildern, der so beliebt war, dass er in ganz Berlin von Hand zu Hand ging.
Die Hauptperson auf jedem Bild mit der Überschrift DER WESTEN ist als ein alter, glatzköpfiger Amerikaner im dunklen Anzug mit Fliege und hoch erhobenem Zeigefinger dargestellt. Auf dem ersten Bild zuckt der Westen unter Stalins Knüppelhieben mit der Überschrift DEUTSCHLANDVISION. Er sagt lediglich: »Noch einmal, dann hole ich meinen großen Stock.« Das zweite Bild zeigt den Westen mit zwei Beulen, auf der zweiten steht UNGARN. Auf dem dritten Bild ist ein karikierter Ulbricht zu sehen, der mit einem Prügel mit der Schlagzeile SCHLIESSUNG DER INNERSTÄDTISCHEN GRENZE auf den Westen einschlägt. Das letzte Bild zeigt einen arg mitgenommenen Westen, wie er pathetisch allein steht, darunter der Kommentar: UND SO WEITER …
Nachdem Brandt sich den Schweiß abgewischt hatte, sagte er den 250 000 Berlinern vor ihm, dass die Sowjets mit der Grenzschließung »ihrem Kettenhund Ulbricht ein Stück Leine gelassen« hätten mit seinem »Regime des Unrechts«. Er gab die Enttäuschung der Bevölkerung mit diesen Worten wieder, weil sie ihren Mitbürgern im sowjetischen Sektor, ihren »Landsleuten in der Zone«, nicht helfen konnten. Das sei für alle »die bitterste Pille, die wir schlu-cken müssen«. Sie könnten ihnen nur helfen, ihre Bürde zu tragen, indem sie den Landsleuten zeigten, dass sie sich erheben und in dieser verzweifelten Stunde an ihrer Seite stehen würden.
Die Menge klatschte begeistert Beifall, vor Erleichterung, dass Brandt endlich ihre Sorgen in Worte gefasst hatte.
Brandt zog Parallelen zwischen Ulbrichts Diktatur und dem Dritten Reich. In seinen Augen war die Grenzschließung eine neue Version der Besetzung des Rheinlands durch Hitler. Nur dass heute dieser Mann Ulbricht heiße. Er musste die ohrenbetäubenden Jubelrufe mit seiner kratzigen Stimme niederbrüllen, die durch die Wahlkampfauftritte und langjähriges Kettenrauchen ganz rau geworden war.
Vor dem heikelsten Teil seiner Rede, in dem er sich direkt an die USA und Kennedy wandte, machte Brandt eine kurze Pause. Er begann damit, die Amerikaner zum Missfallen vieler Zuhörer zu verteidigen, denn ohne sie, so Brandt, wären die Panzer weitergerollt.
Die Menge applaudierte erst wieder, als er ihre eigene Enttäuschung über Kennedy zum Ausdruck brachte.
»Berlin erwartet mehr als Worte«, sagte er, »Berlin erwartet politische Aktion. « Die Menge brach in Jubelrufe aus, als er ihnen mitteilte, dass er US-Präsident Kennedy persönlich einen Brief geschrieben habe. »Ich habe [ihm] in aller Offenheit meine und, wie ich glaube, auch Ihre Meinung gesagt«, erklärte er unter dem Beifall der Menge. Brandt sah ihre Augen bei dem Angriff auf die Amerikaner leuchten, auch wenn sie genau wussten, dass sie es allein niemals mit den Sowjets aufnehmen konnten.22
OVAL OFFICE, WEISSES
HAUS, WASHINGTON, D.C.
MITTWOCHVORMITTAG, 16. AUGUST 1961
Der amerikanische Präsident war empört.
Er hielt den Brief des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, der ganz oben auf dem Stapel seiner morgendlichen Korrespondenz lag, für beleidigend und impertinent. Selbst im Hinblick auf die Lage von Berlin ging er über den Ton hinaus, den ein Bürgermeister sich gegenüber dem amerikanischen Präsidenten erlauben durfte. Mit jeder Zeile, die er las, war Kennedy stärker überzeugt, dass der Brief in erster Linie Brandts Wahlkampf dienen sollte.
Brandt bezeichnete die Sperrung der Grenze als »einen ernsten Einschnitt in der Nachkriegsgeschichte dieser Stadt, wie es ihn seit der Blockade nicht mehr gegeben hat«. Mit einem erstaunlich direkten Tadel an die Kennedy-Administration schrieb er: »Während früher die Kommandanten der alliierten Mächte in Berlin bereits gegen Paraden der sogenannten Volksarmee protestierten, haben sie sich jetzt mit einem verspäteten und nicht sehr kraftvollen Schritt nach der militärischen Besetzung des Ostsektors durch die Volksarmee begnügen müssen.« Er warf den Alliierten vor, sie hätten »die illegale Souveränität der Ostberliner Regierung durch Hinnahme anerkannt«. Der Regierende Bürgermeister protestierte: »Wir haben jetzt einen Zustand vollendeter Erpressung. «
Dabei hätte die aktuelle Entwicklung »den Widerstandswillen der Westberliner Bevölkerung« keineswegs geschwächt, teilte Brandt Kennedy mit, »aber sie war geeignet, Zweifel an der Reaktionsfähigkeit und Entschlossenheit der drei Mächte zu wecken«. Er erkannte Kennedys Argument an, dass die Garantien des bestehenden Vier-Mächte-Status lediglich für Westberlin und seine Bevölkerung, die dortige Anwesenheit von Truppen und ihre Zufahrtswege gelten würden, hob jedoch hervor: »Dennoch handelt es sich um einen tiefen Einschnitt im Leben des deutschen Volkes.«
Brandt warnte Kennedy, dass Berlin zu »einem Ghetto« werden und »seine Funktion als Zufluchtsort der Freiheit und als Symbol der Hoffnung auf Wiedervereinigung« verlieren könnte. In diesem Fall »könnten wir«, so Brandt, »statt der Fluchtbewegung nach Berlin den Beginn einer Flucht aus Berlin erleben«, weil die Bürger das Vertrauen in die Zukunft der Stadt verloren hätten.
Im Folgenden machte Brandt eine Reihe von Vorschlägen und ignorierte wiederum den Umstand, dass er nur Bürgermeister einer deutschen Stadt war und dass diese Art von bilateraler Korrespondenz allenfalls dem Bundeskanzler gebührte. Er forderte Kennedy auf, einen neuen »Drei-Mächte-Status« für Westberlin zu proklamieren, der die Sowjets ausschloss. Kennedy sollte die Berlin-Frage vor die Vereinten Nationen bringen, weil die Sowjetunion »in eklatanter Weise die Erklärung der Menschenrechte verletzt« habe. Schließlich wäre es zu begrüßen, so Brandt, »wenn die amerikanische Garnison demonstrativ eine gewisse Verstärkung erfahren könnte«.
Brandt schloss den Brief mit den Zeilen: »Ich schätze die Lage ernst genug ein, um Ihnen, verehrter Herr Präsident, mit dieser letzten Offenheit zu schreiben, wie sie nur unter Freunden möglich ist, die einander voll vertrauen.« Er unterschrieb mit: »Ihr Willy Brandt«.23
Kennedy schäumte vor Wut. Der Brief war politisches Dynamit. Da der amerikanische Präsident sich bereits den Vorwurf hatte gefallen lassen müssen, er habe in Kuba, Laos und Wien Schwäche gezeigt, hielt er das für Salz in eine offene Wunde streuen. Die letzte Zeile, in der Brandt auf seine Vertrauensbeziehung zu dem Präsidenten anspielte, brachte Kennedy am meisten auf.
»Vertrauen?« Kennedy spuckte das Wort aus, als er wütend den Brief seinem Pressesprecher Pierre Salinger unter die Nase hielt. »Ich vertraue dem Mann ganz und gar nicht! Er steckt mitten im Wahlkampf gegen den alten Adenauer, und jetzt will er mich reinziehen. Wie kommt er dazu, mich Freund zu nennen?«24
Das US-Außenministerium und das Weiße Haus waren empört darüber, dass Brandt die Existenz des Briefes auf einer Kundgebung bekanntgegeben hatte, bevor Kennedy den Brief überhaupt erhalten hatte — und so seinen spektakulären Wahlkampfauftritt bekam. Regierungsvertreter instruierten die Presse entsprechend und lösten damit einen Sturm negativer Kommentare in den US-Medien aus. Die Washingtoner Daily News nannte Brandts Brief »grob und anmaßend«. Der Kommentator William S. White des Washington Evening Star bezeichnete Brandt abschätzig als »einfachen Bürgermeister«, der versuche, »die Außenpolitik nicht nur seines eigenen Landes zu übernehmen, sondern des ganzen Westens, indem er sich persönlich an den Präsidenten der Vereinigten Staaten wandte. […] Es ist ein leichtes Spiel für Demagogen, aufgebrachte Menschenmengen aufzuhetzen, wie Herr Brandt es tut, um den Westen wegen seiner Untätigkeit mit Spott zu überschütten.«25
Brandt beanspruchte später für sich das Verdienst, mit seinem Brief Kennedy zu einer aktiveren Verteidigung Berlins verleitet zu haben, aber entscheidender war vermutlich die Journalistin Marguerite Higgins. Kennedy hatte ihr voller Empörung den Brief gezeigt, während er in seinem Schaukelstuhl im Oval Office saß. Die bekannte Kriegsreporterin, die sowohl über den Zweiten Weltkrieg als auch über den Korea-Krieg berichtet hatte, war eine persönliche Freundin des US-Präsidenten. »Mr President«, antwortete sie, »ich will Ihnen ganz offen sagen: In Berlin wächst der Verdacht, dass Sie die Westberliner verkaufen wollen.«26
Allmählich erkannte Kennedy, dass er rasch etwas unternehmen musste, um den Berlinern ebenso wie den Amerikanern und Sowjets zu versichern, dass er immer noch bereit war, dem Kreml die Stirn zu bieten. Zwei Tage nach Eingang von Brandts Brief antwortete Kennedy dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, dass er die Absicht habe, Vizepräsident Lyndon B. Johnson und General Lucius D. Clay, den Helden der Berliner Luftbrücke und ein Freund der Reporterin Higgins, nach Berlin zu schicken.
Er würde zwar Brandts Rat befolgen, mehr Truppen nach Berlin zu entsenden, stellte aber in seinem Brief klar, dass nicht Brandt ihn zu dieser Entscheidung veranlasst habe. »Nach sorgfältiger Überlegung«, schrieb er Brandt, »habe ich selbst beschlossen, dass eine wesentliche Verstärkung der westlichen Garnisonen die beste Sofortreaktion ist.«
Das Entscheidende daran sei jedoch nicht die Zahl der Truppen, die eher gering ausfallen werde, sondern die Tatsache, dass man jede Verstärkung als die amerikanische Antwort auf Moskaus Forderung eines vollständigen Truppenabzugs aus Berlin werten werde. »Wir glauben, dass selbst eine bescheidene Verstärkung unsere Zurückweisung dieses Gedankens unterstreichen wird.«
Die anderen Vorschläge Brandts lehnte Kennedy jedoch ab. Der Gedanke eines Drei-Mächte-Status für Westberlin werde die Vier-Mächte-Basis für einen alliierten Protest gegen die Grenzschließung schwächen, erklärte er. Auch die Idee, sich an die Vereinten Nationen zu wenden, verwarf er, weil sie derzeit »kaum erfolgversprechend« sei. »So ernst diese Angelegenheit auch ist«, schrieb er, »so stehen uns doch, wie Sie sagen, keine Maßnahmen zur Verfügung, die in der derzeitigen Situation eine wesentliche Änderung der Sachlage bewirken können. Da dieses brutale Schließen der Grenze ein deutliches Bekenntnis des Versagens und der politischen Schwäche darstellt, bedeutet dies offensichtlich eine grundlegende sowjetische Entscheidung, die nur durch Krieg rückgängig gemacht werden könnte. Weder Sie noch wir noch irgendeiner unserer Verbündeten haben jemals angenommen, dass wir an diesem Punkt einen Krieg beginnen müssten.«
Nach Kennedys Logik war der sowjetische Schritt »für unangemessene Reaktionen zu ernst«. Durch diese Maßnahme erschien ihm jede Aktion unterhalb der Ebene eines Kriegs als unzureichend, und deshalb lehnte er alle Empfehlungen, auch »die meisten der in Ihrem Brief gemachten Vorschläge«, ab.
Dem Regierenden Bürgermeister warf Kennedy einen Knochen hin, der ihn nichts kostete, und unterstützte dessen Idee »einer angemessenen Volksentscheidung, durch die bewiesen wird, dass Westberlin nach wie vor davon überzeugt ist, dass sein Schicksal in einer Freiheit in Verbindung mit dem Westen liegt«.27
Brandt las Kennedys Antwort mit Enttäuschung und hatte damals das Gefühl, wie er in seinen Erinnerungen schreibt, jemand habe »den Vorhang weggezogen und eine leere Bühne gezeigt«.28 Amerikanische Reporter schrieben mit dem Selbstvertrauen der gut informierten Insider, dass die Grenzschließung Kennedy geschockt und deprimiert habe. Dabei sah die Wirklichkeit etwas anders aus.
Vor seinen engsten Vertrauten machte Kennedy keinen Hehl aus seiner Erleichterung. Er betrachtete die Schließung der Grenze als einen potenziell positiven Wendepunkt, der dazu beitragen könnte, die Berlin-Krise zu beenden, die wie ein nukleares Damoklesschwert über ihm gehangen hatte. In seinen Augen bewies die Tatsache, dass man Westberlin nicht angerührt hatte, die Grenzen von Chruschtschows Ambitionen – und die relative Zurückhaltung, mit der er sie verfolgte.
»Warum hätte Chruschtschow eine Mauer bauen lassen sollen, wenn er wirklich die Absicht hätte, Westberlin einzunehmen?«, sagte Kennedy zu seinem Freund und Vertrauten Kenny O’Donnell. »Es wäre doch nicht nötig gewesen, eine Mauer zu bauen, wenn er die ganze Stadt besetzen wollte. Das ist sein Ausweg aus einer Zwangslage. Es ist keine besonders angenehme Lösung, aber eine Mauer ist verdammt viel besser als ein Krieg.«29
Der Schritt der Kommunisten gestattete es Kennedy ferner, das Ansehen der USA in der ganzen Welt aufzubessern. Der kommunistische Feind war gezwungen gewesen, eine Mauer um sein Volk zu bauen, um die eigenen Leute einzusperren. Kaum etwas hätte eine verheerendere Wirkung erzielen können. Man konnte sich kein besseres Argument zugunsten der freien Welt vorstellen, selbst wenn dieser Schritt die Freiheit der Ostberliner und ganz allgemein der Osteuropäer kostete.
Kennedy hielt sich für einen Pragmatiker, und die Osteuropäer konnten sich derzeit ohnehin keine vernünftige Hoffnung auf Befreiung machen.
Für die Ostdeutschen hatte Kennedy wenig Sympathie und sagte dem Journalisten James »Scotty« Reston, dass die Vereinigten Staaten ihnen reichlich Zeit gegeben hätten, aus ihrem Gefängnis auszubrechen, weil die Berliner Grenze seit der Gründung der Sowjetischen Besatzungszone nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum 13. August 1961 offen gewesen sei.30
In den ersten Tagen nach dem Beginn des Mauerbaus kam eine ähnliche Bemerkung Kennedys dem Botschafter der Bundesrepublik in Washington, Wilhelm Grewe, und Kanzler Konrad Adenauer zu Ohren: »Immerhin haben die Ostdeutschen mehr als fünfzehn Jahre Zeit gehabt, sich zu überlegen, ob sie in der DDR bleiben oder in den Westen gehen wollten.« Grewe machte sich Sorgen, weil diese taktlose Bemerkung das ohnehin gespannte Verhältnis zu Adenauer zusätzlich vergiftete.
Somit habe er, erinnerte sich Grewe Jahre später, den Eindruck bekommen, dass Kennedy gelegentlich selbst gezweifelt habe, ob es damals angemessen gewesen sei, eine passive Haltung einzunehmen, oder ob er mit einer aktiveren Politik hätte versuchen sollen, den Bau der Mauer zu verhindern. Kennedy brachte diesen Selbstzweifel in der Frage zum Ausdruck, die er Grewe stellte: »Sind Sie denn der Meinung, dass wir anders mit der Angelegenheit hätten umgehen sollen?« Die Angelegenheit sollte den Präsidenten umso stärker in Anspruch nehmen, je länger der 13. August zurücklag und je klarer er erkannte, dass die Schließung der Grenze sein Verhältnis zu Chruschtschow nicht gerade entspannte.31
DER KREML,
MOSKAU
MITTE AUGUST 1961
Chruschtschow beglückwünschte sich selbst dazu, dass er die Amerikaner, die Briten und die Franzosen ohne einen militärischen Konflikt, politischen Rückschlag oder auch nur die geringsten Wirtschaftssanktionen übertölpelt hatte.
Sein Sohn Sergej sah ihn anfangs nach dem 13. August erleichtert aufseufzen und im Laufe der Zeit in immer besserer Stimmung, je mehr der Parteichef über das Erreichte nachdachte. Hätte Chruschtschow nicht gehandelt, so hätte sich der sowjetische Block mit dem Zusammenbruch des westlichsten Vorpostens womöglich allmählich aufgelöst. Solange der Flüchtlingsstrom in Berlin anhielt, hätten seine Gegner auf dem Parteitag vermutlich seinen Kopf gefordert, aufgehetzt von Mao.
Später dachte Chruschtschow auch darüber nach, dass vermutlich »ein Krieg ausgebrochen wäre«, wenn er sich verrechnet hätte.32 Er hatte Kennedys Signale richtig gedeutet, die ihm gewissermaßen einen Wegweiser für seine Vorgehensweise lieferten. Kennedy hatte einzig und allein das Interesse bekundet, den Status Westberlins und den Zugang zu der Stadt zu bewahren, den Chruschtschow wohlweislich nicht angerührt hatte. Er war zuversichtlich gewesen, dass Kennedy nichts unternehmen würde, um die Ostdeutschen zu befreien oder anzufechten, was immer die Sowjets in ihrer eigenen Zone unternahmen.
Chruschtschow war der Meinung, dass er sogar noch mehr erreicht hatte, als er sich von einem Friedensvertrag hätte erhoffen können. In einem Friedensvertrag hätte Kennedy ihn gezwungen, einen Passus zu akzeptieren, in dem er die Notwendigkeit einer deutschen Wiedervereinigung im Laufe der Zeit durch freie Wahlen anerkannte. Jetzt hatte er allen Grund zu der Hoffnung, dass das westliche Engagement für die Stadt allmählich nachlassen werde, genau wie die Moral der Westberliner, die sich womöglich dazu entschlossen, scharenweise die Stadt zu verlassen, weil sie zweifelten, dass die Alliierten weiterhin ihre Freiheiten und Verbindung zur Bundesrepublik verteidigen würden.33
In Chruschtschows Augen waren die Gespräche in Wien zweifellos »eine Niederlage« für Kennedy gewesen. Der Kreml hatte beschlossen zu handeln, und der amerikanische Präsident »konnte — außer einer militärischen Aktion — nichts tun, um uns aufzuhalten. Kennedy war intelligent genug zu erkennen, dass ein militärischer Konflikt sinnlos wäre. Deshalb blieb den Vereinigten Staaten und ihren westlichen Verbündeten nichts anderes übrig, als eine bittere Pille zu schlucken, während wir gewisse unilaterale Maßnahmen in die Wege leiteten.«
In einem Tribut an den Nationalsport seines Landes bezeichnete sich Chruschtschow selbst als erfahrenen Schachspieler. Als die Vereinigten Staaten in Berlin den militärischen Druck erhöhten, brachte er Marschall Konew ins Spiel. »Um es in der Sprache des Schachs auszudrücken«, sagte er: »Die Amerikaner hatten einen Bauern vorgerückt, also schützten wir unsere Stellung, indem wir einen Springer zogen.« Chruschtschow gefiel diese Wendung außerordentlich, weil sie auch ein Wortspiel enthielt. Das russische Wort für den Springer im Schach heißt nämlich »konj« oder Pferd, und das ist zugleich die Wurzel von Konews Familiennamen. Der Bauer bezog sich auf die spätere Entscheidung Kennedys, General Clay nach Berlin zu schicken.
Der Parteisekretär gab Kennedy mit seinem Vorgehen, wie er sagte, Folgendes zu verstehen: »Wenn Sie unbedingt das Kriegsbeil gegen uns ausgraben und uns in unseren Absichten behindern wollen, dann sind wir bereit, Ihnen nach Ihren eigenen Bedingungen entgegenzutreten.«34
In Wien hatte der US-Präsident, wie Chruschtschow sich erinnerte, argumentiert, dass es nach dem Potsdamer Abkommen lediglich einen deutschen Staat gebe, der in einem Friedensvertrag anerkannt werden müsse. Nunmehr hatten die Sowjets jedoch auf die dramatischste Weise, die man sich nur vorstellen konnte, eine faktische Anerkennung der beiden deutschen Staaten durch den Westen herbeigeführt. Aber Chruschtschow war noch nicht fertig. Den ganzen August hindurch verstärkte der sowjetische Ministerpräsident, angespornt von Kennedys Untätigkeit, die ostdeutschen Truppenstellungen und ergriff weitere Maßnahmen, um seinen Sieg einzufahren und seine Position vor dem Parteitag zu festigen. Am 16. August begann er sowjetische Militärmanöver, bei denen erstmals auch Gefechtsraketen mit nuklearen Sprengköpfen in taktischen Übungen zum Einsatz kamen, die einen potenziellen Krieg um den Zugang nach Berlin simulierten. Damit der Kennedy-Administration die Aktion auch bestimmt nicht entging, luden die Sowjets zum ersten Mal seit 1936 westliche Militärattachés ein, die Bodenübungen zu beobachten.
Die taktischen Manöver umfassten ein mobilisiertes Bataillon ähnlich denen, die in der Nähe der Berliner Autobahn operierten. Den Attachés wurde erklärt, die Raketen seien mit nuklearen Sprengköpfen bestückt. Die Sowjets simulierten sogar eine radioaktive Wolke über einer hypothetischen feindlichen Stellung im Dorf Kubinka westlich von Moskau.
Aber die Situation wurde noch dramatischer: In der zweiten Augusthälfte kündigte Chruschtschow an, dass er das selbst auferlegte dreijährige Moratorium für Atomtests aufheben werde. Zwei Tage danach begann die Sowjetunion wiederum nukleare Sprengsätze zu zünden, deren Detonationen vom Atomwaffentestgelände Semipalatinsk in Mittelasien aus auf der ganzen Welt zu hören waren.35
»Haben sie uns also wieder mal reingelegt«, fluchte Präsident Kennedy, als er nach einem Nickerchen die Neuigkeit erfuhr.
Am 31. August traf sich der Präsident mit seinen Militärberatern, um über eine mögliche Antwort zu diskutieren. Ganz deprimiert fürchtete sein Bruder Bobby bereits, dass die Vereinigten Staaten von den Russen künftig »niemals mehr ernst genommen werden, wenn sie unseren Willen in der Berlin-Frage brechen. Dann haben die Sowjets die Schlacht von 1961 gewonnen. Offensichtlich ist es ihre Strategie, nicht als die beliebteste, sondern als die am meisten gefürchtete Nation dazustehen, die der Welt ihren Willen aufzwingt.«36
Bobby erinnerte sich noch gut, was Chip Bohlen zu Beginn des Jahres 1961 gesagt hatte: »Das war das Jahr, in dem die Russen dem Atomkrieg am nächsten kommen sollten. Ich glaube, es steht außer Frage, dass dies die Wahrheit ist.« Als John F. Kennedy nach dem Treffen seinen Bruder nach seiner weiteren Meinung fragte, antwortete Bobby: »Am liebsten würde ich einfach abhauen.«
Der US-Präsident verstand zunächst nicht, was er meinte.
»Wovor abhauen?«
»Weg von dem Planeten«, sagte Bobby.
Im Scherz fügte Bobby hinzu, er werde den Vorschlag des Beraters Paul Corbin ablehnen, bei den Präsidentschaftswahlen von 1964 gegen seinen Bruder anzutreten. Auf diesen Job könne er gern verzichten.37
WESTBERLIN
WOCHENENDE, 18. – 20. AUGUST 1961
Es war nicht das erste Mal, dass Vizepräsident Johnson über einen Auftrag des Präsidenten überhaupt nicht erfreut war. Kennedy wollte ihn, diesmal gemeinsam mit General Clay, an die Spitze einer die Moral stärkenden Reisegruppe nach Westberlin setzen. Nur fünf Tage nach Schließung der Grenze war Johnson sofort klar, dass die mit der Mission verbundenen Gefahren weit größer als ihre eigentliche Substanz waren.
Vor ein paar Monaten hatte Kennedy seinen Vizepräsidenten während der verpfuschten Invasion in der Schweinebucht zum Händchenhalter für Bundeskanzler Adenauer auf der LBJ-Ranch in Texas erkoren. Als Kennedy beim Abendessen am 17. August anrief und ihn um die Reise nach Berlin bat, antwortete Johnson: »Muss das sein?«
»Ja, es muss sein«, hatte Kennedy nachdrücklich betont. Es würde ein falsches Signal aussenden, wenn der Präsident so rasch persönlich nach Berlin käme.38 Er musste der Welt signalisieren, dass die Vereinigten Staaten West-berlin nicht im Stich lassen würden, dass er aber gleichzeitig keine sowjetische Antwort provozieren wolle. Kennedy konnte seine aufrichtige Erleichterung darüber, dass die Kommunisten die Grenze geschlossen hatten, nicht öffentlich zeigen, wollte aber auch seine falsche Empörung nicht allzu laut äußern.
Johnson hatte noch weniger Lust auf die Reise, als er erfuhr, dass ein Teil seiner Aufgabe darin bestand, eine Kampfgruppe aus tausendfünfhundert Soldaten in Westberlin zu empfangen. Sie sollten eilig von Helmstedt aus über die Autobahn nach Westberlin fahren, um die zwölftausend Mann in der Stadt zu verstärken. Obwohl die winzigen Kontingente kaum etwas ausrichten konnten, um die Berliner zu verteidigen, wusste LBJ genau, dass ihre Ankunft mit gewissen Risiken verbunden war.
»Warum ich?«, fragte er Kennedys Vertrauten Kenny O’Donnell. »Es wird eine richtige Schießerei geben, und ich werde mittendrin sein.«
Nach einigen Streicheleinheiten übernahm der Vizepräsident den Auftrag gemeinsam mit dem bereitwilligeren Clay.39
Während ihres Nachtflugs am 18. August in einer Boeing 707 der Air Force unterhielt Clay Johnson mit Geschichten von seinen Heldentaten in Berlin in den Jahren 1948/49. Er sagte Johnson, er habe Truman damals zu der Operation bekehrt, die er auf eigene Faust eingeleitet habe, und daraus gelernt, dass es nur eine Möglichkeit gebe, mit den Sowjets umzugehen, nämlich ihnen die Stirn zu bieten.
Er würde die Mauer niederreißen, wenn er Präsident wäre, sagte er Johnson. Seiner Meinung nach hätte der Korea-Krieg vermieden werden können, wenn die Vereinigten Staaten den Sowjets schon früher in Berlin gezeigt hätten, dass sie bereit waren, aggressiver vorzugehen — beispielsweise während der Blockade. Damals hatte Truman Clay die Erlaubnis verweigert, eine gepanzerte Kolonne über die Autobahn in die Stadt zu holen, um das amerikanische Engagement zu dokumentieren.
Nichts hätte besser demonstrieren können, wie sehr sich die Westberliner nach einer Bestätigung durch die Amerikaner sehnten, als der freudige Empfang für Johnson und Clay auf dem Flughafen Tempelhof, einst die Bühne für die Berliner Luftbrücke. Hier waren sie also: ein so gut wie machtloser Vizepräsident und ein General im Ruhestand, der keine Truppen befehligte. Dennoch spielte eine Polizeikapelle die amerikanische Nationalhymne, sieben US-Panzer feuerten Salut, und hunderttausend Berliner jubelten begeistert.
Damit Johnson auch die gewünschte Botschaft übermittelte, hatte das Weiße Haus jeden Satz, den er in der Öffentlichkeit äußern sollte, mit dem üblichen Pathos Kennedys vorformuliert. »Obwohl geteilt, haben Sie sich nie entmutigen lassen, obwohl bedroht, sind Sie nie unsicher geworden, herausgefordert, sind Sie doch nie schwach geworden. Heute, in einer neuen Krise, bringt Ihr Mut Hoffnung all jenen, die die Freiheit hochhalten, und dieser Mut ist eine massive und großartige Barriere für die Ambitionen von Tyrannen.«40
In einer Rede vor dem Westberliner Senat am selben Tag erklärte Johnson: »Für das Überleben und die schöpferische Zukunft dieser Stadt haben wir Amerikaner unser Versprechen gegeben, im Grunde das, was unsere Vorfahren bei der Gründung der Vereinigten Staaten versprochen haben: ›den Einsatz unseres Lebens, unseres Gutes und unserer heiligen Ehre.‹ Das sind die letzten Worte unserer Unabhängigkeitserklärung.«41
Seine Worte elektrisierten geradezu eine Stadt, die seit dem 13. August ihre ganze Energie verloren hatte. Die etwa 300 000 Menschen auf dem Platz vor dem Rathaus waren dieselben Berliner, die nur drei Tage zuvor niedergeschlagen und wütend vor Brandt gestanden hatten. Jetzt weinten viele vor Freude. Selbst Clay konnte die Tränen nicht zurückhalten.
Während Johnson von einer Veranstaltung zur nächsten ging, wandelte sich der widerwillige Reisende zu einem eifrigen Wahlkämpfer. Häufig stieg er aus dem Auto, um ein Bad in der ihn bejubelnden Menge zu nehmen. Der immer wieder einsetzende Regen konnte weder ihn noch Zehntausende von Westberlinern vertreiben, deren Stimmung den Korrespondenten der New York Times, Sydney Gruson, an das erinnerte, was er bei der triumphalen Befreiung von Paris gegen Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt hatte.
»Die Stadt war wie ein Boxer, der einen harten Treffer abgeschüttelt hatte und jetzt Kraft für die nächste Runde sammelte«, schrieb er. »Der Vizepräsident sagte im Grunde nichts Neues. Das spielte aber anscheinend keine Rolle. Die Westberliner wollten die Worte hören, die dieses Mal in ihrer Stadt gesagt wurden, und vor allem wollten sie seine Gegenwart als greifbaren Ausdruck der Verbindung, auf die sie angewiesen waren.«42
Johnson entlockte der Menge einen gewaltigen Aufschrei, als er bekannt gab, dass die Männer der 18. Infanteriedivision, 1. Kampfgruppe, bereits auf der Autobahn unterwegs wären, um Westberlins Garnison zu verstärken.
Für Kennedy war die Truppenverlegung der erste Moment in der Berlin-Krise, in dem er eine gewaltsame Reaktion fürchtete. Auch wenn das US-Kontingent klein war, hatte er dem Sonderberater Ted Sorensen gesagt, dass er die Truppen als »unsere Geisel für die Absicht« betrachte, das amerikanische Versprechen, Westberlin zu verteidigen, auch einzuhalten.43
Kennedy hatte seinen üblichen Wochenendaufenthalt in Hyannis Port verschoben, weil er die ganze Nacht hindurch, während die Truppen in Richtung Berlin rollten, alle zwanzig Minuten auf dem Laufenden gehalten werden wollte. Das Pentagon wünschte, über jedes Detail der geplanten Mission im Voraus informiert zu werden, selbst über jeden einzelnen Halt an der Autobahn, den die Soldaten nutzen wollten, um sich auf der Fahrt durch ostdeutsches Territorium nach Westberlin zu erleichtern.
Die Militärberater des Präsidenten, der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs, Lyman Lemnitzer, und der Militäradjutant des Weißen Hauses, Maxwell Taylor, hatten sich gegen die Entsendung von Verstärkungen ausgesprochen. Der britische Premierminister Macmillan hielt die Geste politisch für eine Provokation und militärisch für »Unfug«. Auch General Bruce C. Clarke, dem sechzigjährigem Befehlshaber der US-Streitkräfte in Europa, der im Zweiten Weltkrieg in der Ardennen-Offensive die Wende zugunsten der US-Truppen herbeiführte, gefiel die Sache nicht.44
Der befehlshabende Offizier der Operation, Oberst Glover S. Johns jun., ein stolzer Texaner, war ehemaliger Kommandant der Militärakademie Virginia Military Institute und ausgezeichneter Weltkriegsveteran. Der hochgewachsene blonde Johns, der gut Deutsch sprach und eine Vorliebe für theatralische Auftritte hatte, wusste, dass seine Mission keinen militärischen Nutzen hatte und mit erheblichen Risiken verbunden war. Kennedy hatte ihn auserkoren, weil er gehört hatte, dass Johns ein Mann war, der nicht die Nerven verlieren würde, wenn er eine kleine Kampfgruppe von 1500 Mann durch feindliches Terrain, umgeben von mindestens einer Viertelmillion sowjetischer Soldaten, führen musste.45
Trotz detaillierter Instruktionen hatte niemand Johns gesagt, wie er reagieren sollte, falls auf seine Truppe das Feuer eröffnet würde. Ohne konkrete Anweisungen, welche Waffen er mit sich führen solle, hatte er selbst beschlossen, was in die Munitionskisten jedes Fahrzeugs geladen werden sollte. Wie gewohnt trug Johns auch seinen eigenen alten Colt. Falls es zu Feindseligkeiten kommen sollte, war Johns sich darüber im Klaren, dass »uns die sichere Vernichtung bevorstand«. Wenn es den Sowjets nicht passte, dass sie über die Autobahn rollten, wären sie kaum mehr als Lämmer auf der Schlachtbank.
Während Johns sich eine Verteidigungsstrategie zurechtlegte, zerbrach sich Johnson den Kopf über Schuhe. Der US-Vizepräsident sah sich Brandts modische Slipper an und forderte den Regierenden Bürgermeister heraus, während die beiden Männer in einem Mercedes-Kabriolett durch Berlin fuhren und der Menschenmenge zuwinkten. »Sagen Sie, Herr Bürgermeister, wo haben Sie diese schicken Schuhe her? Ich möchte auch so ein Paar haben.« Brandt entgegnete, er könne ihm so ein Paar in Berlin besorgen, aber jetzt hätten alle Geschäfte geschlossen. Mit einer Anspielung darauf, dass doch Brandt nur wenige Tage zuvor Taten gefordert habe, nicht Worte, brachte der US-Vizepräsident Brandt ordentlich ins Schwitzen. »Wie wär’s jetzt mit ein bisschen Taten von Ihrer Seite?«
Willy Brandt blieb nichts anderes übrig, als alle Hebel in Bewegung zu setzen, um Johnson Schuhe zu besorgen. Was waren schon ein Paar Schuhe im Vergleich zur Freiheit Berlins?
Am Samstag, dem 19. August, kurz nach Mittag, hatte die US-Botschaft General Bruce Clark in Heidelberg mitgeteilt, dass Vizepräsident Johnson am Sonntag um 14 Uhr in die USA zurückreisen würde, unabhängig davon, ob die US-Truppen nun in Berlin angekommen waren oder nicht. Clarke hatte wütend über seinen Berliner Befehlshaber in Washington protestiert, dass Johns und seine Männer kein so großes Risiko eingehen könnten, wenn Johnson nicht einmal in der Stadt blieb, um sie zu empfangen.
Der Nationale Sicherheitsberater McGeorge Bundy rief Clarke noch am selben Abend um 19 Uhr an: »General, wie ich höre, sind Sie auf alle Menschen wütend, weil es Ihnen nicht passt, dass der Vizepräsident Berlin verlässt, bevor die Truppen dort eintreffen.«
»Das ist milde ausgedrückt, Mr Bundy«, erwiderte Clarke. »Die Mannschaft tut ihr Möglichstes, um zeitig genug dort anzukommen und vom Vizepräsidenten empfangen zu werden.« Er konnte sich nicht vorstellen, dass Johnson in Washington etwas Wichtigeres zu tun hatte, als für den Empfang der Truppen verfügbar zu sein, während die ganze Welt dabei zusah.
»Um welche Zeit haben Sie die gesamte Mannschaft in Berlin?«, wollte Bundy wissen.
Clarke gab mürrisch zurück: »Wenn ich das garantieren könnte, dann hätten wir keine Krise. Wer kann vorhersagen, wo wir vielleicht aufgehalten werden?«
Bundy erwiderte, er werde sehen, was er tun könne.
Am Sonntag, dem 20. August, um 12:30 Uhr (6:30 Ortszeit Weißes Haus), nur eine Woche nach der Schließung der Grenze, fuhren die ersten sechzig Lastwagen mit den amerikanischen Soldaten ohne Zwischenfälle in Berlin ein. Chruschtschow hatte seine Zusage gehalten, den Zugang der Alliierten nicht zu behindern, abgesehen von einer Verzögerung am Grenzübergang, als sowjetische Soldaten die nach Berlin einrückenden Männer nachzählten.
Die Westberliner begrüßten Johns’ Soldaten wie Befreiungstruppen; Tausende standen auf Brücken und säumten die Straßen. Ein paar Hundert Berliner warteten gemeinsam mit US-Vizepräsident Johnson, der beschlossen hatte, seine Abreise zu verschieben, am Grenzübergang Dreilinden, wo die Autobahn auf Westberliner Gebiet mündete. Es regnete aus allen Richtungen Blumen, die müden Soldaten in ihren dreckigen Wagen und Kampfanzügen waren verblüfft und hocherfreut.46
So etwas hatte Oberst Johns noch nie erlebt, »vielleicht mit Ausnahme der Befreiung Frankreichs«. Johns’ Männer waren seit vier Tagen ohne Unterbrechung unterwegs, nachdem man sie von Manövern in der Bundesrepublik abberufen hatte, weil sie die einzige voll ausgerüstete Kampfgruppe waren, die so schnell Berlin erreichen konnte. Selbst während die Transporter sich einen Weg durch die jubelnde Menge in Berlin bahnten, schliefen viele US-Soldaten vor Erschöpfung.47
Die sowjetische Antwort fiel gemäßigt aus. Der Kreml bezeichnete die Verstärkung verächtlich als »militärisch bedeutungslos« und erklärte, dadurch würden lediglich noch mehr Männer »in die Mausefalle Westberlin« geschickt. Ein Prawda-Artikel, der mit »Zuschauer« unterschrieben war (was auf einen Kommentar zur sowjetischen Regierungsmeinung schließen ließ), erklärte, das sei »eine Provokation, die nicht ignoriert werden dürfe«.48
Unter den in Berlin stationierten Truppen, die sich das Spektakel ansahen, war Vern Pike, ein Lieutenant der Militärpolizei, unzufrieden, aber aus einem anderen Grund. Wie die meisten US-Soldaten in Berlin war er der Meinung, Kennedy und Johnson hätten die Mauer einfach niederwalzen können, bevor sie überhaupt gebaut war, ohne dass die Sowjets mehr getan hätten, als jammernd abzuziehen.
»Johnson war ein Witz, ein absoluter Witz«, sagte er. »Er wollte nur ein Bad in der Menge nehmen.«
Was die neu eingetroffene Kampfgruppe betraf, so hielt Pike sie für »eine verdammt lausige Einheit«, die kaum kampftauglich war, sondern arrogant gegenüber den Soldaten auftrat, die schon so lange dort stationiert waren. Als die Neuankömmlinge ihr Quartier in der Roosevelt-Kaserne bezogen, verdarben sie es sich sofort mit den langjährigen Soldaten, indem sie erklärten, man habe sie zur Rettung herbeordert, weil die bisherigen Garnisonen es nicht geschafft hätten, die Grenzschließung zu verhindern.
»Wir fassten das als Beleidigung auf«, sagte Pike, »weil sie ja nur neunzig Tage lang hierbleiben und dann wegen der turnusmäßigen Rotation ersetzt werden würden. Wir brauchten keine Retter, und wir wussten genau, dass sie nur aus symbolischen Gründen in Berlin waren.« Hinzu kam, Johns’ Einheit war »betrunken und undiszipliniert, streitsüchtig und widersetzte sich einem Arrest«.49
Die Berliner merkten jedoch nur, dass die Vereinigten Staaten endlich Farbe bekannt hatten. Selten hatten so viele Menschen eine so schwache Rettung derart lautstark gefeiert. Pike hielt es für einen Gradmesser der Berliner Verzweiflung, dass sie eine so bescheidene Geste schon so laut bejubelten.
Johnson setzte bei seinem Aufenthalt keinen Fuß auf Ostberliner Boden, weil er auf keinen Fall Moskau provozieren oder die Menschen aufhetzen wollte. Aber General Clay erklärte, nachdem er in aller Stille eine Tour durch den abgetrennten sowjetischen Teil der Stadt gemacht hatte, Ostberlin sei »ein bewaffnetes Lager« mit einer Bevölkerung, die »völlig niedergeschlagen« wirke.
Bei aller historischen Bedeutung des Augenblicks verlor Johnson nicht den anderen Zweck seiner Mission aus den Augen: Shopping.
Um 5:30 Uhr am Sonntagmorgen weckte Lucian Heichler, der Begleiter aus dem US-Außenministerium, Johnsons Butler, um nach der Schuhgröße des Vizepräsidenten zu fragen, damit Brandt ihm die gewünschten Schuhe bringen konnte. Weil Johnson Füße mit unterschiedlicher Größe hatte und meist maßgefertigte Schuhe trug, forderten Brandts Mitarbeiter beim Besitzer des Schuhgeschäfts Leiser zwanzig verschiedene Paar Schuhe an. Daraus wählte er zwei Paare aus, die seinen Vorstellungen entsprachen.
Am Sonntagnachmittag öffnete die berühmte Berliner Porzellanmanufaktur eigens für Johnson die Verkaufsräume, weil er am Abend zuvor das Chinaporzellan beim Festbankett im Rathaus bewundert hatte. Er sagte dem Regierenden Bürgermeister, dass er gern ein Service für seinen neuen Amtssitz in Washington, im Naval Observatory der Vereinigten Staaten an der Massachusetts Avenue, hätte.
Dem US-Vizepräsidenten wurde ein Service nach dem anderen gezeigt, aber sie waren ihm alle zu teuer. Er fragte sich schon, ob sie womöglich »zweite Wahl« hätten. Während sein Begleiter Lucian Heichler noch nach einem Ausweg aus der peinlichen Lage suchte, rettete Vizebürgermeister Franz Amrehn die Situation, indem er erklärte, der Senat und die Bevölkerung Berlins würden Johnson das Service gern schenken.
Johnson erwiderte überrascht: »Oh, na dann …«50
Anschließend suchte sich Johnson das erlesenste Chinaporzellan aus, das er finden konnte, ein Service mit sechsunddreißig Gedecken, und wies sein Büro an, die Insignien des Vizepräsidenten auf jeden Teller, jede Untertasse, Tasse und Schale malen zu lassen.
Abgesehen vom Shopping war Johnson ganz elektrisiert von der Stimmung in Berlin. In einem Bericht mit dem Vermerk »Geheim« schrieb er an John F. Kennedy:
Ich kehrte aus Deutschland mit neuem Stolz auf die Führungsrolle Amerikas zurück, aber auch mit einem bislang nicht gekannten Bewusstsein für die Verantwortung, die auf diesem Land ruht. Die Welt erwartet so viel von uns, und wir müssen den Erwartungen gerecht werden, auch wenn wir mehr Hilfe von unseren Verbündeten anstreben. Denn wenn wir scheitern oder schwanken oder uns drücken, dann ist alles verloren, und die Freiheit bekommt womöglich nie eine zweite Chance.51
Mit der Bestellung eines hochwertigen Service aus Chinaporzellan und zwei Paar Schuhen im Gepäck kehrte Johnson, nachdem er unbeschadet die Verstärkung von 1500 Mann in Berlin empfangen hatte, in die Staaten zurück.
OSTBERLIN
DIENSTAG, 22. AUGUST 1961
Ulbricht war viel zu sehr damit beschäftigt, seinen Sieg zu sichern, um sich selbst zu beglückwünschen.
Sein fester Entschluss, den Status Berlins zu verändern, für den noch Anfang 1961 weder die sowjetische Billigung vorgelegen noch die Mittel zur Verfügung gestanden hatten, war erfolgreicher verwirklicht worden, als er es sich hätte träumen lassen. Er hatte ein schlechtes Blatt überaus raffiniert ausgespielt und hoffte jetzt, den Vorteil noch auszubauen.
Am 22. August gab Ulbricht öffentlich bekannt, dass er ein Niemandsland deklarieren werde, das sich über einen hundert Meter breiten Streifen beiderseits der Mauer erstrecke. Ohne sowjetische Genehmigung erklärten die DDR-Behörden, sie würden das Feuer auf Westberliner eröffnen, wenn sie in die Pufferzone geraten sollten, die schon bald unter dem Namen »Todesstreifen« berüchtigt wurde.52
Vor Selbstvertrauen strotzend, wies Ulbricht einen Tag später sogar die Proteste des sowjetischen Botschafters Perwuchin zurück und verringerte die Zahl der Grenzübergänge, die Ausländer benutzen durften, von sieben auf nur einen: Checkpoint Charlie an der Friedrichstraße.
Zwei Tage später bestellten Perwuchin und Konew Ulbricht zu sich, um ihn wegen dieser unilateralen Maßnahmen zu tadeln. Die Sowjets könnten, so Perwuchin, die Vorstellung eines Niemandslandes, das auf Westberliner Terri-torium reiche, nicht akzeptieren, weil es »zu einem Zusammenstoß zwischen der Polizei der DDR und den Kräften der Westmächte führen könnte«.
Also hob Ulbricht diese Befehle wieder auf, wandte allerdings gegenüber seinen sowjetischen Gesprächspartnern ein, dass er keinesfalls die Absicht habe, sich in Westberliner Angelegenheiten einzumischen. Es fiel ihm nicht allzu schwer, sich auf diesen Kompromiss einzulassen, weil er mehr Befugnisse über Berlin erlangt hatte, als er sich zu Beginn des Jahres erträumt hätte. Er lehnte es jedoch ab, die Reduzierung der Grenzübergänge für Ausländer auf einen einzigen rückgängig zu machen.53
Wie so oft im Jahr 1961 gestanden die Sowjets Ulbricht diesen Schritt zu.
FLUGHAFEN TEMPELHOF,
WESTBERLIN
DIENSTAG, 22. AUGUST 1961
Schließlich kam auch Bundeskanzler Adenauer nach Berlin, aber erst zehn Tage nachdem die Kommunisten die Grenze in Berlin geschlossen und Vizepräsident Johnson und General Clay bereits die Stadt verlassen hatten. Nur ein paar Hundert Menschen jubelten Adenauer zu, als er auf dem Flughafen Tempelhof landete, etwa weitere zweitausend erwarteten ihn, als er dem Notaufnahmelager Marienfelde einen Besuch abstattete.54
Viele Westberliner wandten sich demonstrativ von ihm ab, als er durch die Stadt fuhr. Andere hielten Tafeln hoch, die sein Verhalten in der Krise scharf kritisierten. Auf den Plakaten hieß es häufig: SIE KOMMEN ZU SPÄT; oder auch sarkastisch: HURRA, DER RETTER IST SCHON DA! In Marienfelde und an anderen Orten ging aus den Schildern deutlich hervor, dass die Wähler ihn wegen seiner schwachen Antwort auf die Schließung der Grenze abstrafen würden.55
Als der Bundeskanzler an einigen Stellen entlang der Grenze die Mauer besichtigte, beschimpften Vertreter des Ulbricht-Regimes ihn von einem Lautsprecherwagen auf der Ostseite aus und verglichen ihn mit Hitler. Sie richteten sogar einen Hochdruckwasserschlauch auf ihn. An einer anderen Stelle weinten jedoch ältere Ostdeutsche und jubelten, während sie zum Gruß weiße Taschentücher schwenkten.
Adenauer stattete dem Medienzar Axel Springer einen Besuch ab, der sein Zeitungsimperium unweit der Berliner Grenze errichtet hatte und dessen Bild-Zeitung Adenauer und die Ohnmacht der Amerikaner während der Grenzschließung am schärfsten kritisiert hatte. Der Kanzler hatte kein Verständnis für den Riesenwirbel, den Springers Zeitung veranstaltet hatte. »Was jetzt in Berlin geschehen ist«, sagte er zu Axel Springer, »ist der allererste Anfang einer Reihe weiterer Maßnahmen bis zur unmittelbaren Kriegsdrohung. Wenn die Dinge wirklich ernst werden, wohin wird sich dann die Nervosität der Deutschen und der Presse noch steigern?« Soll heißen: Kein Grund, einen solchen Rummel zu machen, denn das dicke Ende kommt erst noch.
Er warnte Springer sogar, dass die Mätzchen seiner Zeitung den Nationalsozialismus wiederaufleben lassen könnten.
Springer stürmte wutentbrannt aus dem Zimmer.56
BERNAUER STRASSE,
OSTBERLIN
MITTWOCH, 4. OKTOBER 1961
Die Berliner gewöhnten sich erstaunlich schnell an die Realität nach dem Mauerbau. Der Flüchtlingsstrom versiegte fast völlig, weil die Fluchtversuche riskanter und die Grenzkontrollen verschärft wurden. Immer mehr Westberliner zogen in die Bundesrepublik um – aus Furcht, dass der Hunger der Sowjets womöglich noch nicht gestillt war.
An der Bernauer Straße fuhren immer wieder Stadtbesichtigungsbusse vorbei, und permanent standen Dutzende von Berlinern auf der Westseite der Grenze herum und beobachteten, was sich in der Straße nach dem 13. August tat: die anfängliche Grenzschließung, die Umsiedlung der Ostberliner Anwohner der Bernauer Straße, das Zumauern der Fenster und Türen und schließlich der Bau der Berliner Mauer.
Der Westberliner Polizeibeamte Hans-Joachim Lazai und seine Kollegen hatten zwischen Bäumen in der Nähe der Bernauer Straße ein Seil gespannt, das die Zuschauer nicht übertreten durften. Aber an manchen Tagen wurde die Menge so wütend, dass es schwerfiel, sie zurückzuhalten. Wenn Lazai Wasserwerfer einsetzen musste, um die aufgebrachten Westberliner zurückzuhalten, hatte er jedes Mal ein schlechtes Gewissen. Weit schlimmer waren jedoch die Zeiten, in denen Lazai zusehen musste, wie ostdeutsche Grenzpolizisten jene verhafteten und wegbrachten, die zu fliehen versuchten. Da er seine Befehle, an Ort und Stellte zu bleiben und niemanden zu provozieren, befolgte, habe er, so sagte er, ein Gefühl der Hilflosigkeit empfunden, als er mit dieser schreienden Ungerechtigkeit konfrontiert wurde.
Das Schlimmste waren die tragischen Todesfälle jener Tage der Verzweiflung. Das erste Opfer, das Lazai miterlebte, war Ida Siekmann. Am 21. August, nur einen Tag vor ihrem neunundfünfzigsten Geburtstag, wurde sie das erste Todesopfer an der Bernauer Straße. Lazai war auf dem Weg zur Arbeit soeben links in die Straße eingebogen, da sah er einen großen dunklen Ball von einem der Gebäude herabfallen. Siekmann hatte ihre Matratze aus einem Fenster im dritten Stock geworfen und war hinterhergesprungen in der Hoffnung, dass die Matratze den Aufprall dämpfen werde.
Sie starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus.57
Danach setzte die Westberliner Polizei verstärkte Sprungtücher der Feuerwehr ein, mit denen sie Springende auffangen konnte. Dennoch mussten die Flüchtlinge relativ genau springen, weil sich die sechzehn Männer, die in der Regel das Sprungtuch hielten, nicht allzu schnell in eine Richtung bewegen konnten, um einen ungenauen Sprung zu korrigieren.
Es war fast 20 Uhr am 4. Oktober, als Lazai zum ersten Mal durch die Dunkelheit Bernd Lünser, einem zweiundzwanzigjährigen Ingenieurstudenten, zurief, er solle vom Dach des vierstöckigen Mietshauses Bernauer Straße 44 in ein solches Sprungtuch springen.
Zunächst hatte Lünser versucht, den Mut aufzubringen, sich vom Dach mit einer Wäscheleine abzuseilen, die er mitgebracht hatte. Eine wachsende Menge Westberliner rief ihm aufmunternde Worte zu, machte dadurch aber die DDR-Polizei auf den Fluchtversuch aufmerksam.
Gerhard Peters, ein neunzehnjähriger DDR-Grenzpolizist, führte die Verfolgung an, nachdem sich die Grenzbeamten über eine Klappe Zugang zum Dach verschafft hatten. Lünser löste Dachziegel ab und bewarf damit Peters, zu dem sich nach kurzer Zeit drei weitere Beamte gesellten.
Als ein DDR-Polizist auf den Flüchtling schoss, zogen Westberliner Polizeibeamte auf der Straße ihre Pistolen. Es kam zu einem Schusswechsel von achtundzwanzig Schüssen mit den ostdeutschen Kollegen. Da sie Befehl hatten, ihre Pistolen nur zur Verteidigung einzusetzen, argumentierte die westdeutsche Polizei später, die Männer hätten erst dann eingegriffen, als man auf sie das Feuer eröffnet habe.
Die Kugel eines Westberliner Polizisten traf den verfolgenden DDR-Grenzpolizisten in den Oberschenkel. Da Lünser eine letzte Chance zur Flucht erkannte, befreite er sich mit einem Ruck und rannte los. Einige in der Menge riefen ihm zu, er solle doch den Polizisten vom Dach stoßen. Andere, auch Lazai, forderten ihn auf, in das ausgebreitete Sprungtuch zu springen. Als der Student schließlich sprang, blieb er mit einem Fuß an der Dachrinne hängen und fiel Kopf voraus in die Tiefe – gut drei Meter neben dem Sprungtuch schlug er auf.
Er war sofort tot.
Lazai machte sich später Vorwürfe wegen seiner Rolle bei dem Vorfall: »Mann, ich habe ihn in seinen eigenen Tod gelockt.«
Am nächsten Tag schickten DDR-Behörden dem Grenzpolizisten Peters Rosen. Der DDR-Innenminister Karl Maron zeichnete ihn für seine Verwundung bei der Pflichterfüllung aus. Eine Schlagzeile in der Westberliner Zeitung BZ höhnte: ORDEN FÜR MORD.58
Die ehemalige, mittlerweile verstorbene Ministerin für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Brandenburg, Regine Hildebrandt, die in ihrer Kindheit in der Nähe der Bernauer Straße 44 gelebt hatte, war bis zum Tag von Lünsers Tod schon Zeugin von vielen gescheiterten, aber auch erfolgreichen Fluchtversuchen gewesen.
Während sie in ihr Tagebuch schrieb, rauchte sie eine Zigarette aus einem Paket von Westberliner Freunden, das sie in einem Korb mit einem Seil zu ihrem Fenster hochgezogen hatte. Der Korb enthielt auch Orangen, Bananen und andere Waren – ein kleiner Trost für ein zerstörtes Leben.
Eben fahren wieder zwei große westdeutsche Reisebusse vorbei. Ja, wir sind jetzt Sehenswürdigkeit Nr. 1 in Berlin! Oh, wie gern wären wir unbeachtet wie eh und je. Wie gern würden wir das Rad der Geschichte zurückdrehen und alles beim Alten lassen. Ach, es ist ein Jammer. Wieder ein Bus! Es ist eine garstige Zeit, in der wir leben. Alles ist lustlos, keiner findet mehr Freude an der Arbeit; eine Atmosphäre der Resignation, des »Es hat doch keinen Sinn, sie machen mit uns, was sie wollen, und wir könnten nichts dagegen tun.« Sich ducken hemmt alle Schaffensimpulse …
Noch zwei Busse. Alles blickt trübe. Es ist ein Zustand der geballten Faust in der Tasche.59
In den folgenden Tagen gab es in Berlin einige unvermutete Helden, aber ihre Bemühungen scheiterten ebenso häufig, wie sie gelangen.
Eberhard Bolle landet im Gefängnis
Eberhard Bolle war von der Gefahr, in die er sich begeben wollte, so eingenommen, dass er die Titelseiten am Zeitungskiosk in Westberlins Bahnhof Zoo kaum eines Blickes würdigte. Sie berichteten von der Ankunft von US-Vizepräsident Johnson und General Clay und der Aufstockung der US-Truppen. Aber Bolle hatte andere Sorgen: Der Philosophiestudent war im Begriff, das größte Risiko seines Lebens einzugehen.60
Bevor Bolle die blaue Windjacke zuknöpfte, tastete er noch einmal, um sich zu vergewissern, dass die beiden Personalausweise in seiner Innentasche waren. Obwohl es nicht sonderlich warm war, rann ihm der Schweiß von der Stirn. Seine Mutter liebte sein entwaffnendes Lächeln, aber momentan brachte Bolle nur ein beunruhigtes Stirnrunzeln zustande.
Der erste Ausweis in seiner Tasche war sein eigener, und diesen wollte er vorzeigen, wenn er beim Übergang nach Ostberlin aufgefordert wurde. Trotz der Grenzschließung vor sechs Tagen durften Westberliner bislang noch ungehindert mit ihrem Ausweis den Ostteil der Stadt betreten. Mit dem zweiten Westberliner Personalausweis wollte Bolle seinem Freund und Kommilitonen der Freien Universität, dem Studenten Winfried Kastner, 61 zur Flucht in den Westen verhelfen. Die beiden teilten eine Vorliebe für amerikanische Musik. Wie die meisten Berliner Studenten in diesem Sommer hatten auch sie während der Ferien immer wieder den neuesten Hit von Ricky Nelson »Hello Mary Lou« angehört, der Westberlin im Sturm erobert hatte.
Die Freie Universität lag zwar in Westberlin, aber vor dem 13. August hatte etwa ein Drittel der fünfzehntausend Studenten in Ostberlin gewohnt. Über Nacht hatte die Schließung der Grenze deren Studium beendet. Für Kastner war dies eine besonders herbe Enttäuschung, weil er bereits im letzten Studienjahr war und man ihn an keiner ostdeutschen Hochschule annehmen würde, da seine Familie als politisch unzuverlässig galt. Also wollte Bolle ihm den Ausweis eines Westberliner Freundes bringen, der Kastner sehr ähnlich sah. Nach ihrem Plan sollte Kastner einfach diesen Ausweis der Grenzpolizei zeigen, wenn er die Grenze nach Westberlin passierte.
Bolle war ein unpolitischer, konservativer Student, der instinktiv jeder Gefahr aus dem Weg ging. Am Tag nach der Grenzschließung hatte er sich etwa geweigert, einem anderen Kommilitonen bei der Flucht zu helfen. Sein Umdenken seither hatte Willy Brandts Rede vom 16. August vor dem Rathaus bewirkt, die ihn so sehr beeindruckt hatte, dass er den Aufruf zum Handeln in sein Tagebuch geschrieben hatte. Die Berliner müssten jetzt standhaft bleiben, hatte Brandt gesagt, damit der Feind nicht feiere, während die eigenen Landsleute in Verzweiflung versanken. »Wir haben uns würdig zu erweisen der Ideale, die in dieser Freiheitsglocke über uns symbolisiert sind.«
Zwei Tage später hatte Kastners Mutter Bolle, als er sie in ihrer Wohnung im Ostberliner Bezirk Köpenick besucht hatte, unter Tränen angefleht, ihrem Sohn zu helfen. Es kursierten Gerüchte, dass die Grenzkontrollen zunehmend verschärft würden, sagte sie, und deshalb müsse jeder, der Ostberlin verlassen wolle, möglichst schnell handeln. Sie und ihr Mann würden sich zwar ungern von ihrem Sohn trennen, aber sie müssten zuerst daran denken, sagte sie, wie er seinen Traum, Geschichtsprofessor zu werden, verwirklichen könne. Und im Osten sei das völlig ausgeschlossen.
Bolle hatte vorgeschlagen, sein Freund könne durch einen Kanal schwimmen, aber Kastner protestierte, dass er ein viel zu schlechter Schwimmer sei. Er blieb dabei, dass der sicherste Fluchtweg sei, sich einen Westberliner Ausweis zu besorgen. Also gab er Bolle ein Foto von sich sowie Namen und Adresse eines katholischen Priesters, der angeblich solche Dokumente beschaffen konnte.
Nachdem der Priester Bolle abgewiesen hatte, wandte sich der Philosophiestudent an einen Freund, der Kastner ähnlich sah. Der gab bereitwillig seinen Ausweis her. Er wollte den Ausweis als verloren melden und einen neuen beantragen. Allerdings weigerte er sich, den Ausweis selbst in Ostberlin zu übergeben, weil es zu riskant wäre, ohne Ausweis in den Westen zurückzukehren. Darauf erklärte Bolle, er werde den Ausweis überbringen. »Sie hängen keinen, den sie nicht fangen«, höhnte er.
Am Abend vor seiner gefährlichen Mission hatte Bolle seine Mutter gefragt, ob sie jemandem bei der Flucht helfen würde, wenn sie an seiner Stelle wäre. Nur wenn es ein Familienangehöriger oder ein enger Freund ist, hatte sie geantwortet. Sein Vater bewunderte die gute Absicht seines Sohnes, befürchtete aber, dass sein Sohn Eberhard ein zu großer Hasenfuß sei, um die Sache erfolgreich durchzuziehen.
»Iss erst mal was«, sagte sein Vater. »Wer weiß, wann du deine nächste Mahlzeit bekommst?« Bolle schlang ein paar Bissen hinunter, während sein Vater wissen wollte, was er antworten würde, wenn ein DDR-Polizist den zweiten Ausweis entdeckte. Seine Antworten klangen wenig überzeugend, also hofften beide, dass es nie so weit kommen würde.
Bolle stieg am Bahnhof Friedrichstraße aus, wo alle Reisende nach Ostberlin die U-Bahn verließen. Schwitzend und zitternd seufzte er erleichtert auf, als die Grenzpolizisten ihn durchwinkten. Er war bereits auf den letzten Stufen der Station, als von rechts ein Grenzpolizist auftauchte und ihn fest am Arm packte.
Noch Jahre später, nach Verhör, Prozess, Urteil und Gefängnis, fragte sich Bolle, wieso es dem Grenzbeamten gelungen war, ihn aus der Menge herauszupicken. Leider kannte er die Antwort nur zu gut.
Seine Angst hatte ihn verraten.
Die Rückkehr eines pensionierten US-Generals war nötig, um den Mut der Westberliner wieder aufzurichten.