KAPITEL 12
Ein stürmischer Sommer
Die Bauarbeiter unserer Hauptstadt beschäftigen sich hauptsächlich mit Wohnungsbau, und ihre Arbeitskraft wird dafür voll eingesetzt. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.
WALTER ULBRICHT AUF DER PRESSEKONFERENZ VOM 15. JUNI 19611
Irgendwie schafft er es, Präsident zu sein, wenn auch nur dem Anschein nach.
DEAN ACHESON AN EX-PRÄSIDENT TRUMAN ÜBER
SEINE
BERLIN-PLANUNGSARBEIT FÜR PRÄSIDENT KENNEDY, 24. JUNI
19612
Bei dem Berlin-Problem, das
Chruschtschow jetzt zu einer Krise anheizt,
[…] geht es um weit mehr als um diese Stadt. Es ist
sogar umfassender und
tiefgründiger als selbst die Deutschland-Frage in
ihrer Gesamtheit.
Es ist zu einer Auseinandersetzung zwischen den USA
und der UdSSR um die
größere Entschlossenheit geworden, deren Ausgang
das Vertrauen Europas –
tatsächlich sogar der ganzen Welt – in die
Vereinigten Staaten weitgehend
bestimmen wird.
DEAN ACHESON IN EINEM BERICHT ÜBER BERLIN
FÜR PRÄSIDENT KENNEDY, 29. JUNI 19613
HAUS DER MINISTERIEN,
OSTBERLIN
DONNERSTAG, 15. JUNI 1961
Walter Ulbrichts Entscheidung, auf der kommunistischen Seite der Sektorengrenze eine Pressekonferenz mit in Westberlin akkreditierten Korrespondenten abzuhalten, war so beispiellos, dass seine Propagandaspezialisten nicht einmal wussten, wie sie diese Journalisten einladen sollten.
Jetzt rächte es sich, dass Ulbricht bereits im Jahr 1952 alle Telefonleitungen zwischen den beiden Teilen der Stadt gekappt hatte.4 Und so mussten Ulbrichts Leute ein spezielles Operationsteam über die Demarkationslinie schicken, das mit zahlreichen Rollen voller bundesdeutscher 10-Pfennig-Münzen und einer Mitgliederliste des Westberliner Presseverbands ausgerüstet war. Von öffentlichen Telefonzellen aus riefen sie dann einen West-Journalisten nach dem anderen an, um jedem von ihnen eine dürre, dafür aber umso interessantere Mitteilung zu machen: »Pressekonferenz des Staatsratsvorsitzenden der Deutschen Demokratischen Republik Walter Ulbricht. Haus der Ministerien. Donnerstag. 11 Uhr. Sie sind eingeladen.«
Drei Tage später drängten sich mehr als dreihundert Journalisten, von denen etwa die Hälfte aus dem Westen der Stadt stammte, im riesigen Festsaal, in dem einst Hermann Göring mit den Offizieren und Beamten seines Reichsluftfahrtministeriums rauschende Feste gefeiert hatte. An diesem Tag prangte jedoch über dem Podium das Emblem der DDR, Hammer und Zirkel in einem Ährenkranz, an der Stelle, an der einst der Nazi-Adler und das Hakenkreuz hingen.
Als Ulbricht endlich eintraf, war es in dem Raum bereits unangenehm heiß und stickig.5 Grund hierfür waren neben der Körperwärme der Journalisten die drückende Frühsommerhitze und die fehlende Klimaanlage. Auf dem Podium saß neben Ulbricht Gerhard Eisler, der legendäre Kommunist, der den staatlichen ostdeutschen Rundfunk leitete. Der »ostdeutsche Goebbels«, wie ihn seine Feinde nannten, ließ seine kleinen, vorquellenden Augen, die durch die runden, dicken Brillengläser vergrößert wurden, über die Menge gleiten. Obwohl er als Spion für die Sowjetunion im Jahr 1950 in den Vereinigten Staaten zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden war, konnte er vor Strafantritt auf dramatische Weise an Bord eines polnischen Dampfers aus New York flüchten. Schließlich ließ er sich in der neu gegründeten DDR nieder. Während sie auf den Beginn der Pressekonferenz warteten, flüsterten sich die westlichen Reporter zu, was sie über Eisler wussten.
Der Korrespondent des amerikanischen Rundfunksenders Mutual Broadcasting Network, Norman Gelb, sog die Atmosphäre ein. Er hatte Ulbricht noch nie aus solcher Nähe gesehen. Wieder einmal fragte er sich, wie dieser kleine, unscheinbare, schmallippige und farblose Mann mit der Fistelstimme und randlosen Brille so viele sowjetische und ostdeutsche Machtkämpfe überleben konnte. Obwohl ihm sein sauber gestutzter Spitzbart eine gewisse, sicherlich gewollte Ähnlichkeit mit Lenin verlieh, kam er Gelb doch eher wie ein alternder Bürovorsteher als wie ein Diktator vor.
Die Pressekonferenz6 war so angesetzt worden, dass sie sich mit Chruschtschows erstem öffentlichem Bericht über den Wiener Gipfel in Moskau überschnitt. Ulbrichts lange einleitende Bemerkungen enttäuschten dann jedoch die Korrespondenten, die etwas historisch Bedeutsames erwartet hatten. Warum Ulbricht dieses außergewöhnliche Treffen anberaumt hatte, wurde erst dann klar, als die Fragerunde begann. Jeweils zwei oder drei Journalisten konnten eine Frage stellen, die der Staatsratsvorsitzende dann mit weitschweifigen Ausführungen beantwortete, die keine Nachfragen zuließen.
Plötzlich begannen die Journalisten wie wild mitzuschreiben, als Ulbricht erklärte, dass sich der Charakter der »Freien Stadt Westberlin« dramatisch verändern werde, wenn die DDR erst einmal, ob mit oder ohne westliche Zustimmung, einen Friedensvertrag mit der Sowjetunion abgeschlossen habe. »Wir halten es für selbstverständlich, dass die sogenannten Flüchtlingslager in West-berlin geschlossen werden und die Personen, die sich mit dem Menschenhandel beschäftigen, Westberlin verlassen.« Natürlich würden dann auch die »westdeutschen, amerikanischen, englischen und französischen Spionageagenturen« verschwinden, die bisher von Westberlin aus operierten. Der Verkehr zwischen beiden Teilen Deutschlands müsse durch ein Gesetz geregelt werden, wie es internationaler Praxis entspreche. Bürger der DDR dürften sich nur dann in Westdeutschland niederlassen, wenn sie sich »die Erlaubnis des Innenministeriums der DDR« beschafften. Annamarie Doherr, die Korrespondentin der linksliberalen Frankfurter Rundschau, hakte jetzt nach. Sie interessierte sich dafür, wie Ulbricht bei einer offenen Ostberliner Grenze den Verkehr zwischen den beiden Teilen überhaupt kontrollieren wollte. Sie fragte also: »Herr Vorsitzender! Bedeutet die Bildung einer Freien Stadt Ihrer Meinung nach, dass die Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet wird? Und sind Sie entschlossen, dieser Tatsache mit allen Konsequenzen Rechnung zu tragen?« Diese Konsequenzen konnten ja auch ein Krieg sein, wie alle Anwesenden wussten.
Ulbricht verzog keine Miene, und seine kalten Augen verrieten keinerlei Erregung. Dann antwortete er in ruhigem Ton: »Ich verstehe Ihre Frage so, dass es in Westdeutschland Menschen gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR dazu mobilisieren, eine Mauer zu errichten.« Er machte eine kleine Pause, blickte vom Podium auf die kleine, rundliche Frau Doherr hinunter und fuhr dann fort: »Mir ist nicht bekannt, dass eine solche Absicht besteht. Die Bauarbeiter unserer Hauptstadt beschäftigen sich hauptsächlich mit Wohnungsbau, und ihre Arbeitskraft wird dafür voll eingesetzt. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.«
Zum ersten Mal hatte Ulbricht das Wort »Mauer« in den Mund genommen, obwohl die Korrespondentin selbst eine solche Grenzbefestigung gar nicht erwähnt hatte.7 Ulbricht hatte seine Karten aufgedeckt, aber kein anwesender Journalist würde das in seinem anschließenden Bericht erwähnen. Sie hielten es wohl alle für eines der Ablenkungsmanöver, für die Ulbricht bekannt war.
Um 18 Uhr konnten sich die Ostdeutschen im DDR-Staatsfernsehen Chruschtschows eigenen Bericht über die Ergebnisse des Wiener Gipfels anschauen. 8 Dabei erklärte der Sowjetführer ohne Umschweife: »Der Abschluss eines Friedensvertrags mit Deutschland darf nicht länger verschoben werden.« Mit voller Absicht wurde danach um 20 Uhr eine bearbeitete Aufzeichnung der Pressekonferenz Ulbrichts gesendet.
Die Folgen waren sofort spürbar. Trotz einer verstärkten Überwachung der Zonengrenze durch die DDR-Grenzpolizei brach die stärkste Flüchtlingswelle des gesamten bisherigen Jahres los. In einer Woche meldeten sich 4770 Personen in den Aufnahmelagern in Berlin-Marienfelde und im Bundesgebiet. Auf ein Jahr hochgerechnet wären das fast 250 000 der 17 Millionen Einwohner der DDR, die ihrem Land den Rücken kehren würden. Die Stimmung, die nach Ulbrichts Aussagen sein ganzes Land ergriff, bekam bald einen Namen: »Torschlusspanik«. 9
Einige damalige Kommentatoren glaubten, die neue Flüchtlingswelle zeige, dass Ulbricht die möglichen Auswirkungen seiner Pressekonferenz falsch berechnet habe. Wahrscheinlich war das Ganze jedoch ein Schachzug Ulbrichts. Obwohl Chruschtschow in der Zeit davor immer öfter auch öffentlich seine Entschlossenheit bekundet hatte, das Berlin-Problem endlich aus der Welt zu schaffen, wusste der ostdeutsche Parteichef sehr genau, dass der Sowjetführer seine nächsten Schritte nach dem Erfolg von Wien noch nicht voll durchdacht hatte.
Insofern war Ulbrichts Vorgehen wohlüberlegt. Indem er kurzfristig seine Situation verschlechterte, würde er Chruschtschow die untragbaren Auswirkungen einer weiteren Verzögerung der notwendigen Aktionen umso begreiflicher machen.
Ulbricht war entschlossen, den Schwung des Wiener Gipfels zu nutzen.
WEISSES HAUS,
WASHINGTON, D.C.
FREITAG, 16. JUNI 1961
In Anbetracht seiner vernichtenden Kritik an Kennedys Handhabung der Schweinebucht-Affäre war Dean Acheson geschmeichelt und auch ein wenig überrascht, als Kennedy sich erneut um Rat an ihn wandte. Die Fragen des Präsidenten waren so einfach wie schwer zu beantworten: Wie sollte er Chruschtschow nach seinem Wiener Ultimatum entgegentreten? Wie ernst sollte der Präsident die Berlin-Drohungen des Sowjetführers nehmen – und was sollte er deswegen tun?
Achesons Beziehung zu Kennedy war mit der Zeit immer vielschichtiger und komplizierter geworden.10 Die beiden Männer hatten sich in den späten 1950er Jahren näher kennen gelernt, als der damalige Senator Kennedy seinen Nachbarn in Georgetown gelegentlich von Sitzungen im Kapitol nach Hause gefahren hatte. Der junge Kennedy wusste allerdings nicht, wie sehr Acheson Kennedys Vater verabscheute. Dies lag nicht nur an dessen Unterstützung einer amerikanischen isolationistischen Außenpolitik, sondern auch an der unehrlichen Weise, in der er nach Achesons Ansicht seinen Reichtum erlangt hatte. Acheson glaubte, dass er mit diesen unrechtmäßig erworbenen Geldern seinem Sohn das Weiße Haus erkauft hatte.
Für Präsident Kennedy war Acheson jedoch wahrscheinlich die beste Wahl, wenn er klare Antworten auf dringende Fragen erhalten wollte. An diesem 16. Juni betrachtete es Acheson als seine Aufgabe, der bisher etwas unklar strukturierten Entscheidungsfindung innerhalb der sogenannten Interdepartmental Coordinating Group on Berlin Contingency Planning (Interministerielle Koordinierungsgruppe für die Eventualfallplanung in Berlin) ein schärferes Profil zu geben.11 Auf der an diesem Tag stattfindenden Sitzung des Gremiums, das allgemein nur »Berlin-Task-Force« genannt wurde, versicherte er den im Raum versammelten Männern, dass er sich nicht »in irgendwelche laufenden Operationen einmischen, sondern weitergehende Überlegungen und Aktivitäten anregen« wolle.
Seiner Ansicht nach müsse die Task-Force Chruschtschows Berlin-Drohungen ernst nehmen. Deshalb sei ihre Eventualfallplanung auch nicht mehr eine rein theoretische Übung. Jetzt müssten Entscheidungen gefällt werden. Wenn man untätig bleibe, würden die Kosten enorm. Ebenso gefährlich sei es jedoch, wenn es nicht gelinge, Chruschtschows wachsenden Eindruck umzukehren, er habe es mit einem schwachen Amerika zu tun. Beim Berlin-Problem gehe es »zutiefst um das Prestige der Vereinigten Staaten, wenn nicht sogar um deren Überleben«.
Da er nicht glaube, dass es gegenwärtig eine politische Lösung gebe, stelle sich jetzt die Frage, ob sie den politischen Willen hätten, »ohne Rücksicht auf die Ansichten unserer Verbündeten« schwierige Entscheidungen zu fällen. Chruschtschow sei »zu tun bereit, was er zuvor nicht zu tun bereit war«, fuhr Acheson fort. »Zweifellos hat er das Gefühl, dass ihm die Vereinigten Staaten nicht mit Atomwaffen entgegentreten werden.«
Wenn die USA jedoch auf diese Option verzichteten, könnten sie die Russen auch nicht aufhalten. Acheson war nur wenig daran interessiert, sich die Meinungen der anderen Teilnehmer an dieser Sitzung anzuhören. Er war hier, um sie zu seinen eigenen Ansichten zu bekehren. Er glaubte, dass die Kennedy-Administration gerade vor einem großen Dilemma stand. Je mehr Chruschtschow an der amerikanischen Bereitschaft, Nuklearwaffen einzusetzen, zweifelte, desto eher könnte er Kennedy an einen Punkt bringen, wo diesem keine andere Wahl mehr blieb, als sie einzusetzen. »Man sollte Atomwaffen nicht als die letzten und schwersten Waffen betrachten, die man einsetzt«, machte er deutlich, »sondern als den ersten Schritt in einer neuen Politik, die Vereinigten Staaten vor einem Scheitern ihrer Abschreckungspolitik zu schützen.«
Achesons harter Kurs hatte ihm innerhalb der Demokratischen Partei und unter den hohen Beamten, die in diesem Raum versammelt waren, viele Feinde eingebracht. Er ließ sich davon jedoch nicht beirren und versuchte ihnen klarzumachen, dass gegenwärtig jede Untätigkeit in der Berlin-Frage Auswirkungen weit über diese Stadt hinaus hätte und die amerikanischen Interessen in der ganzen Welt gefährde. »Berlin ist für die Machtposition der Vereinigten Staaten entscheidend«, hämmerte er ihnen ein. »Wenn wir uns von dort zurückzögen, würden wir unsere gesamte Machtposition zerstören.«12 Deshalb sollten die Amerikaner »so handeln, dass wir weder eine ganze Reihe von Niederlagen riskieren, noch uns in die ultimative Katastrophe stürzen«.
Nachdem er zuvor den Vereinigten Stabschefs und dem Verteidigungsminister versichert hatte, dass sie in militärischen Angelegenheiten natürlich das letzte Wort hätten, listete Acheson auf, was er Präsident Kennedy vorschlagen werde. Als Erstes sollte man die gewöhnlichen Sommermanöver der amerikanischen Reservetruppen intensivieren, sodass diese jederzeit kampfbereit sein würden. Außerdem sollten die Vereinigten Staaten Einheiten des STRAC (Strategic Army Corps/Strategisches Armeekorps), der operativen Eingreifreserve der US-Armee, zu Manövern nach Europa fliegen. Einige von ihnen sollten danach dort zurückbleiben, um die alliierten Kräfte in der Nähe einer möglichen Front zu verstärken. Man sollte die Ausrüstung von U-Booten mit Polaris-Raketen beschleunigen und die anderen Raketensysteme schneller ausbauen, um die nukleare Schlagkraft zu erhöhen. Die Vereinigten Staaten sollten außerdem erneut Nuklearversuche durchführen und in Verletzung von Kennedys Versprechen an Chruschtschow die Erkundungsflüge wieder aufnehmen, die in der Vergangenheit zum Abschuss und der Gefangennahme der U-2- und RB-47-Piloten geführt und die Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion zeitweise auf den Nullpunkt gebracht hatten. Darüber hinaus sollten Flugzeugträger Positionen einnehmen, die ihre Mithilfe bei einer eventuellen Verteidigung Berlins ermöglichen würde.
Die Männer in diesem Raum waren wie vom Donner gerührt. Acheson schlug nichts weniger vor als eine Mobilmachung, die die Vereinigten Staaten unmittelbar kriegsbereit machen würde. Wenn Acheson in irgendeiner Form Kennedys Denken wiedergab, erlebten sie gerade einen historischen Wendepunkt in der Auseinandersetzung mit Moskau über Berlin.
Acheson war jedoch noch lange nicht fertig. Er forderte eine beträchtliche Aufstockung des Verteidigungshaushalts und eine Ausrufung des nationalen Notstands, damit alle Amerikaner begriffen, worum es hier ging. Dies alles sollte von Resolutionen des Kongresses begleitet werden. Dazu wäre es natürlich nötig, das amerikanische Volk und den Kongress psychologisch auf einen möglichen Krieg vorzubereiten. Dafür schlug Acheson ein großes Bauprogramm für Luftschutzräume vor, das die Bevölkerung wachrütteln würde.
Darüber hinaus sollte man das Strategic Air Command, das Strategische Luftwaffenkommando, in ständige Alarmbereitschaft versetzen und größere Truppenverbände nach Europa verlegen. Sollten diese Maßnahmen die Sowjets immer noch nicht beeindrucken, sollte man eine militärische Luftbrücke nach Berlin einrichten und durch die Erhöhung der Fahrten von Militärfahrzeugen über die Grenzübergangsstellen hinweg dafür sorgen, dass der Zugang nach Berlin offen bliebe. Wenn dies nicht gelinge, müssten »militärische Bewegungen folgen, die den bevorstehenden Einsatz von taktischen Nuklearwaffen und später sogar strategischen Atomwaffen anzeigen«.
Andererseits sah Acheson auch Proteste amerikanischer Verbündeter, vor allem der Briten, gegen dieses Vorgehen voraus. »Es wäre wichtig, dass unsere Alliierten mitziehen«, sagte er, »aber wir sollten bereit sein, auch ohne sie loszulegen, außer wenn sich die Deutschen querstellen sollten.« Acheson war jedoch überzeugt, dass sein Freund Adenauer seinen Plan unterstützen würde. Dies sei entscheidend, weil dabei deutsche Truppen und Interessen den größten Gefahren ausgesetzt seien. »Wir sollten bereit sein, bis zum bitteren Ende zu gehen, wenn die Deutschen uns begleiten«, fügte er hinzu.
Wenngleich die Männer in diesem Raum nicht wussten, inwieweit Acheson für Kennedy sprach, spiegelte sein Denken zweifellos das Gefühl wachsender Dringlichkeit beim Präsidenten wider.13 Seit seinem Amtsantritt zeigte sich Kennedy über den lethargischen Entscheidungsfindungsprozess des Außenministeriums frustriert, das er »eine Schüssel voller Wackelpudding« nannte. Aber auch das Pentagon brauchte oft Tage oder Wochen, bis es sich zu einem Entschluss durchringen konnte. Der US-Präsident wollte, dass sein Apparat eine schnellere Gangart einschlug. Immerhin lebte man in einer Welt, in der ihm selbst vielleicht nur ein paar Minuten für eine Entscheidung zur Verfügung standen, die Millionen Menschen das Leben kosten konnte.
Acheson gab der Task-Force zwei Wochen Zeit, um sich seine Vorstellungen durch den Kopf gehen zu lassen. Dann sollte man über seine Vorschläge eine Entscheidung treffen. Nehme man sie an, sollte ihre Umsetzung sogleich beginnen. Als er die überraschten Gesichter der Sitzungsteilnehmer bemerkte, reagierte er sofort. Er wisse sehr wohl, dass er hier einen riskanten Kurs vorschlage. Trotzdem sei dieser in keiner Weise tollkühn, wenn die US-Regierung wirklich bereit sei, zur Verteidigung von Berlin Atomwaffen einzusetzen, da darauf ihr gesamtes Prestige beruhe. »Wenn wir nicht bereit sind, den Weg bis zum Ende zu gehen, sollten wir ihn gar nicht erst einschlagen. Wenn wir ihn jedoch einmal begonnen haben, wäre jeder Rückzieher verheerend. Wenn wir nicht bereit sind, die damit verbundenen Risiken zu akzeptieren, sollten wir besser sofort damit anfangen, die eventuellen katastrophalen Folgen abzumildern, die ein Bruch unserer Verpflichtungen haben würde.«
Nachdem Acheson geendet hatte, war es im Raum totenstill. Er wusste, dass die wichtigsten Politikgestalter in Washington zu einem solchen Weg grundsätzlich am ehesten bereit waren. Auch jetzt äußerte niemand aus Kennedys außenpolitischer Mannschaft eine abweichende Meinung. Der Leiter der Sitzung, Foy Kohler aus dem Außenministerium, ein Anhänger Achesons, brach das Eis, indem er seine generelle Zustimmung bekundete. Er fügte jedoch hinzu, dass die Briten gegen Achesons Vorschlag seien, demonstrativ Truppen über die Autobahn nach Berlin zu schicken, um gegen eine mögliche kommunistische Zugangsbeschränkung zu protestieren. Macmillan hatte gewarnt, sie würden von den Sowjets »zu Hackfleisch gemacht werden«.
Paul Nitze aus dem Pentagon ergänzte, dass ihm der Leiter des britischen Planungsstabs für Berlin und Deutschland, Sir Evelyn Shuckburgh, gesagt habe, es sei »wichtig, die Leute durch unsere militärische Präsenz nicht zu Tode zu erschrecken«.
Acheson warf daraufhin ein, dass es die Vereinigten Staaten jetzt gleich erfahren müssten, wenn die NATO-Verbündeten gegen Aktionen zur Verteidigung Berlins seien. »Wir sollten sie nicht erst fragen, ob sie Angst bekämen, wenn wir ›Buh!‹ rufen würden. Stattdessen sollten wir ›Buh!‹ rufen und schauen, wie weit sie daraufhin springen.«
Botschafter Thompson, ein ausgewiesener Gegner Achesons, der für dieses Treffen extra aus Moskau eingeflogen war, warnte: »Wir dürfen Chruschtschow nicht vollkommen in die Ecke drängen.« Da die Russen auf keinen Fall denken sollten, die Vereinigten Staaten hätten sich von ihren Verbündeten isoliert, »wäre es vielleicht doch besser, nicht ›Buh!‹ zu rufen, bevor wir nicht die britische Führung hinter uns wissen.«
Acheson feuerte zurück, dass es schwierig werden könnte, Chruschtschow davon zu überzeugen, dass man es ernst meine, wenn man gleichzeitig die Briten wissen lasse, dass man gerade dies nicht tue.
Im Gegensatz zu Acheson war Thompson davon überzeugt, dass der Sowjetführer keine militärische Konfrontation wollte und viel dafür tun würde, um eine solche zu vermeiden. Er glaubte, dass weniger auffällige Aktionen wirksamer seien und Chruschtschow auch nicht zu dem schlimmen irrationalen Verhalten provozieren würden, für das er leider bekannt war und das später dann zu genau dem Krieg führen könnte, den die Vereinigten Staaten unbedingt zu vermeiden hofften.
Nitze bezweifelte dagegen die Effektivität weniger auffälliger Aktionen, da kaum eine Eventualfallplanung ohne Maßnahmen vorstellbar sei, die nur durch hochoffizielle Erklärungen des Präsidenten in die Wege geleitet werden könnten und später vom Kongress bestätigt werden müssten. Acheson meinte daraufhin, dass sich ein Teil dieses »politischen Getöses« vielleicht vermeiden ließe, wenn man den Kongress davon überzeugen könnte, vielen Maßnahmen auf der Basis bereits bestehender Notstandsgesetze zuzustimmen, denen dann erst später eine entsprechende Resolution folgen müsste.
Acheson schien bereits alles durchdacht zu haben.
Gefragt nach den Zeitvorstellungen des Präsidenten, meinte Acheson, dass die entsprechenden Entscheidungsgrundlagen spätestens am Ende der folgenden Woche dem Außenminister und dem Verteidigungsminister vorliegen sollten. Äußerstenfalls dürfe es zehn Tage dauern. Acheson legte die Termine fest, die alle Anwesenden ohne Widerspruch und Murren akzeptierten.
Nitze aus dem Pentagon schlug vor, dass innerhalb der nächsten drei Tage eine Arbeitsgruppe gebildet werden sollte, die eine Liste mit den in Bezug auf Berlin zu treffenden Schritten zusammenstellen würde. Als Zieldatum für die Vorstellung umfassender militärischer Empfehlungen wurde der 26. Juni festgesetzt.
Das war für Regierungsvorgänge ungewöhnlich schnell.
DER KREML,
MOSKAU
MITTWOCH, 21. JUNI 1961
Wie immer ein Freund des Theatralischen, hatte sich Chruschtschow entschieden, bei der militärischen Feier zum 20. Jahrestag des Überfalls Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion seine alte Generalleutnantsuniform aus Kriegszeiten anzuziehen. Tatsächlich hatte er diese nicht mehr getragen, seitdem er an der Stalingrad-Front als oberster Politoffizier gedient hatte. In Anbetracht seines derzeitigen Umfangs musste ihm die Sowjetarmee jedoch eine neue Uniform schneidern.
Als Ergänzung dieser Jubelfeier lief gerade in den Moskauer Kinos ein Dokumentarfilm über Chruschtschows Leben als Militär- und Politikheld an, der den Titel Unser Nikita Sergejewitsch trug. Die Iswestija schrieb in ihrer Premierenbesprechung: »Allzeit und in allen Dingen an der Seite des Volkes und immer voll mittendrin, so kennt das Volk Nikita Sergejewitsch Chruschtschow. «
Vor den Fernsehkameras pries der Kosmonaut Jurij Gagarin Chruschtschow als den »Pionierforscher des kosmischen Zeitalters«.14 Der Sowjetführer erhielt einen weiteren Lenin-Orden und eine dritte goldene Hammer-und-Sichel-Medaille für »seine Führungsrolle bei der Schaffung und Entwicklung der Raketenindustrie […], die eine neue Ära in der Eroberung des Weltalls eröffnete«. Chruschtschow zeichnete seinerseits siebentausend Personen aus, die zum ersten bemannten Weltraumflug beigetragen hatten. Um seine persönlichen Verbindungen zu festigen und seine Rivalen zu neutralisieren, verlieh er seinem Verbündeten im Politbüro, Leonid Breschnew, und einem möglichen Konkurrenten beim nächsten Parteitag im Oktober, Frol Koslow, ebenfalls einen Lenin-Orden. Als meisterhafter Politiker sicherte Chruschtschow seine Flanken, bevor er in Berlin tätig wurde.
In seiner Ansprache stellte er die Weigerung des Westens, in der Berlin-Frage einen Kompromiss einzugehen, als eine Bedrohung nicht nur Moskaus, sondern der ganzen kommunistischen Welt dar.15 Wie die Nazis im Zweiten Weltkrieg werde der Westen aufgrund der gewachsenen militärischen Stärke der Sowjetunion und des sozialistischen Lagers eine vollständige Niederlage erleiden.
Danach lobten die Kriegshelden und obersten Militärführer der UdSSR einer nach dem anderen Chruschtschows Führung und ließen in der Berlin-Frage die Alarmglocken schrillen.16 Der Inspekteur der sowjetischen Landstreitkräfte, Marschall Wassili Tschuikow, rief der Menge zu: »Die historische Wahrheit ist doch, dass beim Sturm auf Berlin kein einziger amerikanischer, britischer oder französischer Soldat dabei war mit Ausnahme der Kriegsgefangenen, die wir befreit haben.« Aus diesem Grund seien die Forderungen der Alliierten nach Sonderrechten in Berlin so lange nach der deutschen Kapitulation »völlig unbegründet«.
Die Menge jubelte.
Generalmajor Alexander Nikolajewitsch Saburow, der ehemalige Führer der sowjetischen Partisanenbewegung in der Ukraine, bestätigte aus persönlicher Erfahrung, dass Chruschtschow ein begnadeter Militärstratege sei, der einen großen Gegner in einem ganz bestimmten historischen Augenblick genau einschätzen und danach einen durchführbaren Handlungsplan entwickeln könne. Verteidigungsminister Rodion Malinowski erklärte, die Amerikaner und ihre Verbündeten seien gerade dabei, »einen riesigen Militärapparat und ein System von Angriffsblöcken« rings um die sowjetischen Grenzen aufzubauen, denen man unbedingt entgegentreten müsse. Er behauptete, dass sie große Nuklearwaffen- und Raketenvorräte anhäuften und in Algerien, Laos, Kuba und dem Kongo Spannungsgebiete schaffen würden. Genau diese »vom Klassenhass gegen den Sozialismus geblendete« Politik habe bereits zum Zweiten Weltkrieg geführt.
Ganz offensichtlich war Chruschtschow gerade im Begriff, eine Hintergrundgeschichte für alle seine Handlungsoptionen in Berlin zu stricken. Der zufolge waren die Amerikaner Moskaus gefährlichster Feind. Berlin war das Schlachtfeld, das es zu säubern galt. Chruschtschow war der Held der Vergangenheit und Gegenwart, der die Sozialisten der Welt in diesem historischen Augenblick anführen würde. Das Ganze war einerseits ein Schlachtruf für eine mögliche Auseinandersetzung in Berlin, andererseits eine persönliche Werbeveranstaltung des Sowjetführers in Vorbereitung des Parteitags im Oktober. Die Zukunft Berlins und Chruschtschows waren ab jetzt untrennbar miteinander verbunden.
Der sowjetische Ministerpräsident belohnte das Militär für seine Unterstützung. Seit Mitte der 1950er Jahre hatte er das Verteidigungsbudget und die Truppenstärke ständig verringert und gleichzeitig Gelder, die bisher den konventionellen Verbänden zugeflossen waren, in die Nuklearraketeneinheiten umgeleitet. Jetzt kehrte er diesen Trend um, stockte die Mannschaftsstärken wieder auf, stellte neue Waffen zur Verfügung und erhöhte die Rüstungsausgaben, um »alle Truppengattungen unserer Streitkräfte« ausreichend und ausgewogen zu unterstützen. Dem sowjetischen Militär müsse »alles Notwendige zur Verfügung stehen, um jeden Gegner sofort zu vernichten, der die Freiheit unseres Mutterlands bedroht«.
Die Menge jubelte ihrem Führer begeistert zu.
WASHINGTON,
D.C.
SAMSTAG, 24. JUNI 1961
Während Acheson letzte Hand an seine Berlin-Denkschrift legte, fand er doch noch die Zeit, seinem früheren Chef, Ex-Präsident Harry Truman, ein paar Zeilen zu schreiben, in denen er seine Bedenken über seinen neuen Boss darlegte. Er sei über Kennedy »irritiert und besorgt«, teilte er Truman mit. »Irgendwie schafft er es, Präsident zu sein, wenn auch nur dem Anschein nach.«17
Vier Tage später, am 28. Juni, überreichte Acheson Kennedy eine vorläufige Version seines Berlin-Berichts, die der Präsident zur Vorbereitung seiner am gleichen Tag stattfindenden Pressekonferenz sowie einer wichtigen Sitzung seines Nationalen Sicherheitsrats und eines Treffens mit einflussreichen Kongressabgeordneten am Tag darauf durchlesen wollte.
Die dreizehnte Pressekonferenz in Kennedys erst sechs Monate währender Amtszeit war ein Ergebnis des wachsenden Drucks der öffentlichen Meinung und der Medien. Da er sich im Juni noch nicht zu Berlin geäußert hatte, waren in den Zeitungen immer mehr Berichte erschienen, dass er der Bereitschaft sowohl der amerikanischen Öffentlichkeit als auch des Pentagons, sich Chruschtschow entgegenzustellen, auf bedenkliche Weise hinterherhinke. In der auflagenstärksten Wochenzeitschrift, dem Time-Magazin, war in der Ausgabe vom 7. Juli zu lesen: »Es macht sich immer mehr das Gefühl breit, dass die neue Regierung bisher noch nicht die notwendigen Führungsqualitäten gezeigt hat, um die Vereinigten Staaten über die gefährlichen Wege des Kalten Kriegs zu geleiten.«18 Der Präsident wurde dann aufgefordert, das Berlin-Problem »kühn und unverzüglich« anzupacken.
Kennedy beschwerte sich bei Salinger über diese Art von Artikeln. »Diese Scheiße muss aufhören«, zischte er.19 Ganz besonders ärgerte er sich über Richard Nixons Angriff auf ihn: »Nie zuvor in der amerikanischen Geschichte hat ein Mann den Mund so vollgenommen und dann so wenig getan.«
Wie so oft in seiner Präsidentschaft war Kennedys Rhetorik gegenüber den Sowjets auf dieser Pressekonferenz viel härter als die Realität seiner Politik. »Niemand kann den Ernst dieser Bedrohung verkennen«, sagte Kennedy. »Sie betrifft den Frieden und die Sicherheit der westlichen Welt.« Er stritt ab, dass man ihm wegen Berlin bereits einen Vorschlag für eine Mobilmachung vorgelegt habe, meinte jedoch, dass er »eine ganze Reihe von Maßnahmen« erwäge. Diese Aussage war nur insoweit wahr, als Acheson seine diesbezüglichen militärischen Vorschläge ja erst am Tag darauf mit dem Präsidenten besprechen sollte.
KABINETTSSAAL, WEISSES
HAUS, WASHINGTON, D.C.
DONNERSTAG, 29. JUNI
Die ersten drei Abschnitte der Berlin-Denkschrift Achesons waren eine unverblümte Aufforderung zum Handeln.
Beim Berlin-Problem, das Chruschtschow jetzt zu einer Krise anheizt, die nach seinen Angaben endgültig Ende 1961 eintreten wird, geht es um weit mehr als um diese Stadt. Es ist sogar umfassender und tiefgründiger als selbst die Deutschland-Frage in ihrer Gesamtheit. Es ist zu einer Auseinandersetzung zwischen den USA und der UdSSR um die größere Entschlossenheit geworden, deren Ausgang das Vertrauen Europas – tatsächlich sogar der ganzen Welt – in die Vereinigten Staaten weitgehend bestimmen wird. Zweifellos steht dabei die gesamte Stellung der Vereinigten Staaten auf dem Spiel.
Bis diese Willensprobe nicht entschieden sein wird, ist jeder Versuch, das Berlin-Problem durch Verhandlungen zu lösen, schlimmer als eine Verschwendung von Kraft und Zeit. Er ist gefährlich, da alles, was durch Verhandlungen erreicht werden kann, von der inneren Einstellung und den Überzeugungen Chruschtschows und seiner Genossen abhängt.
Offensichtlich glaubt Chruschtschow gegenwärtig, dass er am Ende den Sieg davontragen wird, weil die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten nicht das tun würden, was notwendig wäre, um ihn aufzuhalten. Er kann weder durch Eloquenz oder Logik überredet noch durch Freundlichkeiten umgestimmt werden. [Der ehemalige britische Botschafter in Moskau] Sir William Hayter schrieb dagegen vor einiger Zeit ganz richtig: »Die Russen bringt man allein dadurch zur Änderung ihrer Absichten, indem man ihnen beweist, dass das, was sie tun wollen, nicht möglich ist.«20
Bereits in dieser Präambel legte Acheson kurz und knapp seine Sicht der Dinge sowie seine Handlungsvorschläge dar. Berlin sei nur deshalb ein Problem, weil sich die Sowjets entschieden hatten, es zu einem zu machen. Sie hätten dafür mehrere Gründe: Sie wollten Berlin neutralisieren, um es später dann voll übernehmen zu können; sie wollten die NATO schwächen oder auflösen; und sie hofften, die Vereinigten Staaten zu diskreditieren. Er fasste das in der Aussage zusammen: »Die wirklichen Themen sollten ganz andere sein: Chruschtschow ist ein Täuscher und ein Kriegstreiber. Diese Botschaften sollten wir unmissverständlich rüberbringen.«21
Achesons Ziel war es also, Chruschtschows Denken zu ändern und ihn davon zu überzeugen, dass Kennedys Antwort auf jede Herausforderung in Berlin so massiv ausfallen würde, dass der Sowjetführer das Risiko dann lieber nicht eingehen werde. Er wollte, dass der US-Präsident den nationalen Notstand erklärte und die konventionellen und nuklearen Streitkräfte möglichst schnell verstärkte. Die US-Truppen in Deutschland außerhalb von Berlin sollten sofort um drei auf insgesamt sechs Divisionen aufgestockt werden. Die zugrundeliegende Botschaft lautete: Wenn jemand in der Berlin-Frage einen Rückzieher machte, dann sollten das die Sowjets sein.
Achesons Bericht nannte dann drei »Essentials«, lebenswichtige Interessen, deren Verletzung eine militärische Antwort der Vereinigten Staaten auslösen müsse.22 Die Sowjets dürften die westlichen Garnisonen in Berlin nicht bedrohen, den Luft- und Landzugang in die Stadt nicht unterbrechen und die Lebensfähigkeit Westberlins und dessen Zugehörigkeit zur freien Welt nicht gefährden. Nach Ansicht Achesons sollte jede Unterbrechung der Zugangswege durch eine Luftbrücke wie im Jahr 1948 beantwortet werden. Wenn die Sowjets die Luftbrücke dieses Mal aufgrund ihres gewachsenen militärischen Potenzials und Berlins gestiegenem Versorgungsbedarf effektiver blockieren würden, sollte Kennedy zwei Panzerdivisionen über die Autobahn nach West-berlin vorrücken lassen.
Acheson hatte seinen Fehdehandschuh in den Ring geworfen, aber Kennedy war noch nicht bereit, ihn aufzuheben. Der Präsident sprach während der gesamten Sitzung kaum ein Wort.
Er bezweifelte, dass das amerikanische Volk zu einem solch gewagten Kurs bereit war, wie Acheson ihn hier vorschlug. Die Verbündeten würden es noch viel weniger sein. De Gaulle hatte gerade in Algerien genug zu tun, und Macmillan hatte nichts für irgendwelche Truppen übrig, die die Autobahn entlangstürmten, wie Kennedy sehr wohl wusste.
Thompson war der Erste, der Argumente gegen diesen Plan vorbrachte. Im Gegensatz zu Acheson glaubte er nicht, dass Chruschtschow in Berlin die Vereinigten Staaten demütigen wolle. Vielmehr wolle er seine osteuropäische Flanke stabilisieren. Aus diesem Grund sprach sich der US-Botschafter in Moskau auch dafür aus, notwendige Aufrüstungsmaßnahmen nicht an die große Glocke zu hängen und sie nach den westdeutschen Bundestagswahlen im September durch eine diplomatische Initiative zu begleiten, die baldige Berlin-Verhandlungen vorsah. Thompson argumentierte weiter, dass die Ausrufung des nationalen Notstands die Vereinigten Staaten »hysterisch« aussehen ließe und Chruschtschow zu übereilten Gegenmaßnahmen verleiten könnte, die er sonst vermeiden würde.23
Der Stabschef der US-Marine, Admiral Arleigh Burke, wandte sich ebenfalls gegen Achesons Plan.24 Der alte Haudegen sprach sich gegen den Umfang des militärischen »Tests« aus, wie Acheson den Versuch genannt hatte, den Zugang nach Berlin durch den Einsatz ganzer Divisionen zu erzwingen. Auch eine Luftbrücke lehnte er ab. Burke hatte ja erst vor kurzem Kennedys Zögern miterleben müssen, in Kuba die nötigen militärischen Unterstützungskräfte zur Verfügung zu stellen, und wollte jetzt auf keinen Fall für Achesons Berliner Schlachtplan den Kopf hinhalten.
Kennedy sah, wie sich seine Regierungsmitglieder und Berater in zwei Lager aufteilten. Auf der einen Seite standen die »Hardliner«, die Befürworter eines harten Berlin-Kurses, auf der anderen die Vertreter einer »weichen« Linie, die die Falken im Raum abfällig die »SLOBs« getauft hatten. Dies war die Abkürzung für »Soft Liners on Berlin«, »Weicheier in der Berlin-Frage«. Zu den Hardlinern zählten Acheson, der Staatssekretär für europäische Angelegenheiten im Außenministerium Foy Kohler, die ganze Deutschland-Abteilung im State Department, der Staatssekretär für internationale Angelegenheiten im Verteidigungsministerium Paul Nitze und meist auch die Vereinigten Stabschefs im Pentagon sowie Vizepräsident Lyndon B. Johnson.
Die Vertreter der weichen Linie mochten ihren Spitznamen ganz und gar nicht, da sie ihn als Versuch betrachteten, ihre größere Bereitschaft zu diskreditieren, eine Verhandlungslösung für Berlin zu finden, obwohl sie doch auch einen entschlossenen Umgang mit den Sowjets und eine beschränkte Aufrüstung befürworteten. Sie waren eine eindrucksvolle Gruppe, die dem Präsidenten persönlich weit näher stand. Zu ihr gehörten: Thompson, Kennedys Berater in Fragen der Sowjetunion Charles Bohlen, der Sonderberater des Präsidenten Arthur Schlesinger, der Regierungsberater und Harvard-Professor Henry Kissinger und der Rechtsberater des Weißen Hauses und Kennedy-Vertraute Ted Sorensen. Dazu kamen noch Robert McNamara und McGeorge Bundy.
Acheson verfügte jedoch vorerst über eine Waffe, der sie nichts entgegenzusetzen hatten: einen voll ausgearbeiteten Plan, der bis ins Detail durchdacht war und noch den letzten Soldaten berücksichtigte, der zur Verteidigung Berlins eingesetzt werden sollte. Die SLOBs hatten dagegen keine Alternative zu bieten.
Dennoch organisierte Schlesinger nach der Sitzung eine Gegenoffensive der Tauben.25 Der dreiundvierzigjährige Historiker hatte bereits dreimal in Adlai Stevensons Wahlkampfstab mitgearbeitet, bevor er sich Kennedy anschloss. Er war der festen Überzeugung, dass Männer des Geistes mit den Mächtigen zusammenarbeiten sollten, um gemeinsam noble Ziele zu erreichen. Er verwies dabei auf Beispiele aus der Geschichte, »als westliche Intellektuelle, von Turgot, Voltaire und Struensee bis zu Benjamin Franklin, John Adams und Thomas Jefferson, eine Zusammenarbeit mit der Macht als naturgegeben ansahen«. 26 Schlesinger wandte sich an den Rechtsberater des Außenministeriums, Abram Chayes, und bat ihn, einen Plan auszuarbeiten, der eine »intellektuelle« Alternative zu Achesons Hau-drauf-Strategie bot.
Acheson warnte jedoch seinen langjährigen Freund Chayes, dass er selbst bereits »weichere« Lösungen überdacht habe, diese aber niemals aufgegangen seien. »Du wirst sehen, Abe, du versuchst es, aber es lässt sich einfach nicht zu Papier bringen.«27
PIZUNDA
ANFANG JULI 1961
Ein frustrierter Chruschtschow, der gerade in seiner Villa auf Pizunda Urlaub machte, wollte unbedingt einen besseren Stadtplan von Berlin bekommen.
Der Botschafter der UdSSR in der DDR, Michail Perwuchin, hatte ihm einen Plan geschickt, aus dem der Sowjetführer nicht erkennen konnte, ob Ulbricht recht hatte, wenn er behauptete, man könne die Stadt auf effektive Weise teilen. Chruschtschow sah, dass die Sektoren in einigen Teilen Berlins nicht selten durch eine hypothetische Linie begrenzt wurden, die der Fahrbahnmitte der Straßen folgte. An anderen Stellen verlief die Grenze mitten durch Gebäude oder Kanäle. Als er die Karte näher betrachtete, merkte Chruschtschow, dass »sich manchmal der Gehsteig in dem einen Sektor, die restliche Straße jedoch im anderen befand. Wenn man die Straße überquerte, war man schon über die Grenze.«28
In einem Brief vom 4. Juli hatte Perwuchin Außenminister Gromyko berichtet, dass eine Abriegelung der Berliner Sektorengrenze ein logistischer Albtraum wäre, da sie jeden Tag 250 000 Berliner mit dem Zug, dem Auto oder zu Fuß überqueren würden.29 »Deshalb wären die Errichtung baulicher Anlagen entlang der gesamten Grenze innerhalb der Stadt und eine große Anzahl von zusätzlichen Polizeiposten nötig«, stellte er fest. Allerdings räumte er ein, dass eine Schließung der Grenze angesichts »der Verschärfung der politischen Lage« erforderlich sein könnte. Perwuchin machte sich jedoch auch über mögliche negative Reaktionen des Westens Sorgen, zu denen unter anderem ein Wirtschaftsembargo gehören könnte.
Ulbricht hatte hingegen solche Zweifel längst überwunden. Bis Ende Juni hatte er zusammen mit dem Sicherheitssekretär des ZK der SED, Erich Honecker, detaillierte Pläne entwickelt, wie man die Grenze schließen konnte. Zur selben Zeit lud er den sowjetischen Botschafter und einen jungen, aufstrebenden Diplomaten namens Julij Kwizinskij, der als Dolmetscher fungierte, in sein Haus am Döllnsee ein, um ihnen noch einmal die Dringlichkeit eines schnellen Handelns darzulegen. Die Lage in der DDR verschlechtere sich zusehends, erklärte er Perwuchin und fügte hinzu: »Bald muss es zu einer Explosion kommen.«30 Perwuchin solle Chruschtschow unbedingt mitteilen, dass der Zusammenbruch der DDR »unvermeidlich« sei, »wenn die gegenwärtige Situation der offenen Grenze bestehen bleibt«.
Chruschtschows Sohn Sergej erinnerte sich später, dass sein Vater nach dem Wiener Gipfel »ständig über Deutschland nachdachte«.31 Zur selben Zeit verlor der Sowjetführer das Interesse an einem Friedensvertrag mit Ostdeutschland. Nachdem er sich seit 1958 dafür eingesetzt hatte, war ihm jetzt klargeworden, dass ein solches Abkommen das größte Problem der DDR nicht lösen konnte: die Flüchtlingswelle.32
Auch dass es Kennedy offensichtlich ziemlich egal war, ob Chruschtschow einen einseitigen Friedensvertrag mit den Ostdeutschen abschloss, den die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten einfach ignorieren würden, brachte den Sowjetführer dazu, dessen Wert infrage zu stellen. Obwohl Ulbricht ihn immer noch verlangte, hatte sich Chruschtschow entschieden, dass es im Moment viel wichtiger sei, »alle Schlupflöcher zwischen Ost- und Westberlin zu verstopfen«.33
Seinem Sohn Sergej erklärte er zur selben Zeit: »Wenn man die Tür zum Westen zuschlägt, werden die Menschen aufhören davonzulaufen. Sie werden anfangen zu arbeiten, die Wirtschaft wird sich entwickeln, und nach kurzer Zeit werden die Westdeutschen an die Tür der DDR klopfen« und um bessere Beziehungen bitten.34 »Dann wären alle Hindernisse beseitigt, um den Friedensvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten zu unterzeichnen.«35
Im Augenblick war Chruschtschows Problem jedoch der Stadtplan. Als die Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg Berlin in vier Sektoren aufteilten, hatte niemand daran gedacht, dass diese Linien auf dem Papier einmal eine undurchdringliche Grenze werden könnten. »Die Geschichte hatte diese Misslichkeit geschaffen«, würde Chruschtschow Jahre später schreiben, »und wir mussten jetzt damit leben«.
Der Sowjetführer beschwerte sich, dass diejenigen, die die Linien auf dem Plan eingezeichnet hatten, entweder »ungenügend qualifiziert« oder gedankenlos gewesen seien. »Auf der Karte, die Sie mir geschickt haben, ist es schwer, sich zurechtzufinden«, teilte er Perwuchin mit.36 Er forderte ihn auf, Iwan Jakubowski, den Oberbefehlshaber der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, zu sich zu rufen und »ihm meine Bitte mitzuteilen, im Stab eine Karte mit eingezeichneten Grenzen zu erarbeiten und Kommentare über die Möglichkeit der Errichtung von Grenzkontrollpunkten hinzuzufügen«.
Diesen Plan solle Perwuchin dann dem Genossen Ulbricht vorlegen und ihn fragen, wie er die Möglichkeit einschätze, die Grenze entlang dieser gezackten, fast nicht zu verteidigenden Linie zu schließen, die die beiden wichtigsten Konkurrenzsysteme der Welt trennte.
Wie üblich in diesem Jahr 1961 war Ulbricht dem Sowjetführer jedoch schon weit voraus.
Gleichzeitig trat auf der anderen Seite des Atlantiks, in Miami Beach, der vielleicht bekannteste bisherige DDR-Flüchtling in helles Scheinwerferlicht und erinnerte die Welt auf erstaunliche Weise an das ostdeutsche Flüchtlingsproblem – und gab wohl auch Ulbricht einen weiteren Grund, die Tore so schnell wie möglich zu verschließen.
Marlene Schmidt: Der schönste Flüchtling des Universums
Sie war Walter Ulbrichts ultimative Demütigung.37
Während der kommunistische Führer hinter den Kulissen die Abriegelung seiner Berliner Grenze vorbereitete, schritt ein weiblicher Flüchtling aus seinem Staat mit der glitzernden Krone der Miss Universum auf dem Kopf den Laufsteg einer Bühne in Miami Beach entlang. Inmitten des Blitzlichtgewitters der Fotografen hatte Ulbrichts schwerstes Problem die unverwechselbare Gestalt der »schönsten Frau der Welt« angenommen, zu der sie soeben die »Richter« dieser Veranstaltung gekürt hatten.
Die vierundzwanzigjährige Marlene Schmidt war intelligent, blond, ein wenig schüchtern und von klassischer Schönheit. Der Spiegel beschrieb sie als »Botticelli-Figur« mit dem Gehirn einer Ingenieurin für Feinwerktechnik.38 Aber ihre wirkliche Attraktion, die ihr Schlagzeilen in der ganzen Welt verschaffte, waren ihre Flucht in die Freiheit und ihre anschließende märchenhafte Karriere.
Erst ein Jahr zuvor war Marlene aus Jena geflohen, der thüringischen Industriestadt, die im Zweiten Weltkrieg größtenteils zerbombt worden war. Später hatten die sowjetischen Demontagen und Reparationsforderungen die Wirtschaft der Stadt noch weiter geschädigt. Gleichzeitig waren die kommunistischen Planer dabei, die zerstörten Teile der Stadt in eintöniger, farbloser Großblockbauweise wiederaufzubauen. Obwohl Schmidts neuer Wohnort Stuttgart nur etwa 300 Kilometer von Jena entfernt lag, war es doch eine ganz andere Welt.
Die amerikanischen und englischen Luftangriffe hatten auch einen Großteil Stuttgarts zerstört. Immerhin handelte es sich um ein Zentrum der deutschen Industrie, das dort seit der Erfindung von Gottlieb Daimlers »Automobil mit Verbrennungsmotor« entstanden war. Trotzdem hatte das westdeutsche Nachkriegswirtschaftswunder die hügelige, im Grünen gelegene Stadt in eine aufstrebende Wirtschaftsmetropole voller Baukräne und neuer Autos verwandelt. Überall war der große Aufbauwille zu spüren, der die Bundesrepublik bereits zur drittgrößten Exportnation der Welt hatte werden lassen.
Nur einige Wochen nach ihrer Ankunft im Westen nahm Marlene an der Wahl zur Miss Germany teil. Angelockt hatte sie eine Anzeige in der örtlichen Zeitung, die der Gewinnerin ein Renault-Cabrio in Aussicht stellte. Nachdem sie den Wettbewerb im mondänen Kurort Baden-Baden gewonnen hatte, durfte sie nach Florida reisen, wo sie vor achtundvierzig Konkurrentinnen aus der ganzen Welt zur ersten und bisher einzigen deutschen Miss Universum gekürt wurde.
Das Time-Magazin konnte der Versuchung nicht widerstehen, danach gegen die Kommunisten zu sticheln, wie sie diese Frau nur hatten entkommen lassen können. »Selbst bei der gegenwärtigen Flüchtlingsflut hätte den ostdeutschen Grenzwächtern die einsachtundsiebzig Meter große, bildhübsche Marlene doch auffallen müssen … Der Westen hatte keine solche Schwierigkeiten.«39
Marlenes Triumph wurde in Farbe in der ganzen Welt verbreitet, da der Wettbewerb von Paramount Pictures organisiert und für das Fernsehen aufgezeichnet worden war.40 Der berühmte Entertainer Johnny Carson hatte sich als Zeremonienmeister betätigt, und die Schauspielerin Jayne Meadows hatte ihm dabei assistiert. Zehntausende Ostdeutsche sahen danach ebenfalls diese Aufzeichnung, da ihnen die nach Westen gerichteten Antennen auf ihren Dächern auch den Empfang der westdeutschen Fernsehprogramme erlaubten. Sie schauten alle ganz genau hin.
Marlene, die als Elektroingenieurin in einer Stuttgarter Firma für pneumatische Messgeräte etwas mehr als 800 DM im Monat verdiente, zeigte sich über den Ertrag ihres Miss-Universum-Gewinns begeistert. Dazu gehörten 5000 Dollar in bar, ein Nerzmantel im Wert von ebenfalls 5000 Dollar, ein Auftrittsvertrag über 10 000 Dollar und eine vollständige neue Garderobe.41 Die Zeitungen meldeten, dass ihre Siegesfeier bis 5 Uhr morgens angedauert habe. Danach habe es ein »American-Style-Frühstück« mit Orangensaft, Schinkenspeck mit Eiern, Toast und Kaffee gegeben. »Ich bin ein bisschen müde, aber so glücklich«, ließ Marlene durch ihren Dolmetscher verlauten, einen Deutsch sprechenden Marineleutnant, der sie zu ihren Pressekonferenzen, Interviews und Fototerminen als ihr offizielles Sprachrohr begleitete.
Die weltweite Aufmerksamkeit zwang Ulbrichts Propagandaapparat zu einer schnellen Reaktion. Der ostdeutsche Parteichef hatte in seinem Kampf gegen die Flüchtlingsflut eine dreigleisige Strategie entwickelt: erstens positive Propagandaberichte über die Tugenden des Sozialismus und die Fehler des Kapitalismus, zweitens verschärfte repressive Maßnahmen einschließlich der Bestrafung von Familienmitgliedern von Flüchtlingen wegen Mitwisserschaft oder Beihilfe und drittens Belohnungen für zurückkehrende Flüchtlinge in Form von Wohnungen und attraktiven Arbeitsstellen.
Trotzdem konnte nichts davon die stetig steigende Welle stoppen. Dabei spielte auch das in der ostdeutschen Bevölkerung kursierende Gerücht eine Rolle, dass es bald keine Gelegenheit zur Flucht mehr geben werde.
Was Marlene anging, warf die offizielle kommunistische Jugendzeitschrift Junge Welt den Amerikanern vor, sie hätten den Schönheitswettbewerb manipuliert, um die Aufmerksamkeit auf das ostdeutsche Flüchtlingsproblem zu lenken.42 Sie höhnte, die westdeut-sche Presse habe die Geschichte eines »Sowjetzonen-Aschenputtels« fabriziert, die der Goldene Westen vor dem halb verhungerten Kommunismus gerettet habe. Der Verfasser versuchte dann, den Spieß umzudrehen. Während die Ostdeutschen sie wegen ihrer Fähigkeiten als Ingenieurin als Produkt ihrer sozialistischen Erziehung schätzten, »zählen jetzt nur noch ihr Busen, ihr Hintern und ihre Hüften. Man kann sie nicht mehr ernst nehmen. Sie ist nur noch ein Ausstellungsstück.«
Als amerikanische Journalisten Marlene um einen Kommentar zu solchen Berichten baten, zuckte sie resigniert mit den Achseln. »Ich hatte so etwas von denen erwartet. Ich glaube, dass es für die ostdeutsche Regierung einfach unangenehm ist, dass die Welt auf diese Weise an die Lage in Ostdeutschland erinnert wird.«
Abgesehen von ihrem Miss-Universum-Krönchen ähnelte Marlenes Geschichte der vieler anderer in dieser Zeit. Einige Wochen nachdem sie ihrer Mutter und Schwester geholfen hatte zu fliehen, entschloss sie sich, ihnen zu folgen, als sie hörte, dass die Behörden gegen sie wegen »Mittäterschaft zur Republikflucht« ermittelten. Gemäß dem 1957 erlassenen »Gesetz zur Änderung des Passgesetzes« konnte sie für dieses »Verbrechen« zu einer Gefängnisstrafe von bis zu drei Jahren verurteilt werden.
Die Junge Welt nannte ihren Triumph in Miami eines dieser kurzen Vergnügen des Kapitalismus, das bald vorüber sein und dem ein hartes Leben in einem unfreundlichen Land folgen werde. »Du wirst nur ein Jahr regieren, danach wird dich die Welt vergessen«, wurde Marlene prophezeit.
In dieser Hinsicht hatte die ostdeutsche Propaganda sogar teilweise recht. Im Jahr 1962 wurde Marlene Schmidt die dritte von acht Frauen des Hollywood-Schauspielers Ty Hardin, eines Stars der Westernserie »Bronco«. Vier Jahre später ließ sie sich scheiden. Davor arbeitete sie an elf Filmen als Schauspielerin, Drehbuchschreiberin oder Produzentin mit, die alle jedoch kaum Aufmerksamkeit erregten. »Doch in Hollywood habe ich schnell gemerkt, dass dieses Leben dort mit ihm nichts für mich ist«, sagte sie später zur Begründung ihrer Entscheidung, nach Deutschland heimzukehren, um dort in einem Elektromotorenwerk in Saarbrücken zu arbeiten.43
Als sie die DDR verließ, war dies jedoch eine Wahl zwischen Freiheit und Gefängnis gewesen. Selbst nach ihrer Freilassung hätte sie nicht mehr als Ingenieurin arbeiten dürfen und wäre in einer Welt gefangen gewesen, in der sie ihre Fähigkeiten nicht hätte verwirklichen können und dürfen. Hollywood mag sie enttäuscht haben, aber ihre Flucht in den Westen hat sie gerettet.
Marlene Schmidt trug ihr Miss-Universum-Krönchen noch nicht einmal einen vollen Monat, als Ulbricht das Schlupfloch endgültig verschloss, durch das sie wie so viele andere der Repression in ihrem Land entkommen war.