KAPITEL 1

Chruschtschow: Ein Kommunist hat es eilig

Dreißig unserer Atomwaffen sind für Frankreich bestimmt,
mehr als genug, um dieses Land zu zerstören. Für Westdeutschland und
Großbritannien haben wir jeweils fünfzig vorgesehen.

MINISTERPRÄSIDENT CHRUSCHTSCHOW ZU
US-BOTSCHAFTER LLEWELLYN E. THOMPSON JUN.,
1. JANUAR 19601

 

So gut das alte Jahr gewesen ist, das neue Jahr wird sogar noch besser werden …
Ich glaube, niemand wird mir die Aussage verübeln, dass wir großen Wert
auf die Verbesserung unseres Verhältnisses zu den USA legen. […] Wir hoffen,
dass der neue US-Präsident wie ein frischer Wind die abgestandene Luft
zwischen den USA und der UdSSR vertreiben wird.

EIN JAHR SPÄTER: CHRUSCHTSCHOWS NEUJAHRSTRINKSPRUCH, 1. JANUAR 19612

DER KREML, MOSKAU
SILVESTERNACHT, 31. DEZEMBER 1960

Es waren nur noch wenige Minuten bis Mitternacht, und Nikita Chruschtschow hatte allen Grund, erleichtert zu sein, dass das Jahr 1960 endlich fast vorüber war. Er hatte jedoch noch mehr Grund, sich über das kommende Jahr Sorgen zu machen, als er den Blick über seine zweitausend Neujahrsgäste schweifen ließ, die sich unter der hoch aufragenden, gewölbten Decke des prunkvollen Sankt-Georg-Saals im Großen Kremlpalast versammelt hatten. Während draußen ein heftiger Sturm den Roten Platz und das Mausoleum, in dem seine einbalsamierten Vorgänger Lenin und Stalin aufgebahrt waren, mit einer dicken Schneeschicht bedeckte, wusste Chruschtschow sehr wohl, dass das weltweite Ansehen der Sowjetunion, sein eigener Platz in der Geschichte und – noch weit wichtiger – sein politisches Überleben davon abhängen könnten, wie er die vielen Herausforderungen und Probleme meistern würde, die derzeit wie ein Unwetter auf ihn niederprasselten.

Im Inland musste sich Chruschtschow zum zweiten Mal hintereinander mit einer Missernte auseinandersetzen.3 Gerade erst zwei Jahre zuvor hatte er mit großem Aufwand ein Sofortprogramm in die Wege geleitet, dessen Ziel es war, bis 1970 hinsichtlich des Lebensstandards die Vereinigten Staaten zu überholen. Trotzdem konnte er im Augenblick nicht einmal die Grundbedürfnisse seines Volkes befriedigen. Auf einer längeren Inspektionsreise durch sein Land war er fast überall einem Mangel an Wohnraum, Butter, Fleisch, Milch und Eiern begegnet. Seine Berater warnten ihn vor der wachsenden Gefahr eines Arbeiteraufstands ähnlich dem, der im Jahr 1956 in Ungarn ausgebrochen war. Damals war er gezwungen gewesen, zu dessen Niederschlagung sowjetische Panzer einzusetzen.

Im Ausland hatte Chruschtschows auf eine friedliche Koexistenz mit dem Westen abzielende Außenpolitik, die einen umstrittenen Bruch mit Stalins Vorstellungen einer unausweichlichen Konfrontation bedeutete, eine schwere Niederlage erlitten, als eine sowjetische Rakete im Mai des gerade zu Ende gehenden Jahres ein amerikanisches Lockheed-U-2-Spionageflugzeug abgeschossen hatte. Einige Tage später ließ Chruschtschow die Pariser Gipfelkonferenz mit Präsident Dwight D. Eisenhower und den anderen Siegermächten des Zweiten Weltkriegs platzen, weil die Vereinigten Staaten seine Forderung ablehnten, sich öffentlich für ihre Verletzung des sowjetischen Luftraums zu entschuldigen. Die Altstalinisten in der sowjetischen Kommunistischen Partei und Mao Tse-tung in China hielten diese Vorgänge für einen Beweis der mangelnden Führungsqualitäten Chruschtschows und wetzten in Vorbereitung des XXII. Parteitags der KPdSU schon ihre Messer gegen den sowjetischen Parteichef. Da Chruschtschow selbst in der Vergangenheit solche Parteiversammlungen dazu genutzt hatte, um einige seiner Gegner loszuwerden, waren alle seine Planungen für das Jahr 1961 darauf abgestellt, eine solche persönliche Katastrophe mit allen Mitteln zu verhindern.

Vor diesem Hintergrund war für Chruschtschow nichts bedrohlicher als die sich ständig verschlechternde Lage im geteilten Berlin. Seine Kritiker warfen ihm vor, er tue nichts gegen das fortwährende Eitern der gefährlichsten Wunde der kommunistischen Welt. Ostberlin blutete in alarmierender Geschwindigkeit aus, je mehr Flüchtlinge sich in den Westen absetzten. Dabei kehrte ja gerade der unersetzlichste und fähigste Teil der Bevölkerung – Unternehmer, Intellektuelle, Bauern, Ärzte und Lehrer – dem Land den Rücken. Chruschtschow nannte Berlin gern »den Hoden des Westens. Jedes Mal, wenn wir zudrücken, heulen die Vereinigten Staaten auf.«4 Tatsächlich wäre es aber die treffendere Metapher gewesen, Berlin als die Achillesferse Chruschtschows und des Ostblocks zu bezeichnen, als den Ort, an dem der Kommunismus wohl am verwundbarsten war.

Allerdings ließ sich Chruschtschow nichts von seinen Sorgen anmerken, als er sich unter die Gäste des Neujahrsbanketts mischte, zu denen Kosmonauten, Ballerinen, Künstler, Apparatschiks und Botschafter gehörten, die jetzt alle in das strahlende Licht der sechs massiven Bronzeleuchter und dreitausend elektrischen Lampen des Kremlsaals getaucht waren. Für sie war eine solche Einladung zu einer Festveranstaltung des Sowjetführers eine Bestätigung ihrer gesellschaftlichen Stellung. Da John F. Kennedy in weniger als drei Wochen sein Amt antreten würde, warteten sie jetzt noch gespannter als sonst auf den traditionellen Neujahrstrinkspruch des sowjetischen Parteichefs. Sie wussten genau, dass dieser den Grundtenor für die weiteren Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion vorgeben würde.

Als um Mitternacht von der Kuranty-Uhr des im 16. Jahrhundert errichteten Spasski-Turms die zwölf berühmten, gewaltigen Glockenschläge über den Roten Platz hallten, zog Chruschtschow im St.-Georg-Saal sein eigenes Schauspiel ab. Einigen Gästen schüttelte er die Hand, andere umarmte er und schien dabei in seinem Überschwang manchmal fast aus seinem grauen, leicht ausgebeulten Anzug herauszuplatzen. Es war immer noch dieselbe Energie, die ihn von seiner bäuerlichen Geburt im russischen Dorf Kalinowka in der Nähe der ukrainischen Grenze durch Revolution, Bürgerkrieg, Stalins Säuberungen, den Weltkrieg und den Führungskampf nach Stalins Tod an die Macht geführt hatte. Die kommunistische Machtergreifung hatte vielen Russen aus bescheidenen Verhältnissen unerwartete Gelegenheiten geboten, aber keiner hatte alle Umbrüche so geschickt überlebt und war so weit aufgestiegen wie Nikita Sergejewitsch Chruschtschow.

Angesichts Chruschtschows ständig steigender Fähigkeit, den Westen mit nuklear bestückten Raketen anzugreifen, unternahmen die US-amerikanischen Geheimdienste große Anstrengungen, ein psychologisches Profil des sowjetischen Führers zu erstellen.5 Im Jahr 1960 hatte die CIA etwa zwanzig Experten – Internisten, Psychiater und Psychologen – versammelt, die sich mithilfe von Filmen, Geheimdienstakten und persönlichen Berichten ein genaues Bild von dem sowjetischen Führer machen sollten. Diese Gruppe ging so weit, sogar Nahaufnahmen von Chruschtschows Arterien genau zu untersuchen, um dem Gerücht nachzugehen, sie seien verhärtet und er leide unter hohem Blutdruck. In einem streng vertraulichen Bericht, den man später Präsident Kennedy vorlegen würde, kamen sie zu dem Ergebnis, dass Chruschtschow trotz seiner Stimmungsschwankungen, Depressionen und gelegentlichen Alkoholexzesse (die er allerdings in letzter Zeit weitgehend unter Kontrolle habe) das Verhalten eines, wie sie es nannten, »chronisch optimistischen Opportunisten« zeige. Am Ende zogen sie den Schluss, dass er eher ein überschwänglicher Aktivist als ein, wie viele bis dahin geglaubt hatten, machiavellistischer Kommunist nach der Art Stalins sei.

Bild 37

Der Moskauer KP-Chef Nikita Chruschtschow empfängt im Jahr 1936 seinen Förderer Joseph Stalin auf dem Militärflugplatz Schtscholkowo.

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Eine weitere streng geheime Persönlichkeitsskizze, die die CIA für die neue Kennedy-Regierung erstellte, wies Chruschtschow die folgenden Eigenschaften zu: »Einfallsreichtum, Kühnheit, ein gutes Gespür für das richtige politische Timing und eine gewisse Spielermentalität.«6 Der frisch gewählte Kennedy wurde gewarnt, dass hinter dem oftmals clownesken Verhalten dieses kleinen, gedrungenen Mannes eine »scharfe angeborene Intelligenz, ein lebhafter Geist, Tatkraft, Ehrgeiz und Rücksichtslosigkeit« steckten.

Die CIA berichtete allerdings nicht, dass Chruschtschow sich höchstpersönlich die Wahl Kennedys zum Präsidenten zuschrieb und dafür nun etwas zurückbekommen wollte. Er brüstete sich vor Genossen, die Entscheidung in einer der knappsten Präsidentschaftswahlen herbeigeführt zu haben, die Amerika je erlebt hatte, indem er die Bitten der Republikaner abgelehnt habe, die drei gefangenen Flieger – den abgeschossenen U-2-Piloten Francis Gary Powers und die beiden Besatzungsmitglieder eines RB-47-Spionageflugzeugs, das zwei Monate später von den Sowjets über der Barentssee vom Himmel geholt worden war – auf dem Höhepunkt des Wahlkampfs freizulassen. Jetzt versuchte er ungeduldig, auf den unterschiedlichsten Kanälen ein möglichst frühes Gipfeltreffen mit Kennedy in die Wege zu leiten, auf dem das Berlin-Problem gelöst werden sollte.

Während des Wahlkampfs waren den wichtigsten Mitarbeitern des Sowjetführers dessen Ansichten vollkommen klar. Er wünschte Kennedys Sieg und verabscheute Richard Nixon, der ihn als Eisenhowers antikommunistischer Vizepräsident in seiner eigenen Hauptstadt Moskau während ihrer sogenannten Küchendebatte über die Vor- und Nachteile ihrer beiden Systeme gedemütigt hatte. Und so teilte er jetzt seinen Genossen mit: »Auch wir können die amerikanische Präsidentschaftswahl beeinflussen. Wir werden Nixon doch nicht so ein Geschenk machen!«7

Nach der Wahl hatte Chruschtschow damit geprotzt, dass seine Weigerung, die Flieger freizulassen, Nixon die paar Hunderttausend Stimmen gekostet habe, die er für seinen Sieg benötigt hätte. Nur zehn Gehminuten von seinem Neujahrsbankett entfernt schmachteten die amerikanischen Gefangenen immer noch im KGB-Gefängnis in der Lubjanka, wo sie der Sowjetführer als politisches Pfand festhielt, das er irgendwann in der Zukunft einsetzen konnte, um von den Amerikanern einen Vorteil zu erpressen.

Während die Zeit für seinen Neujahrstoast immer näher rückte, nahm Chruschtschow ein Bad in der Menge und ähnelte dabei eher einem volksnahen Politiker als einem kommunistischen Diktator.8 Obwohl er immer noch kraftvoll und beinahe jugendlich wirkte, war er doch auch wie so viele andere Russen vorzeitig gealtert.9 Bereits im Alter von siebenundzwanzig Jahren war er aufgrund einer schweren Krankheit ergraut. Wenn er mit den Genossen scherzte, warf er oft seinen fast kahlen Kopf zurück und schüttelte sich vor Lachen über seine eigenen Geschichten, wobei er unbeabsichtigt seine schlechten Zähne mit einer Lücke in der Mitte und zwei goldenen vorderen Backenzähnen entblößte. Kurz geschnittene graue Haare rahmten sein rundes, lebendiges Gesicht ein, auf dem drei große Warzen und eine winzige Schnittnarbe unter der Nase zu erkennen waren. Seine roten Wangen hatten tiefe Lachfalten, und seine Augen waren dunkel und durchdringend. Er wedelte ständig mit den Händen und sprach mit einer lauten, hohen und nasalen Stimme in kurzen, stakkatoartigen Sätzen.

Beim Umhergehen erkannte er viele Gesichter und erkundigte sich nach dem Befinden der Kinder zahlreicher Genossen, wobei er sich an deren Namen erinnerte: »Wie geht es der süßen kleinen Tatjana? Wie geht es dem kleinen Iwan?«10

In Anbetracht der Botschaft, die er für diesen Abend vorgesehen hatte, war Chruschtschow enttäuscht, dass in der Menge der wichtigste Amerikaner in Moskau, US-Botschafter Llewellyn »Tommy« Thompson, fehlte, mit dem er trotz der Verschlechterung des amerikanisch-sowjetischen Verhältnisses immer noch eine beinahe freundschaftliche Beziehung unterhielt.11 Thompsons Ehefrau Jane entschuldigte sich bei Chruschtschow, ihr Mann sei zu Hause geblieben, weil ihn seine Magengeschwüre quälten. Allerdings erinnerte sich der Botschafter auch immer noch mit Schrecken an seine Begegnung mit dem sowjetischen Führer auf der letzten Neujahrsfeier, als ein angetrunkener Chruschtschow wegen Berlin beinahe den Dritten Weltkrieg ausgerufen hätte.

Um 2 Uhr morgens hatte damals der bereits stark alkoholisierte Chruschtschow Thompson, dessen Frau, den französischen Botschafter und den Chef der Kommunistischen Partei Italiens in den neu gebauten Vorraum des St.-Georg-Saals geführt, in dem seltsamerweise ein künstlicher Brunnen stand, dessen Becken mit farbigen Kunststofffelsen gefüllt war. Chruschtschow herrschte Thompson an, er werde es den Westen teuer büßen lassen, wenn dieser seine Forderungen für ein Berlin-Abkommen nicht erfüllen werde, zu denen unter anderem auch ein Abzug der alliierten Truppen gehöre. »Dreißig unserer Atomwaffen sind für Frankreich bestimmt, mehr als genug, um dieses Land zu zerstören«, sagte er und nickte in Richtung des französischen Botschafters. Der Ausgewogenheit halber fügte er dann noch hinzu, dass für Westdeutschland und Großbritannien jeweils fünfzig vorgesehen seien.

In einem etwas unbeholfenen Versuch, die allgemeine Stimmung aufzulockern, hatte Jane Thompson daraufhin gefragt, wie viele Raketen Chruschtschow denn für Uncle Sam vorgesehen habe.

»Das ist ein Geheimnis«, hatte Chruschtschow mit einem boshaften Lächeln geantwortet.

Thompson versuchte, die Situation zu retten, indem er einen Trinkspruch auf den kommenden Pariser Gipfel mit Eisenhower ausbrachte und dabei den Wunsch äußerte, er möge die Beziehungen zwischen den beiden Staaten wieder verbessern. Der sowjetische Ministerpräsident steigerte daraufhin seine Drohungen nur noch weiter, indem er die Zusicherung an Eisenhower aufkündigte, er werde in Berlin bis zu diesem Pariser Treffen keine einseitigen Störmaßnahmen ergreifen. Thompson konnte dieses wodkageschwängerte Beisammensein erst um 6 Uhr morgens beenden. Als er sich auf den Heimweg machte, wusste er, dass die künftigen Beziehungen zwischen den beiden Supermächten davon abhängen würden, ob sich Chruschtschow am nächsten Morgen noch an irgendetwas erinnern konnte, was er in dieser Nacht gesagt hatte.

Zur Schadensbegrenzung schickte Thompson noch am gleichen Morgen eine Depesche an Präsident Eisenhower und Außenminister Herter, in der er zwar Chruschtschows Bemerkungen mitteilte, gleichzeitig jedoch erklärte, dass man sie aufgrund der Trunkenheit des Sowjetführers auf keinen Fall »wörtlich nehmen« sollte. Er interpretierte sie dahingehend, dass der sowjetische Ministerpräsident »uns nur den Ernst der Lage in Berlin klarmachen« wollte.

Ein Jahr später war Thompson also zu Hause geblieben. Dabei war Chruschtschow noch weitgehend nüchtern und in einer deutlich besseren Stimmung, als die Uhr schließlich zwölf schlug. Nachdem die Glocken das Jahr 1961 eingeläutet hatten und die Lichter des zwölf Meter hohen Neujahrsbaums im Sankt-Georg-Saal angezündet worden waren, erhob Chruschtschow sein Glas und äußerte einen Trinkspruch, den seine höheren Parteiführer als Richtungsweisung betrachteten und dessen Text sie mittels diplomatischer Depeschen in die ganze Welt verbreiteten.

»Ein glückliches Neues Jahr, Genossen. Glückliches Neues Jahr! So gut das alte Jahr auch gewesen ist, das neue Jahr wird sogar noch besser werden!«

Alle im Saal brachen in Hochrufe aus, umarmten und küssten sich.

Danach brachte Chruschtschow auf förmliche Weise einen Trinkspruch auf die Arbeiterschaft, die Bauern, die Intellektuellen, die Lehren des Marxismus-Leninismus und die friedliche Koexistenz der Völker aus. In einem versöhnlichen Ton fügte er hinzu: »Wir halten zwar das sozialistische System für überlegen, aber wir versuchen nie, es anderen Staaten aufzuzwingen.«12

Im Saal wurde es still, als er sich dann den Vereinigten Staaten und Präsident Kennedy zuwandte:

»Liebe Genossen! Freunde! Meine Damen und Herren! Die Sowjetunion unternimmt jede Anstrengung, um freundschaftliche Verbindungen mit allen Völkern zu unterhalten. Ich glaube, niemand wird mir jedoch die Aussage verübeln, dass wir großen Wert auf die Verbesserung unseres Verhältnisses zu den USA legen, da diese Beziehung auch die zu anderen Staaten sehr stark beeinflusst. Wir würden gern glauben, dass die Vereinigten Staaten dasselbe Ziel verfolgen. Wir hoffen, dass der neue US-Präsident wie ein frischer Wind die abgestandene Luft zwischen den USA und der UdSSR vertreiben wird.«

Der Mann, der noch vor einem Jahr die Atombomben gezählt hatte, die er auf den Westen werfen würde, gefiel sich jetzt in der Rolle des Friedensstifters. »Im Wahlkampf«, erzählte Chruschtschow seinen Zuhörern, »hat Mr Kennedy gesagt, dass er, wäre er Präsident gewesen, der Sowjetunion sein Bedauern ausgesprochen hätte«, dass die Amerikaner Spionageflugzeuge über sowjetischem Territorium eingesetzt hatten. Chruschtschow fügte hinzu, dass auch er »diese bedauerliche Episode hinter sich lassen und nicht mehr darauf zurückkommen möchte. […] Wir glauben, dass das amerikanische Volk, indem es sich für Mr Kennedy und gegen Mr Nixon entschied, seine Missbilligung der Politik des Kalten Kriegs und einer Verschlechterung der internationalen Beziehungen ausgedrückt hat.«

Chruschtschow hob sein frisch gefülltes Glas. »Auf eine friedliche Koexistenz aller Völker!«

Donnernder Applaus. Noch mehr Umarmungen.

Dabei war Chruschtschows Wortwahl wohlüberlegt. Der wiederholte Gebrauch des Begriffs »friedliche Koexistenz« war sowohl eine Absichtserklärung an Kennedy als auch eine Botschaft der Entschlossenheit an seine kommunistischen Rivalen. Chruschtschow hatte in seiner berühmten Rede auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahr 1956 in Anerkennung der sowjetischen Wirtschaftsschwächen und der neuen nuklearen Bedrohung ein neuartiges Konzept in das politische Denken der Sowjetunion eingeführt: Künftig sollten die kommunistischen Staaten mit den kapitalistischen friedlich zusammenleben und in Wettbewerb treten können. Seine Gegner befürworteten dagegen eine Rückkehr zu Stalins aggressiveren Vorstellungen über die Weltrevolution und die aktivere Vorbereitung auf einen letzthin unvermeidlichen Krieg.

Zu Beginn des Jahres 1961 war Stalins Geist für Chruschtschow weit gefährlicher als jede Bedrohung aus dem Westen. Bei seinem Tod im Jahr 1953 hatte Stalin Chruschtschow eine zerrüttete Sowjetunion mit 209 Millionen Einwohnern und dutzenden von Nationalitäten hinterlassen, die sich über ein Sechstel der gesamten Landmasse der Welt erstreckte. Im Zweiten Weltkrieg hatte die Sowjetunion ein Drittel ihres Nationalvermögens verloren. 27 Millionen Sowjetbürger waren umgekommen, 17 000 Städte und 70 000 Dörfer zerstört worden.13 Dabei waren die Millionen von Menschen noch gar nicht mitgezählt, die Stalin zuvor durch von Menschen gemachte Hungersnöte und seine politischen Säuberungen umgebracht hatte.14

Chruschtschow warf Stalin vor, einen unnötigen, teuren Kalten Krieg begonnen zu haben, bevor sich die Sowjetunion von diesen schweren Zerstörungen erholen konnte. Vor allem verurteilte er Stalin wegen der gescheiterten Berlin-Blockade von 1948, als der Diktator die amerikanische Entschlossenheit unterschätzt hatte, obwohl die Vereinigten Staaten zu dieser Zeit noch über ein Atomwaffenmonopol verfügten. Folgerichtig konnte der Westen das Embargo brechen, entstand im Jahr 1949 die NATO und wurde noch im gleichen Jahr im Westen eine separate Bundesrepublik Deutschland gegründet. Damit verbunden war die Entscheidung der Amerikaner, entgegen ihren ursprünglichen Planungen in Europa weiterhin und für längere Zeit Truppen zu stationieren. Nach Chruschtschows Ansicht hatte die Sowjetunion einen hohen Preis bezahlt, »weil Stalin das Ganze nicht ordentlich durchdacht hatte«.15

Nachdem er in seinem Neujahrstrinkspruch Präsident Kennedy den Olivenzweig hingehalten hatte, nahm ein immer noch nüchterner Chruschtschow den westdeutschen Botschafter Hans Kroll16 zu einem persönlichen Gespräch beiseite. Für Chruschtschow war der zweiundsechzigjährige Deutsche der zweitwichtigste westliche Botschafter nach dem abwesenden Thompson. Tatsächlich fühlte er sich Kroll persönlich weit näher als dem amerikanischen Abgesandten, nicht zuletzt wegen dessen fließender Beherrschung der russischen Sprache. Außerdem war Kroll wie viele Deutsche seiner Generation davon überzeugt, dass sein Land kulturell, historisch und möglicherweise auch politisch Moskau näher stehe als den Vereinigten Staaten.

Begleitet vom Ersten stellvertretenden Ministerpräsidenten Anastas Mikojan und dem Präsidiumsmitglied Alexej Kossygin zogen sich Chruschtschow und Kroll in denselben eigentümlichen Nebenraum zurück, in dem der Sowjetführer ein Jahr zuvor gegenüber Thompson seine Drohungen ausgestoßen hatte. Damals hatte Kroll unter Protest die Neujahrsfeier verlassen, als der sowjetische Ministerpräsident in seinem Trinkspruch gegen die »deutschen Militaristen und Revanchisten« gewettert hatte.17

Dieses Mal war Chruschtschow jedoch äußerst zuvorkommend und ließ Kroll ein Glas Krimsekt bringen. Während er selbst an einem leichten armenischen Rotwein nippte, erklärte der Sowjetführer Kroll, dass ihm seine Ärzte Wodka und andere »schärfere Alkoholika« verboten hätten. Kroll schätzte diesen »intimen Gedankenaustausch« mit Chruschtschow. Dieser unterstrich in solchen Augenblicken ihre persönliche Nähe, indem er ihn an sich heranzog und während der gesamten Unterhaltung ganz leise sprach.

Kroll wurde 1898, also vier Jahre nach Chruschtschow, in der oberschlesischen Stadt Deutsch-Piekar geboren, die im Jahr 1922 nach einer im Versailler Vertrag verfügten Volksabstimmung an Polen abgetreten werden musste.18 Er lernte sein erstes Russisch, als er als kleiner Junge in dem Fluss angelte, der die Grenze zwischen dem deutschen Kaiserreich und dem Zarenreich bildete. Seine ersten beiden Jahre im diplomatischen Dienst verbrachte er von 1923 bis 1925 als Attaché in Moskau. Das Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg und die junge kommunistische Sowjetunion waren damals in der internationalen Gemeinschaft immer noch weitgehend Parias. Folgerichtig durchbrachen sie ihre diplomatische Isolation durch den Abschluss des Rapallo-Vertrags, mit dem sie eine gegen den Westen und den Versailler Vertrag gerichtete Achse bildeten.

Anfang der 1960er Jahre war Kroll der Ansicht, dass die europäischen Streitigkeiten nur durch eine Verständigung zwischen den Deutschen und den Russen, den auch laut Chruschtschow »beiden größten Völkern Europas«,19 beendet werden könnten. Kroll hatte darauf hingearbeitet, seitdem er im Jahr 1952, also drei Jahre nach Gründung der Bundesrepublik, Chef der Abteilung Ost-West und des Interzonenhandels im bundesdeutschen Wirtschaftsministerium geworden war.20 Seine diesbezüglichen Überzeugungen hatten ihn oft in Konflikt mit den Vereinigten Staaten geraten lassen, die immer noch befürchteten, dass ein zu inniges Verhältnis den Weg zu einem neutralen Westdeutschland eröffnen könnte.

In den frühen Morgenstunden des Neujahrstages 1961 dankte Chruschtschow nun Kroll, dass er im vergangenen Herbst geholfen habe, dass Bundeskanzler Adenauer dem Abschluss neuer Wirtschaftsabkommen mit der kommunistischen Welt zugestimmt hatte. Dazu hatte auch die Erneuerung des Interzonen-Handelsabkommens gehört. Obwohl die DDR ein Satellitenstaat der Sowjetunion war, betrachtete Chruschtschow die Bundesrepublik als weit wichtiger für die sowjetische Wirtschaft, da sie ihm einen einzigartigen Zugang zu modernen Maschinen, den neuesten Technologien und dringend benötigten Hartwährungskrediten verschaffte.

Der Sowjetführer hob jetzt sein Glas auf die »bemerkenswerte Aufbauleistung des deutschen Volkes«.21 Danach sprach er jedoch die Hoffnung aus, dass Adenauer die wachsende wirtschaftliche Stärke der Bundesrepublik, die dadurch auch »politisch von den USA unabhängig geworden« sei, dazu nutzen werde, sich etwas von Washington zu distanzieren und die Beziehungen zur Sowjetunion weiter zu verbessern.

Kossygin bat dann um die Erlaubnis, einen eigenen Trinkspruch ausbringen zu dürfen. Er hob sein Glas und erklärte wörtlich: »Sie sind für uns der Botschafter aller Deutschen.« Er drückte damit auch Chruschtschows eigene Überzeugung aus, dass es für die Sowjetunion eigentlich weit besser wäre, die Westdeutschen mit all ihren Ressourcen zu Verbündeten zu haben statt der lästigen Ostdeutschen mit ihren ständigen wirtschaftlichen Forderungen und minderwertigen Gütern.

Diese Nettigkeiten würzte Chruschtschow jedoch auch mit einer Drohung. »Das deutsche Problem muss 1961 gelöst werden«, teilte er Kroll mit. Er könne die amerikanische Weigerung nicht länger dulden, über eine Änderung des Berlin-Status zu verhandeln, die es ihm erlauben würde, den Flüchtlingsstrom zu stoppen und einen endgültigen Friedensvertrag mit der DDR zu schließen. Mikojan warnte Kroll, dass »gewisse Kreise« in Moskau ihren Druck auf Chruschtschow verstärkten, etwas in Berlin zu unternehmen. Der sowjetische Führer könne dem »nicht mehr allzu lange widerstehen«.

Kroll nahm an, dass sich Mikojan auf die Kreise innerhalb der KPdSU bezog, die als »Ulbricht-Lobby«22 bekannt waren. Diese Gruppe war von den stetig dringlicher werdenden Vorwürfen des ostdeutschen Staatschefs stark beeindruckt, dass Chruschtschow den ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden nicht mit dem nötigen Nachdruck unterstütze.

Von all diesen sowjetischen Komplimenten und dem Krimsekt milde gestimmt, gab Kroll – der sich gelegentlich zu Kommentaren verleiten ließ, die von der offiziellen Linie abwichen – zu, dass der Sowjetführer, was Berlin angehe, eine bemerkenswerte Geduld gezeigt habe. Er warnte Chruschtschow jedoch: »Falls die Sowjetunion eine eigenmächtige Aktion in der Berlin-Frage unternimmt, wird dies zu einer internationalen Krise führen.«23 Dann sei selbst ein militärischer Konflikt mit den USA und dem Westen möglich.

Chruschtschow widersprach. Der Westen werde sich zwar »erst einmal ein wenig aufregen, aber nach kurzer Zeit wieder beruhigen. Kein Mensch in der Welt wird wegen einer Krise um Berlin oder um die deutsche Frage Krieg führen.« Da er wusste, dass Kroll den Inhalt dieses Gesprächs auch seinen Vorgesetzten und den Amerikanern mitteilen würde, fügte er dann noch hinzu, dass er eine Verhandlungslösung einseitigen Aktionen vorziehen würde. Er betonte jedoch auch: »Das wird von Kennedy abhängen.«

Um 4 Uhr morgens beendete Chruschtschow das Treffen und führte dann Kroll, Kossygin und Mikojan durch die immer noch tanzende Menge zum Ausgang. Alle Anwesenden verstummten, während sie für die vier eine Gasse bildeten.

Selbst ein solch erfahrener Diplomat wie Kroll wusste nie, welche von Chruschtschows häufigen Drohungen man ernst nehmen musste. Die Art, wie Chruschtschow an diesem Abend die Berlin-Frage angesprochen hatte, überzeugte ihn jedoch, dass es im kommenden Jahr darüber eine ernste Auseinandersetzung geben würde. Er würde diese Ansicht an Adenauer und damit auch an die Amerikaner weiterleiten. Eines war Kroll vollkommen klar: Chruschtschow hatte entschieden, dass die Risiken einer weiteren Untätigkeit die Gefahren auch einseitiger Aktionen überstiegen.

Ob dieses nächste Jahr jedoch von Kooperation oder Konfrontation geprägt wäre, hing letztendlich davon ab, wie Chruschtschow mit dem Dilemma umgehen würde, das die Berlin-Frage für seine eigene Politik darstellte.

Einerseits war er sich weiterhin sicher, dass er sich keine bewaffnete Auseinandersetzung oder gar einen Krieg mit den Amerikanern leisten konnte. Er wollte unbedingt eine friedliche Koexistenz mit den Vereinigten Staaten erreichen. Und so streckte er dem neuen amerikanischen Präsidenten die Hand entgegen in der Hoffnung, mit ihm eine geeignete Lösung für Berlin aushandeln zu können.

Andererseits bewies Chruschtschows Unterredung mit dem westdeutschen Botschafter Kroll auch, dass der Druck auf ihn ständig stieg, sein Berlin-Problem zu lösen, bevor dieses zu einer umfassenden Bedrohung des Sowjetimperiums und zunächst einmal seiner eigenen Führungsstellung wurde.

Aus diesem Grund war Chruschtschow ein Kommunist, der es eilig hatte.

Dabei gab es für ihn noch ein weiteres Berlin-Problem: die Berliner selbst. Sie verachteten ihn, verabscheuten alle sowjetischen Soldaten und wollten sie als Besatzer endlich loswerden. Ursache hierfür waren nicht zuletzt ihre Erinnerungen an die schlimmen Ereignisse am Ende des Kriegs.

 

Marta Hillers’ Vergewaltigungsgeschichte

IRGENDWO IN DER SCHWEIZ
JANUAR 1961

Marta Hillers hatte nur einen einzigen Trost: Sie hatte sich geweigert, ihren Namen unter das außergewöhnliche Manuskript zu setzen, in dem sie akribisch die sowjetische Eroberung Berlins im kalten Frühling des Jahres 1945 geschildert hatte. In dieser Zeit war ihr Leben wie das von zehntausenden anderer Berliner Frauen und Mädchen zu einem einzigen Albtraum voller Angst, Hunger und Vergewaltigung geworden.

Zum ersten Mal im Jahr 1959 in Deutschland veröffentlicht, ließ das Buch einige der schlimmsten Kriegsgräuel der modernen Militärgeschichte wiederaufleben. Nach Schätzungen, die auf Krankenhausunterlagen beruhen, wurden in den letzten Kriegstagen und in den ersten Tagen der sowjetischen Besatzung zwischen 90 000 und 130 000 Berlinerinnen vergewaltigt. Zehntausende weitere erlitten dieses Schicksal in der übrigen sowjetischen Besatzungszone.24

Hillers hatte erwartet, ihr Buch würde von einem Volk begrüßt werden, das die Welt wissen lassen wollte, dass auch seine Mitglieder zu Kriegsopfern geworden waren. Stattdessen hatten die Berliner darauf entweder mit Ablehnung oder mit Schweigen reagiert. Die Welt empfand immer noch wenig Mitgefühl für das Leid irgendwelcher Deutschen, die zu einem Volk gehörten, das so viel Unheil über die Menschheit gebracht hatte. Die Berliner Frauen, die diese Erniedrigung hatten erdulden müssen, hatten keine Lust, sich diese schlimmen Ereignisse ins Gedächtnis zurückzurufen. Und die Berliner Männer wollten auf keinen Fall daran erinnert werden, dass sie damals ihre Frauen und Töchter nicht hatten schützen können. Der Beginn des Jahres 1961 war im sowjetisch besetzten Ostdeutschland und in Ostberlin eine Zeit des gewollten Vergessens und der Gleichgültigkeit gegenüber der Vergangenheit. Tatsächlich gab es auch wenig Grund, sich mit einer Geschichte auseinanderzusetzen, die man einerseits nicht mehr ändern konnte, andererseits aber auch noch nicht zu verdauen vermochte.

Eigentlich hätte diese Reaktion Hillers nicht überraschen dürfen. Immerhin empfand auch sie selbst noch so viel Scham angesichts des Geschehenen, dass sie ihre Erinnerungen »Eine Frau in Berlin« nur mit dem Pseudonym Anonyma signierte. Sie veröffentlichte sie auch erst nach ihrer Heirat, als sie in die neutrale Schweiz gezogen war. Das Buch durfte in der DDR weder verkauft noch besprochen werden. Nur einige wenige Exemplare wurden in Koffern in den kommunistischen Osten geschmuggelt. Aber auch in Westberlin verkauften sich Anonymas Memoiren nur sehr schlecht. In Besprechungen warf man ihr entweder antikommunistische Propaganda vor, oder man beschuldigte sie, die Ehre der deutschen Frau zu beschmutzen. Sie selbst hätte auf diesen Vorwurf wohl geantwortet, dass dies sowjetische Soldaten bereits lange vor ihr erfolgreich erledigt hätten.

Eine solche Rezension, die bezeichnenderweise ganz hinten im Westberliner »Tagesspiegel« auf Seite 35 erschien, trug die Überschrift: »Schlechter Dienst an der Berlinerin / Bestseller im Ausland – Ein verfälschender Sonderfall«.25 Besonders irritiert zeigte sich der Rezensent, der der Verfasserin »schamlose Unmoral« vorwarf, von dem kompromisslosen Erzählstil des Buches, der den Zynismus der ersten Nachkriegsmonate treffend widerspiegelte. Urteile wie dieses im »Tagesspiegel« bewegten Hillers dazu, anonym zu bleiben und jede Neuauflage des Buches zu ihren Lebzeiten zu verbieten. Im Jahr 2001 starb sie im Alter von neunzig Jahren.

Sie sollte also nie erfahren, dass ihr Buch nach ihrem Tod neu aufgelegt wurde und in mehreren Sprachen ein Bestseller war. Im Jahr 2003 erschien es im deutschen Original.26 Sie würde auch nie die Genugtuung haben können, dass ihre Geschichte im Jahr 2008 in einem deutschen Spielfilm (Anonyma – Eine Frau in Berlin) erzählt wurde und ihr Schicksal heute Feministinnen in der ganzen Welt rührt.

Im Jahr 1961 sorgte sich Hillers dagegen mehr darum, den Reportern zu entgehen, die sie mithilfe der wenigen konkreten Hinweise auf ihre Person in ihrem Bericht aufspüren wollten. So war ihrem Buch zu entnehmen, dass sie 1945 eine Journalistin in den Dreißigern war, im Bezirk Tempelhof gelebt und genug Zeit in der Sowjetunion verbracht hatte, um etwas Russisch zu sprechen. Sich selbst beschrieb sie als »blasse Blondine, stets im selben zufällig geretteten Wintermantel«.27 Tatsächlich gelang es niemandem, sie zu identifizieren.

Trotzdem gibt es keine bessere Illustration der damaligen deutschen Einstellung gegenüber den Besatzern als den Inhalt von Hillers’ Buch und die Weigerung der Berliner, dieses zu lesen. Die Beziehung der Ostdeutschen zu ihren sowjetischen Besatzungstruppen, deren Zahl im Jahr 1961 immerhin noch vier- bis fünfhunderttausend betrug, war eine Mischung aus Mitleid und Furcht, gleichgültiger Selbstgefälligkeit und Amnesie. Die meisten Ostdeutschen hatten sich mit deren anscheinend dauerhaften Anwesenheit abgefunden. Viele von denen, die dies nicht vermochten, waren in den Westen geflohen.

Das Mitleid der Ostdeutschen mit ihren sowjetischen Besatzern, denen sie sich kulturell überlegen glaubten, beruhte auf dem, was sie alltäglich mit eigenen Augen beobachten konnten: unterernährte, ungewaschene Teenager in schmutzigen Uniformen, die die halb gerauchten Kippen, die die Deutschen gerade weggeworfen hatten, vom Boden auflasen oder ihre Orden und ihr Benzin gegen jede Form von trinkbarem Alkohol eintauschten, der ihnen half, ihre armselige Existenz für kurze Zeit zu vergessen.28

Dieses Mitleid wurde vom gelegentlichen Alarm noch weiter verstärkt, der bei allen Desertionsversuchen sofort ausgerufen wurde. Immer wieder konnten einige halbwüchsige Soldaten die Brutalität der Offiziere, die Schikanen ihrer älteren Kameraden und die kalten und überfüllten Unterkünfte einfach nicht mehr ertragen.

Ihre im Dritten Reich oder noch früher erbauten Kasernen waren jetzt mit dreimal so vielen Soldaten vollgestopft wie noch zu alten deutschen Zeiten. Am Silvestertag des Jahres 1957 brach in Falkenberg eine Kasernenrevolte aus, in deren Rahmen vier Soldaten nach Westberlin flohen und sowjetische und ostdeutsche Suchtrupps an der Berliner Grenze entlangpatrouillierten.29 Man erzählte sich, dass sowjetische Truppen Scheunen und Ställe angezündet hätten, in denen sich Deserteure versteckt hielten. Dabei seien sowohl diese geflohenen Soldaten als auch die Tiere bei lebendigem Leib verbrannt.

Dies alles verstärkte die tief sitzende Angst der Deutschen vor den Russen noch weiter.

Dazu hatten allerdings zuvor auch die Ereignisse vom 17. Juni 1953 30 beigetragen, als sowjetische Truppeneinheiten und Panzer einige Zeit nach Stalins Tod einen Arbeiteraufstand niedergeschlagen hatten, der den jungen ostdeutschen Staat bis in seine schwachen Grundmauern erschütterte. Dabei waren bis zu 300 Ostdeutsche zu Tode gekommen und weitere 4270 verhaftet worden.

Die tieferen Gründe dieser ostdeutschen Ängste wurzelten jedoch in den schmerzlichen Erfahrungen, die Hillers so genau beschrieben hatte. Es gab ja einen Grund, warum Ostberliner Frauen erstarrten, wann immer ein sowjetischer Soldat an ihnen vorbeiging oder Walter Ulbricht im Radio die immerwährende Freundschaft mit dem sowjetischen Volk beschwor.

Hillers beschrieb auch, warum Außenstehende so wenig Mitgefühl für das Leiden der deutschen Frauen empfanden – und warum sich so viele Deutsche fragten, ob ein rächender Gott sie nicht durch diese Vergewaltigungen für ihre eigenen Missetaten bestrafte. Noch in den ersten Besatzungstagen schrieb Hillers: »Unser deutsches Unglück hat einen Beigeschmack von Ekel, Krankheit und Wahnsinn, ist mit nichts Historischem vergleichbar. Soeben kam durchs Radio wieder eine KZ-Reportage. Das Grässlichste bei all dem ist die Ordnung und Sparsamkeit: Millionen Menschen als Dünger, Matratzenfüllung, Schmierseife, Filzmatte – dergleichen kannte Aischylos doch nicht.«31

Hillers war auch fassungslos über die Dummheit der Naziführer, die angeordnet hatten, Schnaps für die anrückenden Sowjettruppen zurückzulassen. Sie glaubten tatsächlich, dass betrunkene Soldaten weniger gefährlich seien. Hillers machte dagegen klar, dass die Berliner Frauen ohne »den vielen Alkohol, den die Burschen überall bei uns fanden«, nur halb so viele Vergewaltigungen hätten erleiden müssen. »Casanovas sind diese Männer nicht«, sie mussten also erst einmal ihre »Hemmungen wegschwemmen«.32

Mit der für sie charakteristischen Ausdruckskraft beschrieb sie dann eine der vielen »Schändungen«, die sie endgültig dazu brachte, sich einen Beschützer unter den russischen Soldaten zu suchen:

Der mich treibt, ist ein älterer Mensch mit grauen Bartstoppeln, er riecht nach Schnaps und Pferden.

. . . Kein Laut. Bloß als das Unterzeug krachend zerreißt, knirschen unwillkürlich die Zähne. Die letzten heilen Sachen.

Auf einmal Finger an meinem Mund, Gestank von Gaul und Tabak. Ich reiße die Augen auf. Geschickt klemmen die fremden Hände mir die Kiefer auseinander. Aug in Auge. Dann lässt der über mir aus seinem Mund bedächtig den angesammelten Speichel in meinen Mund fallen.

Erstarrung. Nicht Ekel, bloß Kälte. Das Rückgrat gefriert, eisige Schwindel kreisen um den Hinterkopf. Ich fühle mich gleiten und fallen, tief, durch die Kissen und die Dielen hindurch. In den Boden versinken – so ist das also.

Wieder Aug in Auge. Die fremden Lippen tun sich auf, gelbe Zähne, ein Vorderzahn halb abgebrochen. Die Mundwinkel heben sich, von den Augenschlitzen strahlen Fältchen aus. Der lächelt.

Er kramt, bevor er geht, etwas aus seiner Hosentasche, schmeißt es stumm auf den Nachttisch, rückt den Sessel beiseite, knallt hinter sich die Tür zu. Das Hinterlassene: eine verkrumpelte Schachtel mit etlichen Papyrossen darin. Mein Lohn.

Als ich aufstand, Schwindel, Brechreiz. Die Lumpen fielen mir auf die Füße. Ich torkelte durch den Flur ... ins Bad. Erbrechen. Das grüne Gesicht im Spiegel, die Brocken im Becken. Ich hockte auf der Wannenkante, wagte nicht nachzuspülen, da immer wieder Würgen und das Wasser im Spüleimer so knapp. 33

In diesem Moment fasste Marta Hillers einen Entschluss. Sie richtete sich etwas her und ging hinunter auf die Straße, um sich einen »Wolf« zu erjagen, einen höheren sowjetischen Offizier, der sie künftig beschützen würde. Sie hielt es für besser, von einem einzigen Russen als von einer unendlichen Reihe von Soldaten regelmäßig missbraucht zu werden. Wie viele Millionen andere Deutsche war Hillers dabei, sich in dieser Besatzung einzurichten, gegen die sie absolut nichts tun konnte.

Erst viele Jahre später würden Wissenschaftler versuchen, die Schrecken dieser Zeit in ihrer Gesamtheit zu rekonstruieren. Im Spätfrühjahr und Frühsommer des Jahres 1945 wurden mindestens 110 000 Frauen im Alter zwischen zwölf und einundachtzig vergewaltigt. Etwa 40 Prozent der Opfer wurden dabei mehrfach missbraucht. Jedes fünfte Vergewaltigungsopfer wurde schwanger. Die Hälfte von ihnen trug ihr Kind aus, die andere Hälfte ließ es oft ohne Betäubung abtreiben. Tausende von Frauen begingen aus Scham oder aus Angst vor weiteren Schändungen Selbstmord. Etwa 5 Prozent aller Berliner Neugeborenen des folgenden Jahres waren »Russenbabys«. In ganz Deutschland waren es zwischen 150 000 und 200 000 Kinder.

Als diese Kinder im Jahr 1958 Teenager wurden, brach Chruschtschow die sogenannte Berlin-Krise vom Zaun.