KAPITEL 9
Riskante Diplomatie
Die amerikanische Regierung und der Präsident befürchten, dass die sowjetische Führung die Fähigkeiten der US-Regierung und des Präsidenten selbst unterschätzt.
ROBERT KENNEDY ZU DEM AGENTEN DES
SOWJETISCHEN MILITÄRGEHEIMDIENSTES GEORGIJ BOLSCHAKOW, 9. MAI
19611
Berlin ist eine schwärende Wunde, die entfernt werden muss.
PARTEICHEF CHRUSCHTSCHOW ZU
US-BOTSCHAFTER LLEWELLYN E. THOMPSON JUN. WÄHREND EINER
EISREVUE
IN MOSKAU ZUM ZIEL DES WIENER GIPFELTREFFENS, 23. MAI
19612
WASHINGTON,
D.C.
DIENSTAG, 9. MAI 1961
In einem weißen Hemd, mit gelockerter Krawatte, das Jackett lässig über die Schulter geworfen, lief Justizminister Robert Kennedy die Stufen des Seiteneingangs zu seinem Ministerium an der Pennsylvania Avenue hinab und streckte dem sowjetischen Agenten Georgij Bolschakow die Hand hin.3
»Hallo, Georgij, lange nicht gesehen«, begrüßte ihn der Justizminister, als sehe er einen alten Bekannten wieder, obwohl er ihm nur einmal kurz begegnet war, vor gut sieben Jahren. An Kennedys Seite stand Ed Guthman, der Pulitzer-Preisträger, den er zu seinem Pressesprecher und Sprachrohr auserkoren hatte. Guthman hatte dieses einzigartige Treffen über den Mann eingefädelt, der Bolschakow mit einem Taxi gebracht hatte und jetzt neben ihm stand, den Korrespondenten der New Yorker Daily News Frank Holeman.
»Machen wir einen Spaziergang?«, fragte Kennedy Bolschakow. Das lockere Auftreten des Justizministers war geradezu entwaffnend in Anbetracht des ungewöhnlichen, beispiellosen Kontakts, den er im Begriff war herzustellen. Er bedeutete Guthman und Holeman, ein wenig Abstand zu halten, während er und der russische Agent im Abendnebel über die Washingtoner Mall schlenderten und über die neueste Ausgabe der Propagandazeitschrift plauderten, für dessen englischsprachige Ausgabe Bolschakow verantwortlich war.
Auf Kennedys Vorschlag hin setzten sich die beiden Männer auf ein abgesondertes Rasenstück, es roch nach frisch gemähtem Gras. Das Kapitol ragte im Hintergrund auf der einen Seite auf, das Washington-Denkmal auf der anderen, das Eingangstor der Smithsonian Institution lag direkt hinter ihnen. Liebespaare bei einem frühen Abendspaziergang und kleine Touristengruppen blickten zu den Regenwolken auf, die ein Gewitter ankündigten.
Bolschakow erklärte, wie nahe er Chruschtschow stehe, und bot sich als nützlicherer und direkterer Draht zu dem Sowjetführer an als der Moskauer Botschafter in den Vereinigten Staaten Michail Menschikow, den Bobby und sein Bruder John für einen Clown hielten.
Bobby teilte Bolschakow mit, dass sein Bruder sich unbedingt mit Chruschtschow treffen wolle und dass er hoffe, die Kommunikation im Vorfeld des ersten Treffens zu verbessern, damit sich beide Seiten über die Agenda einigen könnten. Der Justizminister sagte, er habe bereits von Bolschakows Verbindungen zu hohen Mitarbeitern Chruschtschows gehört und sei zuversichtlich, dass er diese Rolle übernehmen könne, wenn er dazu bereit sei. »Es wäre großartig, wenn sie [die Mitarbeiter] von Ihnen Informationen aus erster Hand erhielten«, meinte Bobby. »Diese haben, wie ich meine, bestimmt Gelegenheit, Chruschtschow darüber zu berichten.«
Nach einem Donnergrollen sagte Robert Kennedy im Scherz: »Wenn ich von einem Blitz getroffen werde, melden die Zeitungen, ein russischer Agent habe den Bruder des Präsidenten umgebracht. Das könnte einen Krieg auslösen. Gehen wir lieber weiter.« Anfangs schritten sie zügig aus, beschleunigten dann das Tempo weiter, um dem Platzregen zu entkommen, und mussten im Büro des Justizministers erst einmal die nassen Hemden ausziehen, nachdem sie in seinem privaten Aufzug hochgefahren waren. Sie setzten die Unterhaltung im Unterhemd in einem Zimmer mit zwei Lehnstühlen, einem Kühlschrank und einer kleinen Bibliothek fort.
So begann eine wohl einzigartige und – noch Jahre später – in ihrer Bedeutung nicht voll erkannte Beziehung des Kalten Kriegs. Von diesem Tag an kommunizierten der Justizminister und Bolschakow häufig miteinander, zeitweise zwei- oder dreimal im Monat. Dieser Meinungsaustausch spielte sich fast völlig unbemerkt und undokumentiert ab, ein Versäumnis, das Robert Kennedy später bedauern sollte. Er machte sich bei den Begegnungen nie Notizen und berichtete seinem Bruder direkt und nur mündlich darüber. Aus diesem Grund können die Gespräche zwischen Bolschakow und Robert Kennedy nur unvollständig über eine unzureichende mündliche Schilderung Kennedys, sowjetische Unterlagen, die teilweisen Erinnerungen Bolschakows und die Erinnerungen anderer rekonstruiert werden, die in der einen oder anderen Form daran beteiligt gewesen waren.
Präsident John F. Kennedy hatte dem ersten Treffen seines Bruders mit Bolschakow zugestimmt, ohne einen seiner außenpolitischen Berater oder Experten für die Sowjetunion zu konsultieren. Darin spiegelten sich das erhöhte Misstrauen der beiden Kennedys gegenüber dem Nachrichten- und Militärapparat seit der Invasion in der Schweinebucht sowie ihre Neigung zu heimlichen Operationen und ihr Bestreben, so behutsam wie möglich alles daranzusetzen, um einen ordnungsgemäßen Ablauf des Gipfels zu gewährleisten.
Für Chruschtschow hingegen war Bolschakow eher ein nützlicher Bauer als eine wichtige Figur. Auf einem komplexen Schachbrett konnte Chruschtschow mit Bolschakows Hilfe Kennedy aus der Reserve locken, ohne seine eigenen Pläne aufzudecken. Von Anfang an war der sowjetische Führer wegen der Struktur des Austauschs im Vorteil. Präsident Kennedy konnte von Bolschakow nur das in Erfahrung bringen, was Chruschtschow und andere Vorgesetzte ihm zur Weiterleitung übermittelten, während Bolschakow aus Bobby Kennedy, der mit dem Präsidenten und dessen Denkweise eng vertraut war, viel mehr Informationen herausholen konnte.
Bolschakow war aber nur einer von zwei Kanälen, über die Chruschtschow Anfang Mai versuchte, mit Kennedy Kontakt aufzunehmen. Während die führenden sowjetischen Vertreter beide Kanäle zu ihrem größtmöglichen Nutzen instrumentalisierten, wussten ihre amerikanischen Pendants lediglich von der offiziellen Anfrage, die fünf Tage zuvor eingegangen war. Damals hatte Außenminister Andrej Gromyko Botschafter Thompson telefonisch die verspätete Antwort Chruschtschows auf Kennedys Brief von vor zwei Monaten übermittelt, in dem der US-Präsident den Parteichef zu einem Gipfeltreffen eingeladen hatte.4
Gromyko hatte sich bei Thompson dafür entschuldigt, dass Chruschtschow ihm nicht persönlich sein Interesse mitteilen konnte. Der Sowjetführer verließ Moskau zu einem weiteren Ausflug in die Provinz, um alles für den Parteitag im Oktober vorzubereiten, und er kehrte erst am 20. Mai zurück. Aber in Chruschtschows Auftrag sagte Gromyko, dass der Sowjetführer »den Umstand bedaure, dass die Uneinigkeit« zwischen den beiden Ländern wegen der Schweinebucht und Laos zugenommen habe.
Mit sorgsam gewählten Worten sagte Gromyko: »Wenn die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten nicht der Meinung sind, dass zwischen den beiden eine unüberbrückbare Kluft besteht, dann sollten sie daraus die entsprechenden Schlussfolgerungen ziehen, nämlich, dass wir auf einem gemeinsamen Planeten leben und deshalb Möglichkeiten gefunden werden sollten, zweckdienliche Fragen zu regeln und unsere Beziehungen zu verbessern.« Zu diesem Zweck sei Chruschtschow, so Gromyko, nunmehr bereit, Kennedys Einladung zu einem Treffen anzunehmen, und überzeugt, dass »Brücken gebaut werden müssen, die unsere Länder miteinander verbinden«.
Gromyko wollte von Thompson wissen, ob die Einladung Kennedys »noch gelte oder zurückgezogen werde« nach den Ereignissen in der Schweinebucht. Gromyko hatte die Frage zwar sehr höflich formuliert, doch dahinter verbarg sich eine fast schon unverschämte Botschaft. Genau genommen fragte er, ob Kennedy immer noch den Schneid hatte, sich mit Chruschtschow zu treffen, nachdem er sich in Kuba so übel ins Knie geschossen hatte.
Damit hatte die dritte Phase in Chruschtschows Annäherung an Kennedy begonnen. Die erste Phase waren die hektischen Bemühungen Chruschtschows gewesen, unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl und kurz nach Amtsantritt ein Treffen mit Kennedy zu arrangieren. In der zweiten Phase hatte der Parteichef nach einer scharfen Botschaft in Kennedys Rede zur Lage der Nation das Interesse verloren. Jetzt war Chruschtschow wiederum an einem Treffen sehr interessiert und wollte seinen vermeintlichen Vorteil gegenüber einem geschwächten Gegner nutzen.
Thompson legte den Hörer auf und verfasste ein Telegramm. Er gelangte sofort zu folgendem Schluss: Wenn der US-Präsident eine gefahrvolle Verschlechterung der Beziehungen umkehren wollte, dann würden die Risiken, die mit der Zustimmung zu einem solchen Treffen verbunden waren, von der absoluten Notwendigkeit weit aufgewogen. Nach dem geheimen Telegramm um 16 Uhr, in dem er über das Gespräch mit Gromyko Bericht erstattete, schickte Thompson eine verschlüsselte Botschaft an Außenminister Rusk, in der er den Präsidenten drängte, Chruschtschows ausgestreckte Hand zu ergreifen. Kritiker könnten einwenden, dass Kennedy wie ein angeschossenes Opfer in die Bärenfalle ging, aber Thompson machte den Vorschlag, Kennedy solle öffentlich erklären, dass er Chruschtschow lange vor der Invasion in der Schweinebucht eingeladen und der Sowjetführer erst jetzt darauf geantwortet habe.
Anschließend legte Thompson seine Argumente dar, die für ein Treffen sprachen:
Allein die Aussicht eines solchen Gipfeltreffens würde die Sowjets dazu veranlassen, »einen vernünftigeren Ansatz« bei Themen wie Laos, Atomwaffentests und Abrüstung einzunehmen.
Eine persönliche Begegnung wäre die beste Gelegenheit für Kennedy, wichtige Entscheidungen des Parteitags im Oktober zu beeinflussen, die die Beziehung zwischen den Supermächten auf Jahre hinaus prägen könnten. Weil sich Mao Tse-tung vehement gegen amerikanisch-sowjetische Konsultationen aussprach, würde, so Thompson, »schon die Tatsache eines Treffens die sowjetisch-chinesischen Beziehungen belasten«.
Wenn Kennedy der Welt seine Bereitschaft beweise, direkt mit Chruschtschow zu sprechen, so werde dies schließlich die öffentliche Meinung in einer Weise beeinflussen, die es dem US-Präsidenten erleichtere, eine starke Position der Vereinigten Staaten bei der Verteidigung der Freiheit Westberlins zu wahren.5
Trotz der negativen Entwicklung der Beziehung zu Moskau, argumentierte Thompson ferner, habe Chruschtschow weder den Wunsch ganz aufgegeben, mit dem Westen ins Geschäft zu kommen, noch habe er sich von der außenpolitischen Doktrin der friedlichen Koexistenz verabschiedet. Thompson fürchtete häufig, dass er von seinen Kritikern in Washington als Verteidiger Chruschtschows abgestempelt wurde, erklärte jedoch, dass der Sowjetführer nicht die Konfrontation mit dem Westen in der Dritten Welt initiiert, sondern sich lediglich amerikanische Rückschläge in Kuba, Laos, im Irak und Kongo zunutze gemacht habe.
Aber für Kennedy stand zu viel auf dem Spiel, um einem solchen Gipfeltreffen ohne Vorbedingungen zuzustimmen, die etwas sorgfältiger die sowjetischen Intentionen ausloten und weitere außenpolitische Pannen verhindern würden. Über diplomatische Sondierungen wollte Kennedy herausfinden, ob Chruschtschow wirklich an einer Verbesserung der Beziehungen gelegen war.
Nach einem Tag reiflicher Überlegungen antwortete Kennedy zurückhaltend über seinen Außenminister auf Thompsons Telegramm. Rusk informierte den Botschafter, dass der US-Präsident »immer noch den Wunsch habe«, sich mit dem Parteichef zu treffen, und hoffe, dass dies Anfang Juni in Wien möglich sei – an dem von den Sowjets bevorzugten Ort. Kennedy bedaure jedoch, dass er momentan keine feste Zusage geben könne, werde dies aber noch vor Chruschtschows Rückkehr nach Moskau am 20. Mai tun.6
Es folgten die Bedingungen.
Vor allen Dingen sollte Thompson, telegrafierte Rusk, Chruschtschow zu verstehen geben, dass die Aussichten für ein Gipfeltreffen nicht sonderlich gut seien, falls die Sowjets nicht ihre Haltung in dem aktuellen Konflikt in Laos änderten. Die Genfer Verhandlungen würden in der kommenden Woche beginnen, Kennedy wolle den Krieg beenden und ein neutrales Laos befürworten. Aber die Sowjets hätten in Genf gemauert, während sich die Kämpfe ausweiteten.
Der Sondergesandte Averell Harriman, der die amerikanische Delegation in Genf leitete, hatte Kennedy gemeldet, er zweifle daran, dass Chruschtschow bereit sei, ein neutrales Laos zu akzeptieren, weil die »Kommunisten in Genf vor Zuversicht strotzen und sich anscheinend völlig sicher sind, dass sie ihre Ziele in Laos erreichen werden«. Die Sowjets würden, so Harriman, geschickt manövrieren, um die Vereinigten Staaten in die inakzeptable Lage zu bringen, an der Konferenz teilnehmen zu müssen, ohne dass überhaupt ein Waffenstillstand erreicht worden war – nicht gerade die Handlungsweise eines Landes, das ein Gipfeltreffen hilfreich unterstützen würde.7
Abgesehen davon teilte Rusk Thompson mit, der Präsident wünsche »aus innenpolitischen Gründen«, dass Chruschtschow zumindest in Aussicht stelle, während der Gespräche in Wien auf Kennedys Ziel eines Verbots von Kernwaffentests hinzuarbeiten. Darüber hinaus erwarte der Präsident die Versicherung, dass eine öffentliche Erklärung in Wien auf keinen Fall einen Hinweis auf Berlin enthalten werde, weil er nicht bereit sei, über diese Angelegenheit zu verhandeln.8
Drei Tage danach lancierte Präsident John F. Kennedy dieselbe Botschaft probeweise über seinen Bruder, als Robert Kennedy mit Bolschakow im Unterhemd in seinem Büro im Justizministerium saß.
Es passte Bolschakow gut, dass Bobby sich den 9. Mai, einen staatlichen Feiertag in Moskau, für ihr erstes heimliches Treffen ausgesucht hatte. In Washington war es zwar ein gewöhnlicher Werktag, aber die Belegschaft der sowjetischen Botschaft hatte an diesem Tag frei, um den 16. Jahrestag des Siegs über die Nazis zu feiern. Das erleichterte es Bolschakow erheblich, selbst vor seinen engsten Kameraden den ultrageheimen Kanal zu Präsident Kennedy zu verbergen, den er etabliert hatte.9
Schon indem dieser Kontakt überhaupt zustande kam, hatte Bolschakow den Widerstand seines unmittelbaren Vorgesetzten ignoriert, des Stationschefs oder »Residenten« für den sowjetischen Militärgeheimdienst GRU an der Botschaft. Für Bolschakows Chef war es undenkbar, dass ein mittlerer sowjetischer Agent den allerwichtigsten amerikanisch-sowjetischen Nachrichtenkanal einrichten durfte, den man sich nur vorstellen konnte. Bei den Treffen mit Robert Kennedy setzte sich Bolschakow mit einem Mann in Verbindung, der zugleich der Bruder des Präsidenten, sein engster Vertrauter und Justizminister war und in dieser Funktion sämtliche Spionageabwehraktivitäten des FBI überwachte.
Das nötige Selbstvertrauen, eine Mission auf so hoher Ebene zu übernehmen, schöpfte Bolschakow aus der Sanktionierung durch den Parteichef persönlich über seinen Schwiegersohn Alexej Adschubej, den Chefredakteur der Zeitung Iswestija und ein Freund Bolschakows. Adschubej hatte Chruschtschow seinen Freund als einen Mann empfohlen, der ihn beraten konnte, als der Parteichef im Jahr 1959 seine erste Amerika-Reise plante. (Noch kurz davor hatte Bolschakow loyal Marschall Georgij Schukow gedient, dem hochdekorierten Kriegshelden und Verteidigungsminister, den Chruschtschow ausgemustert hatte.)10
Es folgte die Versetzung Bolschakows in die Vereinigten Staaten, getarnt als Nachrichtenoffizier der Botschaft und Chefredakteur der englischsprachigen Propagandazeitschrift USSR. Das war Bolschakows zweiter Aufenthalt in Washington, nach dem ersten von 1951 bis 1955 in der Tarnung eines Korrespondenten der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS.
Für einen Mantel-und-Degen-Akteur war Bolschakow in Washington außergewöhnlich gefragt als Lieblingssowjetbürger der High Society. Er war ein kontaktfreudiger, trinkfester Lebemann mit einem schwarzen Haarschopf, stechenden blauen Augen und charmantem russischem Akzent. Zu seinen Freunden und Bekannten zählten etliche Insider aus Kennedys engerem Kreis: Ben Bradlee, Chefredakteur der Washington Post, der Reporter Charles Bartlett, der den Präsidenten mit seiner Frau Jacqueline bekannt gemacht hatte, Kenny O’Donnell, der Stabschef des Präsidenten, sein Sonderberater Ted Sorensen und sein Pressesprecher Pierre Salinger.
Der allerwichtigste Kanal Bolschakows zu Kennedy war jedoch Frank Holeman gewesen, ein Washingtoner Journalist, der einst Nixon nahegestanden hatte und jetzt versuchte, sich bei der Kennedy-Administration einzuschmeicheln. Der Zwei-Meter-Mann mit Südstaatenakzent, Bassstimme und unverzichtbarer Fliege und Zigarre wurde von Kollegen »der Colonel« genannt. Obwohl er erst vierzig war, gehörte er gewissermaßen zum festen Washingtoner Inventar, nachdem er den Präsidenten Roosevelt, Truman, Eisenhower und jetzt Kennedy gedient hatte. Er wusste genau, dass in Washington alles über Kontakte lief, und er hatte überall seine Leute.11
Bolschakow hatte Holeman seit ihrer Begegnung im Jahr 1951 bei einem Bankett an der sowjetischen Botschaft zu Ehren des amerikanischen Korrespondenten als einen unbezahlten Informanten behandelt. Holeman hatte sich beim Kreml lieb Kind gemacht, indem er einen Versuch des National Press Club blockierte, sowjetische Journalisten von der Mitgliedschaft auszuschließen, der als Reaktion auf die Verhaftung des gesamten Büros von Associated Press in Prag erfolgt war. Später erklärte Holeman diesen Schritt mit dem Scherz, dass der Club ein Ort sein solle, an dem alle Parteien »ihre Lügen austauschen« könnten. Anschließend setzte er sich noch stärker für die Sowjets ein, indem er einem neuen sowjetischen Pressemitarbeiter die Mitgliedschaft verschaffte, einem Menschen, der aller Wahrscheinlichkeit nach ein Spion war.12
Als Bolschakow 1955 nach Moskau zurückkehrte, gab er den Kontakt zu Holeman an seinen GRU-Nachfolger Jurij Gwosdew ab, der als Kulturattaché getarnt war. Gwosdew hatte über Holeman, der sich selbst einmal die sowjetische »Brieftaube« nannte, eine wichtige Botschaft weitergeleitet: nämlich dass die Eisenhower-Administration auf Chruschtschows Berlin-Ultimatum vom November 1958 nicht überreagieren solle, weil Chruschtschow wegen Berlin niemals einen Krieg riskieren würde. Über Holeman trug Gwosdew auch dazu bei, das Fundament für Nixons anschließenden Besuch in der Sowjetunion zu legen, indem er die Bedingungen aushandelte.13
Im Jahr 1959 löste Bolschakow dann Gwosdew ab und nahm wiederum selbst Kontakt zu Holeman auf. Die beiden schlossen eine so enge Freundschaft, dass sie häufig auch gemeinsam mit ihren Familien etwas unternahmen. 14 Wie der Zufall es wollte, war Holeman seit einigen Jahren ein guter Freund von Ed Guthman, dem Pressesprecher des neuen Justizministers, dem er die interessantesten Aspekte seiner Gespräche mit Bolschakow anvertraute. Guthman hatte wiederum den Kern dieser Informationen an Robert Kennedy weitergeleitet. Mit Guthmans Erlaubnis brachte Holeman am 29. April die Möglichkeit eines Treffens ins Gespräch, als er Bolschakow fragte: »Meinen Sie nicht, dass es besser wäre, wenn Sie sich direkt mit Robert Kennedy träfen, damit er Ihre Informationen aus erster Hand erhält?«15
Zehn Tage und unzählige Gespräche später merkte Bolschakow, dass etwas im Busch war, als Holeman ihn fragte, ob er ihn zu einem »späten Mittagessen« gegen 16 Uhr begleiten wolle.
»Warum so spät?«, fragte Bolschakow.
Holeman erklärte, er habe im Laufe des Tages schon mehrmals versucht, ihn zu erreichen, doch der diensthabende Mitarbeiter habe ihm gesagt, Bolschakow sei in der Druckerei, um die neue Ausgabe seiner Zeitschrift fertigzustellen.
Nicht lange danach, kaum dass sie sich in die Ecke eines gemütlichen, aber unscheinbaren Restaurants in Georgetown gesetzt hatten, blickte Holeman auf seine Uhr. Auf Bolschakows Frage, ob er denn schon gehen müsse, erwiderte Holeman: »Nein, wir müssen beide gehen. Sie haben um sechs eine Verabredung mit Robert Kennedy.«
»Verdammt«, sagte Bolschakow und sah sich seinen alten Anzug und die abgetragenen Manschetten an. »Warum haben Sie mir das nicht früher gesagt?«
»Haben Sie Angst?«, fragte Holeman.
»Keine Angst, aber ich bin auf ein solches Treffen nicht vorbereitet.«
»Sie sind immer vorbereitet.« Holeman grinste.
Im Justizministerium vertraute Bobby dem sowjetischen Agenten dann an, sein Bruder sei besorgt, dass die Spannung zwischen den beiden Ländern zum großen Teil auf eine Fehlinterpretation der jeweiligen Intentionen und Aktionen zurückzuführen sei. Durch die Erfahrung in der Schweinebucht habe sein Bruder gelernt, wie gefährlich es sei, aufgrund von falschen Informationen zu handeln. Bobby sagte Bolschakow, sein Bruder habe nach der Schweinebucht einen Fehler gemacht, als er nicht sofort die ranghohen Mitarbeiter entließ, die für die Operation verantwortlich waren.16
»Die amerikanische Regierung und der Präsident«, sagte Robert Kennedy, »befürchten, dass die sowjetische Führung die Fähigkeiten der US-Regierung und des Präsidenten selbst unterschätzt.« Die Botschaft, die Bolschakow dem Kreml übermitteln sollte, war klar: Wenn Chruschtschow versuchen sollte, die Entschlossenheit seines Bruders auf die Probe zu stellen, dann blieb dem Präsidenten nichts anderes übrig, als »korrigierende Maßnahmen zu ergreifen« und gegenüber Moskau einen härteren Kurs zu fahren.17
Robert Kennedy sagte zu Bolschakow: »Derzeit gilt unsere Hauptsorge der Lage in Berlin. Die Bedeutung dieses Themas mag nicht jedem ersichtlich sein. Der Präsident glaubt, dass weitere Missverständnisse bei unseren Einschätzungen zu Berlin einen Krieg herbeiführen könnten.« Aber gerade wegen der Komplexität der Lage, fügte Robert Kennedy hinzu, wolle der Präsident auf keinen Fall, dass sich das Gipfeltreffen in Wien auf eine Angelegenheit konzentriere, in der es so außerordentlich schwierig sei, Fortschritte zu erzielen.
Vielmehr wünsche sich der Präsident, vertraute Bobby Bolschakow an, dass Chruschtschow und er das Treffen als eine Gelegenheit nutzten, sich besser kennen zu lernen, sich persönlich näherzukommen und einen Kurs für die weitere Entwicklung ihrer Beziehung abzustecken. Er wolle konkrete Vereinbarungen zu Themen wie dem Atomteststopp erreichen. Im Fall Berlins hingegen halte er es für das Beste, wichtige diplomatische Schritte hinauszuschieben, bis beide Seiten mehr Zeit hätten, sich die Angelegenheit gründlich zu überlegen.
Für einen Mann, der nur wenige Stunden zuvor von dem Treffen erfahren hatte, wirkte der sowjetische Agent gut vorbereitet. Falls sich die amerikanischen und sowjetischen Staatschefs träfen, sagte Bolschakow, werde Chruschtschow »substanzielle« Zugeständnisse bei den Atomtests in Erwägung ziehen und darüber hinaus Fortschritte im Laos-Konflikt anbieten. Robert Kennedys eindringliche Forderung, Berlin aus sämtlichen Entscheidungen des Gipfels auszuklammern, kommentierte Bolschakow nicht direkt, was Bobby möglicherweise fälschlich als Einverständnis interpretierte.
Von Bolschakows Antwort ermutigt, umriss Robert Kennedy eine potenzielle Einigung in der Frage der Atomtests. Die beiden Länder hatten seit 1958 auf unteren Ebenen miteinander verhandelt, waren aber immer wieder an der Frage der Verifizierung gescheitert. Die Vereinigten Staaten hatten erfolglos das Recht gefordert, Anlagen in der Sowjetunion zu inspizieren. Bobby präsentierte ein unilaterales Zugeständnis, nach dem die Vereinigten Staaten die Zahl der Inspektionen auf dem jeweiligen Territorium, die eine seismische Tätigkeit untersuchen sollten, von zwanzig auf zehn halbierte. Voraussetzung für dieses Abkommen sei allerdings, so Bobby, dass keine Seite ein Veto gegen die Schaffung einer internationalen Kommission einlege, die Beschwerden überprüfen konnte.18
Hinter Robert Kennedys Vorschlag verbarg sich die wachsende Angst der Amerikaner, dass die Sowjets unterirdisch so tiefe und große Löcher bohrten, dass sie unbemerkt Waffen testen konnten.19 Moskau hatte sich bislang jedoch nur bereit erklärt, höchstens drei Inspektionen jährlich zu akzeptieren. Darüber hinaus wünschte Moskau, dass jede Überprüfung von einer »Troika«, einem Dreierteam aus Vertretern des sowjetischen Blocks, des kapitalistischen Westens und der Dritten Welt, vorgenommen wurde. US-Unterhändler hatten diese Regelung abgelehnt, weil sie dem sowjetischen Vertreter de facto ein Vetorecht eingeräumt hätte. Robert Kennedy sagte: »Der Präsident möchte nicht das traurige Erlebnis von Chruschtschows Begegnung mit Eisenhower in Camp David wiederholen und hofft, dass das kommende Treffen konkrete Vereinbarungen bringen wird.«20
Da er die Rolle des Bittstellers spielte, sagte Bolschakow nichts, was den Justizminister glauben lassen könnte, die Bedingungen des US-Präsidenten seien für Chruschtschow inakzeptabel. Die Sache hatte nur einen Haken: Bolschakow war lediglich ein Überbringer von Nachrichten, der Chruschtschows Denken längst nicht so gut kannte wie Bobby das seines Bruders.
Der Kontakt zwischen Bolschakow und Robert Kennedy war für die Vereinigten Staaten mit enormen und vielfältigen Risiken verbunden. Bolschakow konnte, ohne es zu wissen, im Namen Moskaus ein falsches Spiel spielen, während es im Fall Bobbys viel unwahrscheinlicher war, dass er eine Desinformationskampagne betrieb. Selbst wenn er es versucht hätte, so hätte er nicht die nötige Erfahrung in solchen Dingen gehabt. Abgesehen davon wurde Bolschakow so gut wie sicher von FBI-Agenten beschattet. Meldungen der Agenten vor Ort über die Treffen steigerten möglicherweise das Misstrauen, das FBI-Chef J. Edgar Hoover ohnehin gegenüber den Kennedys hegte.
Schließlich war Bolschakow im Gegensatz zu Robert Kennedy überhaupt nicht befugt, irgendeinen Handel abzuschließen. Und weil John F. Kennedy die Kontakte selbst vor seinen höchsten Kabinettsmitgliedern bis nach dem Gipfeltreffen in Wien geheim hielt, hatte er kein unabhängiges Mittel, Bolschakows Zuverlässigkeit zu überprüfen. Moskau hatte nicht nur die Kontrolle darüber, welche Themen Bolschakow erörtern durfte, es legte auch genau fest, in welcher Weise er darüber sprach. Wenn Robert Kennedy die Rede auf eine Angelegenheit brachte, auf die Bolschakow nicht vorbereitet war, erwiderte der sowjetische Agent, dass er darüber nachdenken und später auf den Justizminister wieder zukommen werde.
Die wichtigsten Punkte, die Bolschakow aus dem ersten Treffen mit Robert Kennedy melden konnte, waren die Bereitschaft des Präsidenten zu einem Gipfeltreffen, seine Angst, der sowjetische Führer könne ihn für schwach halten, seine Abneigung, über den Status von Berlin zu verhandeln, und sein dringender Wunsch, einen Atomteststopp zu erreichen. Robert Kennedy hingegen war nach dem ersten Kontakt außerstande, seinem Bruder irgendwelche neuen Erkenntnisse über Chruschtschow zu berichten. Gleichzeitig gewann er gar den falschen Eindruck, dass Chruschtschow bereit sei, die Bedingungen seines Bruders zu akzeptieren.
Nach einem fünfstündigen Gespräch ließ Bobby Bolschakow nach Hause fahren. Da er vor Aufregung nicht schlafen konnte, blieb der sowjetische Funktionär die ganze Nacht auf, bevor er am nächsten Morgen in aller Frühe einen vollständigen Bericht nach Moskau telegrafierte. Über Bolschakow wusste Chruschtschow genau Bescheid, was sich Kennedy von einem Gipfeltreffen erhoffte und welche Befürchtungen er hatte. Umgekehrt hatte der Agent den Präsidenten in der Frage, was die sowjetische Seite zu akzeptieren bereit sei, de facto in die Irre geführt.
MOSKAU
FREITAG, 12. MAI 1961
Da Chruschtschow unbedingt eine feste Zusage zu einem Gipfeltreffen in Wien wollte, entsprach er prompt Kennedys Wunsch nach vertrauensbildenden Maßnahmen.
In Genf einigten sich sowjetische Unterhändler im Laos-Konflikt mit britischen Vertretern auf eine Formel, um die drohende Krise zu entschärfen. Das Ergebnis sollte eine Vierzehn-Nationen-Konferenz zu Laos in Genf sein, mit dem Ziel, die Feindseligkeiten zu beenden und ein neutrales Laos zu schaffen.21
Am selben Tag hielt Chruschtschow in Tiflis, in der Sowjetrepublik Georgien, eine Rede, die hohe Vertreter des State Department als die gemäßigtste sowjetische Stellungnahme zu den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen seit dem U-2-Zwischenfall im vergangenen Mai werteten. Mit ähnlichen Floskeln, die der Parteichef schon bei der Annahme der Einladung Kennedys verwendet hatte, erklärte er: »Obwohl Präsident Kennedy und ich Menschen von verschiedenen Polen sind, leben wir auf derselben Erde. Wir müssen in bestimmten Fragen eine gemeinsame Sprache finden.«22
An diesem Tag schickte Chruschtschow auch einen Brief an John F. Kennedy, in dem er die fast zwei Monate alte Einladung annahm, ein Gipfeltreffen zu veranstalten. In seinem Brief erwähnte er mit keinem Wort ein Atomtestverbot, streifte allerdings Themen wie Laos, wo sie möglicherweise Fortschritte erzielen könnten. Aber Chruschtschow war nicht bereit, Berlin auszuklammern. Er sagte, er strebe keineswegs unilateral einen Vorteil in der geteilten Stadt an, sondern wolle mithilfe des Treffens einen »gefährlichen Konfliktherd in Europa« beseitigen.23
Jetzt war Kennedy am Zug.
WASHINGTON,
D.C.
SONNTAG, 14. MAI 1961
Da der US-Präsident nicht den Eindruck erwecken wollte, er habe es eilig, ließ er sich mit der Antwort zwei Tage Zeit. Er bedauerte es, dass Chruschtschow den Atomteststopp nicht angesprochen hatte und darauf beharrte, über Berlin zu sprechen. Der Brief des Parteichefs wich weit von den Bedingungen Kennedys ab, die Robert Kennedy Bolschakow mitgeteilt hatte. Bei allen Risiken sah Kennedy dennoch keine andere Möglichkeit, als dem Treffen zuzustimmen.
Chruschtschows Rede in Tiflis und seine Gesten zum Laos-Konflikt waren zumindest ermutigend. Da aber eines der möglicherweise entscheidenden Treffen seit dem Zweiten Weltkrieg bereits in knapp einem Monat stattfinden würde, blieb beiden Seiten kaum noch Zeit, um eine Einigung über das zu erzielen, was Diplomaten die »Wunschziele« des Gipfels nannten. Alte Hasen werteten die Eile des Präsidenten als ruhelos und naiv.
John F. Kennedy schickte seinen engsten Verbündeten Telegramme und informierte sie über das bevorstehende Gipfeltreffen, weil er wusste, dass insbesondere die Deutschen und die Franzosen seinen Plan überaus skeptisch beurteilten. Dem misstrauischen Adenauer schrieb er: »Ich nehme an, Sie teilen meine Meinung, dass ein solches Treffen in der gegenwärtigen internationalen Lage hilfreich wäre, weil ich Chruschtschow noch nicht persönlich kennen gelernt habe. Wenn das Treffen tatsächlich stattfindet, werde ich Sie über den Inhalt der Gespräche mit Chruschtschow informieren, die, wie ich vermute, eher allgemein sein werden.«24
Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren, weil alle wussten, dass es ein historisches Treffen sein würde – der erste derartige Gipfel des Fernsehzeitalters. Trotz der Anstrengungen Kennedys, das Thema Berlin zu meiden, hatte sich sein außenpolitisches Team inzwischen damit abgefunden, dass eben diese Frage das erste Amtsjahr des Präsidenten weit stärker prägen würde als Kuba, Laos, das Verbot von Kernwaffentests oder irgendein anderes Thema.
Am 17. Mai formulierte Henry Owen, ein Mitglied des politischen Planungsstabs im US-Außenministerium, den wachsenden Konsens der US-Regierung: »Von allen Problemen, mit denen die Regierung konfrontiert ist, scheint mir Berlin das unheilvollste.«25 Er schlug vor, im Haushaltsjahr 1963 mehr Geld in das Budget für konventionelle Waffen und die Verteidigung Europas einzustellen, »um unsere Fähigkeit zu steigern, mit einer Berlin-Krise fertigzuwerden – und sie so womöglich abzuwenden«.26
Zwei Tage später, am 19. Mai, gab die Kennedy-Administration offiziell bekannt, was die Zeitungen schon seit Tagen meldeten: Der US-Präsident wird sich am 3./4. Juni in Wien mit Chruschtschow treffen.
Westeuropäische und amerikanische Kommentatoren fürchteten, dass ein geschwächter Präsident mit einem gewissen Handikap nach Wien fahre.27 Die Wochenzeitung Die Zeit verglich Kennedy mit einem »Kaufmann, dessen Firma in Schwierigkeiten geraten ist und der nun mit der Konkurrenz verhandeln soll«.28 In einem Überblick über die europäische Meinung schrieb das Wall Street Journal, Kennedy erwecke »stark den Eindruck […] eines taumelnden Amerika, das verzweifelt versucht, im Kalten Krieg die Führung des Westens zurückzugewinnen«.29 Die Neue Zürcher Zeitung bedauerte, dass der Gipfel von den Amerikanern schlecht vorbereitet worden und Kennedy von der Vorbedingung abgerückt sei, der Kreml müsse vor einem solchen Treffen einen deutlichen Kurswechsel signalisieren.
Obwohl Wien im Prinzip neutraler Boden war, hielten europäische Diplomaten Österreich dennoch für viel näher an der russischen Einflusssphäre als die Alternative Stockholm.30 Somit entstehe der Eindruck, Kennedy werde sich sowohl am Ort als auch zum Zeitpunkt von Chruschtschows Wahl mit dem sowjetischen Staatschef treffen, kommentierte die Neue Zürcher Zeitung. Ein angeschlagener US-Präsident versuche in aller Eile, seine Bündnispartner ins Boot zu holen, und komme schwach nach Österreich, um den mächtigen russischen Führer persönlich zu treffen.31
OSTBERLIN
FREITAG, 19. MAI 1961
Da er Rückenwind spürte, wagte der ostdeutsche Staatschef Walter Ulbricht ein forscheres Vorgehen in Berlin. Der sowjetische Botschafter in der DDR, Michail Perwuchin, beklagte sich bei Außenminister Gromyko, dass Ulbricht, ohne Genehmigung des Kremls, über verstärkte Ausweiskontrollen von Zivilisten den Druck auf Westberlin erhöhe.
»Unsere Freunde«, sagte der Botschafter und gebrauchte die in Moskau übliche Bezeichnung für die ostdeutschen Verbündeten, »möchten jetzt über die Sektorengrenze zwischen dem demokratischen Berlin und Westberlin eine Kontrolle verhängen, die es ihnen ermöglicht, ›das Tor zum Westen zu schließen‹, wie sie es nennen, den Bevölkerungsaderlass der Republik zu reduzieren und die Aktionen wirtschaftlicher Diversion gegen die DDR zu schwächen, die unmittelbar von Westberlin ausgehen.« Er berichtete ferner, dass Ulbricht entgegen der sowjetischen Linie die Sektorengrenze Berlins abschotten wolle.32
Chruschtschow fürchtete, Ulbricht könnte den Bogen überspannen, sodass die Amerikaner den Gipfel womöglich absagten. Er forderte Perwuchin deshalb auf, seinen immer ungeduldigeren und anmaßenderen ostdeutschen Vasallen in die Schranken zu weisen.
WASHINGTON,
D.C.
SONNTAG, 21. MAI 1961
Präsident John F. Kennedy fürchtete seinerseits allmählich, dass er im Begriff war, den Sowjets in die Falle zu gehen.
Zwei Wochen vor dem Gipfeltreffen setzte sich Robert Kennedy erneut mit Bolschakow in Verbindung, diesmal an einem Sonntag, einem Zeitpunkt, zu dem ihr Treffen weniger Aufsehen erregte. Der Justizminister lud den sowjetischen Agenten zu einem zweistündigen Gespräch nach Hickory Hill, seinem Landsitz in McLean, Virginia, ein.33
Bolschakow legte die sowjetische Haltung dar, nachdem er vor dem Treffen routiniert eine fünfseitige detaillierte Instruktion auswendig gelernt hatte. Er hatte ein bemerkenswertes Gedächtnis, und mit seiner ungezwungenen Art überspielte er die Tatsache, dass die Rolle, als Nachrichtenkanal zu dienen, für ihn immer noch ungewohnt war.
Robert Kennedy machte deutlich, dass er im Namen des Präsidenten sprach. Er ermahnte Bolschakow, ihn nur von einem Münzfernsprecher aus anzurufen, wenn er mit ihm Kontakt aufnahm, und nur seiner Sekretärin und seinem Pressesprecher Ed Guthman seinen Namen zu nennen. Wenn Bolschakow nicht das Risiko eingehen wolle, selbst anzurufen, werde Holeman das für ihn übernehmen. Und zu Guthman sagte er: »Mein Mann möchte deinen Mann treffen.« Bobby unterrichtete Bolschakow, dass nur sein Bruder über die Treffen informiert sei und dass dieser sie billige.34
Im Gegensatz dazu war Bolschakows Rolle inzwischen einem größeren Kreis von sowjetischen Funktionären mitgeteilt worden. Der militärische Nachrichtendienst GRU leitete sämtliche Berichte Bolschakows an Anatolij Dobrynin weiter, den Angestellten des Außenministeriums, der die Gruppe der sowjetischen Berater für die Wiener Gipfelgespräche leitete. Ein Moskauer Vorgesetzter Bolschakows schrieb verblüfft über das Treffen vom 21. Mai mit Robert Kennedy: »Die Situation, dass sich ein Mitglied der US-Regierung mit unserem Mann trifft, noch dazu geheim, ist absolut einmalig.« Moskau schickte Instruktionen an die Botschaft und an seine Geheimdienstmitarbeiter, damit die Treffen weiterhin vor der amerikanischen Presse und dem FBI geheim gehalten würden.35
Robert Kennedy teilte Bolschakow mit, er sei darüber enttäuscht, dass Chruschtschow in seinem Brief an den US-Präsidenten nicht ausführlicher auf die Möglichkeit eines Atomteststopps eingegangen sei. Er bot Bolschakow ein Zugeständnis an: Washington würde das Inspektoren-Dreierteam akzeptieren, das der Kreml wünschte (je ein Vertreter des sowjetischen, des westlichen Blocks und der blockfreien Länder), dafür dürfe Russland kein Veto gegen den Ort einlegen, der inspiziert werden sollte.
Bolschakow ließ Bobby in dem Glauben, dass er mehr Verhandlungsspielraum habe, als es in Wirklichkeit der Fall war. Er gab an, die Sowjets würden fünfzehn unbemannte seismische Stationen auf sowjetischem Boden akzeptieren, was den von den Amerikanern geforderten neunzehn bereits näher kam.
Da er ein engeres Band zu Chruschtschow knüpfen wollte, sagte Robert Kennedy, er und sein Bruder seien sich im Prinzip mit den Sowjets in der in ihren Augen historischen Deutschland-Frage einig und in ihrer Angst vor deutschen Revanchisten. Er sagte, der Präsident teile die Furcht der Sowjets vor der Vorstellung eines atomar bewaffneten Deutschland, das versuche, seine östlichen Gebiete zurückzugewinnen. »Mein Bruder hat sie als Feinde bekämpft«, sagte Bobby zu Bolschakow. Die beiden Seiten seien sich lediglich in den Methoden uneinig.
Bolschakow und Robert Kennedy setzten ihre Treffen bis knapp eine Woche vor dem Wiener Gipfel fort. Womöglich dauerte es deshalb nur einen Tag, bis Moskau auf Präsident John F. Kennedys Wunsch antwortete, die beiden Staatschefs sollten auf dem Gipfeltreffen mehr Vier-Augen-Gespräche vorsehen, lediglich in Anwesenheit der Dolmetscher.
Allerdings signalisierte Chruschtschow erst zwei Tage nach dem letzten Bolschakow-Treffen vor dem Gipfel so unmissverständlich wie noch nie, dass er fest entschlossen war, über Berlins Zukunft zu verhandeln.
Zu diesem Zweck nutzte er den offiziellen Kanal über US-Botschafter Thompson in Moskau. Er wollte keine Missverständnisse aufkommen lassen, wie sehr ihm dieses Thema am Herzen lag.
SPORTPALAST,
MOSKAU
DIENSTAG, 23. MAI 1961
Wie der Zufall es wollte, stellte Chruschtschow in derselben Sporthalle klar, dass er in der Berlin-Frage eine Entscheidung herbeiführen wolle, in der er zweieinhalb Jahre zuvor, 1958, vor polnischen Kommunisten die Berlin-Krise heraufbeschworen hatte.
Nur wenige Minuten nach Botschafter Thompsons Ankunft mit seiner Frau in Chruschtschows VIP-Loge zu einer Gastvorstellung der amerikanischen Eisrevue »Ice Capades« brummte Chruschtschow, er habe schon so viele Eisrevuen gesehen, dass es für ein ganzes Leben reiche. Deshalb geleitete er Thompson in ein separates Zimmer zum Essen und erklärte ihm, die Einladung sei im Grunde nur ein Vorwand gewesen, um über Wien zu sprechen.
Obwohl er sich keine Notizen machte, hatte Thompson keine Schwierigkeiten, sich danach in einem Telegramm nach Washington die Einzelheiten des Gesprächs in Erinnerung zu rufen. Vor dem Hintergrundlärm der amerikanischen Musik, der übers Eis gleitenden Schlittschuhe und des Zuschauerbeifalls übermittelte Chruschtschow eine unmissverständliche Botschaft: Ohne eine neue Einigung in der Berlin-Frage, teilte er Thompson mit, werde er unilateral bis zum Herbst oder Winter Maßnahmen ergreifen, um den Ostdeutschen die volle Kontrolle über die Stadt zu übertragen und sämtlichen Besatzungsrechten der Alliierten ein Ende zu setzen.36
Verächtlich schob Chruschtschow Kennedys Äußerungen über die nukleare Abrüstung beiseite, weil sie, so sagte er, unmöglich sei, solange das Problem Berlin existiere. Falls die Vereinigten Staaten Gewalt einsetzten, um die sowjetischen Ziele in Berlin zu stören, dann werde darauf mit Gewalt geantwortet. Wenn sie einen Krieg wollten, würden sie ihn bekommen. Thompson hatte dieses Säbelrasseln schon früher bei Chruschtschow festgestellt, aber nur wenige Tage vor dem Gipfeltreffen in Wien klang es wesentlich beunruhigender.
Chruschtschow zuckte mit den Schultern und erklärte, dass er keinen Krieg erwarte. »Nur ein Geisteskranker würde einen Krieg wollen, und die westlichen Staatschefs sind nicht geisteskrank, wenngleich Hitler geisteskrank war«, sagte er. Chruschtschow schlug mit der Faust auf den Tisch und sprach über die Schrecken des Kriegs, die er sehr gut kannte. Er konnte nicht glauben, dass Kennedy wegen Berlin eine solche Katastrophe herbeiführen werde.
Thompson konterte mit dem Hinweis, dass Chruschtschow, nicht Kennedy, die Gefahr eines Kriegs heraufbeschwöre, indem er drohe, die Lage in Berlin zu ändern.
Das möge zwar stimmen, räumte Chruschtschow ein, aber falls Feindseligkeiten ausbrechen sollten, dann wären es die Amerikaner, nicht die Sowjets, die die Grenze Ostdeutschlands überschreiten müssten, um Berlin zu verteidigen, und auf diese Weise würden sie einen Krieg beginnen.
Immer wieder erklärte Chruschtschow während des Essens, dass der Sieg im Zweiten Weltkrieg nunmehr sechzehn Jahre zurückliege und es an der Zeit sei, den Besatzungsstatus Berlins zu beenden. Chruschtschow erinnerte Thompson daran, dass er in seinem ersten Berlin-Ultimatum eine Frist von sechs Monaten gesetzt hatte. »Inzwischen sind dreißig Monate vergangen«, gab er wütend auf Thompsons Anregung zurück, dass man den derzeitigen Status quo in Berlin doch beibehalten könne. Die Vereinigten Staaten würden versuchen, dem Ansehen der Sowjetunion zu schaden, konterte Chruschtschow, und das könne man nicht länger dulden.
Thompson räumte ein, dass die Vereinigten Staaten Chruschtschow nicht daran hindern könnten, einen Friedensvertrag mit der DDR zu unterzeichnen, die entscheidende Frage sei jedoch, ob der sowjetische Führer diese Gelegenheit dazu nutzte, den amerikanischen Zugang zu Berlin zu beeinträchtigen. Während Chruschtschow einen Versuchsballon startete, um zu sondieren, ob er in Wien einen härteren Kurs hinsichtlich Berlins fahren konnte, lotete Thompson aus, wie Kennedys Antwort aussehen sollte.
Thompson erklärte ebenfalls, bei dem amerikanischen Engagement in Berlin stehe das weltweite Ansehen der Vereinigten Staaten auf dem Spiel. Überdies fürchte Washington, dass Westdeutschland und Westeuropa als Nächste fallen würden, falls man dem sowjetischen Druck nachgeben und Berlin opfern sollte. »Der psychologische Effekt wäre katastrophal für unsere Position«, sagte er Chruschtschow.
Chruschtschow schnaubte verächtlich über Thompsons Worte und wiederholte, was schon zu einer Art Mantra geworden war: Berlin hatte in Wirklichkeit sowohl für Amerika als auch für die Sowjetunion keine große Bedeutung, warum machten sie beide also so viel Aufhebens um die Veränderung des Status?
Wenn Berlin wirklich so unbedeutend wäre, gab Thompson zurück, dann würde Chruschtschow kaum ein so großes Risiko eingehen, um in der Stadt die Oberhand zu erlangen.
Darauf lancierte Chruschtschow den Vorschlag, den er auch in Wien vorbringen wollte: Nichts würde die Vereinigten Staaten daran hindern, weiterhin Truppen in der »freien Stadt« Westberlin zu unterhalten. Es würde sich lediglich ändern, dass Washington künftig diese Rechte mit der DDR aushandeln müsse.
Thompson hakte nach und wollte wissen, welche Aspekte des Problems Chruschtschow denn am stärksten beunruhigten. Er ließ durchblicken, dass es womöglich das Flüchtlingsproblem sei. Chruschtschow tat diese Vorstellung jedoch mit einer Handbewegung ab und erklärte schlicht: »Berlin ist eine schwärende Wunde, die entfernt werden muss.«
Chruschtschow sagte Thompson, dass die deutsche Wiedervereinigung unmöglich sei und dass sie im Grunde auch niemand wünsche – weder de Gaulle noch Macmillan, ja nicht einmal Adenauer. De Gaulle habe ihm, Chruschtschow, nicht nur gesagt, dass Deutschland geteilt bleiben müsse, sondern dass man es am besten in drei Teile aufteilen sollte. Der sanfte Thompson sah keine andere Möglichkeit, als auf Chruschtschows Drohung zurückzukommen, weil er sonst missverstanden werden könnte, dass er wegen Berlin grünes Licht gegeben habe. »Falls Sie Gewalt einsetzen und unseren Zugang und die Verbindungen gewaltsam kappen sollten«, sagte Thompson, »dann werden wir auf Gewalt mit Gewalt antworten.«
Chruschtschow entgegnete darauf ruhig und mit einem listigen Lächeln, Thompson habe ihn missverstanden, er habe nicht die Absicht, Gewalt einzusetzen. Er werde lediglich den Vertrag unterzeichnen und damit die Rechte beenden, die die Vereinigten Staaten als »Bedingungen der Kapitulation« erworben hatten.37
Das spätere Telegramm Thompsons nach Washington zu dieser Kraftprobe im Sportpalast gab kaum die Bedeutung dessen wieder, was er soeben gehört hatte. In Chruschtschows Augen war dies eine Generalprobe für die bevorstehende Entwicklung der Ereignisse. Thompson hingegen spielte Chruschtschows Drohgebärde herunter. Er berichtete, der sowjetische Führer habe zum ersten Mal detailliert ein Szenario beschrieben, wie eine permanente Teilung der Stadt erfolgen könne, ohne dass die Rechte der Amerikaner beeinträchtigt würden. Thompson wiederholte seine Überzeugung, dass Chruschtschow die Berlin-Frage bis zum Parteitag im Oktober nicht forcieren werde. In Wien werde Chruschtschow, so vermutete der Botschafter, »in einer überaus freundlichen Atmosphäre die Berlin-Frage streifen«.
Dennoch schlug Thompson vor, dass Kennedy in Wien Chruschtschow eine Lösung zu Berlin vorschlug, bei der beide Seiten das Gesicht wahren konnten, weil das Problem wahrscheinlich noch im laufenden Jahr akut werden dürfte. Andernfalls liege, so Thompson, »ein Krieg in der Luft«.38
Am selben Tag erhielt Kennedy eine ganz andere Interpretation aus Berlin. Der Leiter der dortigen US-Vertretung, Diplomat E. Allan Lightner jun., sagte, Moskau könne »mit dem Status quo Berlins eine Zeitlang leben« und dass sich Chruschtschow keine Frist für ein Vorgehen gesetzt habe. Deshalb könne Kennedy, so Lightner, Chruschtschow in Wien einschüchtern, indem er unmissverständlich signalisiere, dass die Vereinigten Staaten entschlossen seien, die Freiheit der Stadt zu verteidigen, und dass »die Sowjets die Finger von Berlin lassen sollten«.
Lightner wollte sichergehen, dass Kennedy sich darüber im Klaren war, welche Konsequenzen es hätte, in Wien Schwäche zu zeigen. »Jedes Indiz, dass der Präsident bereit ist, über Interimslösungen, Kompromisse oder einen Modus Vivendi zu diskutieren«, schrieb er, »würde die Wirkung einer Warnung an Chruschtschow angesichts der finsteren Folgen einer Fehleinschätzung unserer Entschlossenheit abschwächen«.39
WASHINGTON,
D.C.
DONNERSTAG, 25. MAI 1961
Wie ein Autor, der sich die ersten unbefriedigenden Entwürfe ansieht, entschied sich Kennedy, am 25. Mai, also nur zwölf Wochen nach der ersten Rede zur Lage der Nation, eine zweite Rede zu halten, »eine Sonderansprache an die Nation zu dringenden nationalen Bedürfnissen«. Er hatte erkannt, dass er vor Wien und nach der Invasion in der Schweinebucht das Terrain bereiten musste, indem er Chruschtschow unmissverständlich seine Entschlossenheit signalisierte.
Robert Kennedy hatte auf einem der Treffen mit Bolschakow Chruschtschow vorgewarnt, dass der Wunsch des Präsidenten, eine Kooperation zu erreichen, nicht nachgelassen habe, obwohl er in seiner Rede recht scharfe Worte gebrauchen werde. Die Übermittlung durch Bolschakow schien aber nicht geeignet zu sein, um eine Botschaft der Stärke auszurichten, die ebenso sehr für die eigene Bevölkerung wie für Chruschtschow gedacht war.
Vor einer gemeinsamen Sitzung der beiden Häuser des Kongresses und vor einem landesweiten Fernsehpublikum erklärte Kennedy, dass amerikanische Präsidenten in »außergewöhnlichen Zeiten« gelegentlich in einem Jahr eine zweite Rede zur Lage der Nation gehalten hätten. Momentan sei eine solche Zeit. Da die Vereinigten Staaten für die Freiheit in der Welt verantwortlich seien, erklärte er, werde er eine »Doktrin der Freiheit« verkünden.
Die achtundvierzigminütige Rede des Präsidenten um die Mittagszeit wurde siebzehnmal von Applaus unterbrochen. Er unterstrich die Notwendigkeit einer gesunden amerikanischen Wirtschaft, und er pries das Ende der Rezession und den Beginn des Aufschwungs. Die südliche Hemisphäre nannte er die »Länder der aufstrebenden Völker« (Asien, Lateinamerika, Afrika und der Nahe Osten), wo man den Gegnern der Freiheit auf dem »größten Schlachtfeld der Welt« entgegentreten müsse.
Kennedy forderte eine Aufstockung der Verteidigungsausgaben um rund 700 Millionen Dollar, um das Militär zu vergrößern und zu modernisieren, um die Sowjets beim Wettrüsten zu überholen und den Zivilschutz mit einer Verdreifachung der Gelder für den Bau von Atomschutzbunkern zu verbessern. Er wollte 15 000 neue Marineinfanteristen einziehen und die Guerilla-Kriege in der Dritten Welt in den Brennpunkt rücken, indem er die Lieferung von Haubitzen, Hubschraubern, bewaffneten Mannschaftstransportern und kampfbereiten Reserveeinheiten erhöhte. Darüber hinaus erklärte er, dass die Vereinigten Staaten bis zum Ende des Jahrzehnts einen bemannten Raumflug zum Mond und zur Erde zurück planten. Er war fest entschlossen, diesen Wettlauf gegen die Sowjets zu gewinnen, die den ersten Satelliten und den ersten bemannten Raumflug gestartet hatten.
Nur neun Tage vor dem Gipfel in Wien lautete seine Botschaft an die Amerikaner, dass die Welt stündlich gefährlicher werde, Amerika eine weltweite Verantwortung als Verteidiger der Freiheit trage und es deshalb die erforderlichen Opfer akzeptieren müsse. Er hängte die Erwartungen für das, was man mit einem so schwierigen Gegner erreichen konnte, sehr niedrig und ging lediglich in einem Satz auf das Treffen in Wien ein.
»Es ist keine offizielle Agenda geplant, und es werden keine Verhandlungen geführt«, sagte er.40
MOSKAU
FREITAG, 26. MAI 1961
Als unmittelbare Reaktion auf Kennedys »Schuss vor den Bug«, wie Chruschtschow die Rede wertete, berief er das Gremium ein, das ihn als Parteichef am schärfsten kritisierte: das Präsidium des ZK der Kommunistischen Partei. Wie üblich signalisierte er mit der Entscheidung, den Stenografen zur Sitzung mitzubringen, den Anwesenden, dass er die Absicht hatte, etwas Wichtiges mitzuteilen. Zu den Genossen im Präsidium sagte er, Kennedy sei »ein Hurensohn«. Dennoch messe er dem Gipfel in Wien große Bedeutung bei, weil er ihn dazu nutzen wolle, eine Entscheidung in der, wie er es nannte, »deutschen Frage« herbeizuführen. Er umriss die Lösung, die er vorschlagen wollte, und hielt sich im Wesentlichen an die Worte, die er gegenüber Botschafter Thompson gebraucht hatte.41 Könnten die Schritte, die er zur Veränderung des Status von Berlin vorschlug, theoretisch einen Atomkrieg auslösen, fragte er seine Genossen in der sowjetischen Führung. Gewiss, antwortete er selbst und führte anschließend aus, warum ein solcher Konflikt seiner Meinung nach jedoch zu 95 Prozent unwahrscheinlich sei.
Unter den Parteiführern wagte nur Anastas Mikojan, dem Parteichef zu widersprechen. Er meinte, dass Chruschtschow die amerikanische Bereitschaft und Fähigkeit unterschätze, einen konventionellen Krieg um Berlin zu führen. Von den früheren Angriffen, die stärker Westdeutschland und Adenauer als Gefahr dargestellt hatten, kam Chruschtschow nunmehr ab und teilte den Anwesenden mit, dass die Vereinigten Staaten für die Sowjets das allergefährlichste Land seien. In seiner Hassliebe zu Amerika hatte er im Vorfeld des Wiener Gipfeltreffens wieder seine Vorliebe für Schimpftiraden entdeckt, ein eindeutiges Indiz an die Parteiführung, welchen Ausgang er erwartete.
Chruschtschow wiederholte seine zunehmend paranoide Anschauung, dass, auch wenn er sich mit Kennedy treffe, in Wirklichkeit das Pentagon und die CIA die Vereinigten Staaten regierten – eine Tatsache, der er sich bereits bei seinem Kontakt mit Eisenhower bewusst gewesen sei. Und eben darum könne man nicht darauf bauen, dass amerikanische Präsidenten Entscheidungen träfen, die sich auf logische Prinzipien gründeten. »Aus diesem Grund könnten bestimmte Kräfte hervortreten und einen Vorwand finden, gegen uns in den Krieg zu ziehen«, sagte er.
Chruschtschow sagte seinen Genossen, er sei bereit, das Risiko eines Kriegs einzugehen, wisse aber auch ganz genau, wie man ihn am besten vermeiden könne. Er sagte, die europäischen Bündnispartner Amerikas und die internationale öffentliche Meinung würden Kennedy davon abhalten, auf eine Veränderung des Status von Berlin mit Atomwaffen zu reagieren. De Gaulle und Macmillan würden niemals einen amerikanischen Kriegskurs unterstützen, weil sie wüssten, dass die wichtigsten sowjetischen Angriffsziele für Atombomben, bei der Reichweite der Moskauer Raketen, mitten in Europa lägen. »Das sind intelligente Menschen, und sie verstehen das«, sagte er.
Dann führte Chruschtschow aus, wie sich die Lage in Berlin nach dem sechsmonatigen Ultimatum, das er in Wien stellen wolle, entwickeln werde. Er werde unilateral mit der ostdeutschen Regierung einen Friedensvertrag unterzeichnen und ihr anschließend die Zuständigkeit für sämtliche Zufahrtswege nach Westberlin übertragen. »Wir gehen nicht gegen Westberlin vor, wir erklären keine Blockade«, sagte er. So lieferte er keinen Vorwand für eine militärische Aktion. »Wir zeigen, dass wir bereit sind, einen Luftverkehr zuzulassen, aber unter der Bedingung, dass westeuropäische Flugzeuge auf Flughäfen in der DDR landen [nicht in Westberlin]. Wir fordern keinen Truppenabzug. Wir halten sie zwar für illegal, aber wir werden keine brutalen Methoden anwenden, um sie zu vertreiben. Wir werden nicht die Lieferung von Lebensmitteln unterbrechen und auch andere Versorgungskanäle nicht stören. Wir werden uns in den Angelegenheiten Westberlins an einen Kurs der Nichtverstöße und Nichteinmischung halten. Deshalb glaube ich auch nicht, dass dies einen Krieg auslösen würde, weil der Kriegszustand und das Besatzungsregime dem Ende zugehen.«
Mikojan warnte als Einziger Chruschtschow, die Wahrscheinlichkeit eines Kriegs sei höher, als der Parteichef glaube. Aus Achtung vor Chruschtschow nannte er jedoch lediglich eine Wahrscheinlichkeit von 10 Prozent, im Gegensatz zu Chruschtschows 5 Prozent. »Meiner Meinung nach könnten sie auch ohne Atomwaffen militärische Aktionen einleiten«, sagte er.
Chruschtschow gab zurück, dass Kennedy so große Angst vor einem Krieg habe, dass er auf keinen Fall militärisch antworten werde. Er sagte dem Präsidium, dass sie sich möglicherweise in Laos, Kuba oder im Kongo, wo das konventionelle Kräfteverhältnis nicht so eindeutig sei, mit Kompromissen zufriedengeben müssten, aber rings um Berlin stehe die Überlegenheit des Kremls völlig außer Frage.
Um diese Überlegenheit zu garantieren, wies Chruschtschow Verteidigungsminister Rodion Malinowski, den sowjetischen Stabschef Matwej Sacharow und den Oberbefehlshaber des Warschauer Pakts Andrej Gretschko (der ihm gegenübersaß) an, »gründlich das Kräfteverhältnis in Deutschland zu untersuchen und zu prüfen, was benötigt wird«. Er sei bereit, die erforderlichen Rubel auszugeben, sicherte er ihnen zu. Als erste Maßnahme sollten sie die Artillerie und Grundbewaffnung aufrüsten, und dann müssten sie bereit sein, weitere Waffen zu verlegen, falls die Sowjetunion weiter provoziert werde. Er verlangte innerhalb von zwei Wochen einen Bericht seiner Befehlshaber, wie sie eine Operation gegen Berlin durchzuführen gedächten, und ging davon aus, dass er binnen sechs Monaten imstande sei, seinen scharfen Worten in Wien mit einer erhöhten militärischen Kapazität Nachdruck zu verleihen.
Mikojan entgegnete, dass Chruschtschow Kennedy in eine gefährliche Lage dränge, wo ihm gar nichts anderes übrig bleibe, als militärisch zu antworten. Er regte an, Chruschtschow solle weiterhin den Luftverkehr nach Westberlin gestatten, was seine Berlin-Lösung Kennedy ein wenig schmackhafter mache.
Chruschtschow war anderer Meinung. Er erinnerte seine Genossen daran, dass Ostdeutschland derzeit zerfalle. Tausende von Fachkräften flüchteten Woche für Woche aus dem Land. Wenn man es versäume, diesen Exodus mit durchgreifenden Maßnahmen zu stoppen, dann würde dies nicht nur Ulbricht verunsichern, sondern auch Zweifel unter den Verbündeten im Warschauer Pakt wecken, die »in dieser Aktion unsere Inkonsequenz und Unsicherheit spüren« würden.
Er sei nicht nur bereit, den Luftkorridor zu schließen, sagte Chruschtschow und sah Mikojan dabei an, sondern er werde auch jedes alliierte Flugzeug abschießen, das versuche, in Westberlin zu landen. »Wir befinden uns in einer sehr starken Position, aber wir werden sie jetzt, natürlich, richtig einschüchtern müssen. Zum Beispiel müssen wir, wenn da etwas herumfliegt, das Flugzeug wirklich herunterholen. Könnten sie mit Provokationen antworten? Das könnten sie natürlich. […] Wenn wir unsere politische Linie durchhalten und wir anerkannt, respektiert und gefürchtet werden wollen, dann müssen wir standhaft bleiben.«
Chruschtschow beendete seinen »Kriegsrat« mit der Frage, ob er, wie es laut Protokoll üblich war, in Wien Kennedy Geschenke überreichen solle.
Vertreter des Außenministeriums schlugen vor, Präsident Kennedy zwölf Dosen mit dem besten schwarzen Kaviar und Einspielungen sowjetischer und russischer Musik zu schenken. Unter anderem zogen seine Mitarbeiter auch ein silbernes Kaffeeservice für die Gattin des Präsidenten in Betracht. Sie erbaten Chruschtschows Zustimmung.
»Man kann auch vor einem Krieg Geschenke austauschen«, erwiderte darauf Chruschtschow.42
HYANNIS PORT,
MASSACHUSETTS
SAMSTAG, 27. MAI 1961
Bei dichtem Regen startete Kennedy an Bord der Air Force One vom Flugplatz Andrews Air Force Base mit Kurs auf Hyannis Port. In nur drei Tagen würde er in Paris landen und sich mit de Gaulle treffen, und in nur einer Woche würde die Zusammenkunft mit Chruschtschow in Wien stattfinden. Der Vater des Präsidenten hatte zum bervorstehenden vierundvierzigsten Geburtstag von John F. Kennedy am 29. Mai die Schlafgemächer seines Sohnes mit Bildern von nackten Frauen dekorieren lassen – ein kleiner Scherz unter Schürzenjägern.43
Kennedy zog sich zur Geburtstagsfeier auf den Familiensitz zurück; dort wollte er sich auch in die Ausarbeitungen zu den verschiedensten Themen vom atomaren Gleichgewicht bis hin zu Chruschtschows Charakter und Denkweise vertiefen. Die amerikanischen Geheimdienste zeichneten das Bild von einem Mann, der versuchen würde, ihn in dem einen Moment zu umgarnen und schon im nächsten unter Druck zu setzen. Sie hielten ihn für einen Spieler, der Kennedy auf die Probe stellen würde, für einen überzeugten Marxisten, der koexistieren, aber auch wetteifern wollte, einen groben und unsicheren Staatschef aus einfachen Familienverhältnissen, ausgestattet mit einer gehörigen Portion Bauernschläue, der vor allen Dingen unberechenbar war.
Der Präsident konnte nur hoffen, dass Chruschtschows Instruktionen über den Hintergrund des US-Präsidenten nicht ganz so vielsagend waren. Seine Rückenschmerzen waren so heftig wie eh und je seit seinem Amtsantritt und wurden noch durch eine Verletzung verschlimmert, die er sich einige Tage zuvor bei der zeremoniellen Pflanzung eines Baums in Kanada zugezogen hatte. Neben dem Papierkram würde er das Schmerzmittel Procain für seinen Rücken, Cortison für seine Addison-Krankheit und einen ganzen Cocktail aus Vitaminen, Enzymen und Amphetaminen für andere Wehwehchen sowie für die Steigerung der Konzentrationsfähigkeit mitnehmen.
Er bewegte sich gewöhnlich mit Krücken fort, wenn auch nie in der Öffentlichkeit, und humpelte wie ein bereits angeschlagener Sportler, der sich auf einen Wettkampf vorbereitet.44