EINLEITUNG

Der gefährlichste Ort der Welt

Wer Berlin besitzt, besitzt Deutschland.
Und wer Deutschland kontrolliert, kontrolliert Europa.

WLADIMIR ILJITSCH LENIN ZITIERT KARL MARX1

 

Berlin ist der gefährlichste Ort der Welt. Die Sowjetunion möchte durch eine Operation an diesem schlimmen Ort diesen Dorn, dieses Krebsgeschwür entfernen.

MINISTERPRÄSIDENT NIKITA CHRUSCHTSCHOW ZU
PRÄSIDENT JOHN F. KENNEDY AUF IHREM WIENER GIPFELTREFFEN
IM JUNI 19612

 

 

 

CHECKPOINT CHARLIE, BERLIN
27. OKTOBER 1961, 21 UHR

 

Im Kalten Krieg hatte es noch nie einen so gefährlichen Moment gegeben.

Auch die nasskalte Nacht konnte etliche Berliner nicht davon abhalten, sich auf den schmalen Seitenstraßen zu versammeln, die zum Checkpoint Charlie führten. Die am nächsten Morgen erscheinenden Zeitungen schätzten ihre Zahl auf etwa fünfhundert – erstaunlich viele, wenn man bedenkt, dass sie Zeugen der ersten Schüsse eines kommenden Atomkriegs hätten werden können. Nach sechs Tagen ständig steigender Spannungen standen sich jetzt amerikanische M-48-Patton- und sowjetische T-54-Panzer direkt gegenüber, zehn auf jeder Seite, während etwa zwei Dutzend weitere ganz in der Nähe als Reserve warteten.3

Nur mit Schirmen und Kapuzenjacken vor dem Nieselregen geschützt, rückte die Menge auf der Suche nach den besten Beobachtungspunkten immer weiter auf der Friedrichstraße, Mauerstraße und Zimmerstraße vor. Am Kreuzungspunkt dieser drei Straßen lag der wichtigste Ost-West-Übergang für alliierte Militär- und Zivilfahrzeuge sowie Fußgänger. Einige Beobachter standen auf den Dächern. Andere, einschließlich einer größeren Schar von Pressefotografen und Reportern, lehnten sich aus den Fenstern niedriger Gebäude, auf deren Wänden immer noch die Spuren der Granat- und Bombensplitter aus dem Zweiten Weltkrieg zu sehen waren.

Auch der Reporter der CBS-Radionachrichten, Daniel Schorr, berichtete direkt vom Ort des Geschehens. Mit der ganzen Dramatik seiner Respekt einflößenden Stimme erklärte er seinen Zuhörern: »Der Kalte Krieg erreichte heute Abend ganz neue Dimensionen, als zum ersten Mal in der Geschichte amerikanische und russische Kampftruppen gegeneinander Aufstellung nahmen. Bis jetzt bildeten im Ost-West-Konflikt deutsche oder andere ›Stellvertreter‹ die vorderste Front. Heute Abend stehen sich jedoch die beiden Supermächte in Form von zehn kampfbereiten russischen Tanks und amerikanischen Patton-Panzern gegenüber, die weniger als hundert Meter voneinander entfernt aufgefahren sind …«4

Die Stimmung war zum Zerreißen gespannt. Als ein amerikanischer Armeehubschrauber im Tiefflug über die Köpfe donnerte, um die Lage vor Ort zu sondieren, schrie ein ostdeutscher Polizist in Panik: »Deckung«, woraufhin sich die ganze Menge gehorsam auf den Boden warf.5 In anderen Augenblicken herrschte dagegen eine eigentümliche Stille. »Die Szenerie ist verrückt und beinahe unglaublich«, berichtete Schorr. »Die amerikanischen GIs stehen neben ihren Panzern und essen aus ihrem Kochgeschirr, während Westberliner sie hinter einem Absperrseil beobachten und Salzstangen kaufen. Die ganze Szene wird von der östlichen Seite aus von Scheinwerfern taghell beleuchtet, während die sowjetischen Panzer in der Dunkelheit des Ostens fast unsichtbar sind.«6

In der Menge machte das Gerücht die Runde, dass ein Krieg in Berlin unmittelbar bevorstehe. »Es geht los um 3 Uhr.« Ein Westberliner Radiosender berichtete, der pensionierte General Lucius D. Clay, Präsident Kennedys neuer »Sonderbeauftragter« in Berlin, sei zur Grenze unterwegs, um im Stil eines Hollywood-Westerns die ersten Schüsse höchstpersönlich anzuordnen. In einem anderen Bericht hieß es, der Kommandeur der US-Militärpolizei am Checkpoint Charlie habe einen ostdeutschen Kontrahenten verprügelt und beide Seiten wollten jetzt den Konflikt mit Schusswaffen weiterführen. Darüber hinaus erzählte man sich, ganze sowjetische Kompanien marschierten auf Berlin zu, um der Freiheit der Stadt ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Die Berliner waren dafür bekannt, vor allem in schlechten Zeiten besonders gern Gerüchte in Umlauf zu bringen. In Anbetracht der Tatsache, dass die meisten Leute in dieser Menge bereits einen, wenn nicht sogar zwei Weltkriege durchgemacht hatten, hielten sie verständlicherweise alles für möglich.7

Clay, der im Jahr 1948 die Luftbrücke befehligt hatte, die Westberlin eine dreihunderttägige sowjetische Blockade überstehen ließ,8 hatte die gegenwärtige Konfrontation eine Woche zuvor selbst ausgelöst, und dies wegen einer Sache, die den meisten seiner Vorgesetzten in Washington auf keinen Fall einen Krieg wert war. Die ostdeutschen Vopos zwangen nämlich seit neuestem alliierte Zivilisten dazu, ihren Ausweis vorzuzeigen, wenn sie den sowjetischen Sektor Berlins betreten wollten. Bisher hatten sich Fahrzeuge mit dem Nummernschild der Besatzungsmächte innerhalb aller vier Sektoren frei bewegen können.9

Da ihn seine persönliche Erfahrung gelehrt hatte, dass die Sowjets die Rechte der Westmächte in einer Art Salamitaktik immer weiter beschneiden würden, wenn man ihnen nicht sofort auch bei kleineren Provokationen die Stirn bot, entschloss sich Clay, diesem Ausweiszwang entschieden entgegenzutreten. 10 Er erließ den Befehl, dass diese Zivilfahrzeuge künftig von Militäreskorten nach Ostberlin hineinbegleitet werden sollten. Ein Jeep der US-Militärpolizei fuhr voraus, und mit Gewehren bewaffnete Soldaten marschierten links und rechts neben den Fahrzeugen einher, als diese im Zickzack durch die niedrigen, rot und weiß gestreiften Betonbarrieren des Sektorenübergangs hindurchkurvten. Im Rücken boten ihnen dabei die amerikanischen Panzer Deckung, die Clay hatte auffahren lassen.

Zuerst schien Clays energisches Auftreten Erfolg zu haben, als die ostdeutschen Vopos einen Rückzieher machten und die Wagen unkontrolliert passieren ließen. Kurz darauf befahl Chruschtschow jedoch seinen Truppen, mit den Amerikanern gleichzuziehen und ebenfalls zehn Panzer hinter dem alliierten Sektorenübergang aufzustellen. Darüber hinaus sollten sie sich auf mögliche weitere Eskalationsschritte vorbereiten. In einem eigentümlichen, aber letztlich erfolglosen Versuch, die Verantwortlichkeiten zu vertuschen, befahl Chruschtschow, die nationalen Hoheitszeichen auf den Panzern mit Schlamm zu verschmieren, um vorzutäuschen, es handle sich um NVA-Panzer. Außerdem trugen deren Besatzungen nicht gekennzeichnete schwarze Uniformen.

Als die sowjetischen Panzer an diesem Nachmittag zum Checkpoint Charlie rollten, um den von Clay veranlassten Aktionen ein Ende zu bereiten, wandelte sich ein kleiner Grenzzwischenfall zwischen Amerikanern und Ostdeutschen zu einem Nervenkrieg zwischen den beiden mächtigsten Staaten der Welt. Der amerikanische und der sowjetische Kommandant in ihren Einsatzzentralen am entgegengesetzten Ende der Stadt erwogen ihre nächsten Schritte und warteten ungeduldig auf die Befehle von Präsident John F. Kennedy und Ministerpräsident Nikita Chruschtschow.

Während die beiden Staatenlenker in Washington und Moskau die Situation überdachten, beobachteten die von Major Thomas Tyree befehligten amerikanischen Panzerbesatzungen nervös ihre Gegner auf der anderen Seite der berühmtesten Ost-West-Grenze der Welt. Tatsächlich war es ja auch erst zweieinhalb Monate her, dass ostdeutsche Soldaten und Polizisten unter sowjetischem Schutz am 13. August 1961 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion um ganz Westberlin herum in einer Länge von 168 Kilometern die ersten provisorischen Stacheldrahtsperren, Grenzbefestigungen und Wachposten errichtet hatten, um den Flüchtlingsstrom zu stoppen, der die weitere Existenz der jungen DDR akut gefährdete.

Seit damals hatten die Kommunisten diese Grenzlinie mit Betonplatten, Hohlblocksteinen, Panzersperren und Wachtürmen befestigt. Das Ganze wurde von Kampfhunden bewacht. Der damalige Berliner Korrespondent des amerikanischen Rundfunksenders Mutual Broadcasting Network beschrieb das, was die ganze Welt bald die »Berliner Mauer« nennen sollte, leicht ironisch als »die bemerkenswerteste und vermessenste stadtplanerische Maßnahme aller Zeiten […], die sich wie eine Albtraumkulisse durch die ganze Stadt schlängelte«. 11 Journalisten, Pressefotografen, politische Führer, Spionagechefs und Touristen strömten seitdem nach Berlin, wo der von Winston Churchill noch als Sinnbild verwendete Begriff »Eiserner Vorhang«12 inzwischen physische Formen angenommen hatte.

Allen Beteiligten war klar, dass dieser Panzer-Showdown am Checkpoint Charlie keine Übung war.13 Tyree hatte dafür gesorgt, dass seine Männer an diesem Morgen die Munitionsgestelle ihrer Panzerkanonen mit scharfen Geschossen aufgefüllt hatten. In ihre Maschinengewehre hatten sie bereits Gurte eingelegt, sie jedoch noch nicht durchgeladen. Darüber hinaus hatten Tyrees Männer einige ihrer Panzer mit Bulldozerschaufeln ausgerüstet. In Vorbereitung eines solchen Falles hatte er seine Soldaten immer wieder eine ganz bestimmte Vorgehensweise üben lassen. Dabei würden sie mit ihren Panzern friedlich durch den Checkpoint Charlie nach Ostberlin hineinfahren, was ihnen laut Vier-Mächte-Abkommen ja erlaubt war. Danach würden sie allerdings bei der Rückfahrt direkt durch die immer noch im Bau befindliche Mauer brechen – und damit sicherlich die Kommunisten zu einer entsprechenden Reaktion provozieren.

Um sich warm zu halten und ihre Nerven zu beruhigen, drehten die Panzerfahrer ihre Motoren im Leerlauf hoch und verursachten dabei ein entsetzliches Getöse. Trotzdem hätte das kleine alliierte Kontingent von gerade einmal 12 000 Mann, darunter 6500 Amerikaner, in einem konventionellen Konflikt gegen die etwa 350 000 sowjetischen Soldaten, die in der unmittelbaren Umgebung Berlins stationiert waren, nicht den Hauch einer Chance gehabt. Tyrees Männer wussten ganz genau, dass sie nicht viel mehr als ein Stolperdraht für einen umfassenden Krieg waren, der schneller zu einem Atomkrieg zu werden drohte, als sie »Auf Wiedersehen« sagen konnten.

Dem Reuters-Korrespondenten Adam Kellett-Long, der zum Checkpoint Charlie geeilt war, um den ersten Bericht über diese Machtprobe zu verfassen, wurde es etwas mulmig, als er einen aufgeregten und angespannt wirkenden afroamerikanischen Maschinengewehrschützen auf einem der Panzer beobachtete. »Seine Hand zitterte so stark, dass ich Angst bekam, sein Gewehr könnte losgehen und dadurch den Dritten Weltkrieg auslösen«, erinnerte sich Kellett-Long noch Jahrzehnte später.14

Um Mitternacht Berliner Zeit, also 18 Uhr Washingtoner Zeit, trafen sich Kennedys wichtigste Sicherheitsberater zu einer Sondersitzung im Kabinettssaal des Weißen Hauses. Der Präsident begann immer mehr zu befürchten, dass die ganze Angelegenheit außer Kontrolle geraten könnte. Genau in dieser Woche hatten Kennedys Nuklearstrategen detaillierte Einsatzpläne für einen eventuell notwendigen atomaren Erstschlag gegen die Sowjetunion fertiggestellt, der Amerikas Gegner völlig zerstören und seinem Militär jede Reaktionsmöglichkeit nehmen würde. Der Präsident hatte diese Pläne allerdings noch nicht abgezeichnet und seine Experten stattdessen mit skeptischen Fragen überhäuft. Trotzdem trübten ihm diese Weltuntergangsszenarien immer noch die Stimmung, als er sich mit seinem Nationalen Sicherheitsberater McGeorge Bundy, Außenminister Dean Rusk, Verteidigungsminister Robert McNamara, dem Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs, General Lyman Lemnitzer, und anderen wichtigen US-Beamten zusammensetzte. Im Laufe der Sitzung riefen sie General Clay über eine sichere Leitung in seinem Westberliner Kartenzimmer an. Clay hatte man mitgeteilt, McGeorge Bundy wolle mit ihm sprechen. Er war deshalb erst einmal völlig verblüfft, als er die Stimme von Kennedy selbst erkannte.15

»Hallo, Mr President«, sagte er dann ganz laut. Hinter ihm in der Kommandozentrale wurde es schlagartig still.

»Wie stehen die Dinge dort drüben?«, fragte Kennedy mit einer Stimme, die unaufgeregt wirken sollte.

Alles sei unter Kontrolle, entgegnete ihm Clay. »Wir haben zehn Panzer am Checkpoint Charlie. Die Russen haben auch zehn Panzer dort, also sind wir jetzt gleich.«

In diesem Moment reichte ein Adjutant General Clay einen Notizzettel.

»Mr President, ich muss meine Zahlen korrigieren. Man hat mir soeben mitgeteilt, dass die Russen gerade weitere zwanzig Panzer anrollen lassen. Das gibt ihnen dann dieselbe Zahl von Panzern, die wir in Berlin haben. Also werden wir unsere übrigen zwanzig Panzer ebenfalls dorthin schicken. Machen Sie sich darüber keine Sorgen, Mr President. Sie haben nur Panzer für Panzer mit uns gleichgezogen. Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass sie nichts Weiteres zu tun beabsichtigen«, versicherte er.

Doch auch der Präsident konnte rechnen. Sollten die Sowjets die Zahl ihrer Panzer noch weiter erhöhen, konnte Clay auf konventionelle Weise darauf nicht mehr reagieren. Kennedy musterte die besorgten Gesichter der Männer in seinem Kabinettssaal. Dann legte er die Füße auf den Tisch. Damit wollte er seinen Beratern, die befürchteten, die Dinge könnten außer Kontrolle geraten, seine eigene Gelassenheit demonstrieren.

»Nun, dann ist ja alles in Ordnung«, sagte der Präsident zu Clay. »Verlieren Sie nur nicht die Nerven.«

»Mr President«, entgegnete Clay mit der für ihn charakteristischen Offenheit, »um unsere Nerven hier machen wir uns keine Sorgen. Wir machen uns Sorgen über die von euch dort drüben in Washington.«16

 

Ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seitdem die Berliner Mauer sechs Monate nach Kennedys Amtsantritt errichtet wurde. Trotzdem haben wir erst jetzt den nötigen Abstand zum damaligen Geschehen und den Zugang zu persönlichen Aufzeichnungen, Augenzeugenberichten und erst kürzlich freigegebenen Dokumenten aus den Vereinigten Staaten, Deutschland und Russland, um die Hintergründe der historischen Ereignisse des Jahres 1961 auf befriedigende Weise darstellen zu können. Nach Art der meisten epischen Dramen lässt sich diese Geschichte am besten in der Verbindung von Zeit (der Verlauf eines Kalenderjahres), Ort (Berlin und die Hauptstädte der Welt, die sein Schicksal bestimmten) und vor allem der beteiligten Personen erzählen.

Tatsächlich waren nur wenige Beziehungen zwischen zwei führenden Persönlichkeiten ihrer Zeit psychologisch dermaßen angespannt und beruhten auf Charakteren von solcher Unterschiedlichkeit und sich widersprechenden Antrieben wie die zwischen John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow.

Kennedy betrat im Januar 1961 die Weltbühne, nachdem er den knappsten Wahlsieg seit 1916 errungen hatte. Sein Wahlkampfmotto hatte gelautet: »Lasst uns Amerika wieder in Bewegung bringen.« Vor ihm war der Republikaner Dwight D. Eisenhower zwei Amtszeiten lang Präsident gewesen, dem er vorgeworfen hatte, er habe es den sowjetischen Kommunisten erlaubt, wirtschaftlich und militärisch einen gefährlichen Vorsprung zu erlangen. Kennedy war mit seinen vierundvierzig Jahren der jüngste Präsident der amerikanischen Geschichte. Er war der privilegierte Sohn eines grenzenlos ehrgeizigen Multimillionärs, dessen Lieblingssohn Joseph jun. jedoch im Krieg gefallen war. Der neue Präsident sah gut aus, war charismatisch und ein brillanter Redner. Andererseits hatte er unter zahlreichen gesundheitlichen Problemen zu leiden, die von der Nebenniereninsuffizienz der Addison-Krankheit bis zu oft fast unerträglichen Rückenschmerzen reichten, die durch eine Kriegsverletzung noch verschlimmert worden waren. Obwohl er nach außen hin immer selbstsicher und zuversichtlich wirkte, war er sich in Wirklichkeit überhaupt nicht sicher, wie er mit den Sowjets umgehen sollte. Er war entschlossen, ein großer Präsident vom Kaliber eines Abraham Lincoln oder Franklin Delano Roosevelt zu werden. Dabei machte es ihm allerdings Sorgen, dass diese ihren überragenden geschichtlichen Rang in einem Krieg errungen hatten. Er wusste jedoch sehr gut, dass ein solcher in den 1960er Jahren eine nukleare Wüste hinterlassen würde.

Selbst für einen erfahreneren Amtsinhaber als Kennedy birgt das erste Regierungsjahr eines amerikanischen Präsidenten viele Risiken, wenn die Lasten einer gefährlichen Welt von einer Administration zur nächsten übergehen. In seinen ersten fünf Präsidentschaftsmonaten sollte auch Kennedy mehrere selbst verschuldete Niederlagen erleiden, von seiner falschen Handhabung der Invasion in der kubanischen Schweinebucht bis zum Wiener Gipfel, wo Chruschtschow ihn, wie er selbst zugab, ausmanövrierte und übertölpelte. Aber nirgends stand für ihn mehr auf dem Spiel als in Berlin, dem Hauptschauplatz des Konkurrenzkampfes zwischen den USA und der Sowjetunion.

Was sein Temperament und seine Herkunft anging, war Chruschtschow Kennedys genaues Gegenteil. Der siebenundsechzigjährige Enkel eines Leibeigenen und Sohn eines Bergmanns war impulsiv, Kennedy dagegen eher zögerlich. Während Kennedy umsichtig und bedächtig war, neigte Chruschtschow zu Aufschneiderei und Überschwang. Seine Stimmungen schwankten ständig zwischen der tief sitzenden Unsicherheit eines Mannes, der erst nach seinem zwanzigsten Lebensjahr lesen und schreiben gelernt hatte, und dem kühnen Selbstbewusstsein von jemandem, der entgegen aller Wahrscheinlichkeit an die Macht gekommen war, während alle seine Rivalen gescheitert, wenn nicht gar einer Säuberung zum Opfer gefallen oder getötet worden waren. Obwohl Komplize der Verbrechen seines Förderers Stalin, distanzierte er sich nach dessen Tod von diesem und rechnete sogar mit ihm ab. Im Jahr 1961 war Chruschtschow ständig hin- und hergerissen zwischen seinem Wunsch nach Reformen und besseren Beziehungen zum Westen und seinem zutiefst autoritären und konfrontativen Wesen. Er war fest davon überzeugt, dass sich die sowjetischen Interessen am besten durch eine friedliche Koexistenz und einen gewaltfreien Wettbewerb mit dem Westen befördern ließen. Gleichzeitig wuchs der Druck auf ihn, die Spannungen mit Washington zu erhöhen und alles Erforderliche zu unternehmen, um die Flüchtlingsflut zu stoppen, da andernfalls die DDR zusammenzubrechen drohte.

Seit seiner Gründung am 7. Oktober 1949 waren bis 1961 2,8 Millionen Menschen, also jeder sechste Einwohner, aus dem ostdeutschen Staat geflohen. 17 Schloss man diejenigen mit ein, die zwischen 1945 und 1949 aus der SBZ geflüchtet waren, wuchs diese Zahl sogar auf 4 Millionen an. Dabei verlor das Land durch diesen Exodus vor allem viele seiner fähigsten und leistungsstärksten Bürger.

Darüber hinaus arbeitete Anfang des Jahres 1961 die Zeit bereits gegen Chruschtschow. Ihm stand im Oktober ein entscheidender Parteitag der KPdSU bevor. Er musste befürchten, dass seine Gegner ihn absetzen würden, wenn er bis dahin die Berlin-Frage nicht im sowjetischen Sinn gelöst hatte. Als Chruschtschow während des Wiener Gipfels Kennedy mitteilte, Berlin sei der »gefährlichste Ort der Welt«, meinte er damit, dass dort am ehesten ein Atomkrieg zwischen den beiden Supermächten ausbrechen könnte. Außerdem wusste er, dass ihn seine Rivalen in Moskau politisch vernichten würden, wenn er die Sache in Berlin vermasselte.

Das Verhältnis zwischen Kennedys und Chruschtschows wichtigsten deutschen »Nebendarstellern« war auf ähnliche Weise konfliktgeladen. Allerdings handelte es sich dabei um die asymmetrische Auseinandersetzung zwischen dem ostdeutschen Partei- und Staatschef Walter Ulbricht mit seinem dem Scheitern nahen Land von siebzehn Millionen Einwohnern und Bundeskanzler Konrad Adenauer mit seiner schnell wachsenden Wirtschaftsmacht mit ihren sechzig Millionen Bürgern.

Für Ulbricht war dieses Jahr von noch weit größerer existenzieller Bedeutung als für Kennedy oder Chruschtschow. Die Deutsche Demokratische Republik, wie sich Ostdeutschland offiziell nannte, war das Lebenswerk des Siebenundsechzigjährigen, der ganz genau wusste, dass dieser Staat ohne radikale Maßnahmen direkt auf seinen wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch zusteuerte. Je größer diese Gefahr wurde, desto intensiver dachte er darüber nach, wie sie doch noch abgewendet werden könnte. Ulbrichts Einfluss und Bedeutung in Moskau nahmen in etwa demselben Maß zu wie die Instabilität seines Landes, da im Kreml die Angst wuchs, dass ein Scheitern Ostdeutschlands negative Auswirkungen auf das gesamte sowjetische Imperium haben könnte.

Auf der anderen Seite der Grenze focht der erste und bis dahin einzige Kanzler der Bundesrepublik mit seinen fünfundachtzig Jahren in seiner dritten Amtszeit gleichzeitig einen Kampf gegen seine eigene Sterblichkeit und seinen innenpolitischen Gegner, den Westberliner Bürgermeister Willy Brandt, aus. Auf jeden Fall wollte er verhindern, dass Brandts Partei, die SPD, bei den anstehenden Bundestagswahlen in diesem September an die Macht gelangte und das Land nach links führte. Allerdings galt Adenauer Kennedy selbst als die größte Bedrohung für sein ganz persönliches Vermächtnis, nämlich ein freies und demokratisches Westdeutschland.

Eigentlich schien sich Adenauer seinen Platz in der Geschichte in diesem Jahr 1961 durch den phönixhaften Aufstieg Westdeutschlands aus der Asche des Dritten Reichs bereits gesichert zu haben. Trotzdem hielt ihn Kennedy für verbraucht und für einen Mann der Vergangenheit, auf den sich seine Amtsvorgänger im Weißen Haus viel zu sehr gestützt hatten, statt sich um ein engeres Verhältnis zu Moskau zu bemühen. Im Gegenzug befürchtete Adenauer, dass es Kennedy an Charakter und Rückgrat mangele, um den Sowjets in diesem, wie er überzeugt war, entscheidenden Jahr Paroli bieten zu können.

Die Geschichte von Berlin 1961 wird im Folgenden in drei Teilen wiedergegeben.

Teil I, »Die Akteure«, stellt die vier Protagonisten vor: Chruschtschow, Kennedy, Ulbricht und Adenauer, die im ganzen Jahr 1961 vor allem durch die entscheidende Rolle, die Berlin in ihren Plänen und Ängsten spielte, miteinander verbunden waren. Die ersten Kapitel befassen sich mit ihren gegensätzlichen Motivationen und den Ereignissen, die dem nachfolgenden Drama den Weg bereiteten.

An seinem ersten Morgen in Lincolns Schlafzimmer im Weißen Haus erfährt Kennedy direkt nach dem Aufwachen, dass Chruschtschow die gefangenen Besatzungsmitglieder eines US-Spionageflugzeugs ohne Gegenleistungen freigelassen hat. Von diesem Moment an wird die Handlung von den Missverständnissen und den gegenseitigen Winkelzügen der beiden Staatsführer vorangetrieben. Gleichzeitig arbeitet Ulbricht hinter den Kulissen daran, Chruschtschow zu einem harten Durchgreifen in Berlin zu bewegen, während Adenauer versucht, ein Arbeitsverhältnis mit einem neuen US-Präsidenten aufzubauen, dem er zutiefst misstraut.

In Teil II, »Der Sturm zieht auf«, leidet Kennedy immer noch unter der gescheiterten amerikanischen Invasion in der Schweinebucht, die den Versuch, Fidel Castro zu stürzen, vereitelte, und sieht nun eine Gelegenheit, seinen angeschlagenen außenpolitischen Ruf durch Aufrüstungsmaßnahmen und ein Gipfeltreffen mit Chruschtschow zu kitten. Die stark gestiegene Flüchtlingswelle aus Ostdeutschland verschärft Ulbrichts Krise, der daraufhin seine Pläne vorantreibt, die Berliner Grenze endgültig zu schließen. In seiner typischen sprunghaften Art hört Chruschtschow auf, um Kennedy zu werben, und versucht beim Wiener Gipfeltreffen dessen Stellung zu untergraben, indem er ihm ein neues, in bedrohlichem Ton abgefasstes Berlin-Ultimatum unterbreitet und sich in vorgetäuschtem Mitgefühl über die offensichtliche Schwäche seines Gegners lustig macht. Kennedy ist über seinen schwachen Auftritt in Wien selbst bestürzt und versucht ab jetzt mit allen Mitteln zu verhindern, dass Chruschtschow die gesamte Welt in Gefahr bringt, weil er die amerikanische Entschlossenheit unterschätzt.

»Der Showdown«, Teil III des Buches, dokumentiert und beschreibt das Zaudern und Schwanken in Washington und die Entscheidungen in Moskau, die zu der nächtlichen Grenzschließung vom 13. August und ihren dramatischen Folgen führten. Persönlich ist Kennedy sogar über die sowjetische Nacht-und-Nebel-Aktion erleichtert, weil er hofft, dass die Sowjets nach der Lösung des ostdeutschen Flüchtlingsproblems einfachere Partner sein werden. Er begreift jedoch bald, dass er den möglichen Nutzen der Berliner Mauer überschätzt hat. Dutzende Berliner unternehmen verzweifelte Fluchtversuche, von denen einige tödlich enden. Auf internationaler Ebene verschärft sich die Krise, als Washington darüber diskutiert, wie man einen Atomkrieg erfolgreich führen und gewinnen könnte, Moskau seine Panzer auffahren lässt und die ganze Welt den Atem anhält, wie sie es ein Jahr später erneut tun würde, als die Nachwirkungen der Berliner Ereignisse von 1961 zur Kuba-Krise führen.

In diese übergreifende Erzählung werden immer wieder kurze Geschichten von »kleinen« Berlinern eingestreut, die durch ihre ungewollte Rolle in einem entscheidenden Moment des Kalten Kriegs gebeutelt wurden: die Überlebende zahlreicher Vergewaltigungen durch Sowjetsoldaten, die einem Volk ihre Geschichte zu erzählen versucht, das nur noch vergessen möchte; der Bauer, den sein Widerstand gegen die Zwangskollektivierung ins Gefängnis bringt; die Ingenieurin, die in den Westen flieht und kurz darauf bei einem Schönheitswettbewerb in Miami zur Miss Universum gewählt wird; der ostdeutsche Soldat, dessen Sprung über Stacheldrahtrollen in die Freiheit, bei dem er auch noch sein Gewehr wegwirft, fotografiert wird und danach als eine Art Freiheitsikone um die ganze Welt geht; der Schneider, der als erstes Opfer des DDR-Schießbefehls getötet wird, während er in die Freiheit zu schwimmen versucht.

Anfang 1961 war es ebenso unvorstellbar, dass ein politisches System eine Mauer errichten würde, um sein eigenes Volk einzusperren, wie es achtundzwanzig Jahre später ausgeschlossen zu sein schien, dass dieses Sperrwerk friedlich und scheinbar über Nacht fallen könnte. Nur indem man in das Jahr des Mauerbaus zurückkehrt und die damaligen Kräfte und Personen neu untersucht, kann man wirklich verstehen, was damals geschah, und den Versuch unternehmen, einige der großen, ungelösten Fragen der Geschichte zu beantworten.

Sollte man historisch die Errichtung der Berliner Mauer als positives Ergebnis von Kennedys unbeirrter Führungskraft und als erfolgreiches Mittel zur Vermeidung eines Kriegs verstehen, oder war die Mauer das unglückliche Ergebnis seines fehlenden Rückgrats? Wurde Kennedy von der Schließung der Ost-West-Grenze in Berlin überrascht, oder sah er sie voraus und wünschte sie vielleicht sogar herbei, weil er glaubte, sie würde die Spannungen entschärfen, die zu einem Atomkrieg hätten führen können? Waren Kennedys Motive vernunftgesteuert und friedensorientiert oder zynisch und kurzsichtig zu einer Zeit, als eine andere Handlungsweise vielleicht zehn Millionen von Osteuropäern eine weitere Generation sowjetischer Besatzung und Unterdrückung erspart hätte?

War Chruschtschow ein echter Reformer, dessen Bemühungen, Kennedy unmittelbar nach dessen Wahl entgegenzukommen, ein ernst gemeinter Versuch waren, die Spannungen zu vermindern (was die Vereinigten Staaten jedoch nicht erkannten)? Oder war er ein launischer und sprunghafter Sowjetführer, mit dem die Vereinigten Staaten niemals eine wirkliche Verständigung erreicht hätten? Hätte Chruschtschow auf den Bau der Berliner Mauer verzichtet, wenn er geglaubt hätte, Kennedy werde sich diesem entgegenstellen? Oder war die Gefahr eines vollkommenen Zusammenbruchs der DDR so groß, dass er notfalls sogar einen Krieg riskiert hätte, um den Flüchtlingsstrom zu beenden?

Gestützt auf erst seit kurzem zugängliche Dokumente und Belege sowie auf neue Erkenntnisse und Einsichten, stellt dieses Buch den Versuch dar, eines der dramatischsten Jahre der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neu zu beleuchten und die dadurch gewonnenen Lehren auf die turbulenten ersten Jahre des 21. Jahrhunderts anzuwenden.