EPILOG
Nachbeben
Ich bin mir völlig darüber im
Klaren, dass es womöglich Chruschtschows
Hauptabsicht ist, seine Erfolgschancen in Berlin zu
erhöhen, und wir sollten
bereit sein, uns auch dort ebenso wie in der
Karibik voll und ganz einzusetzen.
Ausschlaggebend ist in diesem Moment der schwersten
Prüfung,
dass Chruschtschow merken sollte, dass er sich
verrechnet hat, falls er auf
unsere Schwäche oder Unentschlossenheit gezählt
hatte.
US-PRÄSIDENT KENNEDY IN EINEM GEHEIMEN
TELEGRAMM,
IN DEM ER DEN BRITISCHEN PREMIER HAROLD MACMILLAN ÜBER
FOTOGRAFISCHE HINWEISE AUF RAKETEN IN KUBA INFORMIERTE,
21. OKTOBER 19611
Wenn es in der Welt Menschen geben
sollte, die nicht verstehen oder
nicht zu verstehen vorgeben, worum es heute in der
Auseinandersetzung
zwischen der freien Welt und dem Kommunismus
geht,
dann können wir ihnen nur sagen, sie sollen nach
Berlin kommen.
Es gibt Leute, die sagen, dem Kommunismus gehöre
die Zukunft.
Sie sollen nach Berlin kommen.
Und es gibt wieder andere in Europa und in anderen
Teilen der Welt,
die behaupten, man könne mit dem Kommunismus
zusammenarbeiten.
Auch sie sollen nach Berlin kommen.
Und es gibt auch einige wenige, die sagen, es
treffe zwar zu,
dass der Kommunismus ein böses und ein schlechtes
System sei,
aber er gestatte es ihnen, wirtschaftlichen
Fortschritt zu erreichen.
Aber lasst auch sie nach Berlin kommen.
[…]
Alle freien Menschen, wo immer sie leben
mögen,
sind Bürger dieser Stadt Westberlin,
und deshalb bin ich als freier Mann stolz darauf,
sagen zu können:
»Ich bin ein Berliner«.
US-PRÄSIDENT KENNEDY IN EINER REDE VOR BERLINERN, 26. JUNI 19632
BERLIN UND
HAVANNA
MITTE AUGUST 1962
Ein Jahr nachdem sich Präsident John F. Kennedy mit dem Bau der Berliner Mauer abgefunden hatte, veranschaulichten zwei dramatische Ereignisse, die sich in einer Entfernung von achttausend Kilometern ereigneten, welche gravierenden Auswirkungen der wohl schwächste Auftritt eines US-Präsidenten in seinem ersten Amtsjahr hatte.
Die erste Szene spielte sich am 17. August in Berlin bei strahlendem Sonnenschein ab, nur wenige Minuten nach 14 Uhr: Der achtzehnjährige Maurer Peter Fechter und sein Freund Helmut Kulbeik begannen unvermutet ihren Spurt in die Freiheit quer durch den sogenannten Todesstreifen, das Niemandsland, das vor der Mauer lag. Der erste von fünfunddreißig Schüssen fiel, nachdem sich die beiden durch die vorderste Sperre aus Stacheldraht gekämpft hatten. Zwei Kugeln durchbohrten Fechters Rücken und Bauch, als er zusah, wie sein flinkerer Freund über Stacheldrahtstränge oben auf der Barriere in die Freiheit sprang. Fechter brach am Fuß der Mauer zusammen, wo er in gekrümmter Haltung, die Arme vor der Brust gefaltet, liegen blieb. Der linke Schuh war halb abgestreift, und der Knöchel war zu sehen. Fast eine Stunde lang schrie er mit schwächer werdender Stimme um Hilfe, während er aus vielen Schusswunden verblutete.3
Um dieselbe Zeit, jenseits des Ozeans, hatten sowjetische Schiffe begonnen, heimlich an elf verschiedenen kubanischen Häfen die Anlagen einer sowjetischen Raketenstreitmacht von ausreichender Reichweite und Stärke an Land zu bringen, um New York City oder Washington, D.C., dem Erdboden gleichzumachen. Am 26. Juli hatte der sowjetische Frachter Marja Uljanowa, benannt nach Lenins Mutter, als erstes von 85 sowjetischen Schiffen in der Hafenstadt Cabañas angelegt, die in den folgenden neunzig Tagen 150 Fahrten machen sollten. Sie transportierten Streitkräfte sowie die Bauteile für 24 Mittelstrecken- und 16 Langstreckenabschussrampen, von denen jede einzelne mit einem nuklearen Sprengkopf und zwei ballistischen Raketen bestückt werden sollte.4
Unterdessen verfolgten und fotografierten von der Westberliner Seite aus Polizisten und Nachrichtenreporter – auf Leitern, um besser über die Mauer zu sehen – das bittere Ende des Bauarbeiters Fechter. US-Soldaten im Kampfanzug standen ganz in der Nähe und hielten sich strikt an die Befehle, potenziellen Flüchtlingen keine Hilfe zu leisten, solange sie das DDR-Gebiet nicht verlassen hatten. Eine wachsende Menge Westberliner protestierte aufgebracht und beschimpfte zum einen die Ostdeutschen als Mörder, zum anderen die Amerikaner als Feiglinge. Ein Leutnant der US-Militärpolizei sagte zu einem Zuschauer: »Das ist nicht mein Problem« – ein Ausdruck der Resignation, der am nächsten Tag in den Zeitungen Hauptthema war und unter empörten Westberlinern die Runde machte.
Die DDR-Grenzwachen hatten ihrerseits gezögert, das sterbende Opfer zu bergen, weil sie grundlos befürchtet hatten, amerikanische Soldaten würden auf sie schießen. Erst nachdem Fechters Körper erschlafft war und die Grenzwachen einige Rauchbomben gezündet hatten, um ihr Vorgehen zu vernebeln, trug eine Grenzpatrouille den Leichnam weg. Ein Fotograf bannte dennoch ein Bild auf Zelluloid, das irgendwie an die Herabnahme Jesu vom Kreuz erinnerte. Das Foto, das am nächsten Tag auf der Titelseite der Berliner Morgenpost erschien, zeigte drei behelmte Polizisten, zwei davon mit Maschinenpistolen, die Fechter mit abgespreizten Armen und blutbefleckten Händen hochhielten.
Der Mord an Fechter löste in den Westberlinern etwas aus. Am nächsten Tag gingen Zehntausende auf die Straße und protestierten gegen die Ohnmacht der Amerikaner ebenso wütend wie gegen die Unmenschlichkeit der Kommunisten. Ihre aufgestaute Wut und Frustration entluden sich in dem »fast unglaublichen Schauspiel«, wie der Korrespondent der New York Times, Sydney Gruson, schrieb, dass Westberliner Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas gegen die eigene Bevölkerung vorging, um sie davon abzuhalten, die Mauer zu stürmen. Gruson weiter: »Mehr als jedes Einzelereignis seit dem Bau der Mauer hat Peter Fechters einsamer und grausamer Tod die Westberliner die Hilflosigkeit angesichts der schleichenden Übergriffe spüren lassen, die von den Kommunisten so subtil bewerkstelligt werden.«5
In Kuba hatte die CIA inzwischen durch Luftaufnahmen Mitte August einen verstärkten sowjetischen Schiffsverkehr festgestellt, was das Ausmaß der Lieferung wie auch die Sorgfalt bei der Ausführung betraf. Soldaten löschten die Ladung der Frachter des Nachts bei gedämpftem Licht und transportierten anschließend die Lieferungen über schmutzige Straßen in getarnten Fahrzeugen, die so lang waren, dass die Truppen einige Bauernhütten abreißen mussten, damit die Lastwagen um die Kurve kamen. Die befehlshabenden Offiziere hielten – wenn sie nicht gerade gegen die Moskitos, die Hitze oder den Monsun ankämpften – Moskau mit Kurieren über den Fortgang der Arbeiten auf dem Laufenden, damit die Funksprüche nicht von den Amerikanern abgefangen wurden.6
Am 22. August teilte die CIA dem Weißen Haus mit, dass fünftausend sowjetische Militärangehörige auf mehr als zwanzig Fahrzeugen mit großen Mengen an Transport-, Kommunikations- und Baumaterial nach Kuba gekommen waren. Analytiker der CIA erklärten, ein so schneller und so starker Zustrom sowjetischer Mitarbeiter und Bauteile in ein nicht sowjetisches Land sei »einzigartig in der sowjetischen Militärhilfe; hier sei eindeutig etwas Neuartiges und völlig anderes im Gang«. Die Raketen selbst sollten jedoch erst in zwei Monaten geliefert werden, und die amerikanischen Geheimdienste gelangten vorläufig zu dem Schluss, dass Moskau vermutlich Kubas Luftabwehr verstärke.7
Auf den ersten Blick mögen die öffentliche Tötung des jungen Maurers in Ostberlin und das heimliche Eintreffen sowjetischer Truppen und Raketenabschussrampen auf Kuba wenig miteinander zu tun haben. Aber zusammengenommen stehen die beiden Ereignisse symbolisch für die beiden wichtigsten Nachbeben der fehlgeleiteten Politik Kennedys im Jahr 1961 rings um Berlin:
Das erste Nachbeben sollte langfristig Bestand haben: das Einfrieren der Spaltung Europas im Kalten Krieg für weitere drei Jahrzehnte mit all den Opfern, die das für die Menschen bedeutete. Der Bau der Mauer stoppte nicht nur den Zerfall Ostdeutschlands zu einer Zeit, als die Lebensfähigkeit des Landes angezweifelt wurde; er lieferte auch eine weitere Generation von zig Millionen Osteuropäern der autoritären Herrschaft nach sowjetischem Muster aus mit Einschränkungen für die individuelle und nationale Freiheit.
Das zweite Nachbeben war unmittelbarer zu spüren: die Raketenkrise Ende 1962 verbunden mit der Gefahr eines Nuklearkriegs. Auch wenn die Historiker Kennedy für seine Führung in der Kuba-Krise lobten, hätte Chruschtschow es gar nicht erst gewagt, Atomwaffen nach Kuba zu schaffen, wenn er nicht 1961 im Zusammenhang mit Berlin zu dem Schluss gelangt wäre, dass Kennedy schwach und unentschlossen sei.8
Mittlerweile wissen wir, was Kennedy damals nicht ahnen konnte: dass die Berliner Mauer im November 1989 fallen, Deutschland und Berlin ein Jahr später, im Oktober 1990, wiedervereinigt werden und die Sowjetunion selbst Ende 1991 zerfallen sollte. In Anbetracht des glücklichen Ausgangs des Kalten Kriegs neigen die Historiker dazu, Kennedy ein größeres Verdienst daran zuzusprechen, als ihm eigentlich zusteht. Indem er das allzu große Risiko vermied, das mit einem Stopp des Mauerbaus verbunden gewesen wäre, so argumentieren sie, habe Kennedy einen Krieg verhindert und die Voraussetzungen für die spätere deutsche Wiedervereinigung, die Befreiung der im Sowjetblock gefangenen Nationen und die Ausdehnung des freien und demokratischen Europa geschaffen.
Doch die historischen Quellen – im Licht neuer Beweise und einer sorgfältigeren Prüfung überlieferter Darstellungen und Dokumente – lassen ein so wohlwollendes Urteil nicht zu. Der zweimalige Nationale Sicherheitsberater Brent Scowcroft meinte völlig zu Recht: »Leider werden wir nie erfahren, ob die Geschichte nicht auch anders hätte verlaufen können.« Aber die Geschichte bietet uns unmissverständliche Hinweise. Wir werden nie wissen, ob ein resoluteres Auftreten Kennedys den Kalten Krieg womöglich früher beendet hätte. Es steht jedoch außer Frage, dass Kennedys Handlungsweise es der DDR-Führungsriege ermöglichte, eben jenen Flüchtlingsstrom zu stoppen, der achtundzwanzig Jahre später die Auflösung des Landes bewirken sollte. Und aus den historischen Fakten geht ferner eindeutig hervor, dass Kennedys Handlungen im Jahr 1961 nie in erster Linie von dem Wunsch beseelt waren, die Freiheit Berlins zu erhalten.
In seinem ersten Amtsjahr lenkte Kennedy sein Augenmerk nicht darauf, den Kommunismus in Europa zurückzudrängen, sondern versuchte verzweifelt, dessen Ausbreitung auf die Dritte Welt zu verhindern. Mit Blick auf Berlin war seine größte Sorge, Instabilität und Fehleinschätzungen zu vermeiden, die einen Nuklearkrieg hätten auslösen können. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern, den Präsidenten Eisenhower und Truman, hielt er weder von Bundeskanzler Konrad Adenauer noch von seinem Traum von der deutschen Wiedervereinigung sonderlich viel.
Der vielleicht beste Richter für Kennedys schwache Vorstellung im Jahr 1961 war der Präsident selbst. Im privaten Kreis sprach er ganz offen über seine Fehler im Zusammenhang mit der Invasion in der Schweinebucht und dem Wiener Gipfeltreffen. Als Elie Abel, der Reporter der Detroit News, am 22. September – mehr als einen Monat nach der Schließung der Grenze – Kennedy um die Zusammenarbeit bei einem Buch bat, das er über dessen erste Amtszeit schreiben wollte, antwortete der Präsident: »Warum sollte jemand ein Buch über eine Regierung schreiben wollen, die bisher nichts außer einer langen Kette von Katastrophen vorzuweisen hat?«
Es war ein erfrischender Beweis der Selbstkritik angesichts eines Jahres, das von Kennedys Inkonsequenz, Unentschlossenheit und gescheiterter Politik geprägt war.
In seinem Wahlkampf hatte Kennedy zwar stets frische Ideen und den dringend notwendigen Wandel hervorgehoben, aber wenn es um Berlin ging, legte er größeren Wert darauf, den fragilen Status quo zu erhalten. Er glaubte, dass man sich mit der schwierigen Lage in Berlin erst nach einem vertrauensbildenden Prozess von Verhandlungen über ein Atomteststoppabkommen und andere Maßnahmen hinsichtlich der Rüstungskontrolle befassen konnte.
In den ersten Tagen seiner Amtszeit versäumte Kennedy es jedoch, die beste Gelegenheit für einen Durchbruch bei den Beziehungen, die sich ihm bot, beim Schopf zu packen, weil er wie ein Amateur Chruschtschows Signale falsch deutete. Der sowjetische Führer hatte über eine Reihe unilateraler Aktionen, zu der auch die Freilassung der inhaftierten US-Piloten am Morgen von Kennedys Amtseinführung zählte, eine neue Bereitschaft demonstriert, mit den Vereinigten Staaten zusammenzuarbeiten. Stattdessen gelangte Kennedy zu dem Schluss, dass Chruschtschow den Kalten Krieg verschärfe, um ihn auf die Probe zu stellen. Weitgehend stützte sich diese Schlussfolgerung auf eine Überbewertung der scharfen Worte einer routinemäßigen Rede Chruschtschows, um die Propagandisten der Partei hinter sich zu scharen.
Darauf folgte Kennedys Panikmache in seiner Rede zur Lage der Nation. Mit erheblicher Übertreibung teilte der US-Präsident seinem Land mit, was er in weniger als zwei Wochen im Amt erfahren und ihn dazu veranlasst hatte, den weit zurückhaltenderen Ton seiner Antrittsrede zu ändern:
Jeden Tag vermehrt sich die Zahl der Krisen. Jeden Tag wird es schwieriger, sie zu lösen. Jeden Tag rücken wir der Stunde höchster Gefahr ein Stück weit näher. Ich glaube, den Kongress über die Analysen in Kenntnis setzen zu müssen, die wir in den letzten zehn Tagen vorgenommen haben: In jedem der Hauptkrisengebiete sind uns die Ereignisse davongelaufen – und die Zeit hat nicht für uns gearbeitet.
Der sinnfällige Augenblick für die Unentschlossenheit in Kennedys erstem Amtsjahr kam mit dem Debakel in der Schweinebucht im April, als der US-Präsident eine Operation, die die Eisenhower-Administration ersonnen hatte, weder absagte, noch ihr die nötigen Ressourcen für einen Erfolg versprechenden Ausgang zur Verfügung stellte. Von diesem Punkt an fürchtete Kennedy zu Recht, dass Chruschtschow ihn für schwach hielt, insbesondere mit Blick auf das weit resolutere Vorgehen des sowjetischen Führers bei dem Aufstand in Ungarn 1956. Wie Kennedy dem Kolumnisten James Reston sagte, nachdem der Parteichef ihn auf dem Wiener Gipfel abgekanzelt hatte: Chruschtschow ging vermutlich davon aus, wenn einer so jung und unerfahren sei, sich auf so eine Sache einzulassen, dann könne man ihn leicht packen. Und einer, der sich in so einen Schlamassel begibt und dann nicht durchhält, habe keinen Mumm in den Knochen. Also habe er ihm tüchtig die Hölle heißgemacht, sagte er Reston. Dem Präsidenten war klar, dass er jetzt ein Problem hatte.
Auf Chruschtschows Drohung in Wien, unilateral den Status Berlins bis zum Jahresende zu ändern, antwortete Kennedy mit schärferen Worten, höheren Rüstungsausgaben, einer erhöhten Kampfbereitschaft und einer Überprüfung der militärischen Eventualfallpläne, einschließlich des Plans für eine Antwort mit Kernwaffen. Aber er hinkte den Sowjets immer einen Schritt hinterher. Als DDR-Kräfte mit sowjetischer Rückendeckung am 13. August so bemerkenswert schnell und wirkungsvoll die Berliner Grenze schlossen, sah es ganz so aus, als wären die USA und ihre Verbündeten auf dem falschen Fuß erwischt worden.
Zeitgenössische Schilderungen legen die Vermutung nahe, Kennedy sei völlig überrumpelt worden. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass Kennedy nicht nur eine vergleichbare Aktion der Sowjets im Voraus ahnte, sondern dass er auch half, das Drehbuch zu schreiben. Im privaten Kreis reagierte Kennedy eher erleichtert als empört und beschloss, weder die Sperrung der Grenze zu unterbinden, solange noch die Gelegenheit dazu bestand, noch seine kommunistischen Gegner mit Sanktionen zu strafen. Bekanntlich sagte er zu seinen Vertrauten: »Es ist keine besonders angenehme Lösung, aber eine Mauer ist verdammt viel besser als ein Krieg.«
Durchweg hatte er Chruschtschow die Botschaft vermittelt – in Wien direkt und danach indirekt über öffentliche Reden und über geheime Kanäle –, dass der sowjetische Ministerpräsident auf dem Territorium, das er kontrollierte, tun und lassen konnte, was er wollte, solange er nicht Hand an Westberlin oder an den Zugang zur Stadt legte.
Wie Kennedy dem wirtschaftlichen Berater des Weißen Hauses Walt Rostow einige Tage vor der Grenzschließung sagte: »Ostdeutschland gleitet Chruschtschow allmählich aus der Hand, und das kann er nicht zulassen. Wenn Ostdeutschland erst einmal weg ist, passiert das Gleiche mit Polen und ganz Osteuropa. Er muss etwas unternehmen, um den Flüchtlingsstrom zu stoppen. Vielleicht baut er eine Mauer. Und wir werden nichts dagegen unternehmen können. Ich kann das Bündnis auf die Verteidigung Westberlins einschwören, aber ich kann nichts tun, um Ostberlin offen zu halten.«
Am 13. August konnten Chruschtschow und Ulbricht mit relativ großer Zuversicht handeln, dass Kennedy nicht eingreifen würde, solange sie sich an die Richtlinien hielten, die er selbst vorgegeben hatte. Vermutlich errichteten sie aus diesem Grund die Mauer in ihrer ganzen Länge nicht direkt auf der Grenze, sondern zur Sicherheit ein paar Meter zurückversetzt auf Ostberliner Territorium. Indem er den deutschen Traum von der Wiedervereinigung missachtete und bereit war, das bestehende europäische Kräftegleichgewicht zu akzeptieren, wurde Kennedy von der falschen Hoffnung getrieben, dass er die Aussichten auf fruchtbare Verhandlungen zu einer breiten Palette von Themen erhöhen würde, wenn er den Sowjets in Berlin eine größere Sicherheit gewährte. Stattdessen ermunterte, wie die Kuba-Krise zeigen sollte, Kennedys Untätigkeit in Berlin die Sowjets jedoch lediglich zu noch dreisteren Übergriffen.
Die Historiker haben sich lange Zeit gefragt, ob Kennedy womöglich noch deutlicher schon im Vorfeld seine Zustimmung zum Bau der Berliner Mauer signalisiert hatte. Falls tatsächlich eine entsprechende Botschaft vermittelt worden war, erfolgte sie höchstwahrscheinlich über die regelmäßigen Treffen zwischen Kennedys Bruder Robert und dem sowjetischen Mittelsmann Georgij Bolschakow, dem Agenten des sowjetischen Militärgeheimdienstes, der einen geheimen Draht zwischen Kennedy und Chruschtschow etabliert hatte. Bobby sollte sich später dafür entschuldigen, dass er diese Gespräche nicht dokumentiert hatte. Die vorliegenden Notizen Bolschakows enthalten keine Angaben über seine Gespräche mit Bobby unmittelbar vor oder nach der Grenzschließung, und die Geheimdienstarchive des Kremls, die möglicherweise darüber Aufschluss geben könnten, sind immer noch unter Verschluss.
Dessen ungeachtet ist die Übereinstimmung zwischen dem Kurs, den Kennedy gebilligt hatte, und dem, was die Sowjetunion und die DDR in die Tat umsetzten, so frappierend, dass man wohl kaum von Zufall sprechen kann. Kennedy gewährte Chruschtschow einen größeren Handlungsspielraum in Berlin als alle seine Vorgänger. Die freigegebenen Transkripte der Gespräche in Wien enthüllen de facto den Deal, zu dem sich Kennedy bereit erklärte: Er würde Chruschtschow freie Hand bei der Schließung der Grenze geben, im Austausch gegen eine Garantie, dass die Sowjets weder die Freiheit Westberlins noch den Zugang der Alliierten zu der Stadt antasteten. Hohe amerikanische Regierungsbeamte, die im Nachhinein die Protokolle lasen, zeigten sich schockiert über Kennedys ungeahnte Bereitschaft, die Spaltung Europas nach dem Krieg als dauerhaft anzuerkennen, um Stabilität zu erreichen. Wie Kennedy am ersten Tag des Wiener Gipfels zu Chruschtschow sagte: »Die Hauptsache besteht also darin, dass sämtliche Veränderungen, die sich auf der Welt ereignen und das Kräftegleichgewicht beeinflussen, auf eine Weise erfolgen, die nicht dem Ansehen der vertraglichen Verpflichtungen unserer beiden Länder schadet.«
Am zweiten Tag nahm Kennedy expliziter auf Berlin Bezug und beschränkte Amerikas Versprechen mehrmals ausdrücklich auf Westberlin, statt auf ganz Berlin wie seine Vorgänger. Diese Präzisierung bekräftigte Kennedy in aller Öffentlichkeit am 25. Juli in einer live im Fernsehen übertragenen Rede an die Nation. Die Botschaft, die er hier in der Berlin-Frage Chruschtschow vermittelte, war so eindeutig defensiv, dass amerikanische Entscheidungsträger, die in der Diplomatie seit dem Zweiten Weltkrieg jedes Wort sorgfältig abwogen, regelrecht beunruhigt waren.
Zwei Wochen vor der Schließung der Grenze, am 30.Juli, erklärte der Vorsitzende des Senatsausschusses für Auswärtige Beziehungen, William Fulbright, im Fernsehen zu der Grenze in Berlin: »Die Wahrheit ist, denke ich, dass die Russen alle Macht haben, sie auf jeden Fall zu schließen. Nächste Woche, wenn sie beschließen würden, die Grenze zu schließen, könnten sie das tun, ohne einen Vertrag zu verletzen. Ich verstehe nicht, weshalb die DDR ihre Grenze nicht schon längst geschlossen hat, denn ich meine, sie hat jedes Recht dazu.«
Damit hatte der Senator aus Arkansas ausgesprochen, was Kennedy insgeheim dachte. Der US-Präsident dementierte diese Äußerung mit keinem Wort, und der Nationale Sicherheitsberater McGeorge Bundy sagte Kennedy unter vier Augen, er halte Fulbrights Äußerung für »hilfreich«.9 Ohne gegenteilige Stellungnahme des Präsidenten gelangte Chruschtschow zu dem Schluss, dass Fulbright absichtlich ein Signal gegeben hatte. Das sagte er auch dem SED-Chef Walter Ulbricht und dem italienischen Staatspräsidenten Amintore Fanfani bei seinem Besuch.10 »Sobald die Grenze geschlossen ist«, sagte Chruschtschow zu Ulbricht, »werden die Amerikaner und die Westdeutschen regelrecht froh sein. [US-Botschafter] Thompson sagte mir, dass diese Flucht den Westdeutschen erhebliche Schwierigkeiten bereite. Wenn wir also diese Kontrollen einführen, dann werden alle zufrieden sein. Und abgesehen davon werden sie Ihre Macht spüren.«
Ulbricht bestätigte dies und fügte hinzu, dann hätten sie endlich Stabilität erreicht. Das war das Ziel, in dem Ulbricht, Chruschtschow und Kennedy sich einig waren: der Wunsch nach Stabilität für die DDR.11
Das ganze Jahr 1961 über war Berlin ein unerwünschtes, ererbtes Problem für Kennedy und nie eine Angelegenheit, für die er wirklich kämpfen wollte. Bei einem heißen Bad in einer riesigen goldenen Badewanne in Paris beklagte sich der Präsident bei seinen Vertrauten Kenny O’Donnell und Dave Powers: »Also befinden wir uns in einer geradezu lächerlichen Situation. Es scheint doch geradezu unsinnig für uns, einen Nuklearkrieg wegen eines Vertrags zu riskieren, der Berlin als die künftige Hauptstadt eines vereinigten Deutschlands garantiert, wenn wir alle genau wissen, dass Deutschland wahrscheinlich nie wiedervereinigt wird.« Im Flugzeug nach London, nach dem Wiener Gipfel, beschwerte Kennedy sich erneut bei O’Donnell: »Wir sind an der Teilung in Deutschland nicht schuld. Wir sind wirklich nicht für die Vier-Mächte-Besatzung in Berlin allein verantwortlich, ein Fehler, den die Russen und wir niemals hätten begehen dürfen.«
Wenn die Etablierung der Rahmenbedingungen für weitere drei Jahrzehnte Kalten Kriegs das langfristige Ergebnis der Berlin-Krise 1961 war, so war die Raketenkrise in Kuba das bedeutendste kurzfristige Nachbeben. In den Köpfen Kennedys und Chruschtschows war die Lage in Kuba untrennbar mit der in Berlin verknüpft.
Kritiker bezeichneten Chruschtschows Plan, Atomraketen auf Kuba aufzustellen, als ein leichtfertiges Spiel mit dem Feuer, aber aus der Sicht des sowjetischen Ministerpräsidenten war es ein kalkuliertes Risiko, das sich auf das stützte, was er über Kennedy wusste. Ende 1961 sagte er einer Gruppe sowjetischer Funktionäre, er habe die Erfahrung gemacht, dass Kennedy so gut wie alles tun würde, um einen Atomkrieg zu vermeiden. »Ich bin mir sicher«, so Chruschtschow, »dass Kennedy keinen starken Rückhalt, geschweige denn den Mut hat, sich einer ernsten Herausforderung zu stellen.«12 Hinsichtlich Kubas sagte er zu seinem Sohn Sergej, dass Kennedy wohl »einen Wirbel, oder auch ein bisschen mehr als einen Wirbel, veranstalten und dann klein beigeben würde«.13
Ungeachtet aller Rückschläge im ersten Amtsjahr war Kennedy weiterhin zu so großen Zugeständnissen an Chruschtschow bereit, um endlich in Berlin eine Einigung zu erzielen, dass ein amerikanischer Vorschlag vom April 1962 eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Bundeskanzler Konrad Adenauer zur Folge hatte. Das von Kennedy als »Grundsatzpapier« bezeichnete Dokument schlug die Gründung einer »Internationalen Zugangsbehörde« vor, der die Aufsicht über den Zugang nach Berlin von den vier Mächten übertragen werden sollte. Über dieses Gremium hätten die Sowjetunion und die DDR allerdings jederzeit auch den Zugang blockieren können. Im Gegenzug wollte Kennedy lediglich, dass der Kreml eine dauerhafte Militärpräsenz und die Rechte der Alliierten in Westberlin akzeptierte.14
Das Dokument übernahm direkt die sowjetische Wortwahl, sodass die Verfasser in einem Exemplar, das nach Moskau geschickt wurde, extra ganze Passagen unterstrichen hatten, um zu zeigen, was sie entlehnt hatten. Darüber hinaus war in dem Papier keine Rede davon, dass langfristig die deutsche Wiedervereinigung über freie Wahlen angestrebt werden müsse, was bislang ein nicht verhandelbarer Punkt in den Gesprächen mit Moskau gewesen war. Ein Vorschlag der US-Regierung hatte noch nie so stark den sowjetischen Positionen geglichen oder war umgekehrt noch nie so weit von Adenauers Haltung abgewichen. Zunächst ließ Kennedy dem Bundeskanzler lediglich eine Frist von einem Tag für die Antwort auf einen Entwurf. Nach heftigen Protesten aus der Bundesrepublik verlängerte er die Frist auf achtundvierzig Stunden.
Adenauer konnte seine Verachtung für Kennedy nicht länger zurückhalten. Er protestierte bei Paul Nitze, dem stellvertretenden US-Verteidigungsminister, der ihm in Bonn einen Besuch abstattete, dass es in Westberlin, falls Kennedys Vorschlag umgesetzt werden sollte, nicht genügend Umzugslaster für alle Menschen gäbe, die aus der Stadt flüchten wollten.15 Anschließend schickte er eine barsche Note an Kennedy ab, in der es hieß: »Ich habe gegen einige dieser Vorschläge erhebliche Bedenken, und ich bitte Sie, sehr verehrter Herr Präsident, dringend, zunächst eine Verhandlungspause einzulegen, die dazu benutzt werden kann, die Behandlung der Berlin-Frage gemeinsam mit den drei Mächten zu überdenken.«16
Das Durchsickern dieses Papiers, das Adenauer so gut wie sicher gebilligt hatte, erregte solchen Wirbel, dass Kommentatoren auf beiden Seiten des Atlantiks Kennedy für diesen Rückzieher angriffen, während seine Gegner weiterhin Flüchtlinge erschossen, alliierte Soldaten schikanierten und ihre Mauer verstärkten. Kennedy musste seinen Vorschlag zurückziehen. Das Schlimmste an dem Ganzen war: Der erstarkte Chruschtschow hätte Kennedys Grundsätze ohnehin abgelehnt, weil sie keinen vollständigen Abzug der US-Truppen vorsahen.
Chruschtschow hatte sich höhere Ziele gesteckt.
Noch während er die Kuba-Operation in die Wege leitete, am 5. Juli 1962, antwortete er mit dem bislang detailliertesten Vorschlag an Kennedy, um das »Besatzungsregime in Westberlin«, wie er es nannte, zu beenden. Nach seinem Plan sollten Blauhelmtruppen der Vereinten Nationen die alliierten Truppen ablösen. Die Polizei sollte nicht allein von den bestehenden drei Westmächten gestellt werden, sondern auch von neutralen Staaten und zwei Ländern des Warschauer Pakts. Über eine schrittweise Kürzung dieses Kontingents um 25 Prozent jährlich hätte Westberlin nach Ablauf von vier Jahren überhaupt keine ausländischen Truppen mehr. Kennedy lehnte den Vorschlag zwei Wochen später, am 17.Juli, ab, aber jeder Zug Chruschtschows untermauerte weiter seine Berlin-Strategie, selbst als er heimlich letzte Hand an die Pläne für Kuba legte.17
Die sowjetische Hochseeoperation für Kuba hatte einen so gigantischen Umfang, dass Chruschtschow eigentlich davon ausgehen musste, dass Kennedy und seine Geheimdienste sie entdecken würden. Aber er hatte angenommen, dass es dem Präsidenten an der nötigen Willenskraft mangeln werde, die Aufstellung der Raketen zu stoppen.
Am 4. September teilte Kennedy ausgewählten Mitgliedern des Kongresses mit, dass die CIA zu dem Schluss gelangt sei, die Sowjets würden Fidel Castro beim Aufbau seiner Verteidigungskapazität helfen. Noch am selben Abend gab Kennedy eine Presseerklärung mit weitgehend demselben Wortlaut ab und warnte Chruschtschow, dass »die größten Probleme auftreten« würden, falls die Vereinigten Staaten Hinweise auf sowjetische Kampftruppen oder Offensivwaffen entdecken sollten. Der Ton und das Versprechen, hier Pardon zu geben, waren weit resoluter, als Chruschtschow erwartet hatte.18
Zwei Tage danach, am 6. September, ließ Chruschtschow den völlig überrumpelten Innenminister Stewart Udall, der sich in der Sowjetunion Stromkraftwerke angesehen hatte, in ein Flugzeug setzen und zu ihm ans Schwarze Meer fliegen. Er diskutierte mit Udall darüber, welche Neuorientierung der Innenpolitik Kennedy mehr Rückgrat geben könnte, auch wenn er einmal mehr seine Überzeugung wiederholte, Kennedy sei generell schwach. »Als Präsident hat er Verstand«, sagte Chruschtschow zu Udall, »aber was ihm fehlt, ist Courage – der Mut, die deutsche Frage zu lösen.« Da die Operation in Kuba bereits weit fortgeschritten war, mahnte er Udall: »Also werden wir ihm helfen, das Problem zu lösen. Wir werden ihn in eine Lage bringen, wo es notwendig ist, sie zu lösen. […] Wir werden Ihre Truppen in Berlin nicht dulden.«
Chruschtschow sagte zu Udall, um Kennedy bei den Kongresswahlen im November nicht zu schaden, werde er erst anschließend das Thema forcieren. Ohne ein Wort über Kuba zu verlieren, erklärte er, dass die verbesserte sowjetische Position der Stärke bereits das Kräftegleichgewicht verändert hatte: »Es ist schon eine Weile her, dass ihr mit uns wie mit einem kleinen Jungen umspringen konntet – inzwischen können wir euch den Hintern versohlen.« Ein Krieg um Berlin, so Chruschtschow, würde bedeuten, dass es »binnen einer Stunde kein Paris und kein Frankreich mehr gäbe«.19
Am 16. Oktober 1962, als die meisten Abschussrampen auf Kuba bereits in Stellung waren, sagte Chruschtschow zu Foy Kohler, Thompsons Nachfolger als Botschafter in der Sowjetunion, dass er sich mit dem Präsidenten auf der UN-Vollversammlung in New York in der zweiten Novemberhälfte treffen wolle, um über Berlin und andere Themen zu sprechen.20 Bis dahin hätte der sowjetische Führer die strategische Balance bereits erheblich verschoben, indem Moskau erstmals in der Geschichte die Fähigkeit hätte, zuverlässig die Vereinigten Staaten mit Kernwaffen zu treffen. Das würde ihm wiederum eine bessere Position verschaffen, um die gewünschte Lösung für Berlin entweder auszuhandeln oder schlicht durchzusetzen. Chruschtschow sagte seinem neuen Botschafter in den USA, Anatolij Dobrynin, dass Berlin »das Hauptthema in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen« bleibe.21
Wie Chruschtschow sich später erinnerte:
Meine Gedanken gingen in folgende Richtung: Wenn wir die Raketen heimlich installierten und die Vereinigten Staaten erst entdeckten, dass sich die Raketen dort befänden, als diese bereits auf ihr Ziel gerichtet und abschussbereit wären, dann würden die Amerikaner es sich zweimal überlegen, bevor sie versuchten, unsere Einrichtungen mit militärischen Mitteln zu vernichten. Ich wusste, dass die Vereinigten Staaten zwar einige unserer Einrichtungen zerstören konnten, aber nicht alle. Wenn ein Viertel oder auch nur ein Zehntel unserer Raketen erhalten blieb – oder wenn auch nur eine oder zwei große übrig blieben –, dann könnten wir noch immer New York treffen, und dann würde von New York nicht mehr viel da sein. Ich will damit nicht sagen, dass alle Menschen in New York getötet würden – selbstverständlich nicht alle, aber schrecklich viele Menschenleben würden ausgelöscht werden. […] Und es war höchste Zeit, dass Amerika merkte, wie einem zumute ist, wenn das eigene Land und das eigene Volk bedroht werden.22
Von allen Maßnahmen Chruschtschows in jener Phase, die eine Verbindung zwischen Kuba und Berlin herstellten, war der Bau einer oberirdischen Ölpipeline quer durch die DDR, um die Treibstoffversorgung für sowjetische Truppenverlegungen an die westdeutsche Grenze zu gewährleisten, die wohl auffälligste. Die Rohre signalisierten Präsident Kennedy unmissverständlich, dass Chruschtschow bereit wäre, bei einem Rückschlag auf Kuba einen Krieg um Berlin zu führen.23
Dazu Chruschtschow später: »Die Amerikaner wussten, dass, falls russisches Blut auf Kuba vergossen würde, mit Sicherheit amerikanisches Blut in Deutschland vergossen werden würde.«24
Kennedys Worte und Taten in den dreizehn Tagen der Kuba-Krise vom 16. bis zum 29. Oktober 1962 unterstrichen seine Überzeugung, dass Chruschtschows Kuba- und Berlin-Strategien eng miteinander verknüpft waren. Von Anfang an mutmaßte der US-Präsident, dass Chruschtschows Kuba-Strategie letztlich die Einnahme Berlins zum Ziel hatte, was für den sowjetischen Ministerpräsidenten eine viel höhere Priorität hatte. Somit sagte Kennedy den Vereinigten Stabschefs:
Lassen Sie mich zunächst ein paar Worte über den Kern des Problems aus meiner Sicht sagen. Ich denke, wir sollten uns überlegen, warum die Russen das gemacht haben. In Wirklichkeit ist es ein sehr riskantes, aber sehr nützliches Spiel ihrerseits. Wenn wir nichts unternehmen, dann verfügen sie dort über eine Raketenbasis mitsamt dem Druck, der dadurch auf die USA und ihr Ansehen ausgeübt wird. Wenn wir kubanische Raketen oder Kuba in irgendeiner Form angreifen, dann werten sie das als eindeutige Kampfansage und nehmen Berlin ein, genau wie sie während der Suez-Krise imstande waren, in Ungarn vorzugehen. Wir würden als die schießwütigen Amerikaner dastehen, die Berlin verloren haben. Wir hätten keinen Rückhalt unter unseren Bündnispartnern. Wir würden die Haltung der Westdeutschen uns gegenüber belasten. Und [die Menschen würden glauben], dass wir Berlin aufgeben, weil wir nicht den Mumm haben, die Situation auf Kuba zu bewältigen. Immerhin liegt Kuba 5000 oder 6000 Meilen von ihnen entfernt. An Kuba liegt ihnen im Grunde gar nichts. Aber es liegt ihnen etwas an Berlin und an ihrer eigenen Sicherheit.25
Kennedys Entscheidung, im Jahr 1962 gegenüber den Sowjets in Kuba einen härteren Kurs als im Vorjahr in Berlin einzuschlagen, hatte mindestens drei Gründe: Erstens schwebten die Vereinigten Staaten selbst in einer weit größeren Gefahr, weil der Gefahrenherd viel näher am eigenen Land lag. Zweitens waren die innenpolitischen Risiken eines Fehlers auf Kuba mit Blick auf Kennedys Aussichten für eine Wiederwahl viel höher als bei dem fernen Berlin. Und drittens hatte Kennedy endlich gelernt, dass seine Demonstration der Schwäche Chruschtschow nur ermuntert hatte, ihn immer weiter auf die Probe zu stellen. Der sowjetische Ministerpräsident hatte ihn dreist an der Nase herumgeführt, als er erklärte, er werde Berlin-Gespräche auf einen Termin nach den Kongresswahlen verschieben, weil er lediglich Zeit für den Aufbau der Raketen gewinnen wollte.
Kennedy unterstrich noch einmal den Zusammenhang mit Berlin, als er den britischen Premierminister Harold Macmillan in einem geheimen Fernschreiben über die fotografischen Beweise für Raketen unterrichtete, das am 21. Oktober um 22:00 Uhr in London einging. Kennedy schrieb:
Ich bin mir völlig darüber im Klaren, dass es womöglich Chruschtschows Hauptabsicht ist, seine Erfolgschancen in Berlin zu erhöhen, und wir sollten bereit sein, uns auch dort, genauso wie in der Karibik, voll und ganz einzusetzen. Ausschlaggebend ist in diesem Moment der schwersten Prüfung, dass Chruschtschow merken sollte, dass er sich verrechnet hat, falls er auf unsere Schwäche oder Unentschlossenheit gezählt hatte.26
In einer zweiten Nachricht an Macmillan nur einen Tag später brachte Kennedy erneut seine Besorgnis wegen Berlin zum Ausdruck, wenige Stunden vor seiner historischen Fernsehansprache, in der er die Amerikaner über die Gefahr informierte, die Sowjets aufforderte, die Raketen abzuziehen, und eine Seeblockade gegen Kuba verhängte. »Ich brauche Ihnen [Macmillan] wohl nicht die mögliche Beziehung dieses heimlichen und riskanten Schachzugs von Chruschtschow in Bezug auf Berlin zu erklären«, meinte er.27
Im Jahr 1962 wies Kennedy auch den Rat der sogenannten SLOBs zurück. Botschafter Thompson, der aus Moskau ins US-Außenministerium zurückgekehrt war, wollte, dass Kennedy während des Showdowns auf Kuba jeden Militärverkehr nach Berlin stoppte, um den Kreml nicht zu provozieren – eine Idee, die der Präsident ablehnte.28 Der Nationale Sicherheitsberater Bundy fragte sich, ob man vielleicht einen Handel anbieten könne, demzufolge Berlin gegen die Raketen eingetauscht werden sollte. Auch diesen Vorschlag lehnte Kennedy ab, da er nicht als der Präsident in die Geschichte eingehen wollte, der Berlin verloren hatte.29
Bei aller wiedergefundenen Willensstärke widersetzte sich Kennedy jedoch auch dem Vorschlag des Militärs, die Abschussrampen auf Kuba anzugreifen, nicht zuletzt weil er fürchtete, dass die Sowjets mit gleicher Münze in Berlin zurückschlagen würden. An einem Punkt protestierte General Curtis E. LeMay, der Chef der amerikanischen Luftwaffe, gegen Kennedys Weigerung zuzuschlagen: »Das ist fast so schlimm wie das Appeasement seinerzeit in München. « LeMay argumentierte wie folgt: »Wenn wir in Kuba nichts unternehmen, werden sie uns in Berlin unter Druck setzen, und zwar wirklich massiv, weil sie uns vor sich hertreiben werden.«30
Kennedy sagte dem Exekutivkomitee, dem Gremium, das er eigens aus dem Nationalen Sicherheitsrat gebildet hatte, um die Krise zu bewältigen, dass er befürchte, selbst eine Seeblockade könne eine ähnliche sowjetische Blockade Berlins provozieren. Der US-Präsident ernannte einen Unterausschuss jener Gruppe unter dem Vorsitz von Paul Nitze, der sich mit Fragen auseinandersetzen sollte, die mit Berlin zu tun hatten. Er brachte sogar eine Rückkehr von General Lucius D. Clay nach Berlin ins Gespräch, um die US-Aktionen bei Bedarf zu koordinieren.
In seiner Rede an die Nation vom 22. Oktober warnte Kennedy Chruschtschow öffentlich vor Aktionen gegen Berlin: »Jedem feindseligen Vorgehen irgendwo in der Welt gegen die Sicherheit und Freiheit von Völkern, für die wir Verpflichtungen eingegangen sind – einschließlich insbesondere der tapferen Bevölkerung Westberlins –, wird mit allen erforderlichen Maßnahmen begegnet werden.«31
Damit war Kennedys Berlin-Krise nach Kuba verlegt worden.
Bei einem Gespräch mit David Bruce, dem US-Botschafter in London, am Abend von Kennedys Rede äußerte Premierminister Macmillan die Befürchtung: »War es nicht wahrscheinlich, dass es Chruschtschows eigentliche Absicht war, Kuba gegen Berlin einzutauschen? Wenn ihm unter großem Gesichtsverlust in Kuba Einhalt geboten würde, wäre er dann nicht versucht, sich in Berlin zu revanchieren? Könnte das nicht sogar der ganze Sinn dieser Übung sein – einen Bauern vorzuschieben, um ihn gegen einen anderen auszutauschen? «32 Kennedy bekannte seinerseits gegenüber Macmillan, dass er befürchtete, Chruschtschow könne präventiv in Berlin eine militärische Aktion durchführen, die eine entsprechende Antwort der USA auf Kuba erforderte. »Das ist in der Tat die Wahl, die wir jetzt haben«, schrieb er. »Wenn er [Chruschtschow] Berlin einnimmt, dann erobern wir Kuba.«33
Stattdessen machte Chruschtschow in Kuba einen Rückzieher, sobald er von einem entschlossenen Kennedy herausgefordert wurde, genau wie General Clay es ein Jahr zuvor in Bezug auf Berlin vorhergesagt hatte. Als der sowjetische Vize-Außenminister Wassilij Kusnezow Chruschtschow einen Ablenkungsschlag gegen Berlin vorschlug, warnte ihn der sowjetische Parteichef: »Behalten Sie dieses Gerede für sich. Wir wissen nicht einmal, wie wir aus der einen heiklen Lage herauskommen, und Sie [wollen] uns in die nächste bringen? «34 Chruschtschow lehnte auch Botschafter Dobrynins Vorschlag ab, auf Kuba mit einem »ersten Schritt« zu antworten, das heißt mit der Schließung der Landwege nach Berlin. »Mein Vater hielt jede Aktion in Berlin für unangemessen riskant«, sollte sich Chruschtschows Sohn Sergej später erinnern. Er betonte, dass Chruschtschow »keine Sekunde lang« einen Atomschlag gegen die Vereinigten Staaten in Erwägung gezogen habe. Nach Kennedys Rede begann Chruschtschow mit dem Abzug sowjetischer Truppen von der westdeutschen Grenze, um deutlich zu signalisieren, dass er nicht die Absicht hatte, den Konflikt eskalieren zu lassen.35
Dessen ungeachtet war Kennedy in der Kuba-Krise nie so kompromisslos, wie es der amerikanischen Öffentlichkeit schien. Am 27. Oktober einigten sich Robert, der Bruder des Präsidenten, und Dobrynin darauf, dass die Vereinigten Staaten ihre Jupiter-Atomraketen aus der Türkei abzogen. Als Chruschtschow das Zugeständnis einen Tag danach in einem Brief an Kennedy erwähnte, schickte Bobby den Brief an die Sowjets zurück und bestritt, dass jemals so ein Handel geschlossen worden sei. Chruschtschow hielt den Abzug aus der Türkei aber für einen wesentlichen Bestandteil der Einigung.36
Dennoch hatte sich Kennedy selbst gegen seine ärgsten Kritiker unter den Alliierten durchgesetzt. De Gaulle hatte dem Gesandten Kennedys, Dean Acheson, während der Krise bekanntlich geantwortet, dass er nicht den Beweis von Spionageaufnahmen brauche, um »eine große Nation« zu unterstützen.37 Adenauer sagte, er werde das Los Kennedys teilen, selbst wenn die Vereinigten Staaten der Meinung wären, sie müssten Kuba bombardieren oder dort einmarschieren. »Die Raketen müssen weg«, erklärte er kategorisch und rüstete anschließend sein Land für eine Berlin-Blockade und sogar für einen atomaren Schlagabtausch.38 Bezeichnenderweise lehnte Kennedy das friedfertige Angebot Macmillans ab, mit Moskau zu verhandeln und wegen Kuba einen Gipfel einzuberufen, der nach Kennedys Meinung für Berlin katastrophale Folgen hätte. »Ich weiß nicht recht, worüber wir bei dem Treffen sprechen sollten«, sagte Kennedy, »weil er mit derselben alten Haltung zu Berlin daherkommen wird, vermutlich einen Abbau der Raketen vorschlägt, wenn wir Berlin neutralisieren. «39
Das eigentlich Überraschende an Kennedys Demonstration der Stärke war Chruschtschow selbst, der so hoch gepokert hatte. General Clay ließ gegenüber dem Diplomaten William Smyser durchblicken, dass es möglicherweise nie zu einer Raketenkrise gekommen wäre, wenn Chruschtschow Kennedy nicht als schwach eingeschätzt hätte. Er war auch der Meinung, dass die Gefahr in Berlin erst dann zurückgehen würde, wenn Kennedy klargestellt hätte, dass er Moskaus Schikanen nicht länger hinnehme.40
Die Westberliner feierten den Ausgang der Raketenkrise begeisterter als alle anderen. Sie schlossen daraus, dass die sowjetische Gefahr an ihnen vorübergezogen war.
RATHAUS
SCHÖNEBERG
DONNERSTAG, 27. JUNI 1963
Seine erste und letzte Reise nach Berlin machte Kennedy acht Monate nach der Kuba-Krise am 27. Juni 1963. Nach einer Stippvisite am Checkpoint Charlie und einem Spaziergang entlang der Mauer hielt er eine Rede vor dem Rathaus, wo sich gut 300 000 Berliner versammelt hatten. Die meisten sollten sich ihr Leben lang an diesen Augenblick erinnern. Schätzungsweise eine weitere halbe Million Berliner säumte die über 50 Kilometer lange Route, die Kennedys Wagenkolonne nach der Landung der Präsidentenmaschine auf dem militärischen Teil des Flughafens Tegel durch das gesamte Stadtgebiet Westberlins nahm. Während der Fahrt stand Kennedy die meiste Zeit ganz rechts im Fond seines offenen Lincoln-Cabrios neben dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt und Bundeskanzler Konrad Adenauer. Um einen kurzen Blick auf ihren amerikanischen Helden zu erhaschen, saßen Berliner auf Bäumen, klammerten sich an Laternenpfähle und drängten sich auf den Dächern und Balkonen. Das Rote Kreuz, das man eigens für Notfälle in der Menge bestellt hatte, berichtete später, dass mehr als tausend Menschen ohnmächtig geworden seien.41
Während der Fahrt durch Berlin waren die Mitglieder der US-Delegation und der Präsident selbst überrascht angesichts der Begeisterung, die Kennedy entgegengebracht wurde. Adenauer, der mit solchen frenetisch jubelnden Menschenmassen böse Erinnerungen an das Dritte Reich verband, soll Außenminister Rusk zugeflüstert haben, dass ihm so etwas geradezu Angst mache. Einmal war Kennedy selbst so bestürzt, dass er zu seinem Adjutanten, General Godfrey T. McHugh, sagte: »Wenn ich zu ihnen sagen würde, sie sollten die Mauer niederreißen, dann würden sie es tun.«42
Aber je länger Kennedy und sein Gefolge auf Westberliner Boden waren, desto stärker ließen sie sich von der Bevölkerung anstecken. Kennedy war zugleich gerührt vom Mut der Westberliner und schockiert vom Anblick der Mauer, gegen deren Bau er kaum etwas unternommen hatte. »Er sieht aus wie jemand, der soeben einen Blick in die Hölle erhascht hat«, beobachtete der Time-Korrespondent Hugh Sidey. Während Kennedy durch die Stadt fuhr, überarbeitete er die allerwichtigste der drei Reden, die er halten wollte. Er strich die nichts sagenden Passagen, die man in Washington verfasst hatte, um die Sowjets nicht zu provozieren. Seine Rede vor dem Westberliner Rathaus Schöneberg sollte die wohl emotionalste und eindrucksvollste Rede werden, die er jemals im Ausland hielt:
Wenn es in der Welt Menschen geben sollte, die nicht verstehen oder nicht zu verstehen vorgeben, worum es heute in der Auseinandersetzung zwischen der freien Welt und dem Kommunismus geht, dann können wir ihnen nur sagen, sie sollen nach Berlin kommen. Es gibt Leute, die sagen, dem Kommunismus gehöre die Zukunft. Sie sollen nach Berlin kommen. Und es gibt wieder andere in Europa und in anderen Teilen der Welt, die behaupten, man könne mit dem Kommunismus zusammenarbeiten. Auch sie sollen nach Berlin kommen. Und es gibt auch einige wenige, die sagen, es treffe zwar zu, dass der Kommunismus ein böses und ein schlechtes System sei, aber er gestatte es ihnen, wirtschaftlichen Fortschritt zu erreichen. Aber lasst auch sie nach Berlin kommen.43
An diesem Punkt streute Kennedy eine Zeile auf Deutsch ein, die in seinem Originaltext nicht enthalten war, die er aber vor dem Auftritt mit Robert Lochner, dem Chef des Rundfunks im amerikanischen Sektor (RIAS), und mit Adenauers Dolmetscher Heinz Weber einstudiert hatte. »Lasst sie nach Berlin kommen«, sagte er. »Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger dieser Stadt Westberlin, und deshalb bin ich als freier Mann stolz darauf, sagen zu können: ›Ich bin ein Berliner‹.« Oder wie es Kennedy sich auf einer Karte notiert hatte: »Ish bin ine Bear-LEAN-er.«
Jahre danach argumentierten englischsprachige Hobbylinguisten, Kennedy habe den Satz falsch ausgesprochen, und indem er den unbestimmten Artikel »ein« dem Wort Berliner voranstellte, was zugleich der Name eines deutschen Gebäcks ist, habe er der Menge in Wirklichkeit auf gut Englisch gesagt: »I am a jelly doughnut.« (Etwa: Ich bin ein leckerer Krapfen.) Aber der US-Präsident hatte genau über diese Frage mit zwei seiner Berater diskutiert, die ganz richtig erklärten, dass Kennedy, wenn er den Artikel wegließe, damit andeutete, er sei in Berlin geboren. Das hätte die Menge irritieren können, und die Wirkung der symbolischen Geste wäre womöglich verloren gegangen. Auf jeden Fall wussten in der überschwänglich jubelnden Menge alle ganz genau, was Kennedy damit sagen wollte.44
Indem er die ganze Empörung zum Ausdruck brachte, die er im August 1961 zurückgehalten hatte, erteilte Kennedy dem Kommunismus eine klare Absage. Er räumte ein, dass auch die Demokratie gewisse Mängel habe, aber »wir hatten es nie nötig, eine Mauer zu errichten, um unsere Leute bei uns zu halten und sie daran zu hindern, woanders hinzugehen«. Zur großen Freude Adenauers sprach er zum ersten Mal in seiner Präsidentschaft auch von dem Recht auf Wiedervereinigung, das sich die Deutschen durch ihr Verhalten seit nunmehr achtzehn Jahren erworben hätten. Er äußerte seine feste Überzeugung, dass Berlin, die deutsche Nation und der europäische Kontinent eines Tages vereint würden.
Das war ein neuer Kennedy.
Der US-Präsident rief General Clay, der mit ihm nach Berlin gereist war, zu sich aufs Podium. Gemeinsam genossen sie die Jubelrufe der Menge – der Mann, der im privaten Kreis Kennedy scharf kritisierte, weil er den Sowjets nicht energisch genug die Stirn bot, und der Oberbefehlshaber, der jetzt, zur Bestürzung seiner Berater, so sehr im Sinne Clays handelte. Nach der Rede sagte Bundy dem Präsidenten: »Ich glaube, Sie sind ein bisschen zu weit gegangen. «
Mit einer einzigen Rede hatte Kennedy dem amerikanischen Kurs in Bezug auf Deutschland und Berlin eine Richtung gegeben, die mit der neuen Entschlossenheit übereinstimmte, die er in Kuba bewiesen hatte. Zum ersten Mal in seiner Präsidentschaft behandelte Kennedy Berlin wirklich als einen Ort, der verteidigt werden musste, als einen Ort, an dem er sein Vermächtnis hinterlassen sollte, und nicht mehr als eine von anderen übernommene Last mit Menschen, für die er wenig übrighatte. Von da an konnte weder Kennedy noch irgendein anderer US-Präsident in Berlin einen Rückzieher machen.
Wie Kennedy zu Ted Sorensen auf dem Flug von Berlin nach Irland sagte: »Wir werden, solange wir leben, nie mehr einen Tag wie diesen erleben.«45
Nur knapp fünf Monate danach, am 22. November 1963, erschoss ein Attentäter John F. Kennedy in Dallas, Texas. Wiederum knapp ein Jahr später, am 14. Oktober 1964, setzten kommunistische Genossen den Parteichef Nikita Chruschtschow ab. Im Jahr 1971 starb er an Herzversagen, nachdem es gelungen war, seine Memoiren in den Westen zu schmuggeln.
Im Oktober 1963 trat Adenauer als Teil des Koalitionsvertrags, den er nach der Wahl im September 1961 geschlossen hatte, von seinem Amt als Kanzler zurück. Er starb im Jahr 1967, im Alter von einundneunzig Jahren, eines natürlichen Todes und hinterließ als Vermächtnis eine demokratische, wirtschaftlich blühende Bundesrepublik und einen Traum, der – so unrealistisch er auch scheinen mochte – langfristig der Kurs der US-Politik blieb: dass nämlich Deutschland eines Tages wiedervereinigt werde. Seine letzten Worte an seine Tochter waren: »Do jitt et nix do kriesche.« (Da gibt es nichts zu heulen.)
Nicht ganz ein Jahrzehnt nach der Schließung der Grenze, im Mai 1971, trat der SED-Chef Walter Ulbricht zurück und wurde von Erich Honecker abgelöst, jenem Mann, dem er die Leitung des Projekts Berliner Mauer anvertraut hatte. Honecker gab die Macht erst einen Monat vor dem Fall der Mauer ab, die er gebaut hatte. Im Jahr 1994 starb er im Exil in Chile an Krebs, nachdem man unter anderem gegen ihn Anklage erhoben hatte, weil er den Grenzwachen befohlen hatte, auf die eigenen Staatsbürger zu schießen, falls sie zu fliehen versuchten. Es kam allerdings nie zum Prozess.
Aber im Jahr 1961 waren in Berlin ihre Schicksale in einer Stadt vereint, deren Name zum Symbol der zentralen ideologischen und geopolitischen Auseinandersetzung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden sollte. Letztlich ging die Geschichte gut aus, aber nur weil Kennedy in Kuba den riskanten Kurs radikal korrigierte, den er im Vorjahr in Berlin eingeschlagen hatte.
Kennedy konnte jedoch nicht die Mauer aus der Welt schaffen, die errichtet wurde, während er tatenlos zusah. Drei Jahrzehnte lang, wenn nicht überhaupt in der ganzen Geschichte der Menschheit, sollte sie zum Sinnbild für das Leid werden, das unfreie politische Systeme anrichten können, wenn freie Staatsoberhäupter nicht energisch genug Widerstand leisten.