KAPITEL 17
Atompoker
In gewissem Sinne gibt es hier
eine Analogie – ich mag diesen Vergleich –
zur Arche Noah, auf der sowohl die »Reinen« als
auch die »Unreinen«
Zuflucht fanden. Unabhängig davon, wer sich selbst
als »rein« bezeichnet und
wen man für »unrein« hält, sie alle sind doch nur
an einer Sache interessiert,
nämlich dass die Arche ihre Fahrt erfolgreich
fortsetzen kann.
MINISTERPRÄSIDENT CHRUSCHTSCHOW AN US-PRÄSIDENT
KENNEDY
IM ERSTEN BRIEF IHRER GEHEIMKORRESPONDENZ VOM 29. SEPTEMBER
19611
Unser Vertrauen in unsere Fähigkeit, kommunistische Aktionen abzuschrecken oder uns kommunistischen Erpressungsversuchen zu widersetzen, gründet auf einer nüchterne nEinschätzung der relativen militärischen Macht der beiden Seiten. Tatsächlich verfügt unsere Nation über derart todbringende Mittel für einen nuklearen Vergeltungsschlag, dass jeder Schritt des Feindes, der sie ins Spiel bringen würde, einem Selbstmord gleichkäme.
DER STELLVERTRETENDE US-VERTEIDIGUNGSMINISTER
ROSWELL GILPATRIC
IN HOT SPRINGS, VIRGINIA, 21. OKTOBER 19612
CARLYLE-HOTEL, NEW
YORK
SAMSTAG, 30. SEPTEMBER 1961
Georgij Bolschakow trug zwei Zeitungen unter dem Arm, als er wie verabredet um 15:30 Uhr an Pierre Salingers Zimmertür im Carlyle-Hotel klopfte.3 Ein Agent des Secret Service hatte ihn am Hintereingang empfangen und dann mit dem Personalaufzug hinaufgebracht.
In einer der Zeitungen war ein dicker brauner Briefumschlag versteckt, aus dem Bolschakow jetzt umständlich ein Bündel Papier herauszog. Mit verschwörerischer Miene verkündete der Sowjetspion, dass er hier einen sechsundzwanzigseitigen persönlichen Brief Chruschtschows an Kennedy in der Hand halte, an dessen Übersetzung er die ganze Nacht gearbeitet habe. Die dunklen Ringe unter Bolschakows Augen waren jedoch dermaßen typisch für ihn, dass Salinger nicht ausmachen konnte, ob er die Wahrheit sagte.
»Hier! Sie dürfen ihn lesen«, sagte er Salinger. »Aber sonst ist das nur für den Präsidenten bestimmt.« Erst vor einer Woche hatten sich Bolschakow und Salinger vor Kennedys UN-Rede im selben Zimmer getroffen. Offenbar wollte Chruschtschow keine Zeit verlieren, um herauszufinden, ob Kennedys versöhnliche Worte ernst zu nehmen seien und ob er tatsächlich bereit war, trotz des Widerstands Frankreichs und der Bundesrepublik neue Gespräche über Berlin aufzunehmen. Bolschakow händigte dem Präsidentensprecher auch das russische Original aus, damit die Übersetzer der US-Regierung die Genauigkeit der englischen Version überprüfen konnten.
Auf diese Weise begann das, was der Nationale Sicherheitsberater McGeorge Bundy als die »Brieffreundschaft« zwischen Kennedy und Chruschtschow bezeichnete, der einzigartige direkte Austausch von persönlichen Briefen zwischen den damaligen Chefs der beiden gegensätzlichen Weltlager. In den nächsten beiden Jahren würde der Sowjetführer seine Schreiben weiterhin auf regelrecht verschwörerische Weise dem US-Präsidenten übergeben lassen. Bolschakow oder andere sowjetische Agenten steckten sie Salinger, Robert Kennedy oder Ted Sorensen an Straßenecken, in Bars oder an anderen Orten zu, wobei sie oft wie beim ersten Mal unbeschriebene Umschläge aus gefalteten Zeitungen herausholten.
Chruschtschow hielt die Angelegenheit für dermaßen dringend, dass Bolschakow Salinger bereits einen Tag zuvor angerufen und ihm angeboten hatte, sich ein Privatflugzeug zu mieten, um den Brief nach Newport auf Rhode Island zu bringen, wo Kennedy im Haus von Jacquelines Mutter, Janet Lee Bouvier, und ihrem Stiefvater, Hugh Auchincloss, eine Woche Urlaub machte. Der Präsident und Rusk wollten jedoch eine mögliche »Pressesensation« vermeiden, wenn einer der zwanzig oder dreißig Reporter, die Kennedy rund um die Uhr belagerten, den russischen Agenten möglicherweise bemerken würden. Deshalb sollte Salinger am nächsten Tag nach New York fliegen, um sich dort mit Bolschakow zu treffen.
Dieser war über die Verzögerung etwas verärgert. »Wenn Sie wüssten, wie wichtig meine Mitteilung ist, würden Sie mich nicht so lange warten lassen«, beklagte er sich.
Salinger würde später die Botschaft von Chruschtschows immerhin sechstausend Wörter umfassendem Brief auf einen kurzen Nenner bringen: Sie, Herr Präsident, und ich sind die Führer zweier Nationen, die sich auf einem Kollisionskurs befinden. […] Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Köpfe zusammenzustecken und einen Weg zu finden, wie wir in Frieden miteinander leben können.
Der Mann, der Kennedy in Wien noch so hart angegangen war, begann sein Schreiben in einem herzlichen und persönlichen Ton.4 Er erzählte, dass er gerade mit seiner Familie in seiner Villa am Schwarzen Meer auf Pizunda Urlaub mache. In der geheimniskrämerischen Sowjetunion wussten dagegen nicht einmal seine eigenen Bürger, wo er sich gerade aufhielt. »Als früherer Marineoffizier«, schrieb Chruschtschow an Kennedy, »würden Sie die Vorzüge dieser Umgebung, die Schönheit des Meeres und die Großartigkeit der Berge zu schätzen wissen.« Inmitten einer solchen Szenerie falle die Vorstellung schwer, dass ungelöste Probleme »einen finsteren Schatten auf das friedliche Leben und die Zukunft von Millionen Menschen werfen« könnten.
Da dies jedoch gegenwärtig der Fall sei, schlug er einen vertraulichen Briefwechsel zwischen den beiden Männern vor, deren Handeln die Zukunft des Planeten bestimmte. Wenn Kennedy daran nicht interessiert sei, solle er den Brief einfach als nicht existent betrachten, und auch er werde nie mehr darauf zurückkommen.
Salinger war beeindruckt von der »fast bäuerlichen Einfachheit und Direktheit« von Chruschtschows Sprache, die »im Gegensatz zu dem sterilen, nichts sagenden Gewäsch stand, das man als diplomatischen Notenwechsel auf höchster Ebene bezeichnet«.5 Der Brief enthielt keine der üblichen Drohungen des Sowjetführers und erbat sogar Kennedys Gegenvorschläge, wenn er mit denen Chruschtschows nicht übereinstimme.
Die Initiative des sowjetischen Ministerpräsidenten hatte mehrere mögliche Hintergründe. Am wichtigsten war wohl der in wenig mehr als einer Woche beginnende Parteitag. Wenn er mit Kennedy einen solchen Gedankenaustausch begann, verschaffte ihm das eine größere Gewissheit, dass die Vereinigten Staaten nichts tun würden, um den von ihm peinlich genau geplanten Ablauf des Parteitags zu stören. Außerdem hoffte er, dadurch die Spannungen etwas abzubauen, aufgrund derer die USA ihre Rüstungsausgaben weit mehr erhöht hatten, als er angenommen hatte.
Chruschtschow wusste, dass der Sowjetunion die notwendige Wirtschaftskraft fehlte, um einen längeren Rüstungswettlauf mit den viel reicheren Vereinigten Staaten durchzuhalten. Zum ersten Mal musste er sich auch Sorgen machen, dass der Westen seine konventionelle Übermacht im Raum Berlin infrage stellen könnte. Kennedys Rüstungsprogramm gab auch den Argumenten der sowjetischen Falken Auftrieb, dass Chruschtschow zu wenig tue, um dem Westen die Stirn zu bieten, und dass er mehr hätte unternehmen müssen, um Westberlin zu neutralisieren. In seinem Brief machte er Kennedy deutlich, dass ein von Berlin angeheiztes gegenseitiges Aufschaukeln der Rüstungsausgaben ein weiterer Grund sei, warum Moskau »der deutschen Frage eine solche überragende Bedeutung beimesse«.
Der Sowjetführer meinte, er sei bereit, Positionen, die in den fünfzehn Jahren des Kalten Kriegs eingefroren seien, neu zu bewerten. Raffiniert wie er war, wandte sich der atheistische Chruschtschow dann speziell an den katholischen Kennedy, indem er die Nachkriegswelt mit der Arche Noah verglich, auf der sowohl die »Reinen« als auch die »Unreinen« nur interessiere, »dass die Arche ihre Fahrt erfolgreich fortsetzen« könne. »Und wir haben keine Alternative: Entweder leben wir in Frieden und sorgen alle zusammen dafür, dass die Arche seetüchtig bleibt, oder sie wird sinken.«
Chruschtschow erklärte sich auch bereit, die stillen Kontakte zwischen Außenminister Rusk und Außenminister Gromyko weiterlaufen zu lassen, deren erstes Treffen am 21. September in New York stattgefunden hatte.6 Darüber hinaus griff er Kennedys Vorschlag vorbereitender Gespräche zwischen den US-amerikanischen und sowjetischen Botschaftern in Jugoslawien, zwischen Amerikas legendärem Diplomaten George F. Kennan und dem Chruschtschow-Vertrauten General Alexej Jepischew, auf.
Am 14. August, also nur einen Tag nach der Grenzschließung, hatte das US-Außenministerium Kennan autorisiert, eine Verbindung zu Jepischew herzustellen. Damals hatte Moskau allerdings keinerlei Interesse gezeigt. Jetzt stimmte Chruschtschow zu. Allerdings äußerte er die Besorgnis, dass die beiden Botschafter ohne klare Instruktionen »nur eine Menge Tee trinken und sich gegenseitig anmuhen, statt über das Wesentliche zu reden«. Stattdessen schlug Chruschtschow für solche Gespräche den US-Botschafter in Moskau, Thompson, vor, da dieser ein vertrauenswürdiger und erprobter Unterhändler sei. Gleich darauf entschuldigte er sich jedoch, dass er sehr wohl wisse, dass dies ganz allein Kennedys Entscheidung sei.
Schließlich protestierte er gegen den Verdacht des Westens, dass Moskau immer noch beabsichtige, sich Westberlins zu bemächtigen. »Nur daran zu denken, ist schon lächerlich«, meinte er. Immerhin habe die Stadt keinerlei geopolitische Bedeutung. Um seine guten Absichten zu beweisen, schlug er vor, das Hauptquartier der Vereinten Nationen nach Westberlin zu verlegen, eine Idee, die er bereits früher in diesem Monat bei getrennten Begegnungen mit dem belgischen Außenminister Paul-Henri Spaak und dem ehemaligen französischen Premierminister Paul Reynaud vorgebracht hatte.
Neben der Öffnung eines neuen Kanals zu Kennedy ergriff Chruschtschow noch andere Maßnahmen, um ein weiteres Ansteigen der Spannungen mit den Vereinigten Staaten zu vermeiden.7 So hatte das Präsidium der KPdSU einen bereits weit gediehenen Plan auf Eis gelegt, Kuba mit modernen Waffen zu beliefern, zu denen auch Raketen gehören sollten, die Ziele in den USA erreichen könnten. Außerdem hatte Chruschtschow Ulbricht vor einer ganzen Reihe von Maßnahmen gewarnt, mit denen dieser seinen Griff auf Ostberlin verstärken wollte. Er hatte dabei seinen lästigen ostdeutschen Vasallen belehrt, er solle sich mit den bisherigen Erfolgen des Jahres 1961 jetzt zufriedengeben.8
Als wichtigste Geste reagierte Chruschtschow auf Kennedys Aufforderung der vorangegangenen Woche, Fortschritte in Laos zu erzielen. Er bestätigte ihre Wiener Abmachung, dass Laos ein neutraler, unabhängiger Staat wie Kambodscha und Burma werden solle. Im Gegensatz zu Kennedy war er jedoch nicht der Meinung, dass sie die Besetzung der einzelnen Führungspositionen in Laos bestimmen sollten, da dies weder Washingtons noch Moskaus Angelegenheit sei.
Schließlich beendete er den Brief mit den besten Wünschen für Kennedys Frau und für die Gesundheit des US-Präsidenten und seiner Familie.
HYANNIS PORT,
MASSACHUSETTS
SAMSTAG, 14. OKTOBER 1961
Kennedy nahm sich zwei Wochen Zeit, um auf den Brief zu antworten.
An diesem Wochenende auf Cape Cod feilte der US-Präsident an einem Entwurf, der sowohl sein gestiegenes Misstrauen gegenüber Chruschtschow als auch seinen Wunsch berücksichtigen sollte, alles in seiner Macht Stehende zu unternehmen, um einen Krieg aufgrund einer Fehlkalkulation zu vermeiden. Eine negative Antwort konnte einen weiteren Schritt des Kremls in Berlin beschleunigen, eine zu positive würde jedoch bei seinen Kritikern im Inland und unter den Verbündeten als naiv erscheinen. Charles de Gaulle und Konrad Adenauer hegten beide die Sorge, dass jedes Gespräch zwischen Kennedy und Chruschtschow nur zu neuen Konzessionen in Westberlin führen würde.
Adenauers Befürchtungen wären sogar noch größer gewesen, wenn er die Instruktionen Kennedys an Rusk gekannt hätte.9 Dabei hatte er seinen Außenminister angewiesen, eine nachdrückliche Umorientierung der amerikanischen Positionen in einer neuen Gesprächsrunde über Berlin vorzubereiten, die als Ziel eine Friedenskonferenz vorsehen würden. Kennedy hatte sich gegen den US-Botschafter in der Bundesrepublik, Walter Dowling, als möglichen Unterhändler entschieden, da »er viel zu sehr die Meinungen Bonns verinnerlicht hat«. Außerdem wollte er, dass Rusk nur Angelegenheiten als Verhandlungsgegenstand vorsehen sollte, die für Moskau akzeptabel waren. Auf keinen Fall sollte er jedoch auf Adenauers ständiges Drängen nach Gesprächen eingehen, die auf eine deutsche und Berliner Wiedervereinigung durch freie Wahlen abzielten. »Dies sind keine verhandelbaren Vorschläge«, sagte er. »Ihre gegenwärtige Gehaltlosigkeit ist allgemein anerkannt; auch wir sollten sie ab sofort nicht mehr vertreten.« Stattdessen war er jetzt bereit, viele der bisher unannehmbaren Vorstellungen Moskaus in Betracht zu ziehen. Dazu gehörte unter anderem die Umwandlung Westberlins in eine internationalisierte »Freie Stadt«, solange die NATO und nicht ein fremdes Truppenkontingent, einschließlich der Sowjets, deren Zukunft garantierte.
Angesichts der Kompromisse, zu denen er bereit gewesen wäre, war Kennedy von der sowjetischen Reaktion sehr enttäuscht. Sowjetische Flugzeuge belästigten mehr und mehr amerikanische Flugzeuge auf deren Route nach Berlin, Chruschtschow hatte die Atomversuche wieder aufgenommen und drohte erneut, einen einseitigen Friedensvertrag mit der DDR zu unterzeichnen. Andererseits hatte er die früheren Kriegsdrohungen aufgegeben und versprach, die Unabhängigkeit Westberlins zu achten.
Eines war jedoch sicher: Während Kennedy zu Beginn seiner Amtszeit versucht hatte, das Berlin-Problem in den Hintergrund zu stellen, wurde er von ihm jetzt geradezu überwältigt. Als es dem US-Innenminister Stewart Udall nicht gelang, die Aufmerksamkeit des Präsidenten auf seine Initiativen auf dem Gebiet des Landschaftsschutzes zu lenken, klagte er: »Er ist von Berlin total gefangen. Er denkt nur noch daran. Er hat eigentlich einen rastlosen Geist und mag es, sich mit allem Möglichen zu befassen, aber seit August hat ihn Berlin völlig in Beschlag genommen.«10
Kennedy dachte daran, seine Verbündeten um Rat zu fragen, wie er Chruschtschow antworten sollte, aber die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass dies nur zu Verwirrung und einem Durchsickern an die Presse führen würde. In diesem Fall würde er Chruschtschows Vertrauen verlieren. Aber was war dieses Vertrauen überhaupt wert? Chip Bohlen, der frühere US-Botschafter in Moskau, war sich sicher: »Die Antwort auf dieses Schreiben ist vielleicht der wichtigste Brief, den der Präsident jemals zu schreiben haben wird.«11
Am 16. Oktober, also mehr als zwei Wochen, nachdem er Chruschtschows Brief erhalten hatte, stellte Kennedy auf Cape Cod sein Antwortschreiben fertig. 12 Der US-Präsident griff den persönlichen Ton des Sowjetführers auf und begann mit ein paar unverfänglichen Bemerkungen über die Möglichkeit, in seinem Ferienort am Meer weit entfernt von Washington in Gegenwart seiner Kinder und deren Cousins und Cousinen einen klareren Überblick über die Dinge zu bekommen. Er begrüßte Chruschtschows Angebot eines vertraulichen Briefwechsels. Er werde die persönliche Note berücksichtigen, die Briefe gegenüber der Öffentlichkeit nie erwähnen und auch nichts von ihrem Inhalt an die Presse durchsickern lassen. Nur Außenminister Rusk und einige wenige seiner engsten Mitarbeiter würden davon erfahren.
Dann griff Kennedy Chruschtschows Arche-Noah-Analogie auf. Angesichts der Gefahren des Nuklearzeitalters sei die Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zur Wahrung des Friedens sogar noch wichtiger als ihre Partnerschaft im Zweiten Weltkrieg. Viel deutlicher hätte der amerikanische Präsident sein De-facto-Einverständnis mit der Grenzschließung in Berlin wohl kaum ausdrücken können. Seine Einstellung gegenüber Berlin und Deutschland sei von »Vernunft und nicht von Kriegslust« geleitet. »In dieser Region herrscht jetzt Frieden – und diese Regierung wird keine Aktion in die Wege leiten und sich jeder Aktion widersetzen, die diesen Frieden stört.«
Obwohl er bereit war, den Bau der Berliner Mauer zuzulassen, zog er jetzt eine Linie, die er in Bezug auf Berlin auf keinen Fall überschreiten würde. Er lehnte Chruschtschows Vorschlag ab, Verhandlungen über eine Änderung des Status von Westberlin in eine »Freie Stadt« aufzunehmen, deren Freiheit von sowjetischen Truppen zusammen mit denen der drei anderen Alliierten gewährleistet würde, während die DDR den Zugang kontrollieren würde. »Wir würden dasselbe Pferd zweimal kaufen«, schrieb er, »wenn wir den von Ihnen angestrebten Zielen zustimmten und dabei nur das behalten, was wir bereits besitzen.« Allerdings erklärte Kennedy seine Bereitschaft zu vorbereitenden Gesprächen, die von amerikanischer Seite Botschafter Thompson führen könnte, wie es Chruschtschow vorgeschlagen hatte.
Der US-Präsident forderte den Sowjetführer auf, sich als Testfall für Berlin in Laos gegenüber den Vereinigten Staaten entgegenkommender zu zeigen. Er schrieb: »Ich sehe nicht, wie wir erwarten können, eine Übereinkunft über ein solch bitteres und komplexes Problem wie Berlin zu erreichen, wenn wir in Laos nicht zu einer endgültigen Vereinbarung gelangen, auf dessen Neutralität und Unabhängigkeit nach der Art von Burma und Kambodscha wir uns ja schon früher geeinigt haben.« Da es nun feststehe, dass der neutralistische Prinz Souvanna Phouma Premierminister werde, war Kennedy der Ansicht, dass er und Chruschtschow sicherstellen sollten, dass der Prinz »von den Männern unterstützt wird, die wir für die Aufrechterhaltung der Neutralität notwendig halten«. Die zunehmenden Angriffe auf Südvietnam, von denen viele von laotischem Territorium aus erfolgten, seien »eine sehr ernste Bedrohung des Friedens«.
Wichtiger als der Inhalt von Kennedys Brief war für Chruschtschow die Tatsache, dass der Präsident angebissen und überhaupt geantwortet hatte. Jetzt konnte der Sowjetführer ziemlich sicher sein, dass Kennedy zu neuen Berlin-Gesprächen bereit war und deshalb von seiner Seite in nächster Zeit keine konfrontativen Reden oder Aktionen zu erwarten waren, die die sorgfältige Planung seines wichtigen, kurz bevorstehenden Parteitags stören könnten. Nur zwei Monate nach der Grenzabriegelung in Berlin war Chruschtschow dabei, Kennedy zu neuen Verhandlungen über den Status der Stadt zu bewegen, ohne dass er auch nur die geringsten Wirtschaftssanktionen hätte erdulden müssen.
Was Kennedy dieser Austausch einbrachte, war erst einmal weniger zufriedenstellend. Chruschtschows nächste Nachricht erfolgte in Form einer 50-Megatonnen-Wasserstoffbombe.
KONGRESSPALAST, KREML,
MOSKAU
DIENSTAG, 17. OKTOBER 1961
Trotz des Morgendunstes spiegelte sich die Sonne bereits in den goldenen Kuppeln der Kremlkirchen aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Die roten Fahnen der fünfzehn Sowjetrepubliken flatterten vor dem modernen Kongresspalast mit seiner Glas- und Marmorfassade, der gerade noch rechtzeitig zum XXII. Parteitag der KPdSU fertig geworden war.
Seine Haupthalle war bis zum letzten Platz gefüllt. Nicht einer seiner roten Sitze war frei geblieben. Noch nie hatten sich so viele Kommunisten zur selben Zeit am selben Ort zusammengefunden. 4396 stimmberechtigte und 405 Gastdelegierte aus 80 kommunistischen und nichtkommunistischen Ländern hatten sich im Moskauer Kreml versammelt. Dies waren dreieinhalbmal mehr Delegierte als bei den beiden vorangegangenen Parteikongressen.
Die größere Zahl spiegelte das Wachstum der Partei wider, die jetzt mehr als 10 Millionen Mitglieder zählte, seit dem XXI. Parteitag im Jahr 1959 also um über 1,5 Millionen Parteigenossen gewachsen war.13 Chruschtschow wollte für seine Supershow des Jahres 1961 eine Rekordteilnehmerzahl, deshalb durfte jede Parteiorganisation zusätzliche Delegierte nach Moskau schicken.
Der Kongresspalast war zumindest insofern einzigartig, als alles darin viel besser funktionierte als in den meisten anderen Regierungsgebäuden der Sowjetunion. 14 Es gab dort fast lautlose Rollstühle, eine hochmoderne Stereotonanlage, eine zentrale Klimaanlage aus der Bundesrepublik, in England hergestellte Kühlschränke und fließend heißes und kaltes Wasser in den Toiletten. Die westlichen Korrespondenten versammelten sich zum Essen und Trinken in der Bar im sechsten Stock, die sie »Top of the Marx« tauften.
Dem Time-Magazin fielen die ganz unterschiedlichen Teilnehmer auf: »Genossen aus kleinen russischen Dörfern, Pariser Kaffeehausintellektuelle und bambuszähe Agitatoren aus Asien.«15 Stars des Kongresses waren der nordvietnamesische Präsident Ho Chi Minh, der rotchinesische Ministerpräsident Tschou En-lai, die einundsiebzigjährige US-amerikanische Aktivistin der Arbeiterbewegung Elizabeth Gurley Flynn, die aus dem Spanischen Bürgerkrieg berühmte »Pasionaria« Dolores Ibárruri und János Kádar, der ungarische Parteichef, der 1956 bei der Niederschlagung des Volksaufstands in seinem Land maßgeblich mitgeholfen hatte. Sie alle betraten den Saal unter einem riesigen Flachrelief Lenins vor einem purpurroten Hintergrund.
Die westlichen Reporter nannten Chruschtschow gewohnheitsmäßig den »absoluten Führer« der Sowjetunion. Tatsächlich war die Wahrheit jedoch viel komplizierter. Nach nur einem Jahr an der Macht hatte Chruschtschow im Jahr 1957 einen Parteiputsch gerade glimpflich überstanden. Nach dem U-2-Zwischenfall und dem Scheitern des Pariser Gipfels im Mai 1960 begannen sich einige Altstalinisten gegen Chruschtschow zusammenzuschließen. Insbesondere schossen sie sich gegen den ihrer Meinung nach unverantwortlichen Abbau der sowjetischen Streitkräfte, seine Entfremdung vom kommunistischen China und seine Avancen gegenüber den imperialistischen Amerikanern ein. Indem er die vorfabrizierten Resolutionen möglichst schnell verabschieden ließ, gelang es Chruschtschow jedoch, potenzielle Gegenströmungen, die sein politisches Ende hätten einläuten können, im Keim zu ersticken.
Trotzdem waren die drei amerikanischen Hauptgegner Kennedys – der republikanische Senator von Arizona Barry Goldwater, der Gouverneur von New York Nelson Rockefeller und der ehemalige Vizepräsident Richard Nixon – ausgesprochen schwach im Vergleich zu Chruschtschows weit weniger sichtbaren, aber viel gefährlicheren Opponenten, die ihre politische Erziehung in Stalins blutigsten Zeiten genossen hatten.
Obwohl er seine Parteistellung Chruschtschow verdankte, war das Präsidiumsmitglied Frol Koslow ein gutes Beispiel für die Sorte von Strolchen, die nach dem Fehlschlag des Pariser Gipfels gegen den Sowjetführer zu konspirieren begannen.16 Er war ungebildet, kleinwüchsig, fett, rüpelhaft, ein Stalinist durch und durch und ein erbitterter Feind des Westens. Der amerikanische Diplomat Richard Davies beschrieb ihn als »einen widerlichen Trunkenbold, der aß wie ein Schwein und soff wie ein Loch«. Chruschtschow hatte es aber auch mit Michail Suslow zu tun, dem Chefideologen und -denker der Partei, einem geschmeidigeren, dafür aber umso skrupelloseren Feind.
Im ganzen Jahr 1961 hatte Chruschtschow seine Machtposition durch Gunstbezeugungen, parteiinterne Säuberungen und Besuchsreisen zu regionalen Parteiführern im ganzen Land gefestigt. Gagarin als erster Mensch im All, die Schweinebucht, der Wiener Gipfel und die Grenzschließung in Berlin hatten seine Gegner ebenfalls erst einmal zum Schweigen gebracht. Dem Parteisekretär von Moskau, Pjotr Demitschew, kam es so vor, als ob Chruschtschow gerade eine seltene »Zeit an der Sonne« genieße.17 Das Time-Magazin drückte es folgendermaßen aus: »In den vierundvierzig Jahren und fünfzehn Parteitagen seit der Oktoberrevolution 1917 erschien die innere Hierarchie des Kommunismus noch nie stabiler oder erfolgreicher als heute.«
Trotzdem wusste Chruschtschow besser als jeder andere, wie verwundbar seine Stellung tatsächlich war. Trotz all seiner Anstrengungen, den Kommunismus in Afrika und Asien zu verbreiten, war unter seiner Führung nur Kuba dem sozialistischen Lager beigetreten, und dies mehr aus Glück als aufgrund einer erfolgreichen Planung. Einige Parteigrößen würden ihm seine Brandmarkung Stalins nie vergeben, die sie nicht nur als Angriff auf den ehemaligen Diktator, sondern auf die gesamte kommunistische Geschichte und Legitimität betrachteten. Peking blieb gegenüber Chruschtschow weiterhin auf Distanz. Der Leiter der chinesischen Delegation, Tschou En-lai, verließ verärgert vorzeitig den Parteitag, nachdem er an Stalins Grab noch einen Kranz niedergelegt hatte.
Immerhin sah Chruschtschow schlanker und fitter als seit Monaten aus, als ob er für diesen Augenblick trainiert hätte. »Ich schlage vor, wir fangen mit der Arbeit an«, erklärte er der Versammlung, wobei seine Aussagen simultan in neunundzwanzig Sprachen übersetzt wurden. »Der XXII. Parteitag ist hiermit eröffnet.«18
Selbst Stalin hätte Chruschtschows Choreografie bewundert. Die ersten zwei Tage waren ganz seinen beiden großen Reden gewidmet, von denen jede etwa sechs Stunden dauerte. Mit unerschöpflicher Energie hakte er ein Thema nach dem anderen ab. So beschrieb er in aller Ausführlichkeit, wie die sowjetische Wirtschaft die der Vereinigten Staaten bis 1980 überholen würde. Bis dahin würde sie ihr Bruttosozialprodukt verfünffachen, ihre Industrieproduktion versechsfachen und jeder Familie eine mietfreie Wohnung bereitstellen. Im Jahr 1965 werde die Sowjetunion drei Paar Schuhe pro Einwohner pro Jahr herstellen!
Er erneuerte seine Angriffe auf den toten Stalin. Am Ende des Parteitags würde er den einbalsamierten Diktator aus dem Mausoleum am Roten Platz entfernen lassen, wo er bisher neben Lenin ruhte, und ihn an einem weniger prominenten Ort direkt an der Kremlmauer neben kommunistischen Helden niedrigeren Rangs beisetzen lassen.
Die größte Aufmerksamkeit der Delegierten und der Welt erregte er jedoch, als er zwei mit Berlin verbundene Bomben platzen ließ. Davon war eine figurativ, die andere dagegen sehr real.
Zur Enttäuschung Ulbrichts verkündete Chruschtschow, dass er seinen Plan fallenlasse, bis zum Jahresende einen Friedensvertrag mit der DDR abzuschließen. Gromykos Gespräche mit Kennedy hätten nämlich gezeigt, dass die Westmächte »bereit sind, nach einer Übereinkunft über Berlin zu suchen«.
Nachdem er Kennedy dieses Zuckerbrot angeboten hatte, schwang Chruschtschow als Nächstes die nukleare Peitsche. Er wich von seinem vorbereiteten Text ab, um über die sowjetischen militärischen Möglichkeiten vor allem auf dem Gebiet der Raketenentwicklung zu reden. Er erzählte lachend, dass die Sowjets inzwischen so große Fortschritte gemacht hätten, dass die amerikanischen Spionageschiffe die bemerkenswerte Treffsicherheit ihrer Raketen verfolgen und bestätigen würden.
Im selben spaßigen Ton und aus dem Stegreif sprechend, überraschte er dann seine Zuhörer mit der Ankündigung: »Da ich bereits von meinem Text abgewichen bin, möchte ich nur noch sagen, dass die Versuche mit unseren neuen Nuklearwaffen ebenfalls erfolgreich vorankommen. Wir werden diese Tests bald abschließen – wahrscheinlich Ende Oktober. Wir werden dabei möglicherweise noch einen draufsetzen, indem wir eine Wasserstoffbombe mit einer Sprengkraft von 50 Millionen Tonnen TNT zünden.«
Die Delegierten sprangen auf und applaudierten wie wild. Niemand hatte bisher jemals eine solch gewaltige Waffe getestet. Die Reporter schrieben fieberhaft in ihre Notizblöcke.
»Wir haben bereits mitgeteilt, dass wir auch eine 100-Megatonnen-Bombe besitzen«, fügte er, angespornt von der Reaktion seiner Zuhörer, hinzu. »Das stimmt auch. Aber wir werden sie nicht zünden, denn durch ihre Detonation würden selbst noch an den entferntesten Orten die Fensterscheiben zerspringen. «
Die Delegierten brüllten vor Begeisterung und brachen in stürmischen Beifall aus.
Der atheistische Sowjetführer wandte sich dann sogar noch an den Allmächtigen. »Gebe Gott, wie man früher gesagt hat, dass wir niemals gezwungen sein werden, eine dieser Bomben über dem Gebiet einer anderen Nation zur Explosion zu bringen. Dies ist der größte Wunsch unseres Lebens.«
Dies war wieder einmal der klassische Chruschtschow. Er hatte etwas Druck von Kennedy genommen, indem er den Endtermin für Berlin-Verhandlungen aufgehoben hatte. Gleichzeitig hatte er ihm die Nachricht über einen unmittelbar bevorstehenden Atomversuch um die Ohren geschlagen. Am letzten Tag des Parteikongresses ließ die Sowjetunion tatsächlich die stärkste Nuklearwaffe detonieren, die jemals gebaut wurde. Die Sprengkraft dieser »Zar-Bombe«, wie sie später im Westen genannt werden sollte, war 3800-fach stärker als die der ersten Atombombe, die im Jahr 1945 Hiroschima ausgelöscht hatte.
Der wieder einmal kalt erwischte Kennedy wusste, dass er darauf unbedingt reagieren musste.
WEISSES HAUS,
WASHINGTON, D.C.
MITTWOCH, 18. OKTOBER 1961
Während eines ansonsten recht geselligen Mittagessens im Weißen Haus für etwa fünfundzwanzig texanische Zeitungsleute forderte der konservative Verleger der Dallas Morning News, E.M. »Ted« Dealey, den US-Präsidenten plötzlich heraus: »Wir können Russland auslöschen, und das sollten wir der sowjetischen Regierung auch deutlich machen.«19
Danach zog er eine aus fünfhundert Wörtern bestehende Erklärung aus der Tasche, die er jetzt vor allen Anwesenden verlas. Darin ging er Kennedy massiv an: »An der Basis dieses Landes ist man allgemein der Ansicht, dass Sie und Ihre Regierung ein Haufen Schlappschwänze sind.« Man bräuchte jetzt einen »Mann, der hoch zu Ross die Zügel fest in der Hand hält. Viele Bürger in Texas und im Südwesten haben jedoch den Eindruck, dass Sie lieber mit Carolines Dreirädchen fahren.«
Der von Chruschtschows Ankündigung und dem wochenlangen Druck in Berlin bereits ziemlich genervte Präsident antwortete auf diese Anwürfe in scharfem Ton: »Der Unterschied zwischen Ihnen und mir, Mr Dealey, ist, dass ich zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden bin und Sie nicht. Ich bin für das Leben von 180 Millionen Amerikanern verantwortlich, Sie sind das nicht. […] Es ist leichter, über Kriege zu reden, als sie zu führen. Ich bin genauso hart und entschlossen wie Sie – schließlich wurde ich nicht zum Präsidenten gewählt, weil ich Konflikten aus dem Weg gegangen bin.«
Kennedy stand damals vor der härtesten Entscheidung seines Lebens, nämlich wie er einen Atomkrieg mit der Sowjetunion führen würde. Chruschtschow ließ diese Überlegungen jetzt plötzlich nicht mehr rein akademisch erscheinen. Der Plan, den er gegenwärtig nach wochenlangen intensiven, hochgeheimen Sitzungen durcharbeitete, sah die präventive Vernichtung des gesamten sowjetischen Nukleararsenals vor, sodass auch nicht eine einzige Waffe für einen Gegenschlag übrigbleiben würde. In aller Ausführlichkeit legte er die Flugrouten der US-Bomber dar, die Höhe, die diese einhalten mussten, um nicht entdeckt zu werden, und welche Ziele mit welcher Art von Atomwaffen getroffen werden sollten.
Bevor er zum Präsidenten gelangte, war der Plan innerhalb der Verteidigungsbürokratie nach langen Diskussionen Dutzende Male umgeschrieben worden. Inzwischen stand die Berliner Mauer bereits seit drei Wochen. Unter dem eher nichts sagenden Titel »Strategische Luftplanung und Berlin« wurde das Memorandum am 5. September General Maxwell Taylor, Kennedys Verbindungsmann zum Militär, zugeleitet.20 Der Verfasser, Carl Kaysen, eines der jungen Genies der Kennedy-Administration, kam zu folgendem Schluss: »Die Wahrscheinlichkeit, einen beträchtlichen Erfolg zu erzielen, ist groß.« Dies erfordere »nur« eine halbe bis eine Million sowjetischer Opfer. Der Bericht enthielt allerdings auch Tabellen, die eine andere Möglichkeit zeigten. Wenn nämlich nicht ausgeschaltete sowjetische Raketen im Gegenzug in den Vereinigten Staaten einschlügen, wären zwischen fünf und zehn Millionen Tote zu erwarten, da die Bevölkerungsdichte in New York und Washington dichter sei. Kaysen meinte dazu nur trocken: »Menschen sind eben leicht zu töten.«
Seit einem Monat war Kaysen als »Deputy Special Assistance« unmittelbar unter dem Nationalen Sicherheitsberater McGeorge Bundy tätig. Zuvor hatte er in der Administration auf ganz unterschiedlichen Gebieten gearbeitet, die von internationalen Handelsfragen bis zu den Kostenfaktoren von Alarmsystemen für Flugzeuge reichten, und dabei einen immer größeren Einfluss gewonnen. Der einundvierzigjährige Harvard-Professor für Wirtschaftswissenschaften hatte im Zweiten Weltkrieg in London gedient und dabei für das Office of Strategic Services (OSS), den damals neu eingerichteten US-Geheimdienst und Vorläufer der CIA, Bombenziele auf dem europäischen Kontinent ausgewählt.
Am Anfang seiner Ausarbeitung wies er auf Schwachstellen des »Single Integrated Operational Plan« (SIOP-62) hin. Dieser integrierte Operationsplan legte bisher fest, wie Kennedy im Kriegsfall die sogenannte nuklearstrategische Schlagkraft einsetzen sollte. SIOP-62 sah den Einsatz von 2258 Raketen und Bombern vor, die insgesamt 3423 Atomwaffen beförderten, die 1077 »militärische und städtisch-industrielle Ziele« im ganzen »chinesisch-sowjetischen Block« treffen sollten. Dem Plan zufolge würde dieser Angriff 54 Prozent der sowjetischen Gesamtbevölkerung (71 Prozent der städtischen Bevölkerung) töten und 82 Prozent ihrer Gebäude »gemessen nach Grundfläche« zerstören. Kaysen war der Ansicht, dass SIOP-62 die Zahl der Opfer sogar noch unterschätzte, da dessen Berechnungen nur für die ersten zweiundsiebzig Stunden des Kriegs galten.
Kaysen war sich sicher, dass zwei Umstände eine Abschaffung oder beträchtliche Änderung des SIOP-62 erforderlich machten. Er befürchtete einen falschen Alarm, der aufgrund einer »absichtlichen Finte« Chruschtschows oder einer »Fehlinterpretation der Ereignisse« auf einer der beiden Seiten ausgelöst werden könnte. Er argumentierte: »Wenn die gegenwärtige Spannungslage wegen Berlin noch einige Monate andauert, ist zu erwarten, dass zu irgendeiner Zeit eine sowjetische Aktion mit genügender Wahrscheinlichkeit und Dringlichkeit einen Angriff auf die Vereinigten Staaten androhen« und dann einen nuklearen Gegenschlag auslösen würde.
Das Problem würde entstehen, wenn Kennedy eine nukleare Entscheidung zurücknehmen wollte, weil er sich getäuscht hatte oder in die Irre geführt worden war. Nach Kaysens Ansicht gab ihm der bestehende Plan dazu fast keine Möglichkeit. Selbst ein erfolgreicher Rückruf würde Gefahren in sich bergen und die ausgesandten Kräfte für etwa acht Stunden außer Gefecht setzen, eine »Periode der Schwäche«, die Moskau ausnutzen könnte.
Das größere Problem, das durch Kennedys Untätigkeit im August noch verstärkt worden war, lag Kaysen zufolge jedoch darin, dass der US-Präsident die massive nukleare Vergeltung niemals akzeptieren würde, die nötig wäre, um einen konventionellen Angriff auf die Bundesrepublik oder Westberlin zurückzuschlagen. Deshalb stellte er die entscheidende Frage: »Ist der Präsident bereit, diese Entscheidung zu treffen? In diesem Fall ist ein sowjetischer Vergeltungsschlag unvermeidlich, und er wird sich höchstwahrscheinlich gegen unsere großen Städte und die unserer europäischen Verbündeten richten.«
Die klare Botschaft war, dass Kennedy in seinem zehnten Amtsmonat einer Berlin-Krise gegenüberstand, die immer schlimmer zu werden drohte, und er dafür einen strategischen Plan hatte, den er ziemlich sicher nicht umsetzen würde. Kaysen gab zu bedenken, dass es die gegenwärtige Berlin-Krise nötig erscheinen lasse, über einen Erstschlagplan nicht nur unverbindlich nachzudenken, der dann zum Einsatz käme, wenn sich die Lage auf dem Boden gegen die Vereinigten Staaten wenden würde.
»Unter diesen Umständen ist etwas völlig anderes erforderlich«, schrieb er. »Wir sollten bereit sein, einen allgemeinen Krieg mit unserem Erstschlag zu beginnen, der genau für diesen Fall geplant sein muss, anstatt, wie bisher vorgesehen, zu einer Strategie der massiven Vergeltung zu greifen. Wir sollten die kleinstmögliche Liste von Zielen wählen und uns dabei auf die Langstreckenschlagfähigkeit der Sowjets konzentrieren und so weit wie möglich Opfer und Zerstörungen in der sowjetischen Zivilgesellschaft vermeiden.«
Gleichzeitig sollten die Amerikaner »einen beträchtlichen Teil unserer eigenen strategischen Einsatzmittel in Reserve halten«. Chruschtschow werde angesichts deren Schlagkraft davor zurückschrecken, seine verbliebenen Raketen und Bomber gegen die amerikanischen Bevölkerungszentren einzusetzen. Außerdem setzte Kaysen darauf, dass die Bemühungen der Vereinigten Staaten, die Zahl der sowjetischen Zivilopfer möglichst klein zu halten, den Rachedurst des Feindes dämpfen würden, der zu einer Erweiterung des Kriegs führen könnte. Danach entwickelte Kaysen in allen Einzelheiten einen »wirksameren und weniger verheerenden« Plan als SIOP-62 für den Fall, dass die gegenwärtige Berlin-Krise »zu einem größeren Rückschlag am Boden in Westeuropa« führen würde.
Kennedy bekam jetzt, wonach er den meisten Teil dieses Jahres verlangt hatte: die Idee eines vernünftigeren Atomkriegs. Er würde es ihm erlauben, die Langstreckenschlagkraft der Sowjetunion zu zerstören und dabei den Schaden für die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten geringer zu halten.
Kaysen führte dann die Einzelheiten des Plans auf, die Kennedy immer wieder durchlesen würde, bevor er darauf reagierte. Amerikanische strategische Fernbomber würden in kleiner Zahl, weit zerstreut und in geringer Höhe fliegend, um nicht abgefangen zu werden, die geschätzten 46 Stützpunkte in der Sowjetunion und 26 Sammelstützpunkte der sowjetischen nuklearen Bomberflotte sowie die bis zu acht Abschussbasen der Interkontinentalraketen mit zwei Zielpunkten für jeden Zielort angreifen. Insgesamt würde der Erstschlag 88 Ziele ausschalten.
Kaysen schätzte, dass für diesen Angriff 55 Bomber, vor allem B-47 und B-52, nötig wären, wobei er eine 25-prozentige Ausfallquote einrechnete, sodass die geforderten 41 Flugzeuge übrig blieben. Man könne mit einer solch geringen Zahl von Flugzeugen Erfolg haben, weil sie »ausschwärmen und in niedriger Höhe an mehreren Punkten unentdeckt in den sowjetischen Frühwarnperimeter eindringen, danach ihre Bomben abwerfen und sich in niedriger Höhe wieder zurückziehen« würden.
Kaysen räumte ein, dass noch mehr Untersuchungen und Manöver nötig seien, um seine Annahmen zu überprüfen. »Zwei Fragen stellen sich sofort bei diesem Konzept«, schrieb er. »Wie gültig sind dessen Annahmen, und sind wir imstande, einen solchen Angriff durchzuführen?« Seiner Ansicht nach waren die Annahmen vernünftig, und die Vereinigten Staaten verfügten über die dazu nötigen Mittel. »Obwohl es natürlich verschiedene Möglichkeiten für den Ausgang des Unternehmens gibt, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass wir einen beträchtlichen Erfolg erzielen werden.«
Wenn man fehlerhafte Bombenabwürfe vermeiden würde, rechnete Kaysen vor, könnte man die Zahl der sowjetischen Toten bei diesem ersten Angriff auf eine Million und vielleicht sogar auf nur 500 000 begrenzen. Dies sei zwar immer noch entsetzlich, aber doch bedeutend weniger als die Annahme des SIOP-62, dass 54 Prozent der sowjetischen Bevölkerung, also mehr als 100 Millionen Menschen, einem Angriff zum Opfer fallen würden.
Im Weißen Haus, wo man an solche freimütigen Diskussionen über Opferzahlen nicht gewöhnt war, wirkte Kaysens Bericht wie ein Schock.21 Chefberater Ted Sorensen schrie Kaysen an: »Sie sind verrückt! Wir sollten Typen wie Sie hier gar nicht hereinlassen!« Marcus Raskin, ein Freund Kaysens im Nationalen Sicherheitsrat, sprach nie mehr ein Wort mit ihm, nachdem er von dem Bericht erfahren hatte. »Wie unterscheiden wir uns dann noch von den Leuten, die die Gasöfen vermessen haben, oder den Ingenieuren, die die Gleise für die Todeszüge in Nazi-Deutschland gebaut haben?«, fuhr er Kaysen an.
Kennedy selbst hatte jedoch nicht die gleichen Vorbehalte, da er nach genau dieser Analyse gesucht hatte, die jetzt vor ihm lag.22 »Die Entwicklungen in Berlin könnten uns mit einer Lage konfrontieren, wo wir im Fall eines Konflikts, der von der lokalen zur allgemeinen Kriegsebene eskaliert, die Initiative ergreifen wollen«, schrieb der US-Präsident in der Liste der Fragen, die er auf einem Treffen am 19. September behandelt wissen wollte, an dem General Taylor, General Lyman Lemnitzer, der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs, und General Thomas S. »Tommy« Power, der Kommandeur des Strategic Air Command (SAC), teilnehmen würden. Die Detailliertheit seiner Fragen unterstrich das wachsende Interesse und Verständnis des Präsidenten für alles, was mit Atomschlägen zu tun hatte. Kennedy bereitete sich offensichtlich innerlich auf einen Krieg vor.
Frage Nr. 1: »Ist es möglich, kurzfristig einige Alternativen in den Plan einzuarbeiten, damit wir in unterschiedlichen Situationen auf alternative Optionen zurückgreifen können?«, fragte Kennedy. Er wollte vor allem wissen, ob man auf die im Plan vorgesehene »Optimummischung« ziviler und militärischer Ziele verzichten könnte und sich unter gewissen Umständen bei den Angriffen städtische Ziele aussparen ließen oder man auch China oder die europäischen Satellitenstaaten von der Zielliste streichen könnte. »Wenn ja, mit welchem Risiko?«
Frage Nr. 2: Wenn die Entwicklungen in Berlin Kennedy in die Lage bringen würden, einen lokalen in einen allgemeinen Krieg ausweiten zu wollen, war dann ein Erstschlag gegen die sowjetischen nuklearen Langstreckenwaffen durchführbar?
Frage Nr. 3: Kennedy hegte die Befürchtung, dass ein Überraschungsangriff auf die Langstreckenschlagkraft der Sowjetunion eine »beträchtliche Anzahl« von Mittelstreckenraketen übrig ließe, die danach Ziele in Europa treffen könnten. Er wollte also die Kosten des Schutzes der Vereinigten Staaten und Europas gegeneinander abwägen. Deshalb fragte er auch, ob eine Einbeziehung dieser Mittelstreckenwaffen in den ersten Angriff »die Zielliste dermaßen erweitern würde, dass eine taktische Überraschung nicht mehr möglich wäre«.
Frage Nr. 4: »Ich bin besorgt, ob und wie ich unsere militärischen Einsätze noch kontrollieren kann, wenn der Krieg einmal begonnen hat«, schrieb Kennedy. »Ich nehme an, dass ich den strategischen Angriff jederzeit stoppen kann, sollte ich erfahren, dass der Feind kapituliert hat. Stimmt das?«
Er stellte noch vier weitere, ähnlich gelagerte Fragen. So wollte er wissen, ob sich »überflüssige Zerstörungen« vermeiden ließen und ob er nachfolgende Waffen zurückrufen könnte, wenn die erste Atombombe bei einem Ziel bereits »das gewünschte Ergebnis« erzielt hätte. Wenn sich herausstellen sollte, dass seine Einsatzentscheidung auf einem falschen Alarm beruhte, wollte er seine Optionen erfahren, den Angriff noch aufhalten zu können.
Der am nächsten Tag stattfindenden Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats gelang es jedoch nicht, auf viele Fragen des Präsidenten klare Antworten zu finden.23 Sie zeigte auch, wie weit die Meinungen der Kennedy-Berater über die Führbarkeit eines begrenzten Atomkriegs auseinandergingen. General Tommy Power vom Strategic Air Command lehnte sich dabei weit aus dem Fenster: »Jetzt und im nächsten Jahr ist die Gefahr eines sowjetischen Überraschungsangriffs am größten. Wenn ein allgemeiner Atomkrieg unvermeidlich ist, sollten die Vereinigten Staaten als Erste zuschlagen«, nachdem sie die wichtigsten sowjetischen Nuklearziele festgelegt hätten.
Power hatte im März 1945 die Brandbombenangriffe auf Tokio geleitet.24 Während der Atombombenabwürfe auf Hiroschima und Nagasaki war er stellvertretender Operationsleiter des Strategic Air Command in der Pazifikregion gewesen. Er unterstützte General Curtis E. LeMay beim Aufbau des Strategic Air Command, dem er 1948 beigetreten war. Beide machten es dann zu ihrem eigenen kleinen Reich. Knallhart und leicht aufbrausend, glaubte Power, dass es nur einen einzigen Weg gab, die nuklear bewaffneten Kommunisten in Schach zu halten. Sie mussten glauben, dass sie vollkommen vernichtet würden, wenn sie nicht parierten.
Als man ihn einmal über die langfristigen Schäden aufklärte, die der radioaktive Niederschlag verursachte, erwiderte Power mit makabrem Humor: »Wissen Sie, bisher hat mir noch keiner bewiesen, dass zwei Köpfe nicht besser sind als einer.« Der Nationale Sicherheitsberater Bundy dachte an Power, als er Kennedy warnte, dass ein untergeordneter Kommandeur die Autorität habe, »auf eigene Faust einen thermonuklearen Krieg zu beginnen«, wenn er den Präsidenten nach einem sowjetischen Angriff nicht erreichen könne.
Power argumentierte gegenüber Kennedy, dass die Sowjets »ein Vielfaches mehr« an Raketen verbergen würden, als auf den Spionagefotos der CIA zu sehen sei. Er beklagte sich, dass ihm die nötigen Informationen über die sowjetischen Abschussrampen für ballistische Interkontinentalraketen fehlen würden. Er fügte hinzu, dass die Vereinigten Staaten seiner Ansicht nach nur 10 Prozent der Sowjetunion fotografisch erfasst hätten. Bisher habe man zwanzig Raketenabschussrampen lokalisieren können, aber es müsse in den nicht überwachten Regionen noch ein Mehrfaches davon geben. Da man also die wahre Größe der sowjetischen Raketenstreitkräfte nicht kenne, empfahl Power Kennedy dringend, die U-2-Flüge wiederaufzunehmen, deren dauerhafte Einstellung der US-Präsident Chruschtschow versprochen hatte.
Kennedy wischte Powers Ratschlag beiseite. Stattdessen wollte er seine Frage beantwortet wissen, ob er wirklich einen Überraschungsangriff auf die Sowjetunion beginnen könne, ohne einen vernichtenden Gegenschlag befürchten zu müssen. Er stellte den Generälen auch die Aufgabe, »mir eine Antwort auf diese Frage zu geben: Wie viel an Informationen braucht die Sowjetunion, und wie lange vorher braucht sie diese, um ihrerseits ihre Raketen zu starten?«
Martin Hillenbrand, dem Leiter der Deutschland-Abteilung im US-Außenministerium, fiel auf, dass mit jedem Tag, den die Berlin-Krise andauerte, Kennedy »von ihrer Komplexität und ihren Schwierigkeiten immer mehr beeindruckt wurde«.25 Für frühere amerikanische Präsidenten war Krieg eine grausame, aber notwendige Alternative zu der Barbarei der Nazis oder der japanischen Aggression gewesen. Für Kennedy war Krieg dagegen nach Hillenbrands Meinung »fast gleichbedeutend mit dem Problem des menschlichen Überlebens«.
Mit diesem Gefühl versammelte Kennedy am 10. Oktober Spitzenbeamte seiner Administration und hohe Militärs im Kabinettssaal, um die nuklearen Eventualfallplanungen für Berlin fertigzustellen. Der Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Paul Nitze, hatte ein Dokument mitgebracht, das den gewundenen Titel Bevorzugter Gang der militärischen Ereignisse in einem Berlin-Konflikt trug.
Kühl und vernunftgeprägt war der vierundfünfzigjährige Nitze in außenpolitischen Fragen inzwischen zum vielleicht wichtigsten amerikanischen Strippenzieher hinter den Kulissen geworden, der die Politik zur Entwicklung von Nuklearwaffen und deren Einsatzplanung großenteils beeinflusste.26 Wenn er über die Fehlschläge wohlmeinender Akteure nachdachte, einen Konflikt zu vermeiden, musste er sich immer an seine Erfahrung als kleiner Junge erinnern, als er bei einer Reise durch Deutschland, dem Herkunftsland seiner Familie, in München die begeisterten Massen sah, die den Ausbruch des Ersten Weltkriegs bejubelten.
Die Präsidenten Roosevelt und Truman hatten ihn mit der Untersuchung der Folgen der strategischen Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg beauftragt. Dabei sah Nitze die in Trümmern liegenden deutschen Städte mit eigenen Augen und studierte genau die Zerstörungen, die die Atombomben in Hiroschima und Nagaski angerichtet hatten. Nichts prägte jedoch seine Ansichten über die Wichtigkeit einer US-Atomschlagfähigkeit mehr als seine Besorgnis über die strategische Verwundbarkeit, die aus seinen Studien über den Angriff auf Pearl Harbor erwachsen waren.
Als Trumans Leiter der Politikplanung, wobei er den gefeuerten George Kennan ersetzte, war er im Jahr 1950 der hauptsächliche Verfasser der zentralen Denkschrift United States Objectives and Programs for National Security (Ziele und Programme zur Nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten), die unter dem Kürzel NSC 68 bekannt wurde.27 In einer Welt, in der die USA ihr nukleares Monopol verloren hatten, lieferte NSC 68 die Begründung für eine beachtliche Erhöhung der Rüstungsausgaben und bildete für die nächsten vier Jahrzehnte den Kern der amerikanischen Sicherheitspolitik, die in dieser Zeit immer ihre Warnung vor »den Weltherrschaftsplänen des Kremls« beherzigte. Hätte Truman in diesem Jahr nicht gegen beträchtlichen Widerstand der Entwicklung der Wasserstoffbombe zugestimmt, hätten die Sowjets nach Nitzes fester Meinung »bis Ende der 1950er Jahre eine uneinholbare nukleare Überlegenheit erlangt«.
Als zwei demokratische Falken waren Acheson und Nitze der Vorsitzende und der stellvertretende Vorsitzende des außenpolitischen und Verteidigungskomitees der Partei, das nach Kennedys Nominierung die Grundlagen für dessen Haltung in der Verteidigungspolitik und seine Einstellung zum Prinzip der »flexiblen Antwort« gelegt hatte. Wie Acheson betrachtete Nitze Berlin als ein Testgelände für die umfassenderen Ziele der Kommunisten, den Westen psychologisch zu besiegen, indem sie dessen Machtlosigkeit angesichts der gewachsenen sowjetischen Nuklearkapazitäten aufzeigten.28 Aus diesem Grund stimmte er auch Acheson zu, dass die Vorstellung, neue Verhandlungen könnten diese Krise entschärfen, Unsinn sei.
Am 13. August 1961 war Nitze zuerst wütend gewesen, dass die Vereinigten Staaten auf die Berliner Grenzschließung nicht reagiert hatten.29 Als das Pentagon jedoch eventuelle Reaktionen überdachte, erfuhr er über Geheimdienstkontakte, dass in der Umgebung Berlins drei sowjetische und zwei DDR-Divisionen standen. Dies wies darauf hin, dass Moskau den Vereinigten Staaten eine Falle stellen wollte. Wenn amerikanische Soldaten die Mauer niederrissen, würden dies die Sowjets zum Anlass nehmen, um ganz Berlin zu besetzen. Das Pentagon verurteilte deshalb jede Maßnahme gegen die Mauer aus Angst, dass dies zu einem allgemeinen Krieg führen könnte, auf den die Vereinigten Staaten nicht vorbereitet waren.
An diesem 10. Oktober war es Nitzes Aufgabe, kurz zu skizzieren, wie die USA sich auf eine weitere Berlin-Konfrontation vorbereiten sollten. Nach dem 13. August hatte er sich mit britischen, französischen und bundesdeutschen Militärs zusammengesetzt, um gemeinsam mit ihnen Strategien zu entwickeln, wie man auf die nächste sowjetische Provokation in Berlin reagieren könnte.
Die Denkschrift, die aus diesen Unterredungen entstanden war, stellte zur Sicherung des Zugangs nach Berlin vier Szenarien auf, die von kleineren, konventionellen Aktionen langsam bis zum Atomkrieg eskalierten. Beim Entwurf des Papiers hatte Nitze erlebt, dass »Umstellungen im Ablauf und der Zeitfolge sich rapide vermehrten wie die möglichen nächsten Züge bei einem Schachspiel«. Jemand habe dann gemeint: »Wir würden ein Blatt Papier von der Größe einer Pferdedecke brauchen, um sie alle niederzuschreiben.« Danach entwickelte die Gruppe einen kürzer gefassten militärischen Reaktionsplan für Berlin, den sie die »Ponydecke« nannte. Nitze war froh, dass er ein Programm, das den wachsenden Druck auf den Westen widergespiegelt hatte, in eine organisierte und stimmige Rahmenplanung umwandeln konnte, die Amerika und seinen Verbündeten größere Zuversicht verschaffte.
Kennedy kam etwas später zur NSC-Sitzung, um über dieses Papier zu diskutieren.30 Rusk hatte zuvor den Anwesenden berichtet, dass Moskau seine Fristsetzung über den Abschluss eines Friedensvertrags mit der DDR aufgeben werde, wenn sich Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten als aussichtsreich erweisen sollten. Trotzdem glaubte Rusk immer noch, dass eine Truppenverstärkung in Europa notwendig sei. Danach gab Verteidigungsminister McNamara seine Empfehlungen ab.
Kennedy stimmte ihnen allen sofort zu. Ab dem 1. November sollten elf Geschwader der Air National Guard nach Europa verlegt werden, sieben Luftwaffengeschwader des Strategic Air Command von den Vereinigten Staaten nach Europa zurückkehren und Ausrüstungen und Waffen für eine Panzer-und eine Infanteriedivision in Europa bereitgehalten werden. Durch Truppenrotationen würde Kennedy sicherstellen, dass ihm ständig mindestens zwei einsatzbereite Kampfgruppen plus deren Versorgungseinheiten zur Verfügung standen. Gleichzeitig würde er auch das 3. schwere Panzerregiment und seine Nachrichtenabteilung von Fort Meade, Maryland, nach Europa verlegen.
Am meisten beschäftigte den Präsidenten jedoch die Frage, wie er einen begrenzten Atomkrieg führen könnte. Sein Albtraum war es, die Kontrolle zu verlieren und einen »flammenden Scheiterhaufen« zu erleben, von dem er in seiner Rede vor den Vereinten Nationen vor nicht einmal einem Monat gesprochen hatte. Auch an Nitzes Denkschrift interessierte ihn besonders, ob es wirklich möglich sein würde, einzelne Nuklearwaffen einzusetzen, ohne dadurch eine Eskalation zu einem umfassenden Krieg auszulösen.
In diesem Punkt widersprach Nitze seinem Chef McNamara. Er war der Ansicht, dass ein anfänglich begrenzter Einsatz von Atomwaffen »die Versuchung für die Sowjets beträchtlich erhöhen würde«, einen strategischen Nuklearschlag durchzuführen. »Wenn wir uns auf den Einsatz von Nuklearwaffen zubewegen, wäre es für uns deshalb das Beste, sehr ernsthaft die Option eines eigenen strategischen Erstschlags in Erwägung zu ziehen.« Nur so könne man in einem Nuklearkonflikt siegreich bleiben, da die Vereinigten Staaten durchaus verlieren könnten, wenn sie den Sowjets die erste Angriffswelle überließen.
Wie es für ihn typisch war, registrierte Kennedy schweigend die Einzelheiten und den Ernst ihrer Diskussionen. Nur gelegentlich stellte er eine Frage, während die Männer um ihn herum die schaurigsten Szenarien entwickelten.
Rusk hatte die Sorge, dass seine Militärstrategen die moralische Komponente vergessen hatten: »Die Seite, die als Erste Atomwaffen einsetzt, hat eine schwere Verantwortung zu tragen und muss sich auf ernsthafte Konsequenzen vonseiten der übrigen Welt gefasst machen.«
Kennedy ergriff bei diesen Meinungsunterschieden nicht Partei. Am Ende einigten sich die Anwesenden darauf, einen Entwurf neuer Anweisungen des Präsidenten an General Norstad, den Oberkommandierenden des strategischen NATO-Kommandos Europa, zu übermitteln, um diesem »eine klare Orientierung« über die Absichten der USA bei allen denkbaren militärischen Szenarien zu geben.
WASHINGTON,
D.C.
FREITAG, 20. OKTOBER 1961
In den folgenden zehn Tagen beschäftigte sich Kennedy fast nur noch mit Berlin und den damit verbundenen nuklearen Fragen, mit seinen Hoffnungen für neue Verhandlungen mit Moskau und den zunehmenden Schwierigkeiten mit seinen Verbündeten.
Die Washington Post berichtete über Bemühungen, die Rassendiskriminierung in Restaurants in Maryland zu beenden. In einem Artikel auf der Titelseite der New York Times wurde gemeldet, dass das Oberste Bundesgericht sich mit Antidiskriminierungs-Sitzstreiks in den Südstaaten befasste. Mit aktiver Hilfe der Polizei wurden gemischtrassische Schulen durchgesetzt, während die Ku-Klux-Klan-Aktivisten in ihren weißen Kapuzengewändern dagegen protestierten. 31
Der US-Präsident dachte jedoch hauptsächlich an den Krieg und wie er ihn führen würde. Seine Besorgnis sprang allmählich auf die amerikanische Öffentlichkeit über. Das Time-Magazin brachte auf seinem Umschlag ein Farbporträt von Virgil Couch, dem Leiter des Amts für Zivilverteidigung, mit der Schlagzeile: ATOMSCHUTZRÄUME – WIE BALD – WIE GROSS – WIE SICHER?32 In dem Artikel teilte Couch den Amerikanern mit, dass künftig die Planung eines Atomangriffs genauso normal werden sollte wie eine Pockenimpfung.
Der Präsident hatte sein Nationales Sicherheitsteam zusammengerufen, um letzte Hand an die militärischen Instruktionen an die NATO anzulegen. Jedem der Beteiligten war dabei Chruschtschows erst drei Tage zuvor erfolgte Ankündigung einer 50-Megatonnen-Bombe gegenwärtig. Es würde keine einfache Sitzung werden.
Seine Vereinigten Stabschefs stritten sich über Kennedys geplante Aufstockung der konventionellen Truppen in Europa und ihre potenziellen Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Nuklearabschreckung.
De Gaulle und Adenauer waren der Ansicht, dass Kennedy sich viel zu sehr um Verhandlungen mit Chruschtschow über die Zukunft Westberlins bemühe, statt den Sowjetführer von seiner Bereitschaft zu überzeugen, die Stadt auch mit Atomwaffen zu verteidigen.
Anscheinend unterstützte nur Macmillan Kennedys gesteigerten Wunsch, mit Moskau zu verhandeln.33 Während er noch im Frühjahr Kennedys konfrontativen Umgang mit den Sowjets abgelehnt hatte, sah der Premierminister jetzt mit Befriedigung, dass sich der US-Präsident inzwischen dem konzilianteren britischen Kurs Moskau gegenüber angeschlossen hatte. Ebenso fand er es ermutigend, dass Kennedy von de Gaulle wie von Adenauer zusehends »die Nase voll« hatte.
Bei all den Widersprüchen zwischen den westlichen Verbündeten über die in Berlin anzuwendende Strategie war es für Kennedy wichtig, zumindest im eigenen Land die Differenzen zu beseitigen. Zu diesem Zweck versammelten sich am 20. Oktober um 10 Uhr vormittags im Kabinettssaal des Weißen Hauses Bobby, der Bruder des Präsidenten, Rusk, McNamara, Bundy und Lemnitzer. 34 Neben dem Präsidenten saß der stellvertretende Verteidigungsminister Roswell Gilpatric, der im Pentagon für alles verantwortlich war, was mit der nuklearen Bedrohung durch die Russen zu tun hatte. Auch alle anderen wichtigen Gestalter der Berlin-Politik waren anwesend: neben Nitze der Leiter der Berlin-Task-Force Foy Kohler, ferner der Leiter der Deutschland-Abteilung im Außenministerium Martin Hillenbrand und – wie so oft in wichtigen Augenblicken der Berlin-Krise – Dean Acheson, als der von außen kommende Ideengeber.
Zu Beginn der Sitzung berichtete Lemnitzer dem Präsidenten von den »gravierenden Meinungsverschiedenheiten« der Vereinigten Stabschefs über die Notwendigkeit einer schnellen, konventionellen Aufrüstung. Der Luftwaffenchef Curtis LeMay und der Marinechef Admiral George Whelan Anderson jun. teilten General Norstads Ansicht, dass in »nächster Zukunft« keine größere Verstärkung der konventionellen Streitkräfte nötig sei. Im Gegensatz dazu stimmten Lemnitzer und der Stabschef der US-Armee, General George Decker, mit McNamara überein, dass eine solche Verstärkung genau in diesem Augenblick erfolgen müsse.
Rusk legte dann Norstads Argumentationslinie dar: Ein Disput über Berlin könne so schnell zu einem Atomkrieg eskalieren, dass jede konventionelle Aufrüstung nutzlos sei. Darüber hinaus fürchtete Norstad, dass der Ausbau der konventionellen Streitkräfte »die Glaubwürdigkeit und Leistungsfähigkeit der Atomstreitkräfte beeinträchtigen würde«. Mit dieser Ansicht stand Norstad an der Seite der Deutschen und Franzosen gegen den US-Präsidenten.
Wie so oft, wenn es in der Berlin-Frage brenzlig wurde, suchte Kennedy Rat bei Acheson. In dem Memo, das Bundy später über den Verlauf dieser Sitzung verfasste, heißt es leicht spöttisch: »Von diesem Augenblick an wurde die Sitzung von Mr Acheson dominiert.« Später drückte es Bundy etwas süffisanter aus: »Wie gewöhnlich war Mr Acheson die Ballkönigin.«35
Acheson hatte für die Empfindlichkeiten der Alliierten nichts übrig. Er meinte, dass US-Offizielle in einem Moment großer nationaler Dringlichkeit viel zu viel Zeit darauf verwenden würden, die Zustimmung der Franzosen, Briten, Westdeutschen und anderer Verbündeten einzuholen, wo doch die Amerikaner ganz allein diese Last würden tragen müssen. Acheson war der Ansicht, dass die USA noch vor dem November neue Divisionen nach Europa schicken sollten – ohne Rücksicht darauf, was die Verbündeten darüber dachten oder sagten.
Acheson glaubte fest, dass die Botschaft der Entschlossenheit, die Kennedy durch eine Verlegung konventioneller Truppen nach Europa aussenden würde, »diplomatisch und politisch« hilfreich sein würde. Er widersprach der Auffassung, dass die nukleare Logik den Bedarf amerikanischer konventioneller Militäroperationen vermindern würde. Ernsthafte militärische Bewegungen der Vereinigten Staaten seien »eine Sache, die den Gegner nichts Gutes erahnen lässt« und einen Eindruck von den »ernsten Absichten der US-Regierung« vermittle.
Kennedy meinte dann noch, dass ihm der »Goldabfluss« Sorgen mache, womit er auf die Kosten eines solchen Schritts anspielte. McNamara und Gilpatric versicherten ihm jedoch, dass weitere Verhandlungen mit den Verbündeten dazu führen könnten, diese Kosten auf mehrere Schultern zu verteilen.
Einige Stunden nach diesem Treffen schickte Bundy Norstad einen streng geheimen Brief, dem er die sogenannte Ponydecke beifügte.36 Unter dem Titel »US-Politik bezüglich militärischer Aktionen im Fall eines Berlin-Konflikts« würde sie drei Tage später von Kennedy als »National Security Action Memorandum Nr. 109« genehmigt werden. In vier Abschnitten legte sie die gestaffelten Schritte fest, die zu unternehmen waren, wenn die Sowjets den Zugang nach Berlin abschneiden würden.
Phase I: Wenn die Sowjets und Ostdeutschen den Zugang nach Westberlin behinderten, ohne ihn vollständig zu blockieren, schrieb der Plan vor, dass amerikanische, britische und französische Sondierungseinheiten, die aus einem Zug Bodentruppen bestehen und aus der Luft Deckung von Kampfflugzeugen erhalten sollten, auf der Autobahn in Richtung Stadt vorrücken sollten. In dem Papier wurde festgehalten, dass eine solche Reaktion genügend begrenzt sei, um jedes Kriegsrisiko auszuschließen.
Phase II: Wenn die Sowjets trotz solcher Aktionen die Blockade aufrechterhalten sollten, würde der Westen schärfere Mittel wählen. Die NATO würde dann unterstützende, nicht militärische Maßnahmen wie Wirtschaftsembargos, Störmanöver zur See und Proteste bei den Vereinten Nationen ergreifen. Das Memorandum warnte allerdings, dass ohne weitere Truppenverstärkungen und Rüstungsmaßnahmen die unterstützenden Optionen begrenzt seien und zu Verzögerungen führen könnten, die die nukleare Glaubwürdigkeit schwächen, die Lebensfähigkeit Westberlins bedrohen und die alliierte Entschlossenheit aushöhlen könnten.
Phase III: Der Westen würde seine Maßnahmen weiter ausweiten, wenn die Kommunisten weiterhin Westberlin blockierten. Dazu würden Bodenoperationen auf DDR-Territorium gehören. So würden etwa drei Panzerdivisionen auf der Autobahn nach Westberlin vorrücken. Außerdem würde man eine lokale Lufthoheit erringen, indem man Luftschläge gegen nicht sowjetische Flughäfen durchführte. »Die militärische Überwindung eines entschlossenen sowjetischen Widerstands ist nicht machbar«, räumte der Bericht ein, um dann hinzuzufügen: »Die Risiken steigen mit dem zunehmenden militärischen Druck auf die Sowjets.« Am umstrittensten war Kennedys Forderung nach weltweiten Aktionen gegen sowjetische Interessen. Dies würde die Ausnutzung der amerikanischen Flottenüberlegenheit zu Seeblockaden einschließen, die die Stunde der nuklearen Wahrheit weiter hinausschieben würden, während die Diplomaten über einen friedlichen Ausgang verhandelten.
Die ominöse Phase IV: Nur wenn die Sowjets auf einen massiven Einsatz alliierter konventioneller Waffen nicht reagierten, würde Kennedy sich zu einem Atomkrieg entschließen. Er hätte dann die Wahl zwischen einer oder allen folgenden Möglichkeiten: Angriffe auf ausgewählte Ziele, um zu demonstrieren, dass man zum Einsatz von Atomwaffen bereit war; den begrenzten Einsatz von Nuklearwaffen, um taktische Vorteile zu erzielen, und schließlich ein allgemeiner, umfassender Atomkrieg.
Mit beträchtlicher Untertreibung wurde in dem Papier gewarnt: »Die Verbündeten können den Zeitpunkt und das Ausmaß des Nuklearwaffeneinsatzes nur teilweise kontrollieren. Ein solcher Einsatz könnte von den Sowjets zu jeder Zeit nach der Eröffnung kleinerer Kampfhandlungen begonnen werden. Begrenzte alliierte Nuklearaktionen könnten eine vergleichbare Reaktion auslösen. Sie könnten jedoch auch zu einem umfassenden Präventivschlag führen.«
Es war ein ernüchterndes Dokument. Zehn Monate nach seinem Amtsantritt hatte Kennedy die militärische Ablaufkette festgelegt, die am Ende zu einem Atomkrieg wegen Berlin führen konnte.
In seinem Begleitbrief an General Norstad schrieb er: »Dies verlangt eine kraftvolle Vorbereitung, eine Bereitschaft zum Handeln und die Vermeidung eines vorschnellen Losschlagens.« Alle Handlungsoptionen erforderten eine schnelle Aufstockung seiner Truppen und deren Stationierung an der zentralen Front. Norstad teilte er mit: Falls die Sowjets so viele Truppen aufböten, dass sie damit den Westen besiegen könnten, würde die Antwort darauf ein Atomschlag sein, für den er noch gesonderte Anweisungen bekommen werde.
Kennedy versuchte, Norstad – und damit auch die Franzosen und Deutschen – davon zu überzeugen, dass ein Ausbau der alliierten konventionellen Truppen der Botschaft nicht widerspreche, die er an die Sowjets senden wollte, dass er bereit sei, wenn nötig, einen Atomkrieg zu beginnen. »Es scheint mir auf der Hand zu liegen«, schrieb Kennedy an Norstad, »dass unsere nukleare Abschreckung den Sowjets nur dann glaubhaft erscheinen wird, wenn wir sie von der Bereitschaft der NATO überzeugen, auch auf einer geringeren Ebene Kampfhandlungen aufzunehmen, um ihnen dadurch noch einmal die großen Risiken einer möglichen Eskalation zu einem Atomkrieg nahezubringen.«
Eine Fülle von diplomatischen Aktivitäten – Memos, Telefongespräche, Treffen – begleitete Kennedys Vorbereitungen auf einen Krieg. Wie so oft in Zeiten großer Belastung fragte Kennedy eine ganze Reihe von Fachleuten um Rat. Er bat sie dabei, ganz offen zu sein. Der von ihm sehr geschätzte Botschafter in Großbritannien, David Bruce, der früher Botschafter in Bonn gewesen war, nahm dann auch kein Blatt vor den Mund.
Bruce schrieb in seiner Depesche, dass Kennedys Entscheidung, den Mauerbau ohne jede militärische Reaktion hinzunehmen, die US-Präsenz in Berlin verwundbarer gemacht und darüber hinaus die Westberliner und die westdeutsche Moral untergraben habe.37 Die Sowjets hätten zu allen Zeiten die Rolle der USA in Berlin nur akzeptiert, weil sie ihr durch militärische Mittel unmöglich ein Ende setzen konnten.
Bruce warnte den US-Präsidenten, dass das Ziel der Sowjets nicht West-berlin, sondern die letztendliche Inbesitznahme »Westdeutschlands mit seinen immensen Ressourcen« sei. Er machte sich auch über Kennedys mangelnde Bereitschaft Sorgen, die amerikanische Verpflichtung zu unterstützen, auf lange Sicht eine deutsche Wiedervereinigung zu erreichen. Bruce erinnerte Kennedy daran, dass genau dieses Versprechen Adenauer im Jahr 1953 dazu gebracht habe, »das betrügerische, aber verlockende sowjetische Angebot einer Wiedervereinigung zugunsten einer Allianz mit den NATO-Staaten« abzulehnen. Mit anderen Worten warnte Bruce den US-Präsidenten, dass sein Abweichen von diesen alten Verpflichtungen eine deutsche Reaktion hervorrufen könnte, die Washington gar nicht gefiele.
Bruce griff dann zu einer fast biblischen Sprache, um Kennedy klarzumachen, dass die Realität der deutschen Teilung kein hinreichender Grund sei, diese offiziell und endgültig anzuerkennen: »Keine westdeutsche Regierung würde es überleben, wenn ihre Verbündeten offen anerkennen würden, dass das, was bisher eine hingehaltene Hoffnung war, jetzt als auf Dauer hoffnungslos gelten soll« [Hervorhebung des Autors]. Bruce machte seine Meinung ganz deutlich: Kennedy blieb nichts anderes übrig, als sich mit der historischen Last der Probleme auseinanderzusetzen, bei deren Entstehung er selbst mitgewirkt hatte. »Wir nähern uns jetzt wohl dem Moment der Entscheidung«, schrieb er. »Ich halte es für unumgänglich, die Entscheidung zu treffen und danach glaubhaft zu machen, dass wir, wenn nötig, einen Atomkrieg beginnen, um nicht Westberlin und in der Folge Westdeutschland zu verlieren.«
HOT SPRINGS,
VIRGINIA
SAMSTAG, 21. OKTOBER 1961
Kennedy spürte, dass die Zeit knapp wurde.
In der Besorgnis, dass Chruschtschow schon bald zu militärischen Mitteln greifen könnte, entschied er sich für einen nuklearen Präventivschlag ganz anderer Art, den der Sowjetführer mitten in seinem Oktober-Parteitag als demütigend empfinden musste.
Kennedy beschloss, die bisher geheim gehaltenen Einzelheiten über Größe, Schlagkraft und Überlegenheit des US-amerikanischen Nukleararsenals öffentlich zu machen. Seine Spionagesatelliten hatten in letzter Zeit das Ausmaß der amerikanischen nuklearen Dominanz immer deutlicher werden lassen. Er nahm jedoch an, dass Chruschtschow entsprechende Geheimdienstinformationen über die US-Nuklearkapazitäten fehlten.
Präsident Eisenhower hatte nie enthüllt, was er über die sowjetische militärische Unterlegenheit wusste, da er die sowjetischen Rüstungsbemühungen nicht beschleunigen wollte. Sein mangelndes Wissen über diese Geheimdiensterkenntnisse hatte Kennedy zu dem falschen Vorwurf an Eisenhower verleitet, er habe es zugelassen, dass eine »Raketenlücke« zu Moskaus Gunsten entstanden sei. Paradoxerweise argumentierte Kennedy jetzt damit, dass die USA ihre Karten aufdecken müssten, um ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten. Nicht ganz zufällig war dies auch ein geschickter politischer Schachzug.
Kennedy fürchtete, dass er in den Augen Moskaus, der Verbündeten und der Amerikaner schwach aussehen könnte, obwohl er doch in Wahrheit stark genug war, um die Sowjetunion oder jedes andere Land in jeder militärischen Auseinandersetzung zu besiegen. Da er es für zu säbelrasselnd hielt, diese Botschaft selbst zu verkünden, wählte er für diese Aufgabe den stellvertretenden Außenminister, Roswell Gilpatric, aus, der am 21. Oktober vor der Wirtschaftsvereinigung in Hot Springs, Virginia, einen Vortrag halten sollte.
Es war also ein recht ungewöhnliches Publikum für einen solch bedeutsamen Anlass, aber den Übermittler der Botschaft hatte Kennedy perfekt ausgewählt. 38 Gilpatric war ein persönlicher Freund von Jacqueline Kennedy, die ihn einmal den »zweitattraktivsten Mann im Pentagon« nach McNamara genannt hatte. Kennedy mochte und vertraute dem feschen Wall-Street-Anwalt mit Yale-Abschluss. Ein junger Pentagon-Stratege namens Daniel Ellsberg hatte die Rede entworfen, aber der Präsident selbst hatte sie zusammen mit Bundy, Rusk und McNamara überarbeitet.
Da Ellsberg nichts vom Verbindungsmann zum Kreml, Bolschakow, oder vom persönlichen Briefwechsel mit Chruschtschow wusste, hatte er Kaysen gefragt, ob es nicht besser sei, dem Sowjetführer eine persönlichere Botschaft über die militärische Überlegenheit der USA zu schicken.39 Warum so viel Aufhebens machen? Könnte ihm Kennedy nicht einfach die Koordinaten der sowjetischen Rampen für die Interkontinentalraketen schicken und vielleicht noch die Kopien einiger Satellitenfotos beilegen?
Er hatte dabei jedoch Kennedys Wunsch nach einer öffentlichen Reaktion, die dem heimischen und westeuropäischen Publikum neue Zuversicht einflößen sollte, außer Acht gelassen. Sprecher des Weißen Hauses luden die Topjournalisten der Nation nach Hot Springs ein und teilten ihnen schon zuvor die nötigen Informationen mit, damit sie die Bedeutung der Rede richtig einschätzen konnten. Zum Einstieg meinte Gilpatric: »Berlin ist im Augenblick der Krisenherd, weil die Sowjets sich entschieden haben, es zu einem solchen zu machen.« Er fuhr dann fort:
Wir haben zusammen mit unseren westlichen Verbündeten darauf reagiert, indem wir unsere Garnisonen in dieser belagerten Stadt verstärkt haben. Wir haben etwa 150 000 Reservisten einberufen, die Einberufungen zum Grundwehrdienst erhöht und die Dienstzeit vieler unserer Soldaten verlängert. […]
Aber unsere wirkliche Stärke in Berlin und an jedem anderen Ort im Verteidigungsraum der freien Welt, der kommunistische Angriffe herausfordern könnte, beruht auf viel breiteren Grundlagen. Unser Vertrauen in unsere Fähigkeit, kommunistische Aktionen abzuschrecken oder uns kommunistischen Erpressungsversuchen zu widersetzen, gründet auf einer nüchternen Einschätzung der relativen militärischen Macht der beiden Seiten. Tatsächlich verfügt unsere Nation über derartig todbringende Mittel für einen nuklearen Vergeltungsschlag, dass jeder Schritt des Feindes, der sie ins Spiel bringen würde, einem Selbstmord gleichkäme.40
Gilpatric offenbarte dann bisher geheim gehaltene Einzelheiten über die Stärke der amerikanischen strategischen Einheiten, die aus Hunderten von Langstreckenbombern, einschließlich 600 schwerer Bomber, bestünden, die mithilfe hochentwickelter Nachtanktechniken die gesamte Sowjetunion verwüsten könnten. Er sprach von den landgestützten Interkontinentalraketen und den Polaris-Raketen auf U-Booten. »Unsere Trägerraketen und mobilen Landstreitkräfte können noch einmal mehrere Megatonnen abfeuern. Insgesamt beläuft sich die Zahl unserer taktischen und strategischen Feuersysteme auf mehrere Zehntausend«, und natürlich habe man für jedes System mehr als einen Sprengkopf.
»Unsere Streitkräfte sind so aufgestellt und geschützt, dass auch ein Überraschungsangriff uns nicht entscheidend entwaffnen könnte«, sagte er. Selbst nach einem russischen Erstschlag sei das amerikanische Zerstörungspotenzial immer noch größer, als es die Präventivschlagkapazität der Russen vorher gewesen sei. Außerdem würden die amerikanischen Vergeltungskräfte wegen ihrer Tarnung, Mobilität und ihrer besonders geschützten Basen einen Angriff besser überleben als die der Sowjets.
»Das Gepolter und die Drohungen der Sowjets vor Raketenangriffen gegen die freie Welt, die vor allem an die europäischen Mitglieder des NATO-Bündnisses gerichtet sind, müssen also gegen die harten Tatsachen der nuklearen Überlegenheit der Vereinigten Staaten abgewogen werden«, sagte Gilpatric gegen Schluss seiner Rede. »Die Vereinigten Staaten wollen keine Meinungsunterschiede durch Gewalt entscheiden. Wenn jedoch ein gewaltsamer Eingriff in unsere Rechte und Verpflichtungen zu einem bewaffneten Konflikt führen sollte – was durchaus der Fall sein könnte – , sind die Vereinigten Staaten entschlossen, keine Niederlage zu erleiden« [Hervorhebung des Autors].
Endlich hatte Kennedy Chruschtschows Bluff aufgedeckt.
KONGRESSPALAST,
MOSKAU
SONNTAG, 22. OKTOBER 1961
Als Chruschtschow in Moskau den Paukenschlag aus dem fernen Hot Springs hörte, begann er sich ebenfalls Sorgen zu machen, dass bald ein Krieg um Berlin ausbrechen könnte.
In einer Pause des immer noch andauernden Parteitags legte General Konew Beweise vor, dass sich die Amerikaner auf einen Krieg vorbereiteten. Obwohl Konew dem Titel nach Befehlshaber der sowjetischen Truppen in Deutschland war, betrachtete Chruschtschow dessen Ernennung als »rein administrativ«. Er wollte »den Westmächten dadurch zeigen, dass wir die Lage als ebenso ernsthaft ansahen, wie sie es taten«. Zurzeit weilte Konew als Parteitagsdelegierter in Moskau.
Chruschtschow würde sich später daran erinnern, dass ihm damals Konew gemeldet habe, »er habe durch geheime Ermittlungen erfahren, an welchem Tag und zu welcher Stunde die Westmächte mit ihren Aktionen gegen uns beginnen wollten. Sie hielten Bulldozer bereit, die unsere Grenzeinrichtungen niederreißen sollten. Den Bulldozern würden Panzer und Welle um Welle Infanteristen in Jeeps folgen.«41 Chruschtschow glaubte tatsächlich eine Zeitlang, dass sich die Amerikaner entschlossen hätten, »diese Aktion zeitlich mit dem XXII. Parteitag zusammenfallen zu lassen«.
Obwohl Chruschtschow zweifellos von Clays unautorisierten Panzermanövern gehört hatte, musste er den Zeitpunkt der folgenden Ereignisse eher seinem lästigen Ostberliner Verbündeten Walter Ulbricht anlasten. Dieser war über Chruschtschows Entscheidung, auf einen Friedensvertrag mit der DDR vorerst zu verzichten, dermaßen empört, dass er sich entschloss, die Dinge in Ostberlin wieder einmal selbst in die Hand zu nehmen. Dieses Mal hatte er es jedoch mit einem Amerika zu tun, das nicht alles zu akzeptieren bereit war.
Die Bühne war bereitet für die erste und letzte militärische Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion.