KAPITEL 2
Chruschtschow: Der Ausbruch der Berlin-Krise
Westberlin ist zu einer Art
bösartigem Krebsgeschwür des
Faschismus und Revanchismus geworden. Deshalb haben
wir uns entschlossen,
eine chirurgische Operation
durchzuführen.
NIKITA CHRUSCHTSCHOW AUF SEINER ERSTEN
PRESSEKONFERENZ
ALS MINISTERPRÄSIDENT, 27. NOVEMBER 19581
Der nächste Präsident wird sich in seinem ersten Amtsjahr mit der sehr ernsten Frage unserer Verteidigung von Berlin und unseres Bekenntnisses zu Berlin auseinandersetzen müssen. Es wird ein Test für unsere Nerven und unseren Willens sein. […] Wir werden der schwersten Berlin-Krise seit 1949 oder 1950 gegenüberstehen.
SENATOR JOHN F. KENNEDY WÄHREND EINER
WAHLKAMPFDEBATTE
MIT VIZEPRÄSIDENT RICHARD NIXON, 7. OKTOBER 19602
SPORTPALAST,
MOSKAU
MONTAG, 10. NOVEMBER 1958
An einem ungewöhnlichen Ort und vor einem nichts ahnenden Publikum löste Nikita Chruschtschow das aus, was man bald die »Berlin-Krise« nennen würde.
Der Sowjetführer stand mitten in Moskaus neuer, großartiger Sporthalle und erklärte einer Versammlung polnischer Kommunisten, dass er die Nachkriegsverträge aufzukündigen gedenke, die bisher Grundlage der fragilen Stabilität Europas gewesen waren. Unter anderem werde er sich von den »überlebten Verpflichtungen freimachen«, die sich aus dem Potsdamer Abkommen mit den westlichen Verbündeten aus dem Zweiten Weltkrieg ergäben, und einseitig das Berliner Besatzungsstatut ändern mit dem Ziel, alle Besatzungstruppen aus der Stadt abzuziehen und den Sonderstatus Westberlins aufzuheben. 3
Der Schauplatz dieser Äußerungen, der in der Nähe des Lenin-Zentralstadions gelegene Sportpalast, war zwei Jahre zuvor mit großem Zeremoniell eröffnet worden und diente seitdem als Arena für die besten sportlichen Leistungsträger der Sowjetunion. Das aufwühlendste Ereignis in seiner noch kurzen Geschichte war die verblüffende und unerwartete Niederlage der Sowjets gegen die Schweden bei den Eishockey-Weltmeisterschaften von 1957 gewesen, die allerdings unter dem Boykott der US-Amerikaner und anderer westlicher Eishockeymannschaften gelitten hatte, den diese aus Protest gegen die Niederschlagung des Ungarn-Aufstands durch Sowjettruppen ausgesprochen hatten. Die Schweden hatten den Sieg einem ihrer Verteidiger zu verdanken, der den Puck unmittelbar vor dem Tor mit dem Kopf abgeblockt hatte. Hinterher blutete er zwar stark, aber er hatte mit seiner Mannschaft den Weltmeistertitel geholt.
Chruschtschows polnische Zuhörer waren auf eine solche Dramatik nicht gefasst gewesen. Sie waren nach Moskau gekommen, um an den Feiern zum 41. Jahrestag der bolschewistischen Oktoberrevolution teilzunehmen, und hatten bei dieser Gelegenheit eine Einladung zu einer »Freundschaftskundgebung der Völker der Sowjetunion und der Volksrepublik Polen« erhalten. Sie hatten eine der formelhaften, langweiligen Routinereden erwartet, wie sie bei derartigen kommunistischen Pflichtveranstaltungen üblich waren. Stattdessen waren sie nun wie erstarrt, als Chruschtschow erklärte: »Offensichtlich ist die Zeit gekommen, dass die Mächte, die das Potsdamer Abkommen unterzeichneten, auf die Reste des Besatzungsregimes in Berlin verzichten und damit die Möglichkeit geben, eine normale Lage in der Hauptstadt der DDR zu schaffen.«4
Nicht nur die Polen waren überrascht. Chruschtschow hatte weder die westlichen Signatarmächte des Potsdamer Abkommens noch seine sozialistischen Verbündeten, einschließlich der Ostdeutschen, vorab informiert.5 Er hatte nicht einmal den Segen der Führungsriege seiner eigenen Kommunistischen Partei eingeholt. Erst kurz vor seiner Rede weihte er den Leiter der polnischen Delegation, den Ersten Sekretär der KPP, Władysław Gomułka, ein, der höchst erstaunt war und sofort fürchtete, dass es wegen Berlin zu einem Krieg kommen könnte, wenn Chruschtschow es wirklich ernst meinte.
Der sowjetische Ministerpräsident erklärte Gomułka, dass er jetzt einseitig handle, weil er von der Berlin-Diplomatie genug habe, die nie zu irgendetwas führe.6 Er sei bereit, eine Auseinandersetzung mit dem Westen zu riskieren. Immerhin habe er heute bessere Erfolgsaussichten als Stalin im Jahr 1948, da die Sowjetunion das amerikanische Atomwaffenmonopol inzwischen ja gebrochen habe. Tatsächlich würde Chruschtschow im Rahmen eines Plans namens »Operation Atom« innerhalb von Wochen auf ostdeutschem Boden Nuklearabschreckungswaffen aufstellen. Zwölf R-5-Mittelstreckenraketen verschafften Chruschtschow dann die Möglichkeit, jeden Atomangriff auf Ostdeutschland mit Gegenschlägen auf London und Paris – allerdings noch nicht auf New York – zu vergelten. Ohne etwas über diese Geheimwaffen zu enthüllen, erklärte Chruschtschow Gomułka: »Inzwischen hat sich das Kräftegleichgewicht verändert. […] Heute ist uns Amerika näher gerückt; unsere Raketen können sie jetzt direkt treffen.«7 Obwohl dies so nicht stimmte, konnte der sowjetische Staatschef jetzt immerhin Washingtons europäische Verbündete auslöschen.
Chruschtschow gab noch keine Einzelheiten über die zeitliche Komponente oder die konkrete Umsetzung seines neuen Berlin-Plans preis, weil er sie noch nicht genau ausgearbeitet hatte. Seinen polnischen Zuhörern erzählte er nur, dass die Sowjets und die Westmächte gemäß seinem Plan innerhalb einer gewissen Zeit ihre sämtlichen Truppen aus der DDR und Ostberlin abziehen würden. Die Sowjetunion werde einen endgültigen Friedensvertrag mit der DDR schließen und danach »die Funktionen in Berlin, die noch sowjetischen Organen obliegen, an die souveräne Deutsche Demokratische Republik übertragen«. 8 Dazu gehörte dann natürlich auch die Kontrolle des Zugangs nach Westberlin. In diesem Fall müssten amerikanische, britische und französische Soldaten die Erlaubnis des ostdeutschen Staatschefs Walter Ulbricht einholen, bevor sie irgendeinen Teil Berlins zu Land oder Luft betreten dürften. Am Schluss machte Chruschtschow seinem atemlos lauschenden Sportpalastpublikum deutlich, dass er jeden Widerstand gegen eine Ausübung dieser neu gewonnenen Rechte durch die DDR, wozu auch eine Blockade der Zufahrtswege und Luftkorridore nach Westberlin gehören könnte, als einen Angriff auf die Sowjetunion selbst und den Warschauer Pakt betrachten werde.
Chruschtschows schockierende Verschärfung des Kalten Kriegs hatte drei Beweggründe.
Vor allem war es der Versuch, die Aufmerksamkeit von Präsident Eisenhower zu gewinnen, der seine Forderungen nach Verhandlungen über Berlin bisher stets ignoriert hatte. Chruschtschow hatte das Gefühl, dass er, was immer er auch unternahm, anscheinend niemals den Respekt der Washingtoner Führung erringen konnte, den er doch so sehr begehrte.
Seine Parteirivalen hatten ganz zu Recht darauf hingewiesen, dass die Vereinigten Staaten ihm in keiner Weise eine Reihe von einseitigen Maßnahmen gedankt oder vergolten hatten, die er seit Stalins Tod ergriffen hatte, um die Spannungen im Kalten Krieg zu verringern. Nicht nur hatte er das Konzept eines unvermeidlichen Kriegs durch die Vorstellung einer künftigen friedlichen Koexistenz ersetzt. Er hatte auch die sowjetische Truppenstärke zwischen 1955 und 1958 einseitig um 2,3 Millionen Mann verringert9 sowie alle sowjetischen Soldaten aus Finnland und Österreich abgezogen und damit eine Neutralität dieser beiden Länder ermöglicht. Darüber hinaus hatte er – im Rahmen der sogenannten Tauwetterperiode – gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Reformen auch in den sowjetischen Satellitenstaaten in Osteuropa ermuntert und gefördert.
Der zweite Hintergrund von Chruschtschows impulsiver Berlin-Entscheidung war sein neu gewonnenes Machtbewusstsein, nachdem er im Juni 1957 den »Putsch gegen die Partei« niedergeschlagen hatte, den die ehemaligen Vorsitzenden des Ministerrats, Wjatscheslaw Molotow und Georgij Malenkow, und Chruschtschows ehemaliger Mentor Lasar Kaganowitsch angeführt hatten. 10 Sie hatten ihn nicht zuletzt wegen dieser Art unbesonnenen Führungsstils angegriffen, wie er ihn jetzt wieder einmal in der Berlin-Frage bewies. Im Gegensatz zu Stalin hatte er sie jedoch nicht umbringen lassen, sondern ihnen unbedeutende Rollen weit weg vom Moskauer Machtzentrum zugewiesen: Molotow wurde als Botschafter in die Mongolei geschickt, Malenkow leitete jetzt in Kasachstan ein Wasserkraftwerk und Kaganowitsch eine kleine Kaliumfabrik im Ural. Kurz darauf schickte Chruschtschow seinen beliebten Verteidigungsminister Marschall Georgij Schukow in den Ruhestand, da er ihn verdächtigte, ebenfalls ein Komplott gegen ihn zu schmieden.
Um seine gewagte neue Berlin-Politik zu rechtfertigen, hatte er nur vier Tage vor seiner Warschauer Rede gegenüber seiner Parteiführung argumentiert, dass die Vereinigten Staaten als Erste das Potsdamer Abkommen gebrochen hätten, als sie im Jahr 1955 Westdeutschland in die NATO aufgenommen hätten. Außerdem seien sie möglicherweise bereit, der Bundesrepublik auch Atomwaffen zu geben. Nachdem er seinen Aktionsplan dargelegt hatte, schloss er die Sitzung, ohne zuvor sein Präsidium darüber abstimmen zu lassen, wie es bei Angelegenheiten von solcher Wichtigkeit eigentlich üblich war. Wahrscheinlich spürte er, dass es dagegen durchaus Widerstand geben könnte.
Der dritte Hintergrund der Chruschtschow-Rede war Berlin selbst, wo die Flüchtlingswelle immer mehr zunahm. Trotz seines gestiegenen Machtbewusstseins wusste Chruschtschow aus eigener Erfahrung, dass die Probleme der geteilten Stadt Karrieren in Moskau beenden konnten. Kurz nach Stalins Tod hatte er nicht zuletzt den drohenden Zusammenbruch Ostdeutschlands dazu benutzt, seinen gefährlichsten Rivalen, den früheren Chef der Geheimpolizei, Lawrentij Berija, für immer auszuschalten, nachdem sowjetische Truppen den ostdeutschen Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 niedergeschlagen hatten.11
Zu dieser Zeit war Chruschtschow im Kampf um Stalins Nachfolge noch ein absoluter Außenseiter innerhalb der kollektiven Parteiführung, die nach dem Tod des Diktators eingerichtet worden war. Vor allem die Außenpolitik war ihm fremd. Bisher betrachtete er die Entwicklungen in Deutschland hauptsächlich durch eine inländische Politikbrille. Als Teil seines Kampfes um die Macht hatte Berija eine Stellvertreterkampagne gegen den stalinistischen ostdeutschen Parteichef Walter Ulbricht und dessen rigide Politik eines schnellen »Aufbaus des Sozialismus« begonnen.12 Ulbricht war den Widerständen im Inneren und den wachsenden Flüchtlingszahlen mit gesteigerten Repressionsmaßnahmen, Verhaftungen, der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und der beschleunigten Verstaatlichung der Industrie, dem Aufbau »Nationaler Streitkräfte« und einer verschärften Zensur entgegengetreten. In der Folge flüchteten jedoch nur noch mehr Menschen: In den ersten vier Monaten des Jahres 1953 waren es 122 000, doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Allein im März 1953 verließen 56 605 Personen Ostdeutschland und den Osten Berlins, sechsmal mehr als im Vorjahresmonat.13
Auf der entscheidenden Sondersitzung des Präsidiums des Ministerrats der UdSSR meldete sich dann im Mai 1953 Berija zu Wort: »Wir brauchen nur ein friedliches Deutschland. Aber ob es dort den Sozialismus gibt oder nicht, ist uns ganz gleich.« Es könne dann auch »vereinigt, demokratisch, bürgerlich und neutral« sein.14 Berija wollte, dass man mit dem Westen über einen beträchtlichen finanziellen Ausgleich für eine sowjetische Zustimmung zu einem neutralen, vereinigten Deutschland verhandeln solle. Er hatte sogar schon einem seiner loyalsten Parteigänger aufgetragen, in westlichen Ländern zu sondieren, ob diese zu einer solchen Abmachung bereit seien. Laut Gromyko fügte er dann in der fraglichen Präsidiumssitzung hinzu: »Die DDR? Was ist sie wert, die DDR? Sie ist ja nicht einmal ein richtiger Staat. Sie wird nur durch sowjetische Truppen am Leben erhalten, selbst wenn wir sie mit Deutscher Demokratischer Republik betiteln.«15 Die nachstalinsche kollektive Führung lehnte jedoch Berijas Aufforderung, die sozialistische Sache in Ostdeutschland im Stich zu lassen, empört ab.16 Stattdessen wies sie die Führung in Ostberlin an, auf das, was sie selbst »Auswüchse« nannte, zu verzichten. In Befolgung dieser Befehle stellte Ulbricht zunächst einmal die Zwangskollektivierung ein und beendete die großangelegte Verhaftungswelle. Er amnestierte zahlreiche politische Gefangene, verzichtete auf eine noch weiter gehende Beschränkung der Religionsfreiheit und steigerte die Produktion von Konsumgütern.
Chruschtschow nahm an den Debatten, die zu diesem abrupten Politikwechsel führten, kaum Anteil, widersetzte sich allerdings auch nicht den Reformen. Er musste dann jedoch miterleben, wie die Lockerung der stalinistischen Kontrollen einen Aufstand nach sich zog, der die DDR hinweggefegt hätte, wenn die sowjetischen Panzer nicht eingegriffen hätten.
Etwas mehr als eine Woche nach dem Aufstand ließ Chruschtschow am 26. Juni 1953 Berija verhaften. Neben weiteren Anklagen warf er dem ehemaligen Geheimdienstchef vor, er sei bereit gewesen, den Sozialismus in Deutschland endgültig und vollständig aufzugeben, und dies in einem Land, das die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg mit solch enormen menschlichen Kosten erobert habe. Auf der entscheidenden Sitzung des ZK-Plenums der KPdSU, die Berijas Schicksal besiegelte und den Weg zu seiner Hinrichtung öffnete, brandmarkten ihn andere kommunistische Führer als unzuverlässigen Sozialisten und beschimpften ihn als »schmutzigen Volksfeind, der [aus der Partei] ausgeschlossen und des Hochverrats angeklagt werden sollte«. Das Plenum bezeichnete seine Bereitschaft, den ostdeutschen Sozialismus im Stich zu lassen, als »direkte Kapitulation vor den imperialistischen Kräften«.17
Chruschtschow zog aus dieser Berija-Geschichte zwei Lehren, die er niemals vergessen würde. Zum einen hatte er gelernt, dass eine politische Liberalisierung in der DDR zu einem Zusammenbruch des Landes führen konnte. Zweitens hatte er gesehen, dass Fehler in Berlin Moskauer Karrieren beenden konnten. Drei Jahre später, 1956, würde Chruschtschow seinen eigenen Weg zur Macht endgültig besiegeln, indem er auf dem XX. Parteitag die stalinistischen verbrecherischen Exzesse ausdrücklich verdammte. Trotzdem würde er die widersprüchliche Lektion immer im Gedächtnis behalten, dass nur militärische Unterdrückungsmaßnahmen im Stil Stalins die DDR gerettet und es ihm ermöglicht hatten, sich seines gefährlichsten Gegners zu entledigen.
In den ersten Tagen nach Chruschtschows Sportpalastrede zog es Präsident Eisenhower vor, darauf nicht öffentlich zu antworten.18 Er hoffte, dass diesem Aufplustern des Sowjetführers wie so oft in der Vergangenheit keine konkreten Taten folgen würden. Chruschtschow machte jedoch schnell deutlich, dass er es dieses Mal ernst meinte. Zwei Wochen nach seiner Rede fasste er deren Hauptpunkte genau am amerikanischen Thanksgiving-Fest in einem Ultimatum zusammen, das eine amerikanische Antwort erfordern würde. Darin hatte er jedoch einige seiner Forderungen abgeschwächt, damit sein Präsidium einer Erklärung zustimmte, die dann den Botschaften aller betroffenen Staaten zugestellt wurde.
So drohte er nicht länger, sofort alle im Potsdamer Abkommen festgehaltenen sowjetischen Verpflichtungen nicht mehr zu beachten. Stattdessen gab er dem Westen sechs Monate Zeit, um mit ihm zu verhandeln, bevor er einseitig den Berlin-Status verändern würde. Gleichzeitig konkretisierte er seinen Plan, Westberlin auf eine Weise zu entmilitarisieren und zu neutralisieren, dass es künftig weder zum Sowjetblock noch zum Westen gehören würde.
Chruschtschow trommelte dann kurzfristig einige westliche Journalisten zusammen, wobei die amerikanischen sicher gerade in ihren Moskauer Wohnungen ihren Thanksgiving-Truthahn tranchierten. Der Kreml-Führer wollte wohl an diesem Tag sein eigenes, höchst politisches Operationsbesteck auspacken. Es war dies überhaupt seine erste Pressekonferenz als Ministerpräsident, was endgültig zeigte, wie wichtig ihm die Berlin-Frage inzwischen geworden war. Unter anderem teilte er den Reportern mit: »Westberlin ist zu einer Art bösartigem Krebsgeschwür des Faschismus und Revanchismus geworden. Deshalb haben wir uns entschlossen, eine chirurgische Operation durchzuführen. «19
Als Hintergrund der achtundzwanzigseitigen diplomatischen Note gab Chruschtschow gegenüber den Korrespondenten zu bedenken, dass seit dem Kriegsende inzwischen ja dreizehn Jahre vergangen seien und es deswegen jetzt Zeit sei, die Realität zweier deutscher Staaten zu akzeptieren. Die DDR werde niemals den Sozialismus aufgeben, und Westdeutschland werde es niemals gelingen, sich Ostdeutschland einzuverleiben. Er lasse jetzt Eisenhower die Wahl: Entweder schließe er innerhalb eines halben Jahres mit der Sowjetunion ein Abkommen, das die Demilitarisierung und Neutralität Westberlins zur Folge habe, oder Moskau werde einseitig in einer Weise handeln, die zu demselben Ergebnis führen werde.
Chruschtschows damals erst dreiundzwanzigjähriger Sohn Sergej war besorgt, sein Vater lasse Eisenhower so wenig Handlungsspielraum, dass dies zu einem Kollisionskurs führen könnte, der vielleicht sogar in einem Atomkrieg enden würde. Er teilte seinem Vater mit, dass die Amerikaner seiner Ansicht nach derartige Bedingungen niemals annehmen würden. Obwohl die Russen als gute Schachspieler bekannt waren, wusste Sergej, dass sein ungestümer Vater wie in so vielen anderen Fällen über seinen nächsten Zug noch gar nicht nachgedacht hatte.
Der alte Chruschtschow lachte jedoch über Sergejs Ängste: »Niemand wird wegen Berlin einen Krieg beginnen«, sagte er.20 Er wolle nur den USA die »Zustimmung abringen«, formelle Berlin-Verhandlungen aufzunehmen. Wenn er keinen Termin festsetzte, »würde der Notenaustausch, der Austausch von Erklärungen und Deklarationen unendlich lange fortgesetzt«.
Die Warnfrist würde beide Seiten zwingen, nach einem tragbaren Kompromiss zu suchen.
»Aber wenn man ihn nicht findet?«, fragte Sergej.
»Dann suchen wir nach einem anderen Ausweg«, antwortete der alte Chruschtschow. »Etwas findet sich immer.«
Als sein langjähriger Dolmetscher und außenpolitischer Berater Oleg Trojanowkij ähnliche Zweifel äußerte, erklärte Chruschtschow frei nach Lenin, er plane, »in die Schlacht zu ziehen und dann zu schauen, was passiert«.21
CHRUSCHTSCHOWS BÜRO IM
MOSKAUER KREML
MONTAG, 1. DEZEMBER 1958
Auf einem der außergewöhnlichsten Treffen, das jemals zwischen einem Sowjetführer und einem amerikanischen Politiker stattfand, machte Chruschtschow einige Tage nach Thanksgiving deutlich, dass sein Berlin-Ultimatum im Augenblick sehr viel mehr die Aufmerksamkeit Präsident Eisenhowers erwecken als den Berlin-Status verändern sollte.
An diesem Tag forderte Chruschtschow den gerade in Moskau weilenden Senator aus Minnesota, Hubert H. Humphrey, auf, ihn eine halbe Stunde später in seinem Büro im Kreml zu besuchen. Daraus sollte dann das längste Gespräch werden, das jemals irgendein amerikanischer Beamter, Diplomat oder gewählter Politiker mit einem sowjetischen Staats- und Parteichef geführt hat. Ursprünglich sollte es um 15 Uhr beginnen und eine Stunde dauern. Am Ende trennten sich die beiden Politiker kurz vor Mitternacht nach einem Gedankenaustausch von acht Stunden und fünfundzwanzig Minuten.22
Um seine Kenntnisse der amerikanischen Verhältnisse zu beweisen, ließ sich Chruschtschow länger über die Lokalpolitik in Kalifornien, New York und in Humphreys Heimatstaat Minnesota aus.23 Er scherzte über »den neuen McCarthy«, womit er natürlich nicht den Kommunistenhasser Joe, sondern den linksliberalen Kongressabgeordneten Eugene meinte, der Jahre später einmal für das Präsidentenamt kandidieren würde. Dann teilte er Humphrey ein Geheimnis mit, »von dem kein Amerikaner bisher gehört hat«. Er erzählte ihm von dem erfolgreichen Test einer sowjetischen Fünf-Megatonnen-Wasserstoffbombe mit nur einem Zehntel des spaltbaren Materials, das bisher für die Auslösung einer Explosion dieser Größenordnung benötigt worden sei. Er sprach auch von der Entwicklung einer Rakete mit einer Reichweite von 14 500 Kilometern, mit der man zum ersten Mal Ziele in den Vereinigten Staaten treffen könnte.
Nachdem er Humphrey nach dem Namen seiner Geburtsstadt gefragt hatte, sprang Chruschtschow auf und zeichnete auf einer an seiner Wand hängenden USA-Karte einen dicken blauen Kreis um Minneapolis – »damit ich meinen Leuten nicht zu befehlen vergesse, diese Stadt zu verschonen, wenn die Raketen losfliegen«. Chruschtschow erschien Humphrey als ein Mann von großer persönlicher und politischer Unsicherheit, »als jemand, der zwar aus Armut und Schwäche zu Reichtum und Macht aufgestiegen, sich jedoch seiner selbst und seines neuen Status nie ganz sicher ist«.24
Am nächsten Tag erzählte Humphrey den Verlauf seines Treffens Botschafter Thompson, damit dieser ihn an Präsident Eisenhower übermitteln konnte.25 Humphrey berichtete, dass Chruschtschow vielleicht zwei Dutzend Mal auf Berlin und sein Ultimatum zu sprechen gekommen sei. Letzteres sei laut dem sowjetischen Ministerpräsidenten nach »vielmonatigem Nachdenken« entstanden. Humphrey glaubte, Chruschtschow habe mit diesem Marathontreffen hauptsächlich beabsichtigt, »ihm die sowjetische Einstellung zu Berlin nahezubringen, damit er dann seine [Chruschtschows] Worte und Gedanken dem Präsidenten mitteilen könne«.
Chruschtschow nutzte in seiner Beschreibung Berlins eine ganze Fülle von Metaphern. Die Stadt war abwechselnd ein Krebsgeschwür, ein Knoten, ein Dorn und eine Gräte in seiner Kehle. Er erzählte Humphrey, er beabsichtige, diese »Gräte herauszuhusten«, indem er Westberlin zu einer entmilitarisierten »Freien Stadt« zu machen gedenke, deren Status von Beobachtern der Vereinten Nationen garantiert werde. Um Humphrey davon zu überzeugen, dass er keinesfalls die Vereinigten Staaten durch irgendeinen Trick dazu bringen wolle, eine kommunistische Machtübernahme in Westberlin hinzunehmen, stellte er noch einmal ausführlich dar, wie er persönlich im Jahr 1955 den Abzug der sowjetischen Truppen aus Österreich angeordnet habe, um dessen Neutralität zu gewährleisten. Damals habe er gegenüber seinem Außenminister Molotow argumentiert, dass russische Truppen in Österreich nur dann von Nutzen wären, wenn er beabsichtigen würde, nach Westen zu expandieren, was er jedoch nicht vorhabe. »Auf diese Weise entstand ein neutrales Österreich, und ein Konfliktherd wurde beseitigt«, sagte er.
Seiner Ansicht nach sollte das sowjetische Verhalten in Österreich Eisenhower als Modell für Westberlin dienen und dessen Zukunft sichern. Dann hätten auch die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich keinen Grund mehr, irgendwelche Truppen in Berlin zu belassen. »25 000 Soldaten in Berlin sind nur dann von Bedeutung, wenn Sie einen Krieg anfangen wollen«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Warum behalten Sie diesen Stachel bei? Eine Freie Stadt, ein freies Berlin, könnte das Eis zwischen der UdSSR und den USA brechen.«
Chruschtschow wollte Humphrey unbedingt davon überzeugen, dass er und Eisenhower durch eine Lösung des Berlin-Problems ihre persönlichen Beziehungen verbessern und zusammen ein historisches Tauwetter im Kalten Krieg einleiten könnten. Wenn dem US-Präsidenten Einzelheiten seines Berlin-Plans nicht gefielen, sei er, Chruschtschow, auch für dessen Gegenvorschläge offen. Er könne alle Alternativvorstellungen Eisenhowers akzeptieren, solange er nicht die deutsche Einigung oder »die Liquidierung des sozialistischen Systems in Ostdeutschland« vorschlüge. Zum ersten Mal hatte er damit seine unverzichtbaren Fixpunkte für jedes Berlin-Gespräch klargestellt.
Chruschtschow schwenkte so schnell zwischen Umgarnung und Drohungen hin und her, dass Humphrey sich an seines Vaters Behandlungsmethoden für Frostbeulen im winterlichen South Dakota erinnert fühlte, bei denen man die Füße in schneller Folge abwechselnd in heißes und kaltes Wasser tauchen musste. »Unsere Truppen sind nicht zum Kartenspielen dort, und unsere Panzer sind nicht dort, um Ihnen den Weg nach Berlin zu zeigen«, herrschte Chruschtschow Humphrey einmal an. »Wir meinen es ernst!« Im nächsten Augenblick wurden die Augen des Sowjetführers jedoch feucht, als er mit dick aufgetragener Sentimentalität über den Verlust eines seiner Söhne im Zweiten Weltkrieg und von seiner Zuneigung zum amerikanischen Präsidenten sprach. »Ich mag Präsident Eisenhower«, versicherte er Humphrey. »Wir wünschen den Vereinigten Staaten oder Berlin nichts Böses. Sie müssen das Ihrem Präsidenten versichern.«
Eisenhower antwortete auf Chruschtschows Berlin-Ultimatum, wie es der sowjetische Ministerpräsident gehofft hatte. Er stimmte einem Treffen der Außenminister der »vier Mächte« in Genf zu, an dem dann auch Vertreter Ost- und Westdeutschlands als Beobachter teilnahmen. Obwohl man dort nur enttäuschende Fortschritte erzielte, lud Eisenhower danach Chruschtschow ein, als erster sowjetischer Parteiführer die Vereinigten Staaten zu besuchen.26
Chruschtschow beglückwünschte sich daraufhin selbst. Er betrachtete Eisenhowers Bereitschaft, ihn in der Höhle des Kapitalismus zu empfangen, als »konkretes Ergebnis des Berliner Drucks, den er auf die Westmächte ausgeübt hatte«.27
Er hatte das Gefühl, Amerika endlich den Respekt abgetrotzt zu haben, den er für sich und sein Heimatland zutiefst erstrebte.
CHRUSCHTSCHOWS
USA-BESUCH
15. BIS 27. SEPTEMBER 1959
Je näher der Zeitpunkt seiner Amerika-Reise rückte, desto besorgter wurde Chruschtschow, dass seine Gastgeber eine »Provokation«, irgendeine schlimme Kränkung bei seiner Ankunft oder an anderen Orten der Reise planen könnten. Dies könnten dann im Gegenzug seine jetzt zum Schweigen gebrachten, aber beileibe noch nicht besiegten heimischen Rivalen als Beweis gegen ihn verwenden, dass sein in der ganzen Welt beachteter USA-Besuch naiv war und den sowjetischen Interessen Schaden zufügte.
Aus diesem Grund dachte Chruschtschow weniger darüber nach, wie er in den Vereinigten Staaten am geschicktesten über Berlin verhandeln könnte. Stattdessen untersuchte er genau jeden Aspekt seines Reiseweges, um sicherzugehen, dass er nirgendwo einen »moralischen Schaden« erleiden würde, wie er selbst das nannte.28 Obwohl Chruschtschow ein kommunistischer Führer war, der angeblich die proletarische Avantgarde vertrat, verlangte seine Vorausmannschaft, dass er mit dem ganzen Zeremoniell empfangen werden müsse, das einem westlichen Staatsoberhaupt zustand.
So stutzte Chruschtschow erst einmal, als er hörte, dass seine wichtigsten Gespräche mit Eisenhower an einem Ort namens »Camp David« stattfinden würden, den keiner seiner Berater kannte und der für ihn wie ein Gulag, ein Internierungslager, klang. Er erinnerte sich daran, dass die Amerikaner in den ersten Jahren nach der Revolution eine sowjetische Delegation nach Sivriada, einer der türkischen Prinzen-Inseln, verfrachtet hatten, wohin man zuvor im Jahr 1911 alle streunenden Hunde Istanbuls gebracht hatte, um sie dort sterben zu lassen. Er dachte bei sich selbst, dass »die Kapitalisten noch nie eine Chance ausgelassen hatten, die Sowjetunion zu demütigen oder zu beleidigen«. Deshalb fürchtete er, »dass dieses Camp David … ein Ort war, wo man Leute, denen man misstraute, in Quarantäne halten konnte«.29
Chruschtschow stimmte einem Treffen erst zu, als ihm seine Vorausmannschaft nach eingehenden Erkundigungen mitteilte, dass die Einladung nach Camp David in Wirklichkeit eine besondere Ehre sei, da Eisenhower ihn in eine Land-»Datscha« mitnehme, die Roosevelt während des Zweiten Weltkriegs in den Bergen Marylands hatte bauen lassen. Später drückte Chruschtschow gegenüber seinem Sohn seine Scham über dieses sowjetische Unwissen aus.30 Noch wichtiger war jedoch, was diese Episode über die starke Mischung aus Misstrauen und Unsicherheit aussagte, mit der Chruschtschow jeden Aspekt seiner Beziehung zu den USA anging.
Entgegen dem Ratschlag seines Piloten flog Chruschtschow in einer Tupolew Tu-114 über den Atlantik, einem Flugzeugtyp, der zu dieser Zeit noch in der Erprobungsphase war.31 Auch die Maschine des Sowjetführers hatte die erforderlichen Tests noch nicht absolviert und wies sogar Mikrorisse in ihren Triebwerken auf. Trotz aller Risiken bestand Chruschtschow auf diesem Transportmittel, da es das einzige sowjetische Flugzeug war, das ohne Zwischenlandung Washington erreichen konnte. Außerdem würde er dort an Bord eines Flugzeugs eintreffen, das weltweit die größte Passagierkapazität und Reichweite, den stärksten Schub und die höchste Reisegeschwindigkeit aufwies. Andererseits wurde auch eine eventuelle Notlandung vorbereitet. Zu diesem Zweck bildeten sowjetische Fischerei-, Fracht- und Tankschiffe zwischen Island und New York eine regelrechte Kette unterhalb der Flugroute, um die Insassen der Versuchsmaschine notfalls aufzufischen, falls die Triebwerksrisse größer werden und eine Notlandung auf dem Meer erzwingen sollten.
Chruschtschow würde sich später erinnern, dass es ihm vor Begeisterung »wie Feuer durch die Adern rann«, als er aus dem Fenster des Flugzeugs schaute, das gerade über der Landebahn kreiste, und er noch einmal über die tiefere Bedeutung dieser Reise nachdachte: »Wir hatten endlich die Vereinigten Staaten zur Einsicht in die Notwendigkeit gezwungen, engere Kontakte zu uns aufzubauen … Seit der Zeit, als die Vereinigten Staaten uns nicht einmal diplomatisch anerkennen wollten, hatten wir einen weiten Weg zurückgelegt.«
Im Moment war Berlin nur ein nachgeordneter Teil dieser größeren nationalen Zielsetzung. Er genoss die Vorstellung, dass die Stärke der Wirtschaft der Sowjetunion, ihrer Streitkräfte und des gesamten sozialistischen Lagers Eisenhower dazu veranlasst hatte, bessere Beziehungen zu seinem Land zu suchen. »Von einem ausgeplünderten, rückständigen und ungebildeten Russland hatten wir uns selbst in ein Russland verwandelt, dessen Errungenschaften die ganze Welt in Erstaunen versetzten.«32
Zu Chruschtschows Erleichterung und Freude begrüßte ihn Eisenhower auf der Andrews-Luftwaffenbasis außerhalb von Washington mit einem roten Teppich und einundzwanzig Salutschüssen. Chruschtschow erinnerte sich später, dass er »ungeheuer stolz war; ich geriet sogar ein wenig ins Zittern … Dies waren die Vereinigten Staaten von Amerika, die größte kapitalistische Macht der Welt, und sie ehrten hier den Vertreter unserer sozialistischen Heimat, eines Landes, das in den Augen des kapitalistischen Amerika immer unwürdig oder, schlimmer noch, von einer Art heimtückischen Krankheit befallen gewesen war.«33
Seine gelockerte Stimmung und weniger irgendeine durchdachte Berlin-Strategie brachte Chruschtschow dazu, Präsident Eisenhower bei ihrem ersten Treffen am 15. September mitzuteilen, er wolle »über Deutschland und somit auch über Berlin eine gemeinsame Vereinbarung erzielen«. Ohne nähere Einzelheiten zu liefern, fügte er hinzu: »Wir ziehen von unserer Seite kein einseitiges Vorgehen in Erwägung.«34 Eisenhower bezeichnete seinerseits die Situation in Westberlin als »unnormal«,35 ein Ausdruck, der bei dem sowjetischen Ministerpräsidenten Hoffnungen für die Gespräche über Berlin weckte, die am Ende seines Amerika-Aufenthalts stattfinden sollten.
Die nachfolgende Reise von Küste zu Küste war von dramatischen Höhe-und Tiefpunkten gekennzeichnet, die die beiden Seiten der komplizierten Gefühlsbeziehung Chruschtschows zu den Vereinigten Staaten aufzeigten. Einerseits war er eifrig darauf bedacht, um die Zustimmung der größten Weltmacht zu werben, andererseits war er der unsichere Gegner, der ständig auch nach der allerkleinsten Beleidigung seiner und seines Landes Würde Ausschau hielt.
Bei einem Essen zu seinen Ehren in den Studios von Twentieth Century Fox saßen er und seine Frau Nina Petrowna zwischen Bob Hope und Frank Sinatra. Marilyn Monroe hatte ihr engstes Kleid angezogen. Trotzdem schmollte und protestierte er wie ein kleines Kind, als man ihm den Zugang zu Disneyland verwehrte. Er fragte, ob in dem Vergnügungspark die Cholera ausgebrochen sei oder ob sich dort eine Raketenabschussrampe befinde. Außerdem vermutete er eine Verschwörung hinter der Maßnahme, ihm in Los Angeles den in Russland geborenen jüdischen Filmmogul Victor Carter als persönlichen Führer beizugesellen. Vieles, was in dieser Stadt schieflief, führte er danach auf die üblen Absichten dieses Emigranten zurück, dessen Familie einst aus Rostow am Don geflohen war.
Chruschtschows Reise hätte sogar fast an seinem ersten Tag in Kalifornien ein Ende genommen, als er spätabends auf einem von vielen Stars besuchten Bankett den Bürgermeister von Los Angeles, Norris Poulson, in die Schranken wies. Um in seiner Stadt politische Pluspunkte zu sammeln, hatte der Bürgermeister den Wunsch des US-Botschafters bei den Vereinten Nationen, Henry Cabot Lodge jun., der Chruschtschow auf der gesamten Reise begleitete, zurückgewiesen, in seiner Rede auf antikommunistische Bemerkungen zu verzichten, an denen der Sowjetführer Anstoß nehmen könnte. Chruschtschow ordnete daraufhin an, sein Flugzeug zum Abflug bereitzumachen, und sagte in seiner Antwortrede: »Wir haben nur zwölf Stunden gebraucht, um hierherzukommen. Vielleicht brauchen wir noch weniger Zeit, um wieder zurückzufliegen. «36
Das entscheidende Treffen in Camp David37 begann ausgesprochen schlecht. Zwei Tage lang führten Chruschtschow und Eisenhower erbitterte Debatten über alles Mögliche, von der Drohung eines Atomkriegs (Chruschtschow behauptete, er fürchte ihn nicht) bis zu den diskriminierenden amerikanischen Bestimmungen über die Ausfuhr von technologischen Produkten in die Sowjetunion (Chruschtschow höhnte, er brauche keine amerikanische Low-Tech-Hilfe, um Schuhe oder Würste herzustellen). Eisenhower verhinderte einen Zusammenbruch der Gespräche, als er sich zusammen mit seinem Gast im Hubschrauber zu seiner Ranch in Gettysburg bringen ließ und ihm dort eines seiner Rinder zum Geschenk machte. Im Gegenzug lud Chruschtschow Eisenhower und seine Enkel zu einem Besuch der Sowjetunion ein.
Am nächsten Morgen willigte Chruschtschow ein, auf sein Berlin-Ultimatum vom vorigen Jahr zu verzichten. Als Gegenleistung verpflichtete sich Eisenhower, Gespräche über den Berlin-Status aufzunehmen mit dem Ziel, zu einer für alle Seiten befriedigenden Lösung zu gelangen.38
Mit ungewöhnlicher Offenheit gab Chruschtschow gegenüber Eisenhower zu, dass er das Berlin-Ultimatum »nur als Reaktion auf die selbstherrliche Einstellung der Vereinigten Staaten gegenüber der Sowjetunion formuliert habe, die die Sowjets annehmen ließ, dass es dazu keine Alternativen gebe«. Er fügte hinzu, dass er unbedingt ein Abrüstungsabkommen mit der USA brauche, da es schon schwer genug sei, sein Land zu ernähren, ohne die Kosten eines Rüstungswettlaufs tragen zu müssen. Die beiden Männer verglichen dann ihre Aufzeichnungen darüber, wie ihr jeweiliges militärisches Establishment sie zu immer größeren Waffenkäufen drängte und dabei ständig der aggressiven Haltung des anderen Landes die Schuld gab.
Die Gespräche brachen beinahe erneut zusammen, als Chruschtschow auf einem gemeinsamen Kommuniqué bestand, in dem ihre Übereinkunft über Berlin-Verhandlungen festgehalten wurde. Gleichzeitig verlangte er jedoch, dass die amerikanische Seite die von ihr vorgeschlagene Bestimmung, dass es für diese Verhandlungen »keine zeitlichen Beschränkungen geben werde«, aus dem Entwurf entfernte. Nach einer schwierigen Diskussion akzeptierte Eisenhower Chruschtschows Bedingungen, wenn er im Gegenzug auf ihrer gemeinsamen Pressekonferenz darauf hinweisen könne, dass der Sowjetführer auf sein bisheriges Berlin-Ultimatum verzichtet habe. Dies sollte Chruschtschow dann gegebenenfalls bestätigen, wenn ihn die Presse danach fragte.
Seinerseits hatte Eisenhower dem zugestimmt, was Chruschtschow am meisten begehrte: einem Vier-Mächte-Gipfel über Berlin und Abrüstungsfragen in Paris. Diese Vereinbarung schützte Chruschtschow vor seinen heimischen Kritikern, die seit längerem argumentierten, dass seine Politik der »friedlichen Koexistenz« mit dem Westen bisher ergebnislos geblieben sei. Jetzt besaß er den unwiderleglichen Beweis, dass sein Kurs die Weltgeltung der Sowjetunion immer weiter festigte.
Chruschtschows Hochstimmung nach seiner Stippvisite in Amerika und angesichts der Aussicht auf einen Gipfel zeigte sich auch darin, dass er im Dezember einseitig und ohne Gegenleistungen die Gesamtzahl der sowjetischen Streitkräfte um weitere 1,2 Millionen Mann reduzierte. Dies war der größte prozentuale Truppenabbau seit den 1920er Jahren. Berichte, dass Charles de Gaulle und Konrad Adenauer angeblich Eisenhowers Bereitschaft, über den Berlin-Status zu verhandeln, untergraben würden, konnten Chruschtschows selbstgefälligen Optimismus in keiner Weise dämpfen.
SWERDLOWSK,
SOWJETUNION
SONNTAG, 1. MAI 1960
Bereits acht Monate nach seiner Amerika-Reise explodierte, im wahrsten Sinne des Wortes, der von Chruschtschow bisher so gepriesene »Geist von Camp David« über der Stadt Swerdlowsk im Ural, als eine sowjetische Boden-Luft-Rakete ein amerikanisches Spionageflugzeug abschoss.
Anfangs feierte Chruschtschow dieses Ereignis als Triumph der sowjetischen Flugabwehrtechnologie und als glückliche Wende.39 Immerhin war es seiner Flugabwehr nur drei Wochen vorher nicht gelungen, dieses technisch fortschrittliche, in großer Höhe fliegende CIA-Flugzeug vom Himmel zu holen, obwohl die Sowjets seine Flugroute genau verfolgen konnten. Bei dieser früheren Gelegenheit war ein MiG-19-Kampfflugzeug, das die amerikanische Maschine zu verfolgen versuchte, in Semipalatinsk in der Nähe eines geheimen Atomtestgeländes abgestürzt, das die U-2 gerade fotografierte. Zwei neu entwickelte, ebenfalls für große Höhen geeignete Abfangjäger konnten die U-2 ebenfalls nicht einholen, als diese gerade Bilder von der Raketenabschussbasis Tjura-Tam machte.
Bisher hatte der frustrierte Chruschtschow die US-Spionageflüge vor der Welt geheim gehalten, damit er diese sowjetische militärische Niederlage nicht zugeben musste. Nachdem seine Streitkräfte jetzt jedoch die U-2 abgeschossen hatten, spielte er mit den Amerikanern schadenfroh ein kleines Versteckspiel, indem er nichts über diesen Zwischenfall verlauten ließ, während die CIA zur Tarnung die falsche Geschichte verbreitete, dass ein Wetterflugzeug über der Türkei verloren gegangen sei. Später würde der amerikanische Geheimdienst diese Geschichte peinlicherweise selbst zurückziehen müssen.
Nach wenigen Tagen erkannte Chruschtschow jedoch, dass der U-2-Zwischenfall für ihn weit gefährlicher war als für die Amerikaner. Seine politischen Feinde, die er nach dem Putschversuch im Jahr 1957 kaltgestellt hatte, begannen sich jetzt neu zu formieren. Mao Tse-tung verurteilte Chruschtschows Werben um die Amerikaner als »Verrat am Kommunismus«. Obwohl sie sich immer noch nicht öffentlich äußerten, stellten sowjetische Parteikader und hohe Offiziere Chruschtschows Truppenreduzierungen immer mehr infrage. Ihrer Ansicht nach untergrub der sowjetische Ministerpräsident damit ihre Fähigkeit, die Heimat zu verteidigen.
Jahre später räumte Chruschtschow gegenüber dem amerikanischen Arzt Abner McGhee Harvey, der gerade seine Tochter behandelte, ein, dass der U-2-Zwischenfall der Wendepunkt war, nach dem er »nicht mehr die volle Kontrolle besaß«.40 Von nun an fiel es Chruschtschow weit schwerer, sich gegen diejenigen zu verteidigen, die ihn angesichts der militaristischen und imperialistischen Absichten der doppelzüngigen Amerikaner für zu schwach hielten.
Zuerst versuchte Chruschtschow noch, den Pariser Gipfel zu retten, der zwei Wochen nach dem U-2-Abschuss stattfinden sollte. Immerhin sollte dieses Treffen, um dessen Organisation er sich so sehr bemüht hatte, eigentlich ein Höhepunkt seiner Regierungszeit werden. Seinen heimischen Kritikern erzählte er, dass man mit einer Absage nur solchen US-Hardlinern wie dem CIA-Chef Allen Dulles in die Hände spielen würde, die seiner Ansicht nach die Flüge befohlen hatten, um Eisenhowers ernst gemeinte Friedensbemühungen zu unterminieren.
Chruschtschows letzte politische Rückzugslinie demontierte Eisenhower dann jedoch auf einer Pressekonferenz am 11. Mai, nur fünf Tage vor dem Gipfel. 41 Um den Amerikanern zu versichern, dass ihre Regierung verantwortlich und unter seiner vollständigen Kontrolle gehandelt habe, machte Eisenhower deutlich, dass er Gary Powers U-2-Flug sowie jede einzelne dieser sensiblen Missionen zuvor persönlich angeordnet habe. Solche Risiken seien nötig, weil die sowjetische Geheimnistuerei es den Amerikanern unmöglich mache, die Absichten und Fähigkeiten Moskaus auf irgendeine andere Weise herauszufinden und einzuschätzen. »Wir gelangen allmählich an den Punkt, wo wir uns entscheiden müssen, ob wir uns auf einen Krieg vorbereiten oder einen solchen verhindern wollen«, teilte er seinem nationalen Sicherheitsteam mit.
Als Chruschtschow schließlich in Paris landete, hatte er sich entschieden, die Konferenz platzen zu lassen, wenn sich Eisenhower nicht öffentlich entschuldigen würde. Politisch war es für ihn sicherer, den Gipfel zu verlassen, als an einem Treffen teilzunehmen, das unweigerlich scheitern musste. Inzwischen war ihm auch klargeworden, dass die Vereinigten Staaten keine der Konzessionen anbieten würden, die er in der Berlin-Frage haben wollte.
Obwohl Eisenhower in Paris eine Entschuldigung für die U-2-Mission verweigerte, versuchte er doch ein völliges Scheitern des Gipfels zu vermeiden, indem er verkündete, in Zukunft keine solchen Flüge mehr durchzuführen. Er ging sogar noch einen Schritt weiter und schlug eine Open-Skies-Vereinbarung vor, die es Aufklärungsflugzeugen der Vereinten Nationen erlauben würde, beide Länder ohne Behinderungen zu überfliegen. Auf einen solchen Vorschlag konnte sich Chruschtschow jedoch auf keinen Fall einlassen, da nur eine absolute Geheimhaltung seine übertriebenen Darstellungen der sowjetischen militärischen Fähigkeiten möglich machte.
Auf der ersten und letztlich auch einzigen Sitzung des Gipfeltreffens las Chruschtschow ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten seine vorbereitete fünfundvierzigminütige Brandrede vom Blatt ab.42 Dabei schlug er eine sechsbis achtmonatige Verschiebung der Konferenz vor. Sie würde also erst wieder zusammentreten, wenn Eisenhower nicht mehr Präsident war. Er widerrief auch seine Einladung an Eisenhower, die Sowjetunion zu besuchen. Ohne die anderen Teilnehmer vorzuwarnen, weigerte sich Chruschtschow dann am Tag darauf, an der zweiten Sitzung teilzunehmen. Stattdessen fuhr er mit seinem Verteidigungsminister Rodion Malinowski in das französische Dorf Pleurs-sur-Marne, wo sich Letzterer im Zweiten Weltkrieg aufgehalten hatte. Dort tranken sie Wein, aßen Käse und unterhielten sich über Frauen. Nachdem er gut aufgetankt hatte, kehrte der sowjetische Ministerpräsident am Nachmittag nach Paris zurück, um dort das Scheitern des Gipfels zu verkünden.
Seinen Aufenthalt in der französischen Hauptstadt krönte er dann mit einer dreistündigen Abschiedspressekonferenz, auf der er mit der Faust dermaßen auf den Tisch schlug, dass eine Flasche Mineralwasser umfiel. Da er annahm, die anschließenden Pfiffe und Buhrufe stammten von westdeutschen Journalisten, beschimpfte er diese als »faschistische Bastarde, die wir bei Stalingrad nicht abgemurkst haben«. Wenn sie ihn weiterhin unterbrechen würden, werde er ihnen einen solch harten Schlag versetzen, »dass sie nicht einmal mehr quietschen würden«.
Inzwischen war Chruschtschow dermaßen überdreht, dass er bei einem Informationstreffen mit den Pariser Warschauer-Pakt-Botschaftern das Scheitern der Konferenz mit einem rüden russischen Witz erklärte.43 Es handelte sich dabei um die traurige Geschichte eines zaristischen Soldaten, der die Melodie von »Gott schütze Russland« zu furzen vermochte. Als man ihn jedoch einmal dazu zwang, dieses Kunststückchen zu ungelegener Zeit zu vollführen, passierte ihm ein Missgeschick. Chruschtschows Pointe war dann, dass die Botschafter ihren Regierungen mitteilen könnten, er habe in Paris auf ähnliche Weise Druck gemacht, so dass sich auch Eisenhower schließlich in die Hosen geschissen hätte.
Polens Botschafter in Frankreich, Stanisław Gaevski, schloss aus Chruschtschows Auftreten, dass der sowjetische Parteichef »emotional etwas aus dem Gleichgewicht war«. Um der Ost-West-Beziehungen willen wünschte sich Gaevski, Chruschtschow wäre nie nach Paris gekommen.
Bei aller Theatralik stand jedoch für Chruschtschow viel zu viel auf dem Spiel, als dass er seine Politik der »friedlichen Koexistenz« mit den Vereinigten Staaten einfach so fallengelassen hätte.44 Er hatte Eisenhower, nicht aber Amerika aufgegeben. Obwohl die U-2 den Gipfel untergraben hatte, durfte sie jedoch auf keinen Fall seine Herrschaft unterhöhlen.
Auf dem Rückweg nach Moskau machte Chruschtschow einen Zwischenstopp in Berlin, wo er das finstere Gesicht der letzten Tage durch das Lächeln eines Friedensbringers ersetzte. Obwohl er ursprünglich auf dem Marx-Engels-Platz vor hunderttausend Menschen sprechen sollte, hatte die DDR-Führung nach dem Pariser Debakel die Veranstaltung in die sicherere Umgebung der Werner-Seelenbinder-Halle verlegt, wo Chruschtschow zu einer ausgewählten Menge von sechstausend getreuen Kommunisten sprach.
Zur Überraschung der US-Diplomaten, die erwartet hatten, er werde in Berlin die Krise weiter anheizen, erklärte sich Chruschtschow zur Geduld bereit, bis die Amerikaner einen neuen Präsidenten gewählt haben würden. »In dieser Situation braucht es Zeit«, sagte er und fügte hinzu, dass die Aussichten für eine Berlin-Lösung dann »besser heranreifen« würden.45
Kurz darauf begann Chruschtschow seine neue Reise in die Vereinigten Staaten vorzubereiten, die jedoch unter völlig anderen Umständen stattfinden würde.
AN BORD DER
BALTIKA
MONTAG, 19. SEPTEMBER 1960
Die kühle Begrüßung für Chruschtschow an einem der schmutzigsten Anlegeplätze im New Yorker Hafen zeigte deutlich, wie viel sich seit seinem großartigen Empfang durch Präsident Eisenhower auf der Andrews-Luftwaffenbasis nur ein Jahr zuvor verändert hatte. Anstatt an Bord der modernsten sowjetischen Passagiermaschine nach Amerika zu fliegen, die gerade in einer Flugzeugwerft generalüberholt wurde, unternahm er die Reise diesmal an Bord der Baltika, einem altmodischen deutschen Dampfer aus dem Jahr 1940, den die Sowjetunion nach dem Krieg als Reparationsgut konfisziert hatte.46
Als Ausgleich und Botschaft der kommunistischen Solidarität hatte Chruschtschow die kommunistischen Führer Ungarns, Rumäniens, Bulgariens, der Ukraine und Weißrusslands als Mitpassagiere auf sein Schiff beordert. Auf dieser Reise waren seine Stimmungsschwankungen besonders groß. Einmal versank er in tiefe Depressionen, und ihn überkam die Angst, die NATO könnte sein schutzloses Schiff versenken. Ein anderes Mal war er in absoluter Feierstimmung und bestand darauf, dass der ukrainische Parteichef Nikolai Podgorny zur Belustigung der Passagiere einen »Gopak« tanzte. Bei diesem ukrainischen Nationaltanz werden in hockender Haltung die Beine abwechselnd rasch nach vorn geschleudert. Das wirkte bei dem nicht mehr ganz jungen Podgorny natürlich besonders komisch.
Als ein sowjetischer Matrose während des Anlegemanövers ans amerikanische Ufer sprang und dort um Asyl bat, zuckte Chruschtschow nur die Achseln und sagte: »Er wird schnell genug herausfinden, wie teuer New York ist und wie es sich dort anfühlt.«47 Andere Unannehmlichkeiten sollten folgen. Chruschtschow wurde im Hafen von Demonstranten der »International Longshoremen’s Association«, der amerikanischen Hafenarbeitergewerkschaft, empfangen, die auf einem gecharterten Schiff riesige Protestplakate schwenkten. Auf dem originellsten stand: ROSES ARE RED, VIOLETS ARE BLUE, STALIN DROPPED DEAD, HOW ABOUT YOU? (Rosen sind rot, Veilchen sind blau, Stalin ist tot, wie steht’s mit dir?)
Chruschtschow war außer sich. Er hatte davon geträumt, wie die Entdecker Amerikas anzukommen, von denen er als Junge gelesen hatte. Stattdessen musste die Baltika wegen des Streiks der Hafenarbeiter von ihrer eigenen Mannschaft und einer Handvoll ungeübter sowjetischer Diplomaten am halb verfallenen East-River-Pier 73 festgemacht werden. »Aha, wieder so ein schmutziger Streich, den uns die Amerikaner spielen«, beschwerte sich Chruschtschow. 48
Es war der einzige Trost des Sowjetführers, dass er die heimische Presse kontrollierte.49 Der Korrespondent der Prawda, Gennadi Wassiljew, verfasste einen Artikel, in dem er von einer freudigen Menge (in Wirklichkeit gab es gar keine) berichtete, die sich an diesem strahlenden und sonnigen Morgen am Ufer versammelt habe (tatsächlich regnete es).
Diese kleinen Widrigkeiten dämpften jedoch in keiner Weise die Energie, die Chruschtschow in diese Reise investierte.50 Vor den Vereinten Nationen forderte er vergeblich, dass Generalsekretär Dag Hammarskjöld von seinem Posten zurücktreten und dieser auch nicht mehr besetzt werde. Stattdessen schwebte Chruschtschow die Schaffung einerTtroika aus je einem Vertreter des Westens, der kommunistischen Länder und der blockfreien Nationen vor. Am letzten Tag seines Aufenthalts kam es dann zu dem Auftritt, an den man sich bis heute erinnert und der immer noch das geschichtliche Bild Chruschtschows prägt. Als ein philippinischer Delegierter behauptete, die Sowjetunion habe die Menschen in Osteuropa ihrer Rechte beraubt, zog Chruschtschow einen Schuh aus und hämmerte mit ihm auf seinen UN-Tisch ein.
Am 26. September meldete die New York Times nur eine Woche nach Chruschtschows Ankunft in New York, eine landesweite Umfrage in den Vereinigten Staaten habe ergeben, dass der Sowjetführer inzwischen in den Mittelpunkt des Präsidentschaftswahlkampfs gerückt und die Außenpolitik zu einem der wichtigsten Faktoren der Entscheidungsfindung der amerikanischen Wähler geworden sei.51 Die Amerikaner überlegten sich also, welcher der beiden Kandidaten, Vizepräsident Richard Nixon oder Senator John F. Kennedy, es wohl am besten mit Chruschtschow aufnehmen könnte.
Chruschtschow selbst war entschlossen, seinen beträchtlichen Einfluss klüger einzusetzen als im Jahr 1956, als das Lob des damaligen sowjetischen Ministerpräsidenten Nikolai Bulganin für den Lieblingskandidaten der Sowjetunion, Adlai Stevenson, Eisenhower und Nixon geholfen hatte, zum Präsidenten beziehungsweise Vizepräsidenten gewählt zu werden.52 Öffentlich hielt sich Chruschtschow bedeckt. Beide Kandidaten »repräsentieren das amerikanische Monopolkapital. Wie wir Russen sagen, sind sie ein Paar Stiefel, wo man ja auch nicht entscheiden kann, ob der rechte oder linke besser ist.«53 Als man ihn fragte, wen er selbst denn vorziehe, antwortete er trocken: »Roosevelt.«
Hinter den Kulissen versuchte er jedoch, Nixons Niederlage zu befördern. 54 Bereits im Januar 1960 hatte der sowjetische Botschafter in den Vereinigten Staaten, Michail Menschikow, bei Wodka, Obst und Kaviar Adlai Stevenson gefragt, wie Moskau ihm am besten helfen könne, Nixon zu besiegen. Sollte ihn die sowjetische Presse loben oder ihn lieber kritisieren – und wenn ja, bei welchen Themen? Stevenson antwortete, dass er nicht erwarte, Präsidentschaftskandidat zu werden – und betete dann im Stillen, dass dieser sowjetische Vorschlag niemals nach draußen durchsickern möge.55
Die zwei Parteien kannten Chruschtschows Potenzial, die amerikanischen Wähler auf die eine oder andere Weise zu beeinflussen, so genau, dass beide ihn zu umgarnen begannen. Der Republikaner Henry Cabot Lodge jun., der Chruschtschow auf der ersten Amerika-Reise näher kennen gelernt hatte, flog bereits im Februar 1960 nach Moskau, um den Sowjetführer davon zu überzeugen, dass er mit Nixon gut zusammenarbeiten könne. Lodge, der Nixons Vizepräsidentschaftskandidat werden sollte, erklärte ihm: »Wenn Mr Nixon erst einmal im Weißen Haus sitzt, bin ich mir sicher – bin ich mir absolut sicher –, dass er es sich angelegentlich sein lässt, unsere Beziehungen aufrechtzuerhalten oder sogar zu verbessern.«56 Er bat Chruschtschow, neutral zu bleiben, da er wusste, dass es Nixon Stimmen kosten würde, wenn er sich für ihn erklärte.
Bis zum Herbst verstärkte die Eisenhower-Regierung ihre Appelle an Chruschtschow, Gary Powers sowie die RB-47-Piloten freizulassen, die über der Arktis abgeschossen worden waren.57 Chruschtschow schreibt in seinen Erinnerungen, die Sowjets hätten dies abgelehnt, weil sie sich ausrechneten, die Wahl werde so knapp ausgehen, dass ein solcher Schritt den Ausgang entscheiden könnte. »Wie sich herausstellte, haben wir richtig gehandelt.« Angesichts des äußerst knappen Ergebnisses »wäre der kleinste Stoß in die eine oder andere Richtung entscheidend gewesen«.58
Auch die Demokraten versuchten, Chruschtschow zu beeinflussen. W. Averell Harriman, Präsident Roosevelts früherer Botschafter in Moskau, empfahl Chruschtschow über Botschafter Menschikow, beide Kandidaten hart anzupacken. Kennedy öffentlich zu loben sei der sicherste Weg, Nixon zum Sieg zu verhelfen. So beweist auch der Zeitpunkt des Treffens weniger als einen Monat vor der Wahl, während sich Chruschtschow immer noch in den Vereinigten Staaten aufhielt, dass auch die Demokraten Chruschtschows Einfluss auf die Wähler sehr gut kannten.
So bedeckt er sich in der Öffentlichkeit hielt, gegenüber seinen Untergebenen nahm der Sowjetführer kein Blatt vor den Mund: »Wir glaubten, dass eine größere Hoffnung bestand, die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zu verbessern, wenn John Kennedy im Weißen Haus saß.« Er äußerte sich gegenüber seinen Mitstreitern, dass »wir keinen Grund haben, die Aussicht auf Nixon als Präsidenten zu begrüßen«. Er begründete dies mit Nixons Antikommunismus und seinen Verbindungen zu »diesem Teufel der Finsternis [Senator Joe] McCarthy, dem er seine Karriere verdankt«.59
Wenngleich Kennedy in seinen Wahlkampfreden gegen Moskau wetterte, führte das der KGB weniger auf seine Überzeugung als auf ein politisches Kalkül und den Einfluss seines antikommunistischen Vaters Joe zurück.60 Chruschtschow begrüßte Kennedys Vorschlag, über ein Verbot von Atomtests zu verhandeln, und seine Aussage, dass er sich für die Verletzung des sowjetischen Luftraums durch die U-2 entschuldigt hätte, wenn er zu diesem Zeitpunkt Präsident gewesen wäre. Vor allem glaubte Chruschtschow, er könne Kennedy ausmanövrieren, einen Mann, von dem sein Außenministerium behauptete, »ihm fehlen wahrscheinlich die Eigenschaften einer außergewöhnlichen Persönlichkeit«. Im Kreml war man sich einig, dass der junge Mann ein Leichtgewicht sei, ein Produkt der amerikanischen privilegierten Klasse, dem die Erfahrung für ein solches Führungsamt fehle.
Derweil kamen die Kandidaten in ihren Reden immer wieder auf Chruschtschow zurück, der ihren Wahlkampf von seiner Suite in der sowjetischen UN-Gesandtschaft aus verfolgte. Gelegentlich zeigte er sich auf dem Balkon dieses an der Kreuzung der 68. Straße mit der Park Avenue stehenden stattlichen Stadtpalais, das sich der Bankier Percy Pyne an der Wende zum 20. Jahrhundert gebaut hatte. In der ersten Fernsehdiskussion zwischen Kennedy und Nixon, die am 26. November als erste live ausgestrahlte Debatte zweier Präsidentschaftskandidaten in einem Chicagoer TV-Studio stattfand, kam Kennedy bereits in seinem Eröffnungsstatement vor sechzig Millionen amerikanischen Fernsehzuschauern auf Chruschtschows Aufenthalt in New York zu sprechen. Er sprach sogar von »unserem Überlebenskampf mit Mr Chruschtschow«.61
Obwohl es in dieser Debatte eigentlich um innenpolitische Fragen hätte gehen sollen, konnte es Kennedy nicht unterlassen, in besorgtem Ton darauf hinzuweisen, dass die Sowjetunion »doppelt so viele Wissenschaftler und Ingenieure wie wir« produziere, während die Vereinigten Staaten weiterhin ihren Lehrern nicht genug bezahlten und nicht genug in ihre Schulen investierten. Er erklärte, dass er eher als Nixon dafür sorgen werde, dass Amerika auf den Gebieten Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnungsbau und Wirtschaftsstärke seinen Vorsprung vor den Sowjets behalten werde.
Die zweite Debatte über Fragen der Außenpolitik fand am 7. Oktober in Washington, D. C., statt. Dabei konzentrierten sich beide Kandidaten voll und ganz auf Chruschtschow und Berlin. Kennedy machte eine konkrete Voraussage: »Der nächste Präsident wird sich in seinem ersten Amtsjahr mit der sehr ernsten Frage unserer Verteidigung von Berlin und unseres Bekenntnisses zu Berlin auseinandersetzen müssen. Es wird ein Test für unsere Nerven und unseren Willen sein.« Er behauptete, dass Amerika unter Präsident Eisenhower an Stärke verloren habe. Nach seiner Wahl zum Präsidenten werde er den Kongress um die Mittel für eine militärische Aufrüstung bitten, »da wir im Herbst oder Winter der schwersten Berlin-Krise seit 1949 oder 1950 gegenüberstehen werden«.62
Adlai Stevenson hatte Kennedy geraten, während des Wahlkampfs Berlin möglichst wenig anzusprechen, da man »schwerlich etwas wirklich Konstruktives über die geteilte Stadt sagen kann, ohne zukünftige Verhandlungen zu behindern«. Tatsächlich hatte Kennedy Berlin nur in einem halben Dutzend Reden erwähnt. Mit der ganzen Nation vor dem Fernsehschirm konnte man dieses Thema natürlich nicht vermeiden, vor allem nachdem Chruschtschow den Korrespondenten bei den Vereinten Nationen erzählt hatte, dass er kurz nach den Wahlen mit den Vereinigten Staaten ein Gipfeltreffen über Berlins Zukunft abhalten wolle, dem dann eine Tagung der UN-Vollversammlung über dieses Thema im April folgen sollte.63
Während ihrer dritten Debatte am 13. Oktober fragte Frank McGee von NBC News beide Kandidaten, ob sie bereit seien, zur Verteidigung Berlins zu militärischen Mitteln zu greifen. Kennedys Antwort war die klarste Aussage über Berlin während seines gesamten Wahlkampfs: »Mr McGee, wir haben das vertraglich verbriefte Recht, in Berlin zu sein. Dieses Recht geht auf die Gespräche in Potsdam und den Zweiten Weltkrieg zurück und wurde von direkten Verpflichtungserklärungen des Präsidenten der Vereinigten Staaten bestätigt. Es wurde auch von einer Reihe anderer Nationen, die der NATO angehören, bekräftigt … Es ist eine Verpflichtung, der wir nachkommen müssen, wenn wir die Sicherheit Westeuropas schützen wollen. Deshalb glaube ich nicht, dass irgendein Amerikaner daran zweifelt. Ich hoffe, dass auch die Mitglieder der Westberliner Gemeinde nicht daran zweifeln. Ich bin mir sicher, dass die Russen keinen Zweifel daran hegen. Wir werden unseren Verpflichtungen nachkommen, die Freiheit und Unabhängigkeit von Westberlin zu wahren.«64
So überzeugend Kennedys Aussage auch klingen mochte, vermeinte Chruschtschow dahinter doch eine gewisse Kompromissbereitschaft zu vernehmen. Kennedy sprach von den vertraglichen Rechten der Vereinigten Staaten in Berlin, aber nicht von moralischer Verantwortung. Er verzichtete auf den gewohnten Aufruf der Republikaner, die geknechteten Nationen zu befreien. Er schlug nicht einmal vor, dass sich diese Freiheit auch auf den Osten Berlins ausweiten sollte. Er hatte von Westberlin und nur von Westberlin gesprochen. Kennedys Aussagen behandelten Berlin als technisches und rechtliches Problem. Über solche Punkte konnte man verhandeln.
Bevor Chruschtschow Kennedy jedoch auf die Probe stellen konnte, musste er erst einmal sein kommunistisches Haus in Ordnung bringen und an zwei Fronten neu entstehende Probleme beseitigen. Es ging dabei um China und Ostdeutschland.
MOSKAU
FREITAG, 11. NOVEMBER 1960
Verständlicherweise blieb dem Westen die Wichtigkeit der bisher größten Versammlung kommunistischer Führer erst einmal verschlossen, da sie vordergründig nur von den langweiligen Reden der 81 Parteidelegationen geprägt war, die diese zwei Wochen lang abspulten, wobei die Inhalte meist austauschbar waren. Hinter den Kulissen versuchte Chruschtschow jedoch mit allen Mitteln, gegen die Herausforderung anzugehen, die Chinas Mao Tse-tung für seine Führungsrolle in der kommunistischen Welt darstellte. Gleichzeitig warb er in seiner Partei um Unterstützung für neue diplomatische Avancen gegenüber dem gerade erst zum Präsidenten gewählten John F. Kennedy.65
Die sowjetischen außenpolitischen Strategen betrachteten das chinesisch-sowjetische Bündnis und die friedliche Koexistenz mit dem Westen als ihre beiden Prioritäten, und zwar genau in dieser Reihenfolge. Außenminister Andrej Gromyko hatte zu bedenken gegeben, dass es ein Fehler wäre, Peking zu verlieren, ohne dafür etwas Substanzielles von den Vereinigten Staaten zu erhalten. Genau das war jedoch im Jahr 1960 geschehen. Die sowjetische Botschaft in Peking teilte Chruschtschow mit, dass die Chinesen die Nachwehen des U-2-Zwischenfalls und des gescheiterten Pariser Gipfels ausnutzten, um Chruschtschows Außenpolitik »zum ersten Mal direkt und offen« zu widersprechen. 66
Mao lehnte Chruschtschows Politik der friedlichen Koexistenz mit dem Westen ab und befürwortete einen stärkeren Konfrontationskurs in Berlin und den Entwicklungsländern. Die chinesische Delegation war nach Moskau gekommen, um eine größere Unterstützung des Kremls für die nationalen Freiheitsbewegungen und linken Kräfte von Asien und Afrika bis nach Lateinamerika zu erlangen.
Nachdem die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten gerade auf einem Tiefpunkt waren, hatten einige sowjetische Offizielle hinter vorgehaltener Hand die Meinung vertreten, dass Chruschtschow sich strategisch jetzt eher auf die Chinesen stützen sollte. Wenige von ihnen wussten allerdings, dass die persönliche Animosität zwischen Chruschtschow und Mao inzwischen so stark war, dass eine solche Zusammenarbeit unmöglich geworden war.
Chruschtschow erzählte selbst,67 dass er Mao seit seinem ersten China-Besuch zum fünften Jahrestag der Volksrepublik im Jahr 1954 verabscheute. Dort fand er alles schrecklich, von dem endlos nachgeschenkten grünen Tee (»Ich vertrage so viel Flüssigkeit nicht«) bis zu der seiner Ansicht nach schmeichlerischen, falschen Höflichkeit seines Gastgebers. Mao war während ihrer Gespräche so unkooperativ, dass der Sowjetführer nach seiner Rückkehr nach Moskau zu seinen Genossen sagte: »Ein Konflikt mit China ist unausweichlich. «
Als ein Jahr später Bundeskanzler Konrad Adenauer in einer Unterredung mit dem Sowjetführer seine Bedenken über ein immer enger werdendes Bündnis zwischen der Sowjetunion und China vorbrachte, wies Chruschtschow diese Vorstellung zurück und zeigte dann sein eigenes Unbehagen gegenüber den Chinesen: »Stellen Sie sich das nur mal vor. Von ihnen gibt es jetzt bereits sechshundert Millionen, und jedes Jahr werden es zwölf Millionen mehr … Wir müssen etwas für den Lebensstandard unseres eigenen Volkes tun, wir müssen uns bewaffnen wie die Amerikaner, [und] dann müssen wir den Chinesen immer etwas geben. Die saugen uns aus wie die Blutegel.«68
Mao hatte Chruschtschow auch durch seine Bereitschaft geschockt, ohne Rücksicht auf die zu erwartenden Zerstörungen und Verluste einen Krieg mit den Vereinigten Staaten zu beginnen.69 Dabei hatte Mao gegenüber dem Sowjetführer das Argument vertreten, dass die Chinesen und Sowjets zusammen einen solchen Krieg gewinnen würden, da sie ja über eine weit größere Bevölkerung verfügten. »Egal, was für ein Krieg ausbricht, ob ein konventioneller oder ein Atomkrieg, wir werden siegen«, hatte er gemeint. »Wir verlieren vielleicht dreihundert Millionen Menschen. Na und? Krieg ist Krieg.« Die Chinesen würden dann einfach mehr Babys in die Welt setzen als je zuvor, um einen Ausgleich für die Toten zu schaffen. Dabei gebrauchte er den rüdesten Ausdruck für Geschlechtsverkehr, den sich der Sowjetführer vorstellen konnte. Chruschtschow kam jetzt endgültig zu der Überzeugung, dass Mao »ein Verrückter auf einem Herrscherthron« sei.
Als Chruschtschow im Jahr 1956 mit Stalin und seinem Personenkult abrechnete, belastete das die Beziehung noch weiter. »Sie verstanden, welche Folgen sich für sie daraus ergaben«, sagte der sowjetische Parteichef über die Chinesen. »Stalin wurde auf dem Parteitag bloßgestellt und verdammt, weil er Hunderttausende von Menschen erschießen ließ und weil er die Macht missbrauchte. Mao Tse-tung trat in Stalins Fußstapfen.«70
Die Beziehungen verschlechterten sich noch weiter, als Chruschtschow im Juni 1959 sein Versprechen zurücknahm, den Chinesen eine Muster-Atombombe zukommen zu lassen, und gleichzeitig seine Beziehungen zu den Amerikanern verbessern wollte. Mao beschwerte sich gegenüber anderen kommunistischen Parteiführern, Chruschtschow breche mit dem Kommunismus, um einen Pakt mit dem Teufel zu schließen.
Das Verhältnis wurde auch nicht besser, als der sowjetische Parteichef kurz nach seiner USA-Reise von 1959 nach China fuhr, um an den Feiern zum zehnten Jahrestag der Ausrufung der Volksrepublik teilzunehmen. Anstatt dabei Maos Revolution zu loben, nutzte Chruschtschow seine Tischrede bei einem Staatsbankett, um sich selbst dafür zu gratulieren, dass es ihm gelungen sei, durch den bei seinem Treffen mit Eisenhower entstandenen »Geist von Camp David« die Spannungen in der Welt zu verringern.
Auf derselben Reise liebte es Mao, Chruschtschow beim Reden eine Wolke von Zigarettenrauch ins Gesicht zu blasen, obwohl er wusste, dass der Sowjetführer nichts mehr hasste. Gleichzeitig machte er sich über dessen »unzusammenhängendes Geschwätz«, wie er es nannte, lustig.71 Der Gipfel der Demütigung war dann Maos Einladung zu einem privaten Gespräch. Er empfing Chruschtschow am Rand eines Schwimmbeckens und forderte ihn auf, ebenfalls eine Badehose anzuziehen. Danach zog der Meisterschwimmer Mao seine Runden durch das Becken, während der Nichtschwimmer Chruschtschow mithilfe einer Schwimmweste ein wenig im Wasser planschte. Später erzählte Mao seinem Leibarzt, er habe dem Sowjetführer mit seinem Verhalten »einen Nadelstich in den Arsch verpassen wollen«.72
Chruschtschow wusste, dass man ihn hier gezielt vorführte. »Der Dolmetscher übersetzt, und ich kann nicht die geeignete Antwort geben. Das war Maos Methode, sich in eine vorteilhafte Position zu bringen. Ich ärgerte mich schrecklich. Während ich da so herumschwamm, dachte ich nur: ›Fahr zur Hölle!‹«73
Das erste Anzeichen, wie hässlich das Verhältnis zwischen Mao und Chruschtschow noch werden sollte, war bereits fünf Monate vorher, am 20. Juni 1960, in Bukarest zu erkennen gewesen, wohin die Rumänen die Delegierten von einundfünfzig kommunistischen Parteien zu ihrem 3. Parteikongress eingeladen hatten.74 Erst zwei Tage vor der Konferenz hatte Chruschtschow verkündet, dass er daran teilnehmen werde. Zuvor waren die Verhandlungen mit der in die rumänische Hauptstadt reisenden chinesischen Delegation, die in Moskau einen Zwischenstopp eingelegt hatte, ergebnislos geblieben. Seine Teilnahme machte eine unbedeutende, provinzielle Parteiversammlung zum Schauplatz der ersten offenen erbitterten Auseinandersetzung zwischen den Führern der beiden mächtigsten kommunistischen Staaten. Als geeignete Vorbereitung in eigener Sache hatte Boris Ponomarjow, der Sekretär für Internationale Angelegenheiten des Zentralkomitees der KPdSU, einen einundachtzigseitigen »Informationsbrief« erstellt, in dem die Argumente gegen Maos »fehlerhafte Einschätzung der gegenwärtigen Weltlage« aufgeführt waren. Diese Abhandlung wurde als Rundschreiben allen Delegierten zugestellt. Ihre Kernaussage war die Absichtserklärung Chruschtschows, seinen umstrittenen Kurs einer friedlichen Koexistenz mit dem Westen auch mit dem neuen US-Präsidenten fortsetzen zu wollen.
Da Mao selbst nicht in Bukarest anwesend war, wurde der chinesische rhetorische Gegenangriff von Peng Zhen, dem Leiter der chinesischen Delegation, vorgetragen. Peng war ein legendärer Kommunist der ersten Stunde, der den Widerstand gegen die Japaner mit angeführt hatte und direkt nach der Eroberung Pekings im Jahr 1948 erster kommunistischer Parteichef der chinesischen Hauptstadt gewesen war.75 Peng verblüffte die Delegierten durch die Schärfe seines beispiellosen Angriffs auf Chruschtschow, den er noch dadurch untermauerte, dass er allen Delegierten ein längeres Schreiben zukommen ließ, das der Sowjetführer vor einiger Zeit an Mao geschickt hatte. Dieser ursprüngliche »Geheimbrief« schockierte die Delegierten in zweierlei Hinsicht. Einmal durch die rüde Sprache, mit der Chruschtschow Mao darin anging, zum Zweiten aber auch durch den chinesischen Vertrauensbruch, eine vertrauliche Korrespondenz auf diese Weise öffentlich zu machen.
In der abschließenden Geheimsitzung des Kongresses hielt Chruschtschow eine giftsprühende Brandrede, wie sie selbst altgediente Delegierte von ihm so noch nicht gehört hatten. Er beschimpfte den abwesenden Mao als »Buddha, der sich seine Theorien aus der Nase zieht und der keine Interessen kennt als seine eigenen«.76
Peng schoss zurück, man könne jetzt ganz klar sehen, dass Chruschtschow die Konferenz in Bukarest nur organisiert habe, um China anzugreifen. Die Außenpolitik des sowjetischen Parteichefs bestehe nur darin, »gegen die kapitalistischen Mächte zuerst einen Mordswind zu machen, dem dann aber nur ein sanftes Lüftchen folgen zu lassen«.77
Chruschtschow war außer sich vor Wut. In einer für ihn typischen impulsiven Aufwallung traf er im Schnellverfahren Entscheidungen, die sowjetische wirtschaftliche, diplomatische und nachrichtendienstliche Besitzstände in China zunichtemachen würden, deren Aufbau viele Jahre gedauert hatte. Er ordnete an, »innerhalb eines knappen Monats« 1390 sowjetische technische Berater abzuziehen, 257 wissenschaftliche und technische Kooperationsprojekte zu beenden und 343 Expertenkontrakte und -subkontrakte aufzulösen. Dutzende chinesischer Forschungs- und Bauprojekte nahmen dadurch ein abruptes Ende, ebenso wie zahlreiche Industrie- und Bergbauvorhaben, die erst in der Probephase waren.78
Trotzdem wurde dann das Schlusskommuniqué des Bukarester Kongresses auf eine Weise abgefasst, die sorgfältig die Wahrheit über den Frontalzusammenstoß zwischen den beiden kommunistischen Führungsmächten vor dem Westen verbarg. Dies würde bei der Nachfolgekonferenz im November desselben Jahres in Moskau schwerer werden, zu der zwar dieselben Delegierten erscheinen würden, die aber insgesamt viel größer und politisch auf weit höherer Ebene angesiedelt war.
Chruschtschow bearbeitete und umschmeichelte vor und während dieses Parteikongresses die Teilnehmer so geschickt und erfolgreich, dass die Chinesen dagegen kaum ankommen konnten. Nur ein Dutzend der insgesamt einundachtzig Länderdelegationen schloss sich dem chinesischen Widerstand gegen Chruschtschows Kurs an, nach innen den Kommunismus zu liberalisieren und nach außen eine friedliche Koexistenz mit dem Westen aufzubauen. Trotzdem hatte es innerhalb der kommunistischen Gemeinschaft noch nie eine solch große Opposition gegen den sowjetischen Herrschaftsanspruch gegeben.
Da Mao auch dieses Mal in Peking geblieben war, waren Chruschtschow und der Generalsekretär der chinesischen KP, Deng Xiaoping, die Hauptkontrahenten. Hinter verschlossenen Türen gerieten sie im Sankt-Georg-Saal des Kremls sofort aneinander. Chruschtschow nannte Mao einen »größenwahnsinnigen Kriegshetzer«. Offensichtlich brauche dieser »jemanden, dem er ans Bein pinkeln kann. Wenn ihr ohne Stalin nicht leben könnt, dann könnt ihr ihn haben – seinen Kadaver samt Sarg und allem!«79
Deng beantwortete die Aussagen des Sowjetführers auf höchst aggressive Weise:80 »Chruschtschow hat offensichtlich geredet, ohne zu wissen, was er da eigentlich sagt, wie es bei ihm viel zu oft der Fall ist.« Dies war eine unerhörte persönliche Beleidigung des anerkannten Führers der kommunistischen Bewegung, und das sogar noch auf seinem eigenen Boden. Maos neuer Verbündeter, der albanische Parteiführer Enver Hodscha, hielt danach die bösartigste Rede der gesamten Konferenz. Er behauptete, Chruschtschow habe Albanien erpresst und versuche, sein Land durch Aushungern zu unterjochen, weil es Stalin treu geblieben sei.
Am Ende handelten Sowjets und Chinesen einen Waffenstillstand aus. Die Chinesen hatte überrascht, wie viel Zustimmung und Unterstützung der sowjetische Parteichef immer noch aufbringen konnte. Infolgedessen machten sie einen Rückzieher, weil sie erkannten, dass sich die kommunistische Bewegung in einem solch kritischen Moment nicht aufspalten ließ. Zögerlich akzeptierten sie deshalb auch Chruschtschows Vorstellung einer friedlichen Koexistenz mit dem Westen. Im Gegenzug stimmte Chruschtschow zu, den Gegnern des Kapitalismus in den Entwicklungsländern größere Unterstützung zu gewähren.
Die Sowjets nahmen auch die Hilfsmaßnahmen für China wieder auf. Auf diese Weise konnten sechsundsechzig der hundertfünfundfünfzig unvollendeten gemeinsamen Industrieprojekte weitergeführt werden. Allerdings bekam Mao nicht, was er am meisten begehrte: Zugang zur modernsten Militärtechnologie. Maos Dolmetscher Yan Mingfu hielt diese Abmachungen nur für »einen zeitweiligen Waffenstillstand. Auf lange Sicht war der Gang der Dinge schon nicht mehr beherrschbar.«81
Nachdem Chruschtschow die Chinesen jetzt wenigstens zeitweise in den Griff bekommen hatte, konnte er sich nun seiner ostdeutschen Flanke zuwenden.
DER KREML,
MOSKAU
MITTWOCH, 30. NOVEMBER 1960
Ulbricht saß aufrecht und leicht nach vorne gebeugt auf seinem Stuhl und hörte sich voller Skepsis an, was ihm Chruschtschow über seine Strategien für den Umgang mit Kennedy und dem Berlin-Problem im kommenden Jahr 1961 mitzuteilen hatte.82 Der Staatsratsvorsitzende der DDR hatte Chruschtschow seit Oktober drei Briefe zukommen lassen. In jedem von ihnen zeigte er sich noch kritischer über Chruschtschows Versäumnis, entschiedenere Maßnahmen gegen die wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten der DDR und das Ausbluten seines Landes durch die Flüchtlingswelle zu ergreifen.
Da er jede Hoffnung verloren hatte, dass Chruschtschow in absehbarer Zeit etwas Entscheidendes an der Situation in Berlin ändern könnte, hatte Ulbricht auch begonnen, seine Kontrolle über Berlin einseitig zu verstärken. So verlangte Ostdeutschland zum ersten Mal, dass in Westdeutschland akkreditierte Diplomaten um die Erlaubnis der DDR-Behörden nachsuchen mussten, wenn sie Ostberlin oder die DDR betreten wollten. In einem vielbeachteten Fall hatten sie sogar den US-Botschafter in der Bundesrepublik, Walter »Red« Dowling, an der Grenze umkehren lassen. Diese ostdeutschen Maßnahmen widersprachen jedoch diametral den sowjetischen Bemühungen, die diplomatischen und wirtschaftlichen Kontakte mit Westberlin und Westdeutschland zu verstärken. Deshalb hatte ein ärgerlicher Chruschtschow am 24. Oktober Ulbricht angewiesen, diese neuen Einreisebestimmungen sofort zurückzunehmen. Ulbricht gehorchte, wenn auch widerwillig. Natürlich heizte das die Spannungen zwischen den beiden Männern nur noch weiter an.
Der sowjetische Botschafter in Ostberlin, Michail Perwuchin, beklagte sich bei Chruschtschow und Außenminister Gromyko, dass Ulbricht Direktiven des Kremls immer häufiger einfach missachtete.83 Der Zweite Botschaftssekretär, A. P. Kasennow, schickte seinen Chefs in Moskau ein Telegramm, in dem er davor warnte, dass die Ostdeutschen die Grenzübergänge vollständig schließen könnten, um die immer weiter steigende Flüchtlingswelle zu stoppen.84 Kurz zuvor hatte Perwuchin nach Moskau berichtet, dass Ulbrichts zahlreiche Maßnahmen, die Bewegungsfreiheit und die Wirtschaftsverbindungen zwischen den beiden Teilen Berlins zu begrenzen, die »Unbeweglichkeit« des ostdeutschen Führers bewiesen hätten.
Ulbricht hatte gerade erst einen Nationalen Verteidigungsrat geschaffen, um die Sicherheit seines Landes besser verteidigen zu können.85 Sich selbst hatte er zum Vorsitzenden ernannt. Am 19. Oktober diskutierte der neue Rat über Möglichkeiten, die Berliner Grenze abzusperren, über die so viele Flüchtlinge das Land verließen. Obwohl der Westen Ulbricht für eine Marionette der Sowjets hielt, war es immer mehr der ostdeutsche Staatsführer, der in Moskau die Fäden zog.
In seinem letzten Brief vom 22. November86 hatte sich Ulbricht bei Chruschtschow beklagt, dass die Sowjets untätig blieben, während seine Wirtschaft am Kippen sei, die Flüchtlinge weiterhin das Land verließen, die Frage der Freiheit Westberlins international immer höhere Wellen schlage und die Fabriken Westberlins gleichzeitig die westdeutsche Rüstungsindustrie belieferten. Er erklärte Chruschtschow, dass Moskau endlich seinen Kurs wechseln müsse, nachdem es jahrelang eine unklare Lage geduldet habe. Mit einer Aktion in Berlin zu warten, bis Chruschtschow ein Gipfeltreffen mit Präsident Kennedy organisieren könne, spiele den Amerikanern in die Hände.
Chruschtschow versicherte einem skeptischen Ulbricht, dass er die Berlin-Frage sofort nach Kennedys Amtsantritt vorbringen werde.87 Außerdem strebe er keine neue Vier-Mächte-Konferenz an, sondern ein persönliches Zweiertreffen mit Kennedy, bei dem er seine Ziele viel besser erreichen könne. Dann versicherte er Ulbricht, er werde frühzeitig zu einem neuen Ultimatum greifen, wenn Kennedy keine Bereitschaft zeige, in den ersten Monaten seiner Amtszeit ein vernünftiges Abkommen auszuhandeln.
Obwohl Ulbrichts Misstrauen nicht ganz gewichen war, hatte ihm Chruschtschows Versicherung, er werde das Berlin-Problem möglichst bald angehen, doch ein wenig Zuversicht vermittelt.88 Gleichzeitig warnte der ostdeutsche Staatschef Chruschtschow, dass seine wiederholten Versprechen, in Berlin etwas zu unternehmen, allmählich an Glaubwürdigkeit verlören. In seiner Bevölkerung mache sich die Stimmung breit, »der redet ja nur über einen Friedensvertrag, macht aber nichts. Da müssen wir aufpassen!« Der ostdeutsche Klient fing an, seinen Herrn zu belehren.
Ulbricht wollte Chruschtschow vor allem klarmachen, dass ihnen die Zeit davonlief. »Die Lage in Berlin ist kompliziert geworden, und das nicht zu unseren Gunsten«, ließ er ihn wissen.89 Die Westberliner Wirtschaft werde schnell immer stärker. Dies zeige allein die Tatsache, dass etwa fünfzigtausend Ostberliner jeden Tag zum Arbeiten in den Westen gingen, da die Löhne dort höher seien. Die Spannungen in der Stadt wüchsen etwa proportional zum ständig zuungunsten des Ostens größer werdenden Unterschied des Lebensstandards zwischen den beiden Stadthälften.
»Wir haben bisher immer noch keine geeigneten Gegenmaßnahmen ergriffen«, klagte Ulbricht.90 Er sei auch dabei, die Schlacht um die Intelligenz zu verlieren, von der viele als Flüchtlinge in den Westen abwanderten. Er erzählte Chruschtschow, dass er vor allem deshalb in diesem Konkurrenzkampf zwischen den Systemen den Kürzeren ziehe, weil die Westberliner Lehrer monatlich etwa 200 bis 300 Mark mehr verdienten als ihre Kollegen im Osten. Die westlichen Ärzte verdienten sogar doppelt so viel. Er habe einfach nicht die Mittel, um solche Gehälter bezahlen zu können. Und selbst wenn er es könnte, sei es ihm unmöglich, genügend Konsumgüter zu produzieren, die die Ostdeutschen mit diesem zusätzlichen Geld kaufen könnten. Chruschtschow sagte ihm daraufhin weitere wirtschaftliche Unterstützung zu.
Dann zog der Sowjetführer die Schultern hoch. Vielleicht müsse er die sowjetischen Raketen doch in Alarmzustand versetzen, während er versuche, den gegenwärtigen Berlin-Status zu ändern. Er sei jedoch zuversichtlich, dass der Westen wegen der Freiheit der Stadt keinen Krieg beginnen werde. »Glücklicherweise sind unsere Gegner noch nicht verrückt geworden. Sie können immer noch klar denken, und die Nerven haben sie auch noch nicht verloren. «91 Wenn Kennedy jedoch nicht verhandeln wolle, werde er einseitig die notwendigen Schritte einleiten, »und dann können sie ihre eigene Niederlage betrachten«.
Mit einem gereizten Seufzer meinte Chruschtschow am Schluss zu Ulbricht: »Wir müssen diese Situation irgendwann zu einem Ende bringen.«