KAPITEL 3
Kennedy: Lehrzeit eines Präsidenten
Wir können mit dem Status quo in Berlin leben, können aber keine wirkliche Initiative ergreifen, um ihn zu verbessern. Die Sowjets und Ostdeutschen können ihn jedoch mehr oder weniger stark verschlechtern, wenn sie bereit sind, die politischen Konsequenzen zu tragen.
MARTIN HILLEBRAND, LEITER DER ABTEILUNG FÜR
DEUTSCHE ANGELEGENHEITEN
IM US-AUSSENMINISTERIUM, IN EINEM MEMORANDUM FÜR PRÄSIDENT
KENNEDY
ZUR VORBEREITUNG AUF DESSEN AMTSÜBERNAHME, JANUAR 19611
So lasst uns neu beginnen und uns auf beiden Seiten daran erinnern, dass Verbindlichkeit kein Zeichen von Schwäche ist und dass Aufrichtigkeit immer bewiesen werden muss.
JOHN F. KENNEDY, ANTRITTSREDE, 20. JANUAR 19612
OVAL OFFICE, WASHINGTON,
D. C.
DONNERSTAGMORGEN, 19. JANUAR 1961
Der älteste Präsident der US-amerikanischen Geschichte hielt es nun für angebracht, den jüngsten Mann, der jemals in dieses Amt gewählt worden war, mit dem gravierendsten Teil seines künftigen Jobs bekannt zu machen. Es war der Tag vor der offiziellen Amtseinführung. In weniger als vierundzwanzig Stunden würde der siebzigjährige Präsident Dwight D. Eisenhower dem dreiundvierzigjährigen Senator John F. Kennedy Amerikas sogenannten »nuklearen Football«, den Koffer mit den Atomcodes, übergeben und ihm damit die Verfügungsgewalt über das größte Zerstörungspotenzial übertragen, über das je ein einzelnes Land verfügt hatte.
Er würde diese zu einer Zeit bekommen, in der gerade Eisenhower fürchtete, dass ein einziges Missverständnis in einer der vielen über die ganze Welt verteilten Gefahrenzonen, in denen sich Amerikaner und Sowjets direkt gegenüberstanden, einen nuklearen Schlagabtausch auslösen könnte. Der empfindlichste dieser Punkte war zweifellos Berlin. Eisenhower plante, Kennedy zu einem Vier-Augen-Gespräch beiseitezunehmen, um ihm zu erklären, wie ein solcher Krieg geführt werden würde und was ein Präsident in einem solchen Fall zu tun hätte. Am Ende hatte er eine eindrucksvolle kleine Vorführung geplant, wobei er auf Hilfsmittel zurückgreifen konnte, die in dieser Art nur dem mächtigsten Mann der Welt zur Verfügung standen.
Eisenhower machte sich jedoch Sorgen, ob Kennedy für eine solche Verantwortung wirklich bereit war.3 Unter Freunden nannte er ihn abschätzig »Little Boy Blue« oder »dieser kleine Gerngroß«, wenn er ihn nicht als »dieses junge Genie« verspottete. Als Oberbefehlshaber der gesamten alliierten Truppen in Europa während der letzten beiden Jahre des Zweiten Weltkriegs hatte Eisenhower die Invasion in der Normandie und die Besetzung Frankreichs und Deutschlands geleitet. Kennedy hatte dagegen als unbedeutender Marineleutnant gerade einmal ein PT-Torpedoboot befehligt, das so klein war, dass sein Geschwader von den anderen Marineangehörigen spöttisch »Moskitoflotte« genannt wurde. Sicherlich war Kennedy als Kriegsheld ausgezeichnet worden, nachdem er das Leben von elf seiner Besatzungsmitglieder gerettet hatte. Zuvor hatte er es jedoch unerklärlicherweise nicht verhindern können, dass seine PT-109 von einem heranrauschenden japanischen Zerstörer gerammt und versenkt wurde. Eisenhowers alte Militärfreunde nahmen Kennedy die Erklärung nicht ab, dass er das große japanische Kriegsschiff nicht bemerkt habe, weil die Nacht an diesem 2. August 1943 so dunkel und die Gefechtslage völlig unklar gewesen sei. Stattdessen vermuteten sie, er habe nachlässig gehandelt, auch wenn damals keine weiteren Untersuchungen angestellt worden waren.
Eisenhower bezweifelte, dass dieser Jungspund Kennedy ohne die tiefen Taschen seines Vaters Joe und dessen unbändigen elterlichen Ehrgeiz jemals Präsident geworden wäre.4 So bat dieser noch während des Kriegs seinen Vetter Joe Kane, einen angesehenen Bostoner Politiker, sich darüber Gedanken zu machen, wie man sowohl seinen ältesten Sohn Joe als auch Jack zu Erfolg versprechenden Wahlkandidaten machen könnte. Außerdem brachte er den Autor und Freund der Familie John Hersey dazu, einen Artikel über Jacks Tapferkeit und Heldenmut zu verfassen. Dessen Veröffentlichung im Reader’s Digest und danach dem New Yorker5 war ein starker Anschub für Jacks politische Karriere. Ein Jahr nach Jacks Aufstieg zum Kriegshelden kam Joe jun. am 12. August 1944 auf einem hoch riskanten, noch nie erprobten Bombenflug ums Leben. Eigentlich hätte er aus der von ihm gesteuerten, mit 10 000 Kilogramm Dynamit beladenen B-24 Liberator aussteigen und mit dem Fallschirm abspringen sollen, bevor das jetzt zu einer »Drohne« gewordene führerlose Flugzeug ferngesteuert auf eine deutsche V-1-Abschussrampe an der belgischen Küste aufprallen würde. Aus irgendeinem Grund explodierte der Sprengstoff jedoch vorzeitig. Gute Kenner der Familie fragten sich danach, ob sein Tod letzten Endes nicht ein Ergebnis der Rivalität zwischen den beiden Brüdern war, die der Vater über die Jahre immer wieder angeheizt hatte. Ein tollkühnes Himmelfahrtskommando, das ihm wahrscheinlich auch auf dem Gebiet des Kriegsheldentums erneut einen Vorteil vor seinem jüngeren Bruder verschaffen sollte, hatte Joe jun. also das Leben gekostet.
An diesem kalten, trüben Morgen fuhr Kennedys Wagen nach einer achtminütigen Fahrt von seinem Privathaus in Georgetown um genau 8:57 Uhr vor dem Weißen Haus vor. Während Kennedy sonst häufig zu spät kam, war er heute sogar überpünktlich. Die Morgenzeitungen waren an diesem Tag voll von Biographien der Kennedy-Familie und Illustrationen der eleganten Ballkleider der Gattinnen der neuen Kabinettsmitglieder.6 Die hausbackene EisenhowerÄra war endgültig vorbei. Ernster war da schon die Ankündigung von General Thomas S. Power, dem Befehlshaber des Strategischen Luftwaffenkommandos, dass die Vereinigten Staaten zum ersten Mal rund um die Uhr mit Atomwaffen bestückte Bomber in der Luft halten würden, die Amerika vor jedem eventuellen Überraschungsangriff schützen sollten.
Vor diesem Treffen hatte der Leiter des die Amtsübernahme Kennedys vorbereitenden »Übergangsteams«, der legendäre Washingtoner Anwalt Clark Clifford, den Eisenhower-Leuten eine Liste der Themen übermittelt, die Kennedy gern besprechen würde, da sie ihn bereits in seinen ersten Tagen im Amt beschäftigen könnten: Laos, Algerien, der Kongo, Kuba, die Dominikanische Republik, Berlin, die Abrüstungs- und Atomteststopp-Verhandlungen, allgemeine Fragen der Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik und eine »Gegenüberstellung der Erfordernisse und Handlungsmöglichkeiten im Fall eines Kriegs«.7 Der letzte Punkt war Kennedys Umschreibung eines Problems, das ihn immer stärker umtrieb, je näher er dem Oval Office rückte: »Wie würde ich einen Atomkrieg führen, wenn es je dazu kommen sollte?« Er war sich nämlich überhaupt nicht sicher, dass er oder das amerikanische Volk, das heißt die Wähler, die er für seine Wiederwahl benötigte, bereit sein würden, die feierlichen amerikanischen Verpflichtungen zur Verteidigung Berlins auch dann einzuhalten, wenn diese die Gefahr eines Atomkriegs mit sich brachten, der Millionen Amerikaner das Leben kosten konnte.
Nach ihrem ersten Treffen bezüglich der Amtsübergabe am 6. Dezember hatte Eisenhower einige seiner negativen Ansichten über Kennedy fallen gelassen. Er erzählte dem demokratischen Parteistrategen George E. Allen, einem Freund Cliffords, dass er sich »in diesem jungen Mann geirrt« habe und »falsch informiert« worden sei. »Er ist einer der fähigsten und klügsten Köpfe, die ich je getroffen habe.«8 Wenngleich ihm Kennedys Jugend und mangelnde Erfahrung immer noch ein wenig Sorgen bereiteten, hatte ihn dessen Verständnis der zu erwartenden Probleme andererseits doch auch wieder beruhigt.
Kennedy war dagegen von »Ike« weit weniger beeindruckt, den er gegenüber Freunden schon einmal »dieses alte Arschloch« nannte. Seinem jüngeren Bruder Bobby, der sein neuer Justizminister werden sollte, erzählte er nach dem Treffen, er habe den scheidenden Präsidenten geistig schwerfällig gefunden. Außerdem sei er über bestimmte Angelegenheiten schlecht informiert gewesen, in denen er sich eigentlich genau hätte auskennen müssen.9
Kennedy glaubte, die Eisenhower-Regierung habe kaum etwas von Bedeutung erreicht und sei inmitten einer der gefährlichsten Strömungen der Geschichte, die die Vereinigten Staaten mit sich fortreißen könnte, weitgehend untätig geblieben. Das offensichtlichste Beispiel war dabei das schwelende Problem Berlin. Kennedy war hingegen entschlossen, ein starker Präsident zu werden. Seine Vorbilder waren Abraham Lincoln und Franklin D. Roosevelt. In einem Vergleich des alten mit dem neuen Präsidenten beschrieb der damalige französische Botschafter in Washington, Hervé Alphand, Kennedy nach einer Unterredung als einen Mann, der »ein enormes Gedächtnis für Tatsachen, Zahlen und Geschichte hatte und die Probleme sehr genau kannte, die er besprechen wollte … Er verfügt über den Willen, seinem Land und der Welt seinen Stempel aufzudrücken, mit anderen Worten, ein großer Präsident zu werden.«10
Auf seinem Weg dorthin gab es aber zwei große Hürden: sein fehlendes klares Mandat nach dem knappsten Wahlsieg seit 1886 und die Tatsache, dass Lincoln und Roosevelt ihren geschichtlichen Rang einem Krieg zu verdanken hatten. Dies war jedoch eine erschreckende Option, die unbedingt vermieden werden musste, da sie in diesen Zeiten zu einem atomaren Desaster führen konnte.
Kennedy war völlig verblüfft, dass er nur mit einem derart knappen Vorsprung und nicht einmal der Hälfte der abgegebenen Stimmen gewählt worden war.11 »Wie konnte ich einen solchen Typ nur mit ein paar Hunderttausend Stimmen schlagen?«, klagte er seinem Freund Kenneth O’Donnell, der später zu einem seiner Berater im Weißen Haus werden sollte.
Auch den Kandidaten seiner Partei bei den gleichzeitigen Kongresswahlen hatte er keinen Rückenwind verschaffen können.12 Obwohl die Demokraten weiterhin in beiden Häusern des Kongresses eine sichere Mehrheit besaßen, hatten sie einen Sitz im Senat und zwanzig Sitze im Repräsentantenhaus verloren. Die Südstaatendemokraten, die am meisten dazugewonnen hatten, würden sich mit den Republikanern verbünden, um gegen die Sowjets und in Berlin eine harte Linie durchzusetzen. Kennedy hätte wahrscheinlich überhaupt nicht gewonnen, wäre er im Wahlkampf gegenüber Moskau nicht noch energischer aufgetreten als Nixon. Um diesen konservativen antisowjetischen Ruf zu untermauern und vielleicht auch um die Veröffentlichung schädlicher Enthüllungen über seine Vergangenheit aus Geheimdienstkreisen zu verhindern, traf Kennedy darüber hinaus die unkonventionelle Entscheidung, die Direktoren von CIA und FBI, Allen Dulles und J. Edgar Hoover, in ihren Ämtern zu belassen. Hier bildete sich bereits eine seltsame Ähnlichkeit zwischen Kennedy und Chruschtschow heraus: Beide wurden von ihren heimischen Politikkreisen eher zur Konfrontation als zu einem Kurs der Verständigung gedrängt.
Sein magerer Vorsprung vor Nixon war für Kennedy nur noch ein weiterer Grund, Eisenhower an diesem 19. Januar aufzusuchen. Er glaubte, er könne viel von dessen ruhiger und Vertrauen erweckender Art lernen, die dem scheidenden Präsidenten zwei Amtszeiten und die Zuneigung der breiten Öffentlichkeit eingebracht hatte. Kennedy würde seine eigene Popularität möglichst schnell aufbauen müssen, um alle vor ihm liegenden Probleme meistern zu können.
Bei seinen Amtsübergangsbriefings über Nuklearstrategie hatte Kennedy vor allem die Tatsache Sorgen bereitet, dass Eisenhower ihm nur solch begrenzte und unflexible Kriegsführungsoptionen hinterließ.13 Sollten die Sowjets Berlin überrennen, hatte Kennedy nur die Wahl zwischen zwei unschönen Alternativen. Er konnte entweder einen konventionellen Krieg beginnen, den die Sowjets unweigerlich gewinnen würden, oder er konnte sich für einen Nuklearkonflikt entscheiden, den jedoch er und Amerikas Verbündete nur ungern führen würden. Aus diesem Grund hätte man sich eigentlich denken können, dass die Berlin-Frage an diesem Morgen ganz oben auf Kennedys Agenda stehen würde.
Stattdessen konzentrierten sich beide Seiten auf den augenblicklichen Konflikt in Laos und die wachsende Gefahr, dass ein südostasiatisches Land in die Hand der Kommunisten fallen und einen Dominoeffekt auslösen könnte.14 Obwohl die Krise in Berlin von weit größerer Bedeutung war, hatte man Kennedy doch immer wieder erklärt, dass es sich dabei um einen regelrecht eingefrorenen Konflikt handle, der auf absehbare Zeit nicht gelöst werden könne. Deshalb sei es vernünftiger, wenn er sich erst einmal anderen Angelegenheiten widme.
Das Eisenhower-Team hatte für Kennedy eine Amtsübergabedenkschrift vorbereitet. Darin warnte es den neuen Präsidenten, der sich immerhin selbst rühmte, »in großen Maßstäben zu denken«, dass er, was Berlin angehe, auf die kleinen Dinge achten müsse. Damit meinten sie alles, von den Einzelheiten der Abkommen, die den ungehinderten Zugang nach Westberlin regelten, bis zu einer ganzen Fülle von manchmal auf den ersten Blick ziemlich undurchsichtigen Bestimmungen der Vier-Mächte-Vereinbarungen, die jedoch die Rechte der Westberliner und die alliierte Präsenz in dieser Stadt sicherten.
In dem Memo hieß es: »Gegenwärtig verfolgen die Sowjets die Taktik, Berlin für sich zu gewinnen, indem sie immer wieder ein Stückchen von den west-lichen Positionen abknapsen und es uns damit schwermachen, zu zeigen, dass es noch bei dem kleinsten Vorfall um das Überleben eines freien Berlin geht. Im Augenblick stellt sich uns die Frage, was wir gegen diese ›Salamitaktik‹ unternehmen können … Wir haben auf jede erdenkliche Weise versucht, die Sowjets davon zu überzeugen, dass wir, wenn es gar nicht anders geht, um Berlin kämpfen werden.«15 Das Papier warnte den kommenden Präsidenten, dass Chruschtschow gleich am Beginn seiner Amtszeit versuchen werde, die Berlin-Gespräche wiederaufleben zu lassen. Sein Ziel dabei werde sein, den Abzug aller westlichen Truppen aus der Stadt durchzusetzen.
Andererseits hatte Eisenhowers Team keine Ratschläge anzubieten, wie Kennedy effizienter mit alldem umgehen könnte. Sie forderten ihn nur auf, auf jeden Fall dort die Stellung zu halten. »Niemandem ist es bisher gelungen, eine akzeptable und verhandlungsfähige Formel für die Lösung des Berlin-Problems zu finden, die nicht mit einer Lösung für Deutschland als Ganzem verbunden wäre«, heißt es in dem Dokument weiter. Gegenwärtig sei es die Position der Vereinigten Staaten, dass Deutschland eines Tages nach freien Wahlen sowohl in West- als auch in Ostdeutschland wiedervereinigt werden sollte. Allerdings erwartete niemand, dass dies in nächster Zeit, wenn überhaupt je, geschehen werde. Aus diesem Grund »war es bisher die Haupttaktik des Westens, Zeit zu gewinnen und seine Entschlossenheit zur Verteidigung Westberlins zu demonstrieren, während man nach einer Lösung sucht. Allerdings stellt sich zunehmend das Problem, die UdSSR davon zu überzeugen, dass die Westmächte den Willen und die Mittel besitzen, ihre gegenwärtige Stellung zu halten.«
Martin Hillenbrand, der Leiter der Abteilung für deutsche Angelegenheiten im US-Außenministerium,16 drückte diesen Tatbestand in seinem eigenen Übergangsmemo noch pointierter aus. Er leitete unter anderem eine Berlin-Taskforce, die Eisenhower nach Chruschtschows Berlin-Ultimatum von 1958 eingerichtet hatte und die sich fast täglich traf, um kleinere oder größere Probleme zu erörtern. Ihr gehörten Vertreter der meisten US-amerikanischen Regierungsbehörden sowie der britische, französische und westdeutsche Botschafter an.
»Wir können mit dem Status quo in Berlin leben, können aber keine wirkliche Initiative ergreifen, um ihn zu verbessern«, schrieb er. »Die Sowjets und Ostdeutschen können ihn jedoch mehr oder weniger stark verschlechtern, wenn sie bereit sind, die politischen Konsequenzen zu tragen. […] Wie sehr wir auch danach streben mögen, einen neuen Ansatz zu diesem Problem zu finden, so zieht doch die unabweisliche Faktenlage den praktischen Handlungsmöglichkeiten des Westens enge Grenzen.«17
Kennedy bekam also aus den unterschiedlichsten Quellen zu hören, dass die aufrüttelnde Botschaft eines notwendigen »Wandels«, wegen der er gewählt worden war, auf Berlin nicht zutraf. Seine Berater forderten ihn stattdessen auf, einen unbefriedigenden Status quo zu verteidigen. Dies widersprach seinem Naturell und dem Versprechen an seine Wähler, die Probleme, die die Eisenhower-Regierung liegen gelassen hatte, mit neuer Kreativität anzupacken. Nachdem er alle seine Optionen abgewogen hatte, entschied sich Kennedy, das Berlin-Problem erst einmal auf Sparflamme zu stellen und sich Angelegenheiten zuzuwenden, bei denen er anscheinend schneller zu bindenden Abmachungen gelangen konnte.
Aus diesem Grund war es Kennedys Priorität, die Verhandlungen mit Moskau über einen Atomteststopp weiterzuführen. Er betrachtete dies als vertrauensbildende Maßnahme, um die eisigen amerikanisch-sowjetischen Beziehungen wieder aufzutauen. Die Logik hinter Kennedys Handeln war schlüssig: Wenn sich die Atmosphäre zwischen den beiden Mächten infolge dieser Rüstungsverhandlungen verbessert haben würde, könnte er sich erneut der weit schwerer zu lösenden Berlin-Frage zuwenden. Dieser Ansatz war jedoch die Ursache für die erste und größte Meinungsverschiedenheit zwischen Kennedy und Chruschtschow, bei der es um die Geschwindigkeit und Priorität von Verhandlungen über eine Lösung des Berlin-Problems gehen würde.
Bereits vor seinem Einzug ins Weiße Haus lernte Kennedy, dass es einen großen Unterschied zwischen dem echten Umgang mit der Berlin-Frage als amtierender Präsident und der kompromisslosen Rhetorik eines Senators oder Präsidentschaftskandidaten gab. So hatte er noch im Februar 1959 die Eisenhower-Regierung aufgefordert, Amerika besser auf die »äußerst ernste« Aussicht einer bewaffneten Machtprobe um die Freiheit Westberlins vorzubereiten. 18
Im folgenden August hatte sich Kennedy in Vorbereitung seiner Kandidatur bereit erklärt, zur Verteidigung Berlins eine Atombombe einzusetzen, und den Sowjets vorgeworfen, sie versuchten die Amerikaner aus Deutschland zu vertreiben. »Unsere Stellung in Europa ist einen Atomkrieg wert«, hatte er in einem Telefoninterview in Milwaukee gesagt. »Und wenn man uns aus Europa vertreibt, werden wir auch aus Asien und Afrika vertrieben, und dann kommen wir als Nächste dran … Man muss die Bereitschaft zeigen, gegebenenfalls auch die ultimative Waffe einzusetzen.«19
In einem Artikel, der nur Stunden nach seinem Sieg auf dem demokratischen Nominierungsparteitag im Juni 1960 in den Zeitungen der Hearst-Gruppe erschien, hatte Kennedy geschrieben: »Der nächste Präsident muss Chruschtschow deutlich machen, dass es keine Beschwichtigungspolitik geben wird, keine Aufopferung der Freiheit der Berliner Bevölkerung und keine Aufgabe wesentlicher Prinzipien.«20
Es war jedoch ein großer Unterschied zwischen einem Aufmerksamkeit heischenden Senator in Milwaukee, der »Bereitschaft zeigen« möchte, oder einem nominierten Kandidaten, der jede »Beschwichtigungspolitik« ablehnt, und einem Präsidenten, der den tatsächlichen Einsatz von Atomwaffen befehlen muss. Darüber hinaus nahmen auch die nuklearen Fähigkeiten der Sowjetunion ständig zu, während Moskaus konventionelle Überlegenheit im Raum Berlin erdrückend blieb.
Der Präsident verfügte in Westberlin nur über 5000 Soldaten. Dazu kamen noch 4000 Briten und 2000 Franzosen. Insgesamt betrug die alliierte Truppenstärke dort also ganze 11 000 Mann. Dagegen waren nach Schätzungen der CIA in Ostdeutschland oder der strategischen Umgebung Berlins 35 0000 sowjetische Soldaten stationiert.21
Das letzte National Intelligence Estimate (Nationale Geheimdiensteinschätzung), die autoritative Zusammenfassung der Erkenntnisse aller US-amerikanischen Nachrichtendienste zur nationalen Sicherheit, die sich mit den sowjetischen militärischen Fähigkeiten und Ressourcen befasste, war über die sich wandelnden Trends besorgt, die die US-Stellung in Berlin bis zum Ende von Kennedys erster Amtszeit untergraben könnten. Der Bericht sagte voraus, dass die Sowjets bis 1965 die bisherige strategische Unterlegenheit vor allem durch den Ausbau ihrer Interkontinentalraketen-Bestände und ihrer nuklearen Verteidigungssysteme zu überwinden imstande seien. Die Sowjets könnten sich dann stark genug fühlen, um den Westen in Berlin und überall auf der Welt herauszufordern.
Der CIA-Bericht warnte Kennedy vor Chruschtschows »sprunghafter Natur«. Er müsse sich auf einen »ständigen Wechsel von Druck und Entgegenkommen als übliches sowjetisches Verhalten« einstellen.22
Da Berlin im Moment also auf Sparflamme köchelte, informierte Eisenhower Kennedy ausführlich über die Verhältnisse in Laos. Der gegenwärtige Bürgerkrieg zwischen drei Parteien, den kommunistischen Pathet Lao, den prowestlichen Royalisten und neutralen Kräften könnte eine kommunistische Machtergreifung nach sich ziehen.23 Die Gefahr war klar: Kennedy musste seine ersten Wochen im Amt vielleicht damit verbringen, eine militärische Intervention in einem winzigen, verarmten Binnenstaat vorzubereiten, der ihm eigentlich ziemlich egal war. Als erste außenpolitische Maßnahme Truppen nach Laos zu schicken war nun wirklich das Letzte, was Kennedy wollte. Er hätte es vorgezogen, wenn die Eisenhower-Regierung noch vor ihrem Abtreten diese Angelegenheit geregelt hätte. Da sie dies allerdings nicht getan hatte, wollte Kennedy zumindest Eisenhowers Überlegungen und seine Vorbereitungen für eine eventuelle Militäraktion kennen lernen.
Eisenhower bezeichnete Laos als »den Korken in der Flasche«, einen Ort, an dem die Vereinigten Staaten seiner Ansicht nach, selbst einseitig, intervenieren sollten, statt einen kommunistischen Sieg zu akzeptieren, der sich wie eine ansteckende Krankheit auf Thailand, Kambodscha und Südvietnam ausdehnen könnte. »Dies ist ein Problem, das ich Ihnen hinterlasse, über das ich gar nicht glücklich bin«, entschuldigte sich Eisenhower. »Wir müssen dort vielleicht in den Kampf ziehen.«24
Kennedy war immer wieder erstaunt, wie ruhig und entspannt Eisenhower wirkte, wenn er die unterschiedlichen Kriegsszenarien Revue passieren ließ. Dies zeigte sich jetzt wieder einmal in den nächsten fünfzig Minuten, als der scheidende Präsident seinen Nachfolger ausführlich über die Prozeduren beim Einsatz von Atomwaffen belehrte.25 Eisenhowers persönliche Dinge waren inzwischen fast vollständig aus dem Oval Office entfernt worden, in das er Kennedy jetzt führte. In den Ecken waren einige Kisten gestapelt, und auf dem Teppich waren noch die Abnutzungsschäden zu sehen, die Eisenhowers Golfübungen verursacht hatten.
Eisenhower informierte Kennedy über die unterschiedlichsten Themen, von den laufenden verdeckten Operationen bis hin zu den Notfallrichtlinien, die das ureigenste Gebiet des Oberbefehlshabers aller US-Streitkräfte waren: Wie reagierte man auf einen kurz bevorstehenden Angriff und wie autorisierte man den Einsatz von Atomwaffen? Eisenhower erklärte seinem Nachfolger den Umgang mit dem Codebuch und dem »Atomkoffer«, einem schwarzen Aktenkoffer, der die nötigen Informationen und Apparaturen enthielt, mit denen der Präsident einen Atomangriff befehlen konnte und der deshalb auch immer in seiner unmittelbaren Nähe bleiben musste.
Einen persönlicheren Gedankenaustausch hätte man sich zwischen dem alten und neuen Herrn über die Nukleararsenale kaum vorstellen können. Eisenhower verzichtete darauf, Kennedys falsche Wahlkampfaussagen zu erwähnen, der scheidende Präsident habe es zugelassen, dass eine gefährliche »Raketenlücke« gegenüber den Sowjets entstanden sei.26 Eisenhower hatte Kennedy zum großen Unwillen des Kandidaten Nixon damals schon nicht korrigiert und es stattdessen vorgezogen, diese die nationale Sicherheit betreffenden Geheimnisse zu bewahren. Damit bot er auch dem Kreml eine Ausrede, die eigene Aufrüstung noch weiter zu beschleunigen.
Jetzt versicherte Eisenhower Kennedy jedoch seelenruhig, dass die USA immer noch über einen überwältigenden militärischen Vorsprung verfügten, der vor allem auf die mit Atomraketen bewaffneten U-Boote zurückgehe. »Sie haben mit den Polaris-Raketen einen unschätzbaren Aktivposten zur Verfügung«, sagte er. »Sie sind absolut unverwundbar.«27
Die Polaris-Raketen könnten die Sowjetunion von nicht zu ortenden Positionen in den verschiedenen Weltmeeren aus erreichen. Deswegen glaubte Eisenhower auch, dass die Sowjets verrückt sein müssten, wenn sie einen Atomkrieg riskierten. Andererseits könnten sie ja auch tatsächlich verrückt sein, fügte er hinzu. Wenn man die Sowjetführer nach der Brutalität beurteile, die sie im und nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber ihrem eigenen Volk und ihren Feinden gezeigt hätten, könnte diese nukleare Unterlegenheit fanatische Kommunisten vielleicht doch nicht davon abhalten, gegebenenfalls trotz allem anzugreifen. Für Eisenhower schienen die Russen offensichtlich eher Tiere zu sein, die man zähmen musste, als Partner, mit denen man verhandeln konnte.
Wie ein Kind, das einem neuen Freund sein Lieblingsspielzeug zeigt, beendete Eisenhower dann seine Lehrstunde mit einer Demonstration, wie schnell ein Präsident im Ernstfall im Hubschrauber Washington verlassen könnte.28
»Passen Sie auf!«, sagte er.
Er griff zu einem Spezialtelefon, wählte eine Nummer und rief kurz und knapp in den Hörer: »Opal Drill Three.« Dann legte er wieder auf, lächelte und forderte seinen Besucher auf, auf die Uhr zu schauen.
Nach weniger als fünf Minuten landete ein Hubschrauber des Marinekorps auf dem Rasen des Weißen Hauses und wartete dann am Boden mit laufenden Rotoren nur einige Meter von ihnen entfernt. Eisenhower führte daraufhin seinen Gast zurück in den Kabinettssaal, wo ihre wichtigsten Leute immer noch versammelt waren, und scherzte: »Ich habe meinem Freund hier gezeigt, wie man am schnellsten von hier verschwinden kann.«
In Gegenwart der Mitarbeiter warnte Eisenhower Kennedy dann, dass die Autorität des Präsidenten nicht immer ein solcher Zauberstab sein werde.
Kennedy lächelte. Eisenhowers Pressesprecher erzählte später, Kennedy habe diese »Trockenübung« offensichtlich sehr interessiert. So ernüchternd Kennedys neue Verantwortlichkeiten auch sein mochten, so konnte er sich an den Machtmitteln, über die er bald verfügen würde, doch auch berauschen. Als sie abfuhren, blickte er mit Genugtuung auf das Gebäude zurück, das schon bald sein Heim sein würde.
WASHINGTON,
D.C.
TAG DER AMTSEINFÜHRUNG, 20. JANUAR 1961
Kurz nachdem Kennedy sein Treffen mit Eisenhower beendet hatte, begann es zu schneien. Washington kam wie üblich nur sehr schwer mit starkem Schneefall zurecht. Da machte auch der Tag vor der Amtseinführung des neuen Präsidenten keine Ausnahme. Der Verkehr kam fast zum Erliegen. Während des Amtseinführungskonzerts blieben an diesem Abend zwei Drittel der Plätze in der eigentlich ausverkauften Constitution Hall leer. Das National Symphony Orchestra begann seine Aufführung mit einer halben Stunde Verspätung, da einige Musiker noch im Stau oder in einer Schneewehe feststeckten. Frank Sinatras Gala mit Starbesetzung fing sogar erst zwei Stunden später an.
Als jedoch der kalte, klare, sonnige Morgen des 20. Januar anbrach, hatte ein ganzes Bataillon von Soldaten und Schneepflügen die zwanzig Zentimeter hohe Schneedecke weggeräumt. Der Himmel klarte auf und bot die perfekte Beleuchtung für die aufwändigste und aufgrund der vielen Menschen vor den Fernsehschirmen meistgesehene Amtseinführungs-Veranstaltung der Geschichte.29 Etwa 42 Kilometer Kabel führten zu 52 Fernsehübertragungseinrichtungen, die die Amtseinführung, vom Amtseid bis zum letzten Paradefestwagen, von 32 Kamerapositionen aus verfolgten. An strategischen Stellen hatte man für Reporter 600 Extratelefone aufgestellt. Zumindest insofern würde sich die Kennedy-Regierung von ihren Vorgängern unterscheiden, als ihr Chef der am meisten auf dem Bildschirm erscheinende Präsident der amerikanischen Geschichte sein würde – und das auch noch in Farbe!
Kennedy ging am Tag vor der Amtseinführung immer wieder die endgültige Fassung seiner Antrittsrede durch – unterwegs im Auto mit seiner Frau Jackie, am Abend in der Badewanne und am nächsten Morgen, nach nur vier Stunden Schlaf, beim Frühstück. Wann immer er einen Augenblick Zeit fand, machte er sich noch intensiver mit jedem ihrer sorgsam ausgesuchten 1355 Wörter vertraut. Tatsächlich war noch keine seiner bisherigen Reden aus so vielen Entwürfen hervorgegangen und so oft umgeschrieben worden.
Bereits im letzten November hatte er seinem Redenschreiber Ted Sorensen mitgeteilt, dass er eine kurze, überparteiliche, optimistische Rede wünsche, die keine Kritik an seinem Vorgänger enthalten dürfe. Ihr Schwerpunkt sollte auf der Außenpolitik liegen. Als er jedoch eine Woche vor der Amtseinführung Sorensens Entwurf durcharbeitete, fand er ihn immer noch zu lang. Außerdem stünde seiner Meinung nach die Innenpolitik zu sehr im Vordergrund, sodass die Rede nach Wahlkampf klinge. Schließlich forderte er Sorensen auf: »Wir wollen die komplette Innenpolitik beiseitelassen. Das Ganze ist ohnehin zu lang. Wer kümmert sich denn auch nur einen Dreck um den Mindestlohn? «
Die schwierigste Entscheidung war jedoch, welche Botschaft er in seiner Rede an Chruschtschow senden sollte. Obwohl ein Atomkrieg mit den Sowjets undenkbar war, schien es doch gleichzeitig auch kaum möglich, mit ihnen einen gerechten Frieden auszuhandeln. Kennedy hatte sich während seines Wahlkampfs auf die Seite der Falken in der Demokratischen Partei geschlagen. Tatsächlich hatte seine Partei den internen Streit noch nicht entschieden, ob man im Umgang mit den Sowjets eher auf Dialog oder auf offene Konfrontation setzen sollte.
Dean Acheson, der unter Präsident Harry S. Truman Außenminister gewesen war, repräsentierte dabei die Hardliner unter den Demokraten, die immer noch davon überzeugt waren, dass Chruschtschow Stalins altes Ziel der kommunistischen Weltherrschaft verfolge.30 Andere Demokraten wie Adlai Stevenson, Chester Bowles und Averell Harriman hielten Chruschtschow dagegen für einen echten Reformer, dessen Hauptziel es sei, seinen Militäretat zu senken, um den sowjetischen Lebensstandard heben zu können.
In seiner Antrittsrede positionierte sich Kennedy direkt in der unentschiedenen Mitte der Debatte. Dies spiegelte seine Ungewissheit wider, ob er seinen Platz in der Geschichte eher dadurch gewinnen würde, dass er den Sowjets die Stirn bot, oder dadurch, dass er mit ihnen Frieden schloss. Dieselbe Unschlüssigkeit hatte ihn auch seit der Wahl davon abgehalten, auf die zahlreichen Bemühungen zu antworten, die Chruschtschow über die unterschiedlichsten Kanäle unternommen hatte, um eine persönliche Kommunikation mit ihm in die Wege zu leiten und für den Frühsommer ein Gipfeltreffen anzuberaumen.
Bereits am 1. Dezember 1960 hatte Kennedy dem sowjetischen Führer eine frühe, aber indirekte Bitte um Geduld übermittelt. An diesem Tag traf sich sein Bruder Robert mit einem KGB-Offizier, der offiziell Korrespondent der sowjetischen Regierungszeitung Iswestija war, in einem Büro des präsidentiellen Amtsvorbereitungsteams in New York.31 Der fünfunddreißigjährige Robert war der Wahlkampfleiter seines Bruders gewesen und sollte bald Justizminister werden. Der KGB-Offizier hatte also keinen Grund, daran zu zweifeln, dass Robert im Namen seines Bruders sprach.
Über diese Begegnung verfasste der sowjetische Reporter nie einen Artikel für seine Zeitung. Er schickte jedoch einen Bericht an seine KGB-Vorgesetzten, der wahrscheinlich auch Chruschtschow vorgelegt wurde, da er anzeigte, welche Richtung die Außenpolitik der Kennedy-Regierung voraussichtlich einschlagen würde. Tatsächlich waren darin mehrere Botschaften enthalten. Robert Kennedy teilte mit, der künftige Präsident werde der Beziehung zu Moskau große Beachtung schenken und er sei der Ansicht, man könne noch im Jahr 1961 ein Atomteststopp-Abkommen schließen. Außerdem teile Kennedy Chruschtschows Wunsch nach einem persönlichen Treffen und er wolle den Schaden reparieren, den die gegenseitigen Beziehungen unter Eisenhower genommen hätten.
Enttäuschender dürfte für Chruschtschow Kennedys Absicht gewesen sein, das Berlin-Problem weit langsamer anzugehen, als der Sowjetführer es wünschte. Robert Kennedy meinte, der Präsident brauche vor einem Gipfel eine Vorbereitungszeit von zwei oder drei Monaten. »Kennedy ist über die Lage in Berlin ernsthaft besorgt und will sich bemühen, Mittel und Wege zu finden, um eine vertragliche Lösung des Berlin-Problems zu erreichen«, heißt es in dem KGB-Bericht über das Treffen. »Sollte die Sowjetunion jedoch in den nächsten paar Monaten in dieser Frage Druck ausüben, wird Kennedy ganz bestimmt die westlichen Positionen verteidigen.«32
Dies hielt Chruschtschow allerdings nicht davon ab, sich weiterhin um ein baldiges Treffen zu bemühen. Einige Tage später lud Sowjetbotschafter Michail Menschikow am 12. Dezember Robert Kennedy zu einem Mittagessen in Moskaus Washingtoner Botschaft ein.33 Der Botschafter, der bei den Amerikanern, die ihn kannten, nur »der lächelnde Mike«34 hieß, war eine eher komische Figur mit bescheidener Intelligenz, jedoch umso größerem Dünkel. Sein gebrochenes Englisch hatte vor einiger Zeit zu einer peinlichen Geschichte geführt, die seitdem gern weitererzählt wurde. Als er bei einer Cocktailparty in Georgetown den anwesenden Damen zuprosten wollte, forderte er sie auf: »Up your bottoms!« (Hoch mit den Hintern).35 Eigentlich hatte er »Bottoms up!« (Hoch die Gläser! Prost!) sagen wollen. Trotzdem nahmen selbst seine Verächter Einladungen bei ihm ernst, weil sie wussten, dass ihre Aussagen direkt an Chruschtschow weitergeleitet wurden.
Menschikow erklärte Bobby Kennedy, dass die Missverständnisse zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion oft daher rührten, dass beide Länder wichtige Angelegenheiten von Regierungsbeamten der mittleren Ebene bearbeiten ließen. Kennedy und Chruschtschow seien jedoch ganz einzigartige Persönlichkeiten, die gemeinsam ihre Bürokratien umgehen und historische Ergebnisse erzielen könnten. Er beschwor Bobby, seinem Bruder die Idee eines baldigen Treffens zwischen den beiden Staatschefs nahezubringen, auf dem sie zu einer »klaren und freundschaftlichen Verständigung« gelangen könnten.36
Zwei Tage nach der Unterredung mit dem Bruder des künftigen Präsidenten übermittelte Menschikow dieselbe Botschaft an Chruschtschows Lieblingsamerikaner Averell Harriman, der unter Präsident Franklin D. Roosevelt US-Botschafter in Moskau gewesen war.37 Am Tag darauf führte Menschikow im Rahmen seiner Kampagne für ein baldiges Treffen zwischen Kennedy und Chruschtschow ein vertrauliches Gespräch mit dem einflussreichen New-York-Times- Korrespondenten Harrison Salisbury. Dabei gab er ihm zu bedenken: »Ein einziger Tag ernsthafter und persönlicher informeller Gespräche zwischen Chruschtschow und Kennedy kann mehr bringen als sämtliche Treffen irgendwelcher unteren Chargen zusammengenommen.«38
Auch ein Amerikaner versuchte, Kennedy in diesem Sinn zu beeinflussen. Es handelte sich dabei um den zweimaligen Präsidentschaftskandidaten Adlai Stevenson, der anfänglich auch als Alternative zu Kennedy im Gespräch gewesen war. Jetzt tat er alles, um sich für eine wichtige Regierungsstelle in Position zu bringen. Stevenson rief John F. Kennedy im Haus seines Vaters in Palm Beach an, um sich als Mittelsmann anzubieten, der sofort nach der Amtseinführung nach Moskau fliegen und mit Chruschtschow die Dinge auf den rechten Weg bringen würde. »Ich halte es für wichtig, herauszufinden, ob er den Kalten Krieg ausweiten möchte«, teilte Stevenson Kennedy mit.39
Kennedy biss jedoch nicht an. Stevenson hatte in der Zeit vor dem demokratischen Parteitag Kennedys Kandidatur nicht unterstützt. Dies kostete ihn wahrscheinlich dann auch das Amt des Außenministers, das Kennedy ihm damals als Anreiz angeboten hatte. Darüber hinaus hielten die Antikommunisten auf dem Kapitol den ehemaligen Gouverneur von Illinois für einen »Appeaser«. Außerdem wollte Kennedy seine Außenpolitik nicht im Schatten eines anderen führen. Auch Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte bereits vor der Wahl durch Pressekanäle durchsickern lassen, seine größte Besorgnis bezüglich einer Kennedy-Regierung sei die Aussicht, dass jemand wie Stevenson künftig die amerikanische Außenpolitik führen könnte, der Moskau mit Samthandschuhen anfasse.40 Also machte Kennedy Stevenson stattdessen zum Botschafter bei den Vereinten Nationen und griff auch dessen Vorschlag einer Vermittlung bei Chruschtschow nicht auf.
Als Kennedy Chruschtschows Lobbyoffensive allmählich müde wurde, bat er seinen Freund David Bruce, den er als Botschafter in London vorgesehen hatte, ihm zu helfen, eine geeignete Antwort auf Chruschtschows ausgestreckte Hand zu finden. Bruce war ein erfahrener Diplomat, der während des Kriegs die amerikanische Spionageorganisation in London geleitet hatte und unter Harry S. Truman Botschafter in Paris gewesen war.
Am 5. Januar suchte er Menschikow in dessen Botschaftsresidenz auf.41 Nach einem üppigen Essen, bei dem auch das Trinken nicht zu kurz kam, überreichte der sowjetische Botschafter Bruce einen Brief ohne Kopf oder Unterschrift, der laut Menschikow seine ganz persönlichen Gedanken enthielt. Dieses Schreiben hatte eine eindeutige Botschaft: Chruschtschow wollte dringend einen Gipfel und würde einiges dafür tun, um einen solchen zu ermöglichen.
Menschikow teilte Bruce mit, Chruschtschow glaube, dass die beiden Länder unter einer Regierung Kennedy »bestehende und gefährliche Differenzen bereinigen« könnten. Allerdings war der Sowjetführer der Ansicht, dass man die Spannungen nur abbauen könne, wenn die beiden Großmächte auf höchster Ebene einem Programm der friedlichen Koexistenz zugestimmt hätten. Dabei drehe sich alles um zwei »überragende Probleme«, die Vereinbarung von Abrüstungsmaßnahmen und die Lösung der »deutschen Frage, einschließlich Westberlins«. Chruschtschow wollte Kennedy treffen, bevor dieser sich zum ersten Mal mit Bundeskanzler Konrad Adenauer und dem britischen Premierminister Harold Macmillan zusammensetze, Treffen, die bereits für Februar und März anberaumt seien, wie Menschikow gehört hatte.
Bruce erklärte dem sowjetischen Botschafter, dass die Treffen mit diesen wichtigen Verbündeten der Vereinigten Staaten tatsächlich später stattfinden würden. Dies änderte allerdings nichts an Chruschtschows Kernbotschaft: Er hoffte, Kennedy werde in diesem Fall von dem üblichen Protokoll abweichen, sich zuerst mit seinen Verbündeten zu beraten, bevor er mit seinem Gegner zusammentraf. Laut Menschikow war Chruschtschow bereit, die Vorbereitungen für ein solches Treffen durch offizielle, aber auch durch private Kanäle zu beschleunigen. Als weiteren Anreiz schickte Menschikow kurz nach dieser Begegnung Bruce einen Geschenkkorb, der mit dem besten Wodka und Kaviar seines Landes gefüllt war. Einige Tage später lud er Bruce erneut zum Essen ein, um seiner Botschaft noch mehr Gewicht zu verleihen.
Nur neun Tage vor seiner Amtseinführung hatte Kennedy sich auch bei George Kennan, den er zu seinem Botschafter in Jugoslawien machen würde, erkundigt, wie er mit dieser sowjetischen Kommunikationsoffensive umgehen solle.42 Seit Januar 1959 hatte sich Kennedy immer wieder mit dem legendären ehemaligen US-Botschafter in Moskau über sowjetische Angelegenheiten ausgetauscht. In einem Brief hatte Kennedy Kennan dafür gelobt, dass er sich gegen die »extreme Unbeweglichkeit« gegenüber Moskau ausspreche, wie sie von Dean Acheson, Präsident Trumans Außenminister, vertreten werde.
Dabei hatte Kennan als Diplomat mit seinem »langen Telegramm« aus Moskau die US-Politik des »Containment«, der Eindämmung, des Sowjetkommunismus geprägt, dem im Juli 1947 sein berühmter, anonym erschienener Foreign-Affairs-Aufsatz »The Sources of Soviet Conduct« (Die Ursprünge des sowjetischen Verhaltens) folgte. Trotzdem trat Kennan jetzt den Hardliner-Doktrinen gegenüber Moskau entgegen, die in vielem ja auf ihn zurückgingen. Er hielt die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten inzwischen für stark genug, um mit Chruschtschow Gespräche aufzunehmen, und er klagte über die US-Militaristen, die seine Gedanken falsch interpretiert hätten.43
Während des Wahlkampfs hatte Kennan Kennedy geraten, er solle als Präsident »die spalterischen Tendenzen innerhalb des Sowjetblocks verstärken, indem Sie die Beziehungen zu Moskau verbessern«. Letzteres sollte allerdings nicht durch formelle Gipfel und Vereinbarungen, sondern durch den Gebrauch privater Kommunikationskanäle zur sowjetischen Regierung erfolgen, die auf wechselseitige Zugeständnisse abziele.44 »Diese Dinge sind schwierig«, hatte Kennan gemeint, »aber sie sind nicht, ich wiederhole, nicht unmöglich.« Solche Kontakte hätten immerhin geholfen, die Berlin-Blockade von 1948/49 und den Korea-Krieg zu beenden. In einem Brief vom August 1960 riet Kennan Kennedy, dass im Fall seiner Wahl seine Regierung »bereits zu Beginn ihrer Amtszeit schnelle und mutige Schritte unternehmen sollte, bevor sie in den prozeduralen Wirrwarr Washingtons verstrickt und bevor sie selbst durch den Gang der Ereignisse in die Defensive gedrängt wird«.
Kennedy schrieb damals zurück, dass er mit den meisten Empfehlungen Kennans übereinstimme. Jetzt stand er jedoch tatsächlich kurz vor seinem Amtsantritt und benötigte konkretere, sofort anwendbare Ratschläge. Auf einem gemeinsamen Flug von New York nach Washington mit seinem Privatjet, der Caroline, erzählte Kennedy Kennan am 10. Januar von dieser Flut sowjetischer Botschaften und zeigte ihm dann Menschikows Brief.
Kennan runzelte die Stirn, als er ihn las. Aus der steifen und harten Sprache schloss er, dass er zwar »in Chruschtschows Amtszimmer abgefasst worden, aber dann mit einem größeren Kreis abgestimmt«45 worden sei, zu dem Gegner sowie Befürworter engerer Beziehungen zu den Vereinigten Staaten gehört hätten.
Im Gegensatz zu seinem früheren Rat, möglichst bald einen Dialog mit Moskau zu beginnen, empfahl Kennan dem designierten Präsidenten jetzt, vor seinem Amtsantritt nicht darauf zu antworten. Die Sowjets hätten »überhaupt kein Recht«, ihn in dieser Weise zu drängen. Andererseits schlug er ihm doch auch vor, unter Ausschluss der Öffentlichkeit und diskret mit Chruschtschow Verbindung aufzunehmen und auf keinen Fall Eisenhowers Praxis zu folgen, fast jeden Meinungsaustausch mit Chruschtschow sofort zu veröffentlichen und der Presse zugänglich zu machen.
Als Kennedy ihn fragte, warum Chruschtschow so darauf versessen sei, sich mit ihm zu treffen, antwortete Kennan mit seiner charakteristischen Einsicht in die Verhältnisse im Kreml, dass der U-2-Vorfall und der ständig stärker werdende Konflikt zwischen China und der Sowjetunion den sowjetischen Führer geschwächt hätten. Deshalb brauche er jetzt einen Durchbruch in den Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, um diesen Trend umzukehren. Chruschtschow, so erklärte Kennan, »hofft, durch die Einbringung seiner eigenen Persönlichkeit und den Einsatz seiner Überredungskünste ein solches Abkommen mit den Vereinigten Staaten zu erreichen und auf diese Weise sein sich ungünstig entwickelndes politisches Geschick ins Positive zu wenden«.46
Kennedy hielt das für die überzeugendste Erklärung von Chruschtschows Verhalten, die er jemals gehört hatte. Sie stimmte mit seiner eigenen Überzeugung überein, dass innenpolitische Fragen und Entwicklungen die Außenpolitik viel mehr beeinflussten, als sich die meisten Amerikaner vorstellen konnten. Das galt selbst für die autoritäre Sowjetunion. Es erschien Kennedy plausibel, dass Chruschtschow seine gefährdete heimische Stellung unbedingt verbessern wollte, aber das war für den neuen Präsidenten noch lange kein Grund zu handeln, bevor er selbst dazu bereit war. Er kam deshalb erneut zu dem Schluss, dass Chruschtschow und das Berlin-Problem noch warten konnten.
Auf diese Weise war Kennedys Antrittsrede seine erste Botschaft an den Sowjetführer über Berlin, wenn auch indirekt und von Millionen anderen Menschen geteilt. Der überzeugendste Satz war dabei auch der anderntags meistzitierte in den Berliner Zeitungen: »Wir werden jeden Preis bezahlen, jede Bürde auf uns nehmen, jede Härte ertragen, jedem Freund helfen und jedem Feind entgegentreten, um den Fortbestand und den Sieg der Freiheit zu sichern.«
Allerdings verbarg Kennedys hochfliegende Rhetorik den Mangel an konkreten Politikansätzen in Bezug auf die Sowjetunion. Kennedy hielt sich alle Optionen offen. Seine zahlreichen Umformulierungen hatten schließlich nur Nuancen verändert, seine Unentschiedenheit in eine einprägsamere Form gebracht und einzelne Formulierungen seines Redenschreibers Ted Sorensen ausgetauscht, die Kennedy für zu weich gegenüber den Sowjets hielt.
So hieß es zum Beispiel in einem ersten Entwurf: »Auch können zwei so große und mächtige Nationen nicht für immer diesen unverantwortlichen Kurs weitersteuern. Beide tragen schwer an der Last der unerträglich hohen Kosten moderner Waffen.«47
Kennedy wollte den US-Kurs jedoch weder »unverantwortlich« noch finanziell untragbar nennen. Diese beiden Begriffe fielen also aus der Endfassung heraus, die jetzt lautete: »Dennoch können zwei so große und mächtige Gruppen von Nationen über ihren gegenwärtigen Kurs nicht wirklich befriedigt sein: Beide tragen schwer an der Last der Kosten moderner Waffen.«
In einer ursprünglichen Fassung hieß es: »Und wenn die Früchte der Zusammenarbeit sich als süßer erweisen als der Abschaum des Argwohns, dann sollten beide Seiten schließlich gemeinsam eine wirkliche Weltordnung schaffen – weder eine Pax Americana noch eine Pax Russiana noch überhaupt irgendeine Machtkonstruktion, sondern eine Gemeinschaft der Macht.«48
Aus der Endfassung wurde dann der Begriff »Gemeinschaft der Macht« mit den Kommunisten gestrichen, den die Falken im Kongress naiv genannt hätten. Der Text lautete jetzt: »Und wenn in den Dschungeln des Argwohns ein Brückenkopf der Zusammenarbeit geschlagen werden kann, so sollten sich beide Seiten gemeinsam an die nächste Aufgabe machen: nicht ein neues Gleichgewicht der Macht zu schaffen, sondern eine neue Welt des Rechts …«
In der ganzen Rede erwähnte er kein Land und keine Stadt mit Namen, weder die Sowjetunion noch Berlin noch irgendeinen anderen Ort. Die Zeitung Die Welt lobte den »neuen Wind« aus Amerika, der zwar hart, aber doch auch erfrischend sei. »Was uns Deutschen jedoch auffällt: Kein Wort zu Berlin!«
Statt Chruschtschow beim Namen zu nennen, sprach Kennedy nur von denen, »die etwa als unsere Gegner auftreten wollen«.49 Dabei hatte er den Vorschlag des befreundeten Kolumnisten Walter Lippmann aufgegriffen und das ursprüngliche »Feinde« durch »Gegner« ersetzt. Kennedy beschrieb auch die Gebiete möglicher Zusammenarbeit: »Gemeinsam lasst uns die Sterne erforschen, die Krankheiten ausrotten, in die Tiefen der Ozeane vordringen, Kunst und Handel fördern.«
Senator Barry Goldwater beklatschte begeistert die Aussage, man werde jeden Preis für die Freiheit bezahlen. Nachdem er immer noch keine Fortschritte in seinen Bemühungen erzielt hatte, seinem Chef ein baldiges Treffen mit Kennedy zu verschaffen, saß der sowjetische Botschafter Menschikow dagegen während der ganzen Rede regungslos da. Er hatte seinen grauen Hut tief ins Gesicht gezogen, trug einen weißen Schal um den Nacken, während seine Gestalt in seinem weiten grauen Mantel fast verschwand.
Genauso wichtig wie seine Worte war an diesem Tag Kennedys strahlendes Aussehen, das im Wettbewerb um die weltweite Gunst kein unwesentlicher Faktor war. Die ganze Welt war begeistert von diesem charismatischen Lächeln, das ein Gesicht erhellte, das als Folge einiger Ferientage in Florida braun gebrannt war. Niemand ahnte dabei seine hinter dieser Fassade verborgene schlechte gesundheitliche Verfassung.50 Er hatte an diesem Tag einen ganzen Pillencocktail gegen seine Magenbeschwerden und seinen schmerzenden Rücken geschluckt. Außerdem schwemmte das Kortison, das er wegen seiner Addison’schen Krankheit nehmen musste, ihn auf. Als er nur vier Tage vor der Ablegung des Amtseids in den Spiegel schaute, sagte er tief erschrocken zu seiner Sekretärin Evelyn Lincoln: »Mein Gott, schaut euch dieses dicke Gesicht an! Wenn ich in dieser Woche nicht fünf Pfund abnehme, werden wir die Amtseinführungsfeier wohl absagen müssen.«51
Evelyn Lincoln sorgte dafür, dass der junge Präsident auch immer rechtzeitig seine vielen Medikamente einnahm. Tatsächlich war Kennedy in vielerlei Hinsicht weit weniger gesund als Chruschtschow, der immerhin dreiundzwanzig Jahre älter war. Kennedy konnte nur hoffen, dass die Agenten des KGB, die ständig versuchten, seinen tatsächlichen Gesundheitszustand herauszufinden, niemals auf die Wahrheit stoßen würden. Um die Gerüchte über seine Krankheiten im Keim zu ersticken, hatte Kennedys Wahlkampfmannschaft zwei Ärzte vor der Presse auftreten lassen. Nur zwei Tage vor der Amtseinführung hatte die Zeitschrift der amerikanischen Ärztevereinigung Today’s Health auf der Grundlage von Unterlagen, die ihr das Kennedy-Team hatte zukommen lassen, eine Darstellung der Krankengeschichte des neuen Präsidenten veröffentlicht, wie es sie in dieser Ausführlichkeit noch bei keinem früheren Amtsinhaber gegeben hatte. Darin wurden Aussagen seiner Ärzte über »seine ausgezeichnete physische Verfassung« zitiert, die ihn »ohne weiteres fähig macht, die Bürden der Präsidentschaft zu schultern«.52 Die Tatsache, dass er seine vielen Krankheiten überwunden habe, so hieß es in dem Artikel, beweise »seine absolute Belastbarkeit und Stärke«. Er trinke und rauche nur wenig, beim Abendessen gönne er sich gelegentlich ein kaltes Bier, und als Cocktail trinke er ab und an einen Daiquiri. Er rauche keine Zigaretten, nur von Zeit und Zeit eine Zigarre. Dann hieß es weiter, dass er sein Gewicht eisern bei knapp fünfundsiebzig Kilogramm halte und er keinen besonderen Diätvorschriften folge, was allerdings die Tatsache verhehlte, dass er wegen seiner Magenprobleme ungewürzte, eher fade Speisen bevorzugte.
Bei genauerem Lesen fanden sich allerdings genug Gründe zur Besorgnis. Der Artikel zählte zahlreiche Beispiele von Gesundheitsproblemen auf, denen Kennedy als Erwachsener ausgesetzt gewesen war. Dazu gehörten unter anderem »Gelbsuchtattacken, Malaria, Ischias und zwei Rückenverletzungen«.53 Seine Addison’sche Krankheit wurde dagegen nicht beim Namen genannt. Es wurde nur berichtet, dass Kennedy »täglich Medikamente gegen die Folgen seiner Nebenniereninsuffizienz schluckt und sich zweimal im Jahr einer endokrinologischen Untersuchung unterzieht«. Außerdem trage er sechs Millimeter hohe Einlagen in seinen Schuhen und »oft sogar Strandsandalen«, um die Rückenschmerzen zu lindern, die durch sein etwas kürzeres linkes Bein verursacht würden.
Vielleicht nie zuvor in der amerikanischen Geschichte standen ein jugendliches Image und eine von Krankheiten geprägte Wirklichkeit in einem solchen Kontrast. Während andere Teilnehmer an der Amtseinführung Zylinder und schwere Mäntel gegen die eisige Kälte trugen, legte Kennedy seinen Amtseid barhäuptig und ohne Mantel ab. Die anschließende Parade verfolgte er mehr als drei Stunden lang zusammen mit seinem neuen Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson von einer offenen Zuschauerkabine aus, in der nur ein kleines elektrisches Raumheizgerät etwas Wärme spendete.
Am nächsten Morgen zeichneten die Zeitungen weltweit genau das Bild von ihm, das Kennedy gewollt hatte. Die Kolumnistin Mary McGrory vom Washington Evening Star verglich ihn mit einem Hemingway-Helden. »Er hat eine schwere Krankheit überwunden. Er ist so elegant wie ein Windspiel und kann so bezaubernd sein wie ein sonniger Tag.«54
Kennedy hatte es also geschafft, seiner Amtseinführung das gewünschte Medienecho zu verschaffen. Er würde jedoch bald herausfinden, dass er die Aktionen des sowjetischen Ministerpräsidenten Nikita Chruschtschow weit weniger beeinflussen konnte. Als Kennedy am Morgen danach gegen 8 Uhr im Lincoln-Schlafzimmer des Weißen Hauses aufwachte, um seinen ersten Tag im Amt zu beginnen, fand er unter den zahllosen Glückwunschtelegrammen aus aller Welt auch das Angebot für ein Amtseinführungsgeschenk aus Moskau vor. Es würde das Wechselspiel der Beziehungen zwischen den beiden Ländern eröffnen, das Kennedys Präsidentschaft prägen sollte. Chruschtschow erklärte sich bereit, unter den richtigen Umständen die beiden Piloten des RB-47-Aufklärungsflugzeugs freizulassen, die seit ihrer Gefangennahme im letzten Sommer in einem sowjetischen Gefängnis saßen.
Die folgende Zeit würde Kennedy mit der Welt der geheimen Machenschaften und Ränke sowohl der Vereinigten Staaten als auch der Sowjetunion bekannt machen, wie sie vor allem in Berlin gang und gäbe waren, einem Ort, wo, wie er schnell erfahren würde, selbst scheinbare Siege oft Gefahren bergen konnten.
Der »Heckenschütze«, der aus der Kälte kam
4. JANUAR 1961
David Murphy, der Leiter der Berliner Operationsbasis der CIA, war hungrig nach Erfolgsgeschichten. Deshalb schlug sein Herz auch schneller, als er hörte, dass sein wichtigster Aktivposten, ein polnischer Agent mit dem Decknamen »Heckenschütze«, über die Weihnachtsfeiertage die Geheimnummer angerufen hatte,die man ihm für eventuelle Notfälle mitgeteilt hatte.55 Da er sich sicher war, dass seine Deckung aufgeflogen sei, wollte er überlaufen. »Sind Sie bereit, mir und meiner Frau Schutz zu gewähren?«
Murphy hatte seine Leute in der speziellen Telefonzentrale des Berliner CIA-Stützpunkts bereits zuvor gewarnt, sie dürften auf keinen Fall einen Anruf von »Heckenschütze« auf dieser nur für ihn gedachten Notrufnummer verpassen. Wenn dies geschähe, »werde ich Sie mit dem nächsten Schiff nach Hause schicken«.56 Der Anrufer hatte nur gesagt, er handle im Auftrag eines gewissen Herrn Kowalski, ein Code, der eine ganze Reihe vorbereiteter Reaktionen in Gang setzte. »Heckenschütze« hatte seinen Absprung gut geplant. Zuerst hatte er etwa dreihundert fotografierte Dokumente, die unter anderem die Namen mehrerer Hundert polnischer Agenten sowie wichtige Organisationstafeln enthielten, in Warschau in einem toten Briefkasten deponiert, der in einem hohlen Baum in der Nähe seiner Wohnung eingerichtet war. Die CIA hatte diesen Schatz inzwischen bereits geborgen.
An diesem frühen Nachmittag des 4. Januar wartete nun ein gerade erst aus Washington eingeflogener höherer CIA-Beamter zusammen mit etlichen anderen Agenten im amerikanischen Konsulat in Berlin, das man »Heckenschütze« als ersten Anlaufpunkt angegeben hatte. Das Konsulatsgebäude stand allen Zivilisten offen und lag geschickterweise direkt neben dem von Militärpolizisten bewachten Militärareal des amerikanischen Geländes an der Westberliner Clayallee. Murphy hatte bereits ein beeindruckendes Büro einrichten lassen, in dem Mikrofone und Tonbänder installiert worden waren. Dort sollten die ersten Befragungen von »Heckenschütze« stattfinden.
Murphy erinnerte sich später, dass er und sein Stellvertreter John Dimmer eine noch größere Anspannung verspürten, als sonst selbst bei solch wichtigen Fällen üblich war. Dies rührte zum Teil daher, dass in den beiden letzten Jahren, in denen sie immer wieder teilweise sehr wertvolle, oft allerdings auch kaum entzifferbare Briefe von »Heckenschütze« bekommen hatten, niemand diesen mysteriösen Agenten je getroffen hatte oder überhaupt wusste, wer er wirklich war.
Darüber hinaus kämpfte Murphys Berliner Operationsbasis, die in den Geheimdepeschen stets BOB abgekürzt wurde, in dem wichtigsten und größten Spionagekrieg der Welt, der sich hier in Berlin abspielte, in letzter Zeit zunehmend auf verlorenem Posten. Dabei beherbergte diese Stadt mehr in- und ausländische Geheimdienstagenten als jeder andere Ort auf dem Planeten.
Gerade jetzt brauchte die CIA dringend einen Erfolg, nachdem sie soeben mit Oberst Pjotr Popow ihren einzigen Maulwurf innerhalb des sowjetischen Militärgeheimdienstes durch Nachlässigkeit oder Infiltration verloren hatte.57 In jeder Beziehung zogen die Vereinigten Staaten gegenüber den sowjetischen und ostdeutschen Nachrichtendiensten den Kürzeren. Nach Murphys Ansicht bestand das Problem darin, dass die CIA im Spionagegeschäft noch ein relativer Anfänger war und deshalb die wilde Entschlossenheit der Jugend mit der gefährlichen Naivität des Uneingeweihten verband. In dieser Hinsicht spiegelte die BOB für Murphy auch die optimistische, wenn auch oft ziemlich unprofessionelle Art wider, wie die Vereinigten Staaten ihre neu gewonnene globale Rolle spielten. Berlin war dabei der Ort, an dem Murphys Spione und Amerika im Allgemeinen in den anderthalb Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen großen Reifungsprozess durchmachen mussten.
Besondere Probleme bereitete es Murphy, lokale Talente zu rekrutieren. In dieser Hinsicht hatten sowohl der Moskauer KGB als auch das DDR-Ministerium für Staatssicherheit einen uneinholbaren Vorsprung gewonnen. Es war nun einmal eine traurige Wahrheit, dass es den Kommunisten weit leichter fiel, die offene Gesellschaft des Westens zu infiltrieren, dort wichtige Persönlichkeiten zu manipulieren und Agenten zu platzieren. Dagegen konnte die CIA nur mit großen Schwierigkeiten in Ulbrichts streng kontrollierter und überwachter DDR tätig werden.
Die CIA hatte sich schnell aus dem im Krieg gegründeten Office of Strategic Services zu Amerikas erstem zivilen Geheimdienst in Friedenszeiten entwickelt. Dabei hatte man die Führung von Geheimoperationen mit der nachrichtendienstlichen Analysearbeit zusammengefasst. Im Vergleich dazu war der KGB erfahrener und hatte ein weit größeres Betätigungsfeld. Er war ein leistungsfähiger Inlands- und Auslandsgeheimdienst, der während der russischen Revolution seine erste Form erhielt, um danach im Stahlbad der Säuberungen Stalins und des Kriegs mit Nazideutschland gehärtet zu werden. Trotz der störenden sowjetischen Machtkämpfe hatte er immer mit erstaunlicher Kontinuität und großem Erfolg operiert.
Murphys drängendste Sorge war jedoch die ständig wachsende Effektivität der ostdeutschen Geheimpolizei, die nach gerade einmal anderthalb Jahrzehnten bereits ihren Vorgänger, die Gestapo, und selbst den KGB leistungsmäßig überflügelt hatte. Eine immer größer werdende Armee von inländischen Informanten, ein mit deutscher Effizienz funktionierendes Datensammelsystem und ein breites Netz von Agenten in einflussreichen westlichen Positionen erlaubten es Ulbricht und Moskau, viele CIA-Operationen bereits in der Planungsphase zu vereiteln.
An diesem 4. Januar hatte man die gesamte BOB in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Um 17:30 Uhr kam endlich der Anruf eines Zwischenträgers, der ihnen mitteilte, dass Kowalski in einer halben Stunde eintreffen werde. Danach bat der Anrufer, sich nach der Ankunft besonders um Frau Kowalski zu kümmern. Dies war das erste Anzeichen, dass »Heckenschütze« nicht allein kommen würde. Um genau 18:06 Uhr setzte ein Westberliner Taxi einen Mann und eine Frau vor dem Gebäude ab, die beide eine Reisetasche trugen. Der Leiter der Osteuropa-Abteilung der BOB konnte beobachten, wie sie sich ängstlich dem Konsulatseingang näherten. Er ging hinunter, begrüßte sie und führte sie schnell hinein.
Wie so oft im Spionagegeschäft waren die Dinge auch hier nicht so, wie sie ursprünglich aussahen. »Heckenschütze« erklärte, dass diese Frau nicht seine Ehegattin, sondern seine Geliebte sei. Aber auch für sie bitte er um Asyl. Er bat dann, sie aus dem Vernehmungszimmer zu bringen, da sie ihn nur als den polnischen Journalisten Roman Kowalski kenne. Tatsächlich sei er Oberstleutnant Michal Goleniewski. Bis Januar 1958 sei er Stellvertretender Leiter des polnischen militärischen Abschirmdienstes gewesen. Er hatte als Doppelagent agiert und dabei nicht nur Berichte an die CIA geschickt, sondern auch den KGB über alles informiert, was die Polen vor ihren sowjetischen Herren verbergen wollten.
Am nächsten Tag brachte ihn die CIA an Bord eines Militärflugzeugs nach Wiesbaden und von dort weiter in die Vereinigten Staaten. Dort nannte Goleniewski die Namen Hunderter polnischer und sowjetischer Geheimdienstoffiziere und -agenten. Er half, einen Spionagering in der britischen Admiralität aufzudecken, George Blake als KGB-Spion im britischen Geheimdienst zu enttarnen und Heinz Felfe auffliegen zu lassen, einen KGB-Agenten, der im Bundesnachrichtendienst das Amt »Gegenspionage Sowjetunion« leitete. Von vielleicht noch größerer Bedeutung war sein Hinweis auf einen unentdeckten Maulwurf irgendwo in den Tiefen des amerikanischen Geheimdienstes.
Ein einziges Problem gab es da allerdings: Schon vor dem Ende seiner Befragung begannen erste Anzeichen einer Geisteskrankheit Goleniewskis Glaubwürdigkeit zu beschädigen. Er trank Unmengen Alkohol und spielte ständig in voller Lautstärke Victrola-Platten mit alten europäischen Liedern ab. Später würde er darauf bestehen, er sei der Sohn von Zar Nikolaus II., Alexej, und damit als letzter überlebender Spross der Romanow-Familie der rechtmäßige Erbe des Zarenthrons. Außerdem behauptete er, dass Henry Kissinger ein Spion des KGB sei. Selbst die Mitglieder der CIA-Führung waren sich nie ganz einig, ob es sich bei ihm um einen echten Überläufer oder einen sowjetischen Provokateur handelte.
Auch Kennedy würde es also mit einer Welt voller Intrigen und Täuschungen zu tun bekommen, auf die er jedoch nur unzureichend vorbereitet war.