Handel und Industrie, die als erste Arbeit und Arbeiter im 19. Jahrhundert auf das »Island« gebracht hatten, waren nun endgültig auf dem Rückzug. In den siebziger Jahren schlossen nacheinander sämtliche noch verbliebene Fabriken ihre Tore und verlagerten ihren Standort; Gerüchte, daß auch die Docks schließen würden, wurden bald zur traurigen Wirklichkeit. Die letzten Schiffe fuhren ein und aus.
Eve Hostettler, aus: Erinnerungen an eine Kindheit
Teresa Robbins kleidete sich mit besonderer Sorgfalt. Sie zog ihr bestes, blaues Kostüm mit einer weißen Batistbluse und sogar Strümpfe an. Letztere allerdings mußte sie in der tropisch feuchten Hitze des Morgens mit Hilfe von Körperpuder überstreifen. Wenigstens war der Himmel bedeckt, soweit das Auge reichte, und man durfte hoffen, daß das Wetter gegen Ende des Tages umschlagen und Kühlung bringen würde.
Sie gab sich redlich Mühe mit dem Make-up und verschaffte der Frisur in letzter Minute mit etwas Haarspray Halt. Trotzdem fühlte sie sich wie ein Tier, das zur Schlachtbank geführt werden sollte, und erinnerte sich energisch daran, welche Qualen sie in der vergangenen Woche bereits überstanden hatte. Schlimmer konnte es kaum werden.
Zuerst hatte sie geglaubt, Annabelles Tod übersteige alles, was sie ertragen könne ... bis zu dem Augenblick, da Annabelle als Lügnerin und Betrügerin entlarvt wurde. Und dann hatte sie sich auch noch in die Idee verrannt, Reg und sie könnten sich gegenseitig Trost spenden ... bis ihr klargeworden war, daß Reg sie für seine feige Rache an Annabelle mißbraucht hatte.
Schon am Vortag war Teresa innerlich auf einen Zusammenstoß mit Reg vorbereitet gewesen, aber er war erst gar nicht in der Firma erschienen, und sie war nach einem harten Tag, den sie mit der Erstellung des schwierigen Finanzberichts für die heutige Sitzung zugebracht hatte, nach Hause gefahren.
Während sie von der Island Gardens Station aus die Saunders Ness entlangging, dachte sie darüber nach, ob sie sich wohl je überwinden konnte, für Reg zu arbeiten ... vorausgesetzt, man bestimmte ihn zum Geschäftsführer, und ob sie bei Hammond’s kündigen sollte, wenn man einen Außenseiter in die Firma holte.
Dann betrat sie den alten Lagerspeicher, atmete die vertraute Geruchsmischung aus Motoröl, Staub und das alles beherrschende Aroma von Tee ein, und die Vorstellung, das alles aufzugeben, kam ihr abwegig vor.
William erschien als erster. Er wirkte streng und ernst, aber gebrechlich, dann kam Sir Peter, wie immer adrett und fröhlich, schließlich tauchte Jo auf, und als letzter trat Martin Lowell ein, dem Teresa bislang noch nie begegnet war. Sie musterte ihn neugierig, vermochte allerdings die Miene des gutaussehenden Mannes mit dem südländischen Flair nicht zu deuten.
Reg ließ sich erst blicken, nachdem alle in Teresas und Annabelles Büro versammelt waren, und trotz allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, konnte sich Teresa ihrer besorgten Gefühle für ihn nicht erwehren. Er sah erschöpft, wenn nicht sogar krank aus. Kaum hatte er sich auf einen der im Halbkreis um die Schreibtische herum angeordneten Stühle gesetzt, schloß er die Augen.
William eröffnete die Sitzung, und als Teresa ihren Bericht vortrug, spürte sie Martin Lowells prüfende Blicke auf sich ruhen.
Nachdem sie geendet hatte, herrschte einen Augenblick Stille. Nach einem Blick auf William, der nickte, sah Sir Peter in die Runde und begann: »Offensichtlich gibt es viele Punkte, die angesprochen werden müssen. Heute allerdings gilt unsere Hauptsorge der Entscheidung über einen neuen Geschäftsführer. So sehr uns dieser Verlust auch getroffen hat, müssen wir doch an die Zukunft der Firma Hammond’s denken ...«
»Vorausgesetzt, es gibt sie überhaupt ... diese Zukunft«, fiel Martin Lowell ihm ungeduldig ins Wort. Er vergewisserte sich mit einem Blick, daß ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit der anderen sicher war, und fuhr fort: »Es liegt auf der Hand, daß die Firma vor einer finanziellen Krise steht. Und da meine Kinder mittlerweile einen beachtlichen Anteil an dem Unternehmen besitzen - dank Annabelles Großzügigkeit -, bin ich entschlossen, dem entgegenzuwirken.« Er lächelte. Alle sahen ihn wie hypnotisiert an. Sogar Peter Mortimer, der sich sonst nie aus der Ruhe bringen ließ, schien wie erstarrt.
Jo erholte sich als erste. »Ich bitte dich, Martin. Du kannst dich hier nicht einfach aufplustern, als gehöre dir die verdammte ...«
»Für dich steht genausoviel auf dem Spiel wie für alle anderen, Jo. Deine finanzielle Sicherheit sowie die der Kinder hängt von der Firma ab. Du kannst kaum wünschen, daß das alles durch Mißmanagement in die Binsen ...«
»Augenblick mal, Martin«, unterbrach Sir Peter ihn. »Niemand kann behaupten ...«
»Ich behaupte, daß man nicht einmal daran denken darf, jemanden als Geschäftsführer dieser Firma einzusetzen, der sich als völlig inkompetent erwiesen hat.« Martins Blick schweifte zu Reg, der noch bleicher wurde.
»Immer mit der Ruhe.« Reg deutete mit einem zitternden Finger auf Martin. »Sie haben kein Recht ...«
»Und was noch schwerwiegender ist ... Es kann doch wohl nicht sein, daß man jemandem Annabelles Job anbietet, der angeklagt ist, sie umgebracht zu haben.«
»Sie verdammter Dreckskerl! Niemand klagt mich an! Falls jemand des Mordes an Annabelle verdächtigt werden muß, dann doch wohl Sie! Alles, was an jenem Abend passiert ist, hat mit Ihnen und dem Gift angefangen, das Sie Harry eingeimpft haben. Auf Sie ist Annabelle so wütend gewesen ...« Reg stürzte sich auf ihn.
William und Sir Peter sprangen auf, doch Jo war bereits auf den Beinen und schrie: »Aufhören! Beide! Ihr benehmt euch wie Hunde, die um einen Knochen streiten. Sie ist tot, verdammt noch mal! Also reißt euch gefälligst ...«
»Das reicht!« Alle sahen Sir Peter an. Martin war sitzen geblieben, jedoch dunkelrot angelaufen. Reg war leichenblaß und zitterte vor Wut. Jo liefen die Tränen übers Gesicht. »Die Situation ist für uns alle, auch ohne diese theatralischen Einlagen, schon schwierig genug«, fuhr Sir Peter in strengem Ton fort. »Und was Sie betrifft, Martin, ich glaube, unbegründete Anschuldigungen gegen meinen Sohn helfen jetzt niemandem.«
Lowell nickte, ohne jedoch eine Entschuldigung anzubieten. Reg machte den Mund auf, als wolle er sich verteidigen, doch sein Vater schnitt ihm das Wort ab: »Reg, du und Teresa kommen für diese neue Aufgabe in Frage. Ihr könnt euren Anteilen entsprechend mit abstimmen. Eure Stimmanteile sind allerdings zu gering, um den Ausgang der Wahl zu beeinflussen.«
»Warum dann erst der ganze Zinnober?« Regs Züge waren noch immer vor Wut verkrampft.
»Wie du meinst«, sagte Sir Peter gelassen. »In diesem Fall halte ich es für das beste, daß ihr beide den Raum verlaßt, bis wir zu einer Entscheidung gelangt sind.«
Teresa stand auf und sah, wie tief sich Trauer und Schock in Williams Züge eingeprägt hatten. Die Knie wurden ihr weich, und trotzdem war sie grenzenlos erleichtert, dem Raum und all den aufgeputschten Emotionen entfliehen zu können, die die Atmosphäre zu vergiften schienen.
Sie straffte die Schultern und durchquerte das Zimmer mit gesetzten Schritten. An der Tür drehte sie sich um und wartete auf Reg.
Reg ließ seinen Blick noch einmal trotzig in die Runde schweifen, als wolle er Stärke demonstrieren, dann wandte er sich um und folgte Teresa in den Korridor hinaus.
Schweigend gingen sie die Galerie entlang in Regs Büro. Reg machte die Tür hinter ihnen zu. »Das ist doch alles nur eine Farce ... mag der Beste gewinnen ... und so ... alles Schrott. Ich bin ohne diesen Job am Ende ... und zwar endgültig. Ist dir das klar, liebste Teresa?«
»Ich will nicht ... Ich hatte nie die Absicht, dir in die Quere zu kommen!« entgegnete sie hitzig. Tränen der Wut traten ihr in die Augen. »Du ...«
»Warum wolltest du dann nicht mit mir reden? Du hast diese dämliche Fiona bei mir anrufen lassen, um mir zu sagen, daß ich gekreuzigt werden soll.«
»Das hatte nichts mit alledem zu tun. Du hast mich belogen ... darüber, was zwischen dir und Annabelle in der letzten Nacht geschehen war. Du warst wütend auf sie, weil du erfahren hattest, daß sie andere Männer hatte, und dann hast du’s an mir ausgelassen. Du hast mich mißbraucht, um es ihr heimzuzahlen, stimmt’s? Auch noch nach dem Tod.«
Reg starrte sie verständnislos an. »Wovon redest du überhaupt?«
»Du ... du hast mit mir geschlafen, weil du gewußt hast, daß Annabelle dich betrogen hatte ... ich war die erste, die dir über den Weg gelaufen ist, nachdem ...«
»Red keinen Blödsinn, Teresa. Das ist mir nie in den Sinn gekommen. Ich wollte dich. Ich wollte jemanden, der sich nicht einfach von mir abwendet ... aber dann hast du’s doch getan.« Er trat einen Schritt näher. »Du glaubst ihnen auch, stimmt’s? Du glaubst, daß ich sie umgebracht habe.«
»Nein, ich ...«
Reg packte sie. Seine Finger gruben sich schmerzhaft in ihre Arme. »Lüg mich nicht an, Teresa! Ich seh’s dir an. Du ...«
Die Tür flog auf. »Was, zum ...«, begann Jo.
Langsam ließ Reg Teresa los. »Na, wie lautet das Urteil?« fragte er. »Verbannung aus dem Paradies?«
»Reg, es tut mir leid.« Jo schüttelte den Kopf. »Wir bitten Teresa, die Geschäftsführung zu übernehmen.«
Reg lachte gequält auf. Es klang beinahe wie ein Schluchzen. »Auch du, Jo?«
»Tut mir leid«, wiederholte Jo. »Ich glaube nicht, daß du Annabelle umgebracht hast. Das ist nicht der Grund. Aber ich denke, es ist das beste für die Firma. Du hast dich im Moment nicht im Griff. Du brauchst ...«
»Ihr Hammonds könnt euch zum Teufel scheren. Also halt den Mund, Jo. Sag du mir nicht, was ich brauche.« Er wandte sich von ihr ab und Teresa zu. Tränen glänzten in seinen Augen. »Sie haben recht, weißt du? Wenn Überhaupt jemand retten kann, was Annabelle angefangen hat, dann du ... aber ich habe dich gewarnt... du weißt, was einem passiert, wenn man sich mit den Hammonds einläßt. Verräterpack!«
Janice sah von ihrem Schreibtisch auf und zu Kincaid und Gemma hinüber, die sich im Flur unterhielten. An diesem Morgen gab es Spannungen zwischen den beiden, unterschwellig, aber spürbar, wenn man die Zeichen erkannte. Wenn sich Gemma tatsächlich auf den Drahtseilakt eingelassen hatte, ihr Privatleben mit dem Beruf zu vermischen, wie Janice mittlerweile stark vermutete, war sie nicht zu beneiden ... Und das, obwohl Kincaid, auch wenn er gelegentlich ein Ekel sein konnte, für einen Mann nicht mal schlecht war.
Der Frust war allerdings im Augenblick bei allen groß. Seit dem Mord an Annabelle Hammond waren sechs Tage vergangen, und die Ermittlungen waren festgefahren. Die Spurensicherung hatte bisher keine signifikanten Ergebnisse erbracht - weder in Annabelles Wohnung noch in ihrem Wagen - und die Proben aus dem Lagerspeicher waren noch in Bearbeitung.
Kincaid hatte an diesem Morgen erneut eine Besprechung mit seinem Chief Superintendent hinter sich, undjanice wußte, daß man ihn von oben unter Druck setzte. Man wollte Ergebnisse sehen. Janice selbst tippte noch immer auf Mortimer - er war für sie der Hauptverdächtige mit dem logischsten Motiv -, aber sie hatten keine Beweise, die eine Durchsuchung seiner Wohnung gerechtfertigt hätten. Es war zu schade ...
Ihr Telefon klingelte. Sie hob den Hörer ab und griff nach einer Zigarette. Eine erregte Frauenstimme fragte nach Sergeant James. Janice legte die Hand über die Sprechmuschel und rief: »Gemma! Telefon!«
Gemma kam ins Büro, übernahm den Hörer, setzte sich auf die Schreibtischkante und hörte eine Weile stumm zu. »Richtig«, sagte sie. »Zuerst die Wohnung. Wir sind schon unterwegs.« Sie gab den Hörer zurück. »Das war Teresa Robbins. Reg Mortimer hat die Firma Hammond’s nach der Verwaltungsratssitzung heute morgen verlassen. Er schien ihr so aufgewühlt und durcheinander zu sein, daß sie um ihn Angst hat. Sie fürchtet, daß er was Unbedachtes tut.«
Reg Mortimer öffnete schon beim ersten Klingeln die Tür. Wortlos hielt er sie ihnen auf. Kincaid hatte den Eindruck, daß er geweint hatte. Als sie ihm ins Wohnzimmer folgten, wischte er sich mit dem Handrücken die Nase ab.
»Teresa hat uns angerufen«, begann Gemma. »Sie macht sich Sorgen um Sie.«
»Diese Großmut! Ich bin beeindruckt.« Er hatte ihnen den Rücken zugewandt, starrte aus dem Fenster auf den Fluß, grau unter den tiefhängenden Wolken.
In den wenigen Tagen seit ihrem ersten Besuch bei Reg hatte sich die Wohnung verändert. Überall waren Spuren der Vernachlässigung zu erkennen. Auf den Möbeln lag Staub, in der Küche stapelte sich schmutziges Geschirr auf der Ablage, und der Geruch von verdorbenen Lebensmitteln hing in der stickigen Luft.
Dieselben Symptome waren auch an Mortimer selbst zu erkennen. Er war nachlässig, beinahe schlampig gekleidet, und sein sonst so glänzendes, kastanienbraunes Haar wirkte glanzlos und strähnig.
Als er weiterhin von ihnen abgewandt stehenblieb, sagte Gemma zu seinem Rücken: »Können Sie uns sagen, was bei der Sitzung heute morgen herausgekommen ist, Mr. Mortimer?«
»Sie haben Teresa zur Geschäftsführerin ernannt... auf Martin Lowells Vorschlag hin. Man hätte annehmen können, er würde etwas mehr Solidarität an den Tag legen. Schließlich sind wir beide Veteranen desselben Krieges, wenn man so will.«
»Sicher ist sie in der Lage ...«
»Selbstverständlich ist sie in der Lage«, fiel Mortimer ihr gereizt ins Wort. »Und sie hat es verdient. Darum geht es nicht.«
»Wo liegt dann das Problem? Sie haben fraglos für Annabelle gearbeitet... warum nicht für Teresa?«
»Nein!« Mortimers Stimme klang schneidend. Schließlich drehte er sich um. »Sie verstehen nicht. Ich hätte diese Beförderung dringend gebraucht! Sie ist mit einer saftigen Gehaltserhöhung verbunden. Seit Annabelle tot ist, wäre es meine einzige Chance gewesen, die Geier noch ein bißchen länger auf Distanz zu halten ... Außerdem hätte ich in dieser Position die Hoffnung gehabt, den Deal zu retten, den ...« Er verstummte abrupt.
»Welche Geier?« fragte Kincaid.
Reg verzog den Mund zu einem Lächeln. »Ich habe leider über meine Verhältnisse gelebt.«
Kincaid deutete auf die Bilder an den Wänden. »Die Gemälde?«
»Guter Tip«, stimmte Reg ihm zu. »Ja, unter anderem. Konnte leider noch nie gut mit Geld umgehen. Und ich hatte mit einer ziemlich großen Summe gerechnet, die sich leider nie ... materialisieren wird.«
»Setzen Sie sich, und erzählen Sie uns von diesem Deal.« Kincaid deutete auf die Sofas.
Reg Mortimer ließ sich in die weißen Polster fallen und stützte den Kopf in beide Hände, ein Bild des Jammers. »Ist vermutlich jetzt sowieso egal. Hat sich alles von selbst erledigt«, murmelte er. Dann ließ er die Hände in den Schoß sinken und sah zu Kincaid und Gemma auf.
»Geht um so was wie eine Kommission ... man könnte es auch einen Finderlohn nennen. Annabelle, Teresa und ich sind schon vor einiger Zeit zu dem Entschluß gekommen, daß es nur eine Möglichkeit gibt, die Zahlungsfähigkeit der Firma Hammond’s zu erhalten: der Verkauf des Firmengeländes. Mit dem Erlös sollte das Unternehmen weiter flußabwärts in einer moderneren und weniger kostenintensiven Immobilie untergebracht werden.
Ich kannte da einen Mann ... einen Bauunternehmer ... der für den Speicher jeden Preis gezahlt hätte. Vorausgesetzt, Annabelle konnte dazu überredet werden, gegen den ausdrücklichen Willen ihres Vaters zu handeln. Also habe ich die beiden zusammengebracht.«
»Daher die Kommission«, dachte Kincaid laut. »Zahlbar bei Geschäftsabschluß, nehme ich an?«
Mortimer nickte. »Aber es gab noch einen Haken. Der Deal wäre nur perfekt gewesen, wenn wir die Mehrheit der Anteilseigner hätten überreden können, gegen William zu stimmen. Und Annabelle war nur dann dazu zu bewegen, sich gegen ihren Vater zu wenden, wenn sichergestellt wurde, daß der Lagerspeicher selbst als integrierter Teil der Neubebauung erhalten bliebe. Sie dachte, das würde William milder stimmen ... ihm das Gefühl geben, daß die Firma Hammond’s noch immer ihren Platz in der Geschichte behielte.«
»Dieser Bauunternehmer ...«, begann Gemma, »das war Lewis Finch, stimmt’s?«
Als Mortimer erneut nickte, runzelte Kincaid die Stirn. »Sie sagen >Annabelle war nur unter der Zusicherung zu bewegen ...<. Das klingt, als sei genau das nicht vorgesehen gewesen, ich meine die Integration des bestehenden Gebäudes in die Neubebauung? Ich dachte, Lewis Finch hätte sich gerade dadurch einen Namen gemacht.«
»Hat er auch. Aber in diesem Fall hatte er andere Pläne. Es war die Rede von >Konstruktionsmängeln am Speicher<. Aber Lewis und ich waren übereingekommen, Annabelle nichts davon zu erzählen ... in der Hoffnung, daß sie nicht darauf bestand, eine entsprechende Klausel in den Vertrag aufzunehmen.«
»Was, glaubten Sie, wäre geschehen, wenn Annabelle davon Wind bekommen hätte?« fragte Gemma hitzig. »Sie waren verlobt, wollten heiraten. Trotzdem haben Sie hinter ihrem Rücken konspiriert.«
»Ich war verzweifelt. Ich dachte, der Rest würde sich von selbst erledigen, sobald das Geschäft abgeschlossen war ... daß vielleicht sogar William Vernunft annehmen würde ...«
Kincaid glaubte zu wissen, wie es weitergegangen war. »Und dann haben Sie herausbekommen, daß Lügen und Betrügen keine Fremdwörter für Annabelle waren. Was ist an jenem Abend passiert, nachdem Sie von Annabelle und Martin Lowell erfahren hatten?«
»Wir haben uns gestritten, nachdem wir von Jo weggegangen waren. Ein Wort gab das andere. Ich habe ihr auf den Kopf zu gesagt, daß ich ihr alles zutraue, seit ich weiß, was sie ihrer Schwester angetan hatte.«
»Weiter, bitte.«
»Ich weiß nicht, was an jenem Abend in mich gefahren ist. Eifersucht habe ich immer verachtet, habe sie für unkultiviert gehalten. Aber Annabelle hatte mich seit Monaten zurückgestoßen, sich geweigert, über die Hochzeit zu reden, Ausreden erfunden, um nicht mit mir allein sein zu müssen ... und plötzlich machte das alles Sinn. Ich habe ihr alles mögliche an den Kopf geworfen ... alles, was mir gerade in den Sinn kam. Und plötzlich sind mir Lewis Finch und die vielen >Geschäftsbesprechungen< eingefallen, die sie angeblich mit ihm gehabt hatte. Ich habe ihr vorgeworfen, mit ihm zu schlafen. Ich habe behauptet, daß Lowell recht habe und sie nicht besser als eine Hure sei. Sie prostituiere sich ... schlafe mit Finch, um zu bekommen, was sie wolle.«
»Und dann?« fragte Gemma leise.
»Sie hat gelacht. Sie hat einfach dagestanden und mich ausgelacht. Sie hat gesagt, das sei längst nicht alles. Diese Affäre habe sie die Liebe von Finchs Sohn gekostet, und daß sie erst zu spät erfahren habe, was es bedeute, jemanden wirklich zu lieben. Ich habe sie angeschrien, es hat sie mehr als das gekostet, und es geschehe ihr recht - und dann habe ich ihr gesagt, was Lewis wirklich vorhatte. Kaum hatte ich es ausgesprochen, war mir klar, daß ich zu weit gegangen war und alles verdorben hatte. Ich habe mich entschuldigt, es nicht so gemeint zu haben. Wir hatten am folgenden Vormittag eine Verabredung mit meinem Vater, um ihm den Plan schmackhaft zu machen. Und eigentlich hätten wir nach der Dinnerparty mit Jo unsere Strategie festlegen wollen. Ich dachte, wir könnten alles wieder ins Lot bringen, aber Annabelle war sehr still geworden ... so als horche sie in sich hinein, dann hat sie wieder gelacht. >Die Götter haben mir ein Zeichen gegeben, Reg. Also verpiß dich!< Ich habe gebettelt, versucht, zu diskutieren, bis sie sich schließlich einverstanden erklärte, sich mit mir im Pub zu treffen.«
»Und danach sind Sie gegangen«, sagte Gemma.
»Ja. Und die furchtbare Ironie ist, daß ich keine Ahnung hatte - bis Sie es mir gesagt haben -, daß Lewis Finchs Sohn der Straßenmusikant aus dem Tunnel ist.«
Lewis begegnete Irene Burne-Jones zum ersten Mal an einem Juliabend des Jahres 1942, als Edwina ihn mit dem Ponywagen zum Bahnhof schickte, um sie abzuholen. Irene sei eigentlich ihre Cousine zweiten Grades, hatte Edwina ihm erklärt, die Enkelin des Bruders ihres Vaters. Aber Edwina, die stets für Vereinfachung war, bezeichnete das Mädchen schlicht als ihre Nichte. Das Haus ihrer Familie in Kilburn war durch eine verirrte Bombe getroffen und zerstört worden, und Irene sollte solange auf dem Land bleiben, bis die Eltern das Leben der Familie neu organisiert hatten.
Lewis nahm die Nachricht mit einiger Sorge auf. William war nicht da. Nachdem die Bombardierungen nachgelassen hatten, war ihm erlaubt worden, für mehrere Wochen seine Eltern zu besuchen, und da Lewis seine Gesellschaft vermißte, war ihm einerseits ein Ersatz für den kurzen Zeitraum recht... andererseits konnte er sich nicht vorstellen, daß ein Mädchen, das sicher eine Vorliebe für Sommerspaziergänge, Badeausflüge und Beerenpflücken hatte, zu ihm paßte. Seine Kenntnisse über Mädchen gründeten sich auf die Erfahrungen mit seiner Schwester, und Cath hatte nie auch nur die geringste Neigung zu Dingen gezeigt, für die sich Jungen interessierten.
Bei seinem Besuch zu Hause im April hatte er seine Schwester kaum wiedererkannt. Es warsein erster Aufenthalt in London nach zwei Jahren gewesen. Cath hatte einen Job in einer Rüstungsfabrik, und sie hatte wie ein Wesen von einem anderen Stern auf ihn gewirkt, als sie in ihrem grellen Overall und Turban nach Hause gekommen war. Minuten später war sie in einer Parfümwolke und begleitet von dem Klappern hoher Absätze wieder verschwunden. Wann immer ihr Name gefallen war, hatten Lewis’ Eltern verstohlen Blicke getauscht, und ein- oder zweimal, als er ins Zimmer gekommen war, hatte Lewis das Gefühlgehabt, ein ernstes Gespräch zu unterbrechen.
Lewis jedoch hatten die Streifzüge in die unmittelbare Umgebung viel mehr interessiert. Er hatte versucht, sich an den Anblick von Schuttbergen oder leeren, vom Unkraut überwucherten Parzellen zu gewöhnen, wo früher die Häuser seiner Schulfreunde und Kameraden gestanden hatten. All das hatte eine seltsame Leere in ihm hinterlassen, und am Ende der Woche hatte er eine heimliche Erleichterung bei dem Gedanken empfunden, nach Surrey zurückkehren zu können.
Zeus’ lautes Schnauben lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße, er zog automatisch die Zügel an und schnalzte beruhigend mit der Zunge, wie John Pebbles es ihm beigebracht hatte. Dabei wurden andere Erinnerungen wach, und er merkte erneut, wie sehr er seinen Freund vermißte.
Im Frühjahr 1941 hatte sich John, gegen alle Bitten seiner Frau und Edwinas, freiwillig zur Armee gemeldet, und kämpfte mittlerweile im Rang eines Sergeants bei der Achten Division in Nordafrika. Lewis hatte in Ermangelung anderer Helfer viele seiner Aufgaben übernommen. Die Pferde waren jetzt allein sein Verantwortungsbereich, da William seine Angst gegenüber den Tieren nie überwunden hatte, und weil William auch keine Begabung für Technik besaß, kümmerte Lewis sich um die selten genutzten Autos. Dagegen pflegte er zusammen mit William den Garten und machte Brennholz; und beide halfen Edwina bei anderen Arbeiten im Haus und auf dem Grundstück, so gut sie konnten, denn es war niemand anderer da.
Für Lewis schien der Krieg bereits eine Ewigkeit zu dauern. Er erinnerte sich kaum noch an die Tage vor der Lebensmittelrationierung, und selbst die riesigen Portionen Fleisch, die die Köchin ihm bei seiner Ankunft im Herrenhaus serviert hatte, waren jetzt verblaßte Erinnerung. Trotzdem ging es ihnen besser als manch anderen, denn sie hatten den Garten, und im Winter ’41 hatte Edwina Schweine und Hühner gekauft, so daß sie zumindest über einen unbegrenzten Vorrat an frischen Eiern verfügten und gelegentlich auch eine Scheibe Speck bekamen. Natürlich war das Füttern und die Pflege dieser Tiere ebenfalls Lewis zugefallen, doch er tat es gern ... bis auf das Schlachten der Schweine, mit denen er sich meist anfreundete.
Mögen Mädchen Schweine? überlegte er, und dann fragte er sich, was, um Himmels willen, er überhaupt auf der Rückfahrt mit ihr reden sollte. Ein Blick auf die tiefstehende Sonne sagte ihm, daß es später war, als er angenommen hatte, und er schnalzte mit der Zunge, um Zeus zu einer schnelleren Gangart anzutreiben. Edwina würde ihn zur Rede stellen, wenn er durch seine Träumerei zu spät kam.
Sie stand auf dem Bahnsteig neben einem riesigen Koffer. Lewis sah den Bahnsteig hinauf und hinunter, um seiner Sache sicher zu sein. Aber da war sonst niemand, und er atmete innerlich erleichtert auf. Das Mädchen war entgegen seinen Erwartungen in seinem Alter, sah völlig normal und kein bißchen furchterregend aus. Sie trug ein rotweiß-gemustertes Leinenkleid mit Söckchen und Sandalen. Ihr Haar hatte die Farbe alter Pennystücke und hing ihr in einem Zopf geflochten über den Rücken. Das beste jedoch war, daß sie sofort lächelte und winkte, als er sie ansah.
»Bist du Lewis?« fragte sie, kaum daß er sie erreicht hatte. »Tante Edwina hat gesagt, daß du mich hier abholst.«
»Entschuldige. Ich bin spät dran.« Lewis griff nach dem voluminösen Koffer und bugsierte ihn hinten auf den Ponywagen. »Was hast du denn da reingepackt? Wackersteine?«
Irene lächelte ihr warmes Lächeln und sprang ohne Hilfe auf den Wagen. »So ziemlich alles, was ich besitze ... oder zumindest alles, was wir aus dem Schutt noch rauswühlen konnten. Hat mir nichts ausgemacht, daß du zu spät gekommen bist. Habe mich nurgefragt, was ich machen würde, wenn du überhaupt nicht auftauchst. Ich habe noch nie versucht zu trampen. Außerdem wußte ich nicht, ob jemand so mutig sein würde, mich mit diesem Monster von einem Koffer mitzunehmen.«
Lewis sah sie überrascht an. William und er hatten nie den Mut aufgebracht, per Anhalter zu fahren. »Du hättest anrufen können«, bemerkte er. »Gleich hinter dem Bahnsteig ist ein Telefonhäuschen. Wir sind hier schließlich nicht im wilden Kurdistan, weißt du?«
»Wie alt bist du?«fragte Irene, an der sein Sarkasmus abprallte.
»Vierzehn ... im Januar«, erwiderte er und setzte sich etwas gerader auf den Kutschbock, während er Zeus den Wagen wenden ließ. Dann machten sie sich auf den Rückweg.
»Ich werde in der Woche vor Weihnachten vierzehn. Bin also älter als du.« Irenes triumphierendes Lächeln war ansteckend.
Es war ein schöner Juliabend, und die Luft war mild. Es roch nach frisch gewendetem Heu. Die Straße schlängelte sich durch den Wald, das Blätterdach wölbte sich über ihnen, und außer dem Gesang der Vögel und dem Klappern der Pferdehufe war weit und breit nichts zu hören.
»Wie weit ist es bis zum Haus?« wollte Irene wissen, nachdem sie eine Weile schweigend gefahren waren.
»Ein paar Meilen. Wir brauchen ungefähr eine Dreiviertelstunde.« Lewis fiel plötzlich ein, wie lange ihm der Weg bei seiner Ankunft auf dem Land vorgekommen war und daß er sich eine Straße ohne Häuser oder Geschäfte gar nicht hatte vorstellen können.
»Sieht hier ganz anders aus als in Kilburn«, bemerkte Irene, und beim Klang ihrer Stimme sah er sie unwillkürlich genauer an. Er war sich nicht sicher, ob hinter der Maske der Fröhlichkeit nicht auch Angst lag.
»Es wird dir gefallen«, sagte er. »Ehrenwort.«
Lewis und Irene wurden so schnell Freunde, daß die ersten Wochen nach Williams Rückkehr beinahe peinlich waren. William war sehr selbstbewußt zurückgekommen, nachdem er die Ferien in der Firma seiner Familie verbracht hatte. Als Irene offenbar unbeeindruckt von Hammond’s Teas blieb, versuchte William, ihr höflich klarzumachen, daß sie in Lewis und seine Unternehmungen nicht einbezogen werden sollte. Irene jedoch tat einfach so, als merke sie nichts. Sie kam trotzdem mit, und nach einer Weile gab William resigniert auf. Bald schien er völlig vergessen zu haben, daß er versucht hatte, sie auszugrenzen.
Im August kehrte Mr. Cuddy von seinem langen Urlaub an der Küste Cornwalls zurück, und sie hatten wieder alle Hände voll mit Schularbeiten zu tun. Wann immer Mr. Cuddy und die Jungen bei ihren Schulthemen in eintönigen Alltagstrott verfallen waren, rüttelte Irene sie auf. Sie war von Mr. Cuddys kartographischer Aufarbeitung des Krieges fasziniert und hatte immer eine Frage oder einen Diskussionsbeitrag parat.
Ihr besonderes Interesse galt dem Krieg in Nordafrika, und Irene verfolgte den Kampf von Montgomerys Achter Division gegen Rommel mit ebensolchem patriotischen Eifer wie die Jungen, und das, obwohl sie John Pebbles nie begegnet war. Als die Tage kürzer wurden und der Herbst kam, verbrachten sie lange Nachmittage vor dem Kamin im Schulzimmer, Tassen mit heißer Schokolade in den Händen, und diskutierten über den Krieg und ihre Zukunft.
»Er ist vorbei, bevor wir alt genug sind, um Militärdienst leisten zu können«, klagte Lewis eines Tages, als strömender Regen sie ans Haus fesselte. »Nordafrika ist erst der Anfang. Jetzt, wo die Amis dabei sind, muß Europa als nächstes kommen. Der alte Hitler hat den Alliierten nichts mehr entgegenzusetzen.«
»Ja, aber ich weiß noch gut, wie alle gesagt haben, der Krieg sei in ein paar Wochen zu Ende.« William streckte sich auf dem Teppich aus, stützte das Kinn in die Hände und starrte ins Feuer, und Lewis wurde dabei klar, daß er sich William als Soldat wirklich nicht vorstellen konnte, selbst wenn der Krieg tatsächlich lange genug dauern sollte.
»Eine Niederlage kommt für euch wohl gar nicht in Betracht, was?« fragte Irene. Mit Edwinas Unterstützung hatte sie es sich angewöhnt, wie die Jungen Hosen zu tragen, und saß jetzt gegen einen alten Sessel gelehnt im Schneidersitz auf dem Boden. »Alle tun so, als hätten wir den Sieg praktisch schon in der Tasche. Aber was ist, wenn nicht?«
»Sei nicht blöd!« konterte William. »Selbstverständlich siegen wir. Warum also darüber nachdenken?«
Lewis jedoch hatte darüber nachgedacht. Viele Dinge, von denen er angenommen hatte, daß sie nie geschehen könnten ... zum Beispiel, daß ihr Haus bombardiert, seine beiden Brüder sterben würden ... waren geschehen. Also mußte er auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß sie den Krieg verloren.
»Natürlich hoffe ich, daß er bald zu Ende ist«, bemerkte Irene und starrte ins Feuer. »Aber wenn nicht, dann trete ich in die Armee ein, sobald ich alt genug bin, und werde General.«
»Jetzt spinnst du aber wirklich«, erklärte William. »Mädchen können nicht General werden.«
»Warum denn nicht?« Irene reckte eigensinnig das Kinn vor. »Ich spiele gern militärische Sandkastenspiele und so.«
»Aber das ist nur Spiel«, entgegnete Lewis und versuchte, vernünftig zu sein. »Im richtigen Leben müßtest du dich um Verwundete kümmern, Geheimdienstberichte analysieren ... und so weiter. Und du müßtest dauernd den Leuten sagen, was sie tun sollen.«
»Na und?« Irene streckte ihm die Zunge raus. »Das alles könnte ich genausogut wie du.«
Mr. Cuddy sah von dem Buch auf, das er gerade las. »Zankt euch nicht. Ich finde, Irene ist sehr wohl in der Lage, Leuten zu sagen, was sie tun müssen. Ist es euch eigentlich schon mal in den Sinn gekommen«, fuhr er fort, und schien sich richtig für das Thema zu erwärmen, »daß wir den Krieg vielleicht längst gewonnen hätten, wenn alle Generäle Frauen wären? Denkt nur an Artemis, die Göttin der Jagd.«
Lewis und William sahen sich an und verdrehten die Augen. Jetzt hatten sie den guten alten Cuddy auf eines seiner Lieblingsthemen gebracht, und wenn sie nicht aufpaßten, seifte er sie wieder einmal mit der gesamten griechisch-römischen Mythologie ein.
»Und was ist mit Boadicea ... der alten britannischen, kriegerischen Königin, die ihr Heer gegen die Römer in die Schlacht geführt hat? Die steht uns sogar noch näher.« Mr. Cuddy sah Irene lächelnd an. »Und sie hatte rotes Haar.«
»Wetten, daß die Leute ihr auch gesagt haben, sie könne kein General werden?« bemerkte Irene und warf ihren Kopf aufreizend selbstbewußt zurück.
Lewis jedoch war bereit, um des lieben Friedens willen das Thema fallenzulassen, denn er hatte das Gefühl, daß Mr. Cuddy wirklich böse werden würde, wenn sie weiter auf Irene herumhackten.
Seit ihr Lehrer von seinem langen Urlaub in Cornwall zurückgekehrt war, schien er verändert zu sein, aber Lewis vermochte nicht zu definieren, wodurch und wie. Zuerst, hatte er vermutet, daß Mr. Cuddy Irene nicht mochte, doch das hatte sich nicht bestätigt. Sie wurde viel wenigergemaßregelt als William und er. Trotzdem hatte sich etwas verändert, und die nagende Sorge, die Lewis dieses Gefühl bereitete, war das einzige, was sein Wohlbefinden trübte.
Als Kincaid den Wagen auf einen Parkplatz im Schatten gegenüber Gordon Finchs Wohnung fuhr, sah Gemma Gordon die West Ferry Road aus der Richtung des Mudchute Parks herunterkommen, den Klarinettenkasten in der Hand, Sam an seiner Seite. Sie warteten, bis er sein Wohnhaus erreicht hatte, stiegen aus, überquerten die Straße und traten ihm in den Weg.
»Auf ein Wort, Mr. Finch, wenn Sie nichts dagegen haben«, begann Kincaid und zückte seinen Dienstausweis, als könne Gordon bereits vergessen haben, wen er vor sich hatte.
»Angenommen, ich hab was dagegen?« fragte Gordon gelassen, aber sein Blick huschte zu Gemma. Er trug heute wieder seinen Tarnanzug und sah neben Kincaid, der Khakihose, Oberhemd und Krawatte anhatte, wenig gesellschaftsfähig aus.
»Wir können uns auch in einer wesentlich ungemütlicheren Umgebung unterhalten.«
Gemma fühlte, wie die Spannung zwischen den beiden Männern stieg, dann zuckte Gordon die Schultern und ging stumm voraus und die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Drinnen sah er Gemma an und sagte herausfordernd: »Bitte ... Sie kennen sich hier ja schon aus.« Die negative Ausstrahlung der beiden Männer in dem kleinen Raum verursachte Gemma Beklemmungen.
Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Wir möchten wissen, was Annabelle im Tunnel zu Ihnen gesagt hat. Und zwar den exakten Wortlaut.«
»Ich habe Ihnen doch schon ...«
»Nur einen kleinen Teil ... nämlich daß sie sich mit Ihnen versöhnen wollte. Was Sie nicht erzählt haben, ist, daß Annabelle gerade erfahren hatte, daß Ihr Vater sie ebenso belogen und hintergangen hatte, wie sie ihren eigenen Vater hatte hintergehen wollen.«
»Mein Vater lügt nicht«, entgegnete Gordon scharf.
»Warum hat er Annabelle dann versichert, er wolle den Lagerspeicher der Hammonds erhalten, wenn sie ihm diesen verkaufe, obwohl er definitiv die Absicht hatte, ihn abreißen zu lassen?«
»Er wollte ihn abreißen lassen?« wiederholte Gordon stirnrunzelnd.
»Hat sie Ihnen das nicht erzählt? Sie muß furchtbar wütend auf ihn gewesen sein.«
»Sie hat gesagt ...« Er sah an sich herab und schien überrascht, den Klarinettenkasten noch in der Hand zu halten. Er stellte ihn behutsam vor dem Notenständer auf den Fußboden. »Sie hat irgendwas von Loyalitäten geredet, die keine Bedeutung mehr hätten. Im Frühjahr hatte ich gerüchteweise von Lewis’ Interesse am alten Lagerspeicher gehört und daß man die beiden häufig zusammen gesehen hätte. Aber als ich sie danach gefragt habe, hat sie sowohl geschäftliches Interesse als auch eine Affäre geleugnet.« Er hob den Kopf und sah Gemma in die Augen. »Also bin ich ihr eines Abends nachgegangen. Sie hat die Nacht in seiner Wohnung verbracht. Als ich sie zur Rede gestellt habe, hat sie nicht mal den Versuch unternommen, sich zu rechtfertigen. Sie behauptete, ich würde das nicht verstehen ... Und dann hat sie mich gehen lassen.«
»Aber Sie haben sie weiterhin geliebt.«
Gordon richtete sich auf. Seine Hände wirkten seltsam leer. »Nein.«
»Und an jenem Abend hat sie Ihnen gesagt, daß sie Sie liebt. Sie wollte alles wiedergutmachen. Auf dem Video aus dem Tunnel hat sie Sie geradezu angefleht.«
»Sie sagte ... sie hat gesagt, es sei ihr klargeworden, daß sie weggeworfen habe, was ihr am meisten bedeute ... aber die Tatsache, daß sie mich hier träfe, sei ein Zeichen dafür, daß es noch nicht zu spät sei... Wenn wir uns wirklich liebten, würde sich alles von selbst regeln.«
Gemma spürte, wie Kincaid hinter ihr unruhig wurde. Trotzdem sagte er kein Wort. »Sie haben sie fortgeschickt«, fuhr Gemma leise fort, ohne den Blick von Gordon zu wenden. »Sie haben ihr nicht geglaubt.« Sie hörte ihre Worte, die tonlos und dumpf aus ihrem Mund kamen, und als sie Gordon Finch ansah, waren die Einsamkeit und die Verzweiflung in seinen Augen schlimmer als Tränen. »Da war noch etwas, oder? Was hat sie noch gesagt, Gordon?«
Als er schwieg, antwortete sie für ihn: »Sie hat gesagt, daß sie es beweisen wolle, stimmt’s? Auf dem Video dreht sie sich noch einmal um - wie auf ein letztes Wort -, und da war sie noch immer wütend, beinahe trotzig. Sie wollte Ihnen ihre Liebe beweisen.«
»Spricht alles für Lewis Finch, was?« Gemma empfand bei der Aussicht keinerlei Triumph. Es war schlimm genug für Gordon, mit der Schuld eines Vaters fertig zu werden, für den er offenbar weit mehr empfand, als er zugeben wollte. Aber auch sie hatte Lewis Finch gemocht und bewundert.
»Sie wollte ihm nicht sagen, daß sie ihre Verlobung aufgelöst hatte, als sie ihn an jenem Abend angerufen hat«, bemerkte Kincaid und lenkte den Rover in den Verkehrsstrom auf der Ferry Road. »Es ging um das gemeinsame Geschäft. Deshalb klang er so wütend, als er ihr aufs Band gesprochen hat.«
»Und nicht nur um das Geschäft, sondern auch um ihre Beziehung zu ihm ... wie sollte sie weiterhin mit ihm schlafen, nach allem, was sie erfahren hatte?«
»Klingt doch so, als habe sie Lewis Finch von Anfang an für ihre Zwecke mißbraucht ...«
»Und er sie.« Gemma sah im Vorbeifahren zu den Steilhängen des Mudchute Park zu ihrer Rechten hinauf. Zu ihrer Linken glitzerte das Wasser vom Millwall Dock. »Aber das löst noch nicht die Frage, wo und wie sie sich an jenem Abend getroffen haben oder wie Lewis Finch ihre Leiche in den Park geschafft haben könnte.«
»Sein Motiv klärt es ebenfalls nicht«, überlegte Kincaid. »Scheint auf der Hand zu liegen, warum Annabelle willens war, sich beim Verkauf des Lagerspeichers gegen den Vater zu stellen. Die Firma war ihr wichtiger als alles andere. Und wenn sie glaubte, dies sei die einzige Möglichkeit, um sie zu retten ...«
»Aber warum wollte Lewis Finch jeden Preis für die Immobilie bezahlen? Und warum war er entschlossen, den Speicher abzureißen, sobald er sich in seinem Besitz befand ... Das stellt doch alles auf den Kopf, wofür er bis dahin gelebt hat.«
»Hat er vielleicht geglaubt, daß der Mord an Annabelle den Deal retten könnte?« warf Kincaid ein.
»Er konnte nicht sicher sein, was passieren würde.« Gemma runzelte die Stirn und sah auf ihre Uhr. »Willst du versuchen, ihn in seinem Büro zu erreichen? Er hat gesagt, daß er nachmittags normalerweise auf den Baustellen ist.«
Kincaid trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad, während sie vor einer roten Ampel warteten. »Nein. Nicht bevor wir ihn festnageln können. Wir bitten Janice, sich diskret bei seinen Nachbarn umzuhören. Vielleicht haben die was Ungewöhnliches bemerkt.«
»Und was machen wir in der Zwischenzeit?« fragte Gemma überrascht, beugte sich jedoch der Logik seiner Ausführungen.
»Der Grund, weshalb wir uns aus Lewis Finchs Verhalten keinen Reim machen können, ist, daß wir noch nicht bis zu den Wurzeln der ganzen Geschichte vorgedrungen sind«, schlußfolgerte Kincaid nachdenklich. »Und ich glaube, diese Wurzeln liegen in der Vergangenheit... Kann doch kein Zufall sein, daß William Hammond und Lewis Finch sich während des Krieges gekannt haben oder daß sich Annabelle an Gordon Finch herangemacht hat.«
»William Hammond hat keinen Zweifel daran gelassen, daß er kein Wort darüber verlieren will«, protestierte Gemma.
»Dann finden wir eben jemanden, der bereit ist zu reden.« Kincaid sah sie an. »Komm mit mir nach Surrey. Da gibt’s eine reizende Pension in Holmbury St. Mary ... weißt du noch?«
Die Begegnung mit Gordon Finch am Vortag flackerte kurz in Gemmas Gedächtnis auf... Wie konnte sie sich in ein Wochenende mit Duncan flüchten, solange das ihr Gewissen belastete?
»Ich habe Hazel versprochen, heute abend auf die Kinder aufzupassen«, sagte sie. Dabei wußte sie, daß Hazels und Tims Kinopläne durchaus flexibel waren, und sie diese nur vorschob- was ihr Gewissen noch mehr belastete. »Und vielleicht brauchst du mich hier«, fügte sie hinzu, um der Ausrede mehr Gewicht zu geben.
»Vielleicht«, sagte Kincaid leichthin. Sein Ton sollte verbergen, wie verletzt er war, doch sie sah es seinen Augen an.
Jo Lowell hatte Gemma gegenüber erwähnt, daß das Herrenhaus, in dem ihr Vater die Kriegsjahre verbracht hatte, mittlerweile vermutlich in ein Hotel im Landhausstil umgewandelt worden und daß der Name seiner Patentante Burne-Jones gewesen sei. Mehr Informationen hatte Kincaid nicht, als er am späten Nachmittag in Surrey eintraf und sich in der idyllischen Bauernhauspension in Holmbury St. Mary einmietete. Er hatte gehofft, seine Freundin Madelaine Wade zu treffen, die im Dorf wohnte, und Holmbury lag in der Gegend, die Jo Lowell erwähnt hatte.
Madelaine hatte eine Praxis für Massage und Aromatherapie in einer kleinen Wohnung über dem Dorfladen, den sie ebenfalls betrieb. Kincaid hatte sie bei einem Mordfall im Herbst des letzten Jahres kennengelernt und war von ihrer Persönlichkeit fasziniert gewesen. Für eine bekennende Anhängerin der Parapsychologie war die ehemalige Investmentbankerin eine erstaunlich nüchterne Frau mit einer Gabe für die Erkennung dessen, was sie leicht despektierlich als »emotionale Ausstrahlung« bezeichnete. Und auch Kincaid hatte feststellen müssen, daß ein Gespräch mit ihr oft unerwartete Fallstricke bereithielt.
Als er die wenigen Sachen aus seiner Notfallreisetasche in sein Zimmer geräumt hatte, schlenderte er die Straße zur Dorf-mitte hinunter. Der Laden lag versteckt in einer Sackgasse auf einer Anhöhe auf der anderen Seite oberhalb des Dorfes. Als er das Haus erreichte, war ihm heiß, er schwitzte, obwohl er sein Jackett nur über die Schultern gehängt hatte.
Das Mädchen hinter der Theke des Dorfladens war ihm unbekannt. Auf seine Frage sagte sie jedoch, daß Madelaine vermutlich zu Hause sei, und beobachtete neugierig, wie er wieder hinausging, die weiß gestrichene Treppe an der Seite des Gebäudes hinaufstieg und an der strahlend weiß lackierten Tür im ersten Stock klopfte. Es dauerte nicht lange, bis die Tür aufschwang. Madelaine musterte ihn mit flüchtigem Lächeln. »Ich muß feststellen, Sie haben Ihr Gespür für ein gutes Timing nicht verloren.«
Madelaine Wade hatte sich nicht verändert: ihr platinblondes, kurzgeschnittenes Haar umrahmte ein scharf geschnittenes Gesicht mit Adlerprofil, das ein Blick in ihre tief moosgrünen Augen sofort abmilderte.
»Sind Sie gar nicht überrascht, mich zu sehen?« fragte er und sah sich um, als er in die kleine Wohnung trat. Zuletzt war er im November hier gewesen. An diesem warmen Sommerabend waren die beiden Fenster über der Ladenfassade weit geöffnet, und ein leichter Abendwind bewegte die rotgepunkteten Vorhänge.
Ihr Lächeln vertiefte sich. »Keine Zaubertricks diesmal«, sagte sie und spielte damit auf seinen letzten, unangekündigten Besuch an, an dem er den Tisch für zwei Personen gedeckt vorgefunden hatte. »Aber ich habe eine Flasche Weißwein kühlgestellt ... nur für den Fall, daß ein Freund unerwartet vorbeikommt.«
»Madelaine ... Sie sind ein Phänomen.«
»Und Sie sind leicht zu beeindrucken«, entgegnete sie, holte zufrieden eine Flasche australischen Sauvignon aus dem Kühlschrank und entkorkte sie.
Nachdem sie zwei Gläser eingeschenkt hatte, setzten sie sich in die Sitzecke. Sie musterte ihn einen Augenblick. »Also, was führt Sie her, Duncan? Sie sind doch bestimmt nicht nur zum Vergnügen hier?«
»Leider nein.« Er schwenkte den Wein in seinem Glas. »Kennen Sie zufällig in der Nähe ein Hotel in einem ehemaligen Herrenhaus? Es muß früher einer Frau namens Burne-Jones gehört haben.«
Madelaine dachte nach. »Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor ...« Dann hellte sich ihre Miene auf. »Warten Sie! Ich hab’s! Da ist ein altes Herrenhaus droben bei Friday Green!«
»Lebt noch jemand von der Familie in der Gegend?«
»Wenn mich nicht alles täuscht, soll tatsächlich jemand aus der Familie auf dem Grundstück wohnen ... und zwar im alten Cottage, das dazu gehörte. Muß eine entfernte Cousine sein, soviel ich mich erinnere. Tut mir leid, mehr kriege ich nicht zusammen.«
»Ist immerhin ein Anfang.«
»Außerdem weiß ich, wie man hinkommt«, sagte Madelaine. »Es ist wirklich nicht weit.«
Kincaid notierte sich Madelaines Wegbeschreibung, steckte sein Notizbuch ein und wandte sich wieder ihr zu. »Und wie geht’s so?«
Madelaine lachte. »Wunderbar langweilig, seit Sie weg sind, Superintendent. Danke der Nachfrage. Die Wogen haben sich geglättet, und wir tun alle wieder so, als hätten wir nie einen anderen des Mordes verdächtigt. Und was ist mit Ihnen?«
Kincaid erzählte ihr knapp vom Fall Hammond, und sie hörte aufmerksam zu. Als Lewis Finchs Name fiel, sah sie ihn überrascht an. »Kennen Sie ihn?« fragte Kincaid.
»Aus meinem vorigen Leben, könnte man sagen. Er hatte einen gewissen Ruf in der City.«
»Einen guten?«
»Ja, überraschend gut. Erfolg und Aufrichtigkeit schließen sich normalerweise häufig aus. Allerdings wäre auch Finch ohne eine gewisse Skrupellosigkeit nicht dort, wo er heute ist. Ihre Annabelle muß wirklich ein starker Charakter gewesen sein, wenn sie es mit ihm aufgenommen hat.«
»Sie hat dafür bezahlt.«
»Glauben Sie, Lewis Finch hat sie umgebracht?«
»Scheint die plausibelste Erklärung zu sein. Ihr ehemaliger Schwager ist der einzige, der offen zugibt, sie gehaßt zu haben. Aber der hat ein wasserdichtes Alibi. Ihr Verlobter konnte durch ihren Tod nur alles verlieren, aber nichts gewinnen. Sieht allerdings so aus, als habe er an Annabelles letztem Abend die Beherrschung verloren und einen handfesten Krach vom Zaun gebrochen. Die Zeitspanne zwischen dem Streit und dem Mord ist jedoch zu groß für eine Tat im Affekt.« Er starrte in sein Weinglas. »Und Lewis Finchs Sohn hat offenbar überhaupt kein Motiv - er wußte seit Monaten von ihrer Beziehung zu seinem Vater -, und Annabelle hatte ihn noch am Abend des Mordes angefleht, sich mit ihr zu versöhnen.«
Madelaine schenkte Wein nach. Sie wirkte nachdenklich. »Eine komplizierte Situation: Vater und Sohn lieben dieselbe Frau ... Und wenn sie nun den Vater wegen des Sohnes verlassen hat ...?«
»Was halten Sie von Lewis Finch?«
»Wollen Sie von mir wissen, ob ich Lewis Finch für fähig halte, einen Mord zu begehen?« Sie runzelte die Stirn. »Ich schätze, einem so ehrgeizigen Mann wie Lewis Finch - und ehrgeizig war er - kann durchaus mal eine Sicherung durchbrennen. Trotzdem habe ich ihn als einen sehr melancholischen Menschen in Erinnerung ... er war stets von einer gewissen Traurigkeit umgeben, die schon so alt ist, daß sie Teil seiner Persönlichkeit geworden ist.« Sie warf Kincaid einen flüchtigen Blick über den Rand ihres Glases zu. Kincaid erinnerte sich nur zu gut an diesen Röntgenblick. »So, und jetzt erzählen Sie mir von sich.«
Bei jedem anderen wäre es Kincaid leichtgefallen, heile Welt vorzutäuschen. Er trank einen Schluck Wein. »Meine Exfrau ist gestorben ... sie wurde ermordet.«
»O Duncan! Herzliches Beileid. Standen Sie sich sehr nahe?«
»Jahrelang gar nicht. Ich wünschte, wir wären Freunde gewesen.« Er fing Madelaines Blick auf und sah weg. Sie schien abzuwarten. »Und ich habe erfahren, daß ich einen Sohn habe. Kit. Er ist elf.«
»Das Kind Ihrer Exfrau? Aber wie schön für Sie.«
»Ja, und kompliziert«, erwiderte Kincaid niedergeschlagen.
»Und wie kommt Ihr weiblicher Sergeant damit zurecht?«
»Gemma? Die kann nichts erschüttern.«
»Ach wirklich?« Das klang süffisant.
Ohne Vorwarnung erfaßte ihn heftiges Verlangen nach Gemma. Er trank sein Glas aus und wünschte sehnsüchtig, sie wäre mitgekommen ... wünschte, diese eine, ungestörte Nacht mit ihr allein zu haben.
»Noch ein Glas?« fragte Madelaine. Doch Kincaid schüttelte den Kopf. Er erinnerte sich nur zu gut an die Auswirkungen eines Besäufnisses mit Madelaine ... besonders auf leeren Magen.
»Danke, lieber nicht«, wehrte er ab und stand auf. Madelaine wand sich graziös aus den Sofapolstern und brachte ihn zur Tür.
»War schön, Sie wiederzusehen, Madelaine. Der Gedanke, Sie hier zu wissen, tut gut. Sie sind der ruhende Pol.«
»Kommen Sie mir ja nicht mit Yeats-Zitaten«, wehrte sie flapsig ab und musterte ihn mit ihren schönen Augen.
»Keine Angst, ich bin vorgewarnt. Und ich komme wieder.« Er gab ihr einen Kuß auf die Wange und wandte sich zum Gehen.
»Duncan.«
Ihre Stimme klang plötzlich ernst. Er hielt inne und war gezwungen, sich umzudrehen.
»Welche Probleme Sie auch haben mögen, von allein verschwinden sie nicht«, bemerkte Madelaine. »Bitte seien Sie vorsichtig.«
Der blaue Himmel war zuerst violett und darin kobaltblau geworden, aber Gordon Finch hatte keinen Finger gerührt, um Licht anzuknipsen. In seinem Schoß lag zerknittert unter seinen Händen der Morgenmantel, den er Annabelle gekauft hatte, der einzige noch greifbare Beweis seiner Beziehung zu ihr.
Bis zu diesem Tag hatte er es sich nicht gestattet, darüber nachzudenken. Bis zu diesem Tag hatte er nicht alle Puzzlestücke beisammen gehabt ... war nicht gezwungen gewesen, die Ereignisse bis zu ihrem logischen Ende zu verfolgen. Waren Gemma und ihr wachsamer Superintendent derselben Logik gefolgt? Wenn nicht, wie lange würde es wohl dauern, bis sie darauf kamen, wo Annabelle hingegangen war und was sie getan hatte?
Alles, was ihm blieb, war die Entscheidung, wieviel Loyalität er seinem Vater schuldete ... und welche Rache Annabelle forderte.