Die stummen, unsichtbar schönen Toten ruhen mit uns an diesem Ort...
Rupert Brooke aus >Mumien<
Er schlief den tiefen, traumlosen Schlaf absoluter Erschöpfung, rührte sich nicht einmal, als der vorhanglose Fensterausschnitt seine Farben von Schwarz zu Grau, Rosa und schließlich zum verwaschenen Blau des Aprilmorgens wechselte. Als das Telefon klingelte, tastete er unbeholfen danach, ohne mehr als nur einen vagen Begriff von der Bedeutung des Geräuschs zu haben.
Als er schließlich den Hörer ans Ohr hielt, murmelte er: »Kincaid.« Er schlug ein Auge auf und sah blinzelnd zum Wecker. Es war acht Uhr, an einem Sonntag. Er fluchte innerlich. Er konnte nur hoffen, daß der Anrufer eine gute Ausrede hatte.
»Duncan?« Die Stimme klang angespannt und verlegen. »Bob Potts hier. Tut mir leid, daß ich stören muß. Aber wir haben hier leider ein Problem. Ich weiß nicht, wen ich sonst anrufen könnte.«
Kincaid hörte die Angst, die aus den umständlichen Sätzen sprach, und war sofort hellwach. »Problem? Was für ein Problem?«
Potts räusperte sich. »Es ist wegen Kit. Er scheint ... ehm ... also, er scheint verschwunden zu sein.«
»Was heißt >scheint verschwunden zu sein<? Sicher ist er nur spazierengegangen.« Kincaid setzte sich auf. Seine Stimme klang ruhig, aber das Herz klopfte ihm bis zum Hals.
»Sein Bett war unbenutzt. Ich wollte ihn wecken ...« Potts verstummte, räusperte sich. »Ich habe überall nach ihm gesucht. Keine Spur von ihm. Und der Hund ist auch weg.«
»Welcher Hund?« Kincaid fiel ein, daß Vics dringendster Kinderwunsch nach einem Haustier von ihrer Mutter immer boykottiert worden war. Er konnte sich nicht vorstellen, daß sie ihre Meinung inzwischen geändert hatte. Er griff nach Block und Bleistift auf seinem Nachttisch. »Erzähl mir alles von Anfang an.«
»Kit hat vom Supermarkt einen Hund mit nach Hause gebracht - einen streunenden Mischling«, erklärte Potts. »Aber ich verstehe nicht, was ...«
»Fang einfach von vorn an. Ich muß mir ein klares Bild machen können, wenn ich was unternehmen soll.« Kincaid versuchte seine Ungeduld zu unterdrücken.
»Also gut«, seufzte Potts zögerlich. »Kit hat den Hund offenbar gestern nachmittag hinter Tesco aufgegabelt, als er sich beim Unwetter untergestellt hatte. Er hatte beschlossen, ihn zu behalten, und natürlich hat Eugenia ... ehm ... das heißt, wir ... haben das nicht für passend gehalten.« Pott stockte und fügte hinzu: »Kit war ziemlich aufgebracht - obwohl wir zu einem Kompromiß gekommen waren.«
»Und wie sah der aus?« fragte Kincaid skeptisch.
»Ich hatte Eugenia überredet, daß sie ihm erlaubt, den Hund über Nacht in der Garage unterzubringen. Heute morgen wollte ich mit ihm ins Tierheim fahren. Dort hätte man sich bemüht, ein Zuhause für ihn zu finden. Das habe ich Kit gesagt ...«
Dürfte für Kit kaum ein Trost gewesen sein, dachte Kincaid. Er hatte sicher geahnt, wie gering die Chancen des Tieres waren. »Schätze, Kit war mit dieser Lösung nicht glücklich?«
»Nein, das war er nicht«, sagte Potts. »Er ist ohne Essen ins Bett. Deshalb wollte ich ihm heute morgen gleich sein Frühstück raufbringen ...«
»Fehlen Sachen von ihm?«
»Ich ... ich weiß nicht. Daran habe ich gar nicht gedacht«, erwiderte Pott der Verzweiflung nahe. »Ich habe zuerst draußen nach ihm gesucht ... dachte, er wäre mit dem Hund spazierengegangen. Aber er hätte längst zurück sein müssen. Das ist jetzt zwei Stunden her ...«
»Hat er eine Nachricht hinterlassen?«
»Ich habe nichts gefunden.«
Kann ein gutes oder ein schlechtes Zeichen sein, dachte Kincaid. »Hat er Geld genommen?«
»Ich ... ich fürchte, auch das weiß ich nicht. Bleib bitte einen Moment dran. Ich sehe nach.« Potts legte klappernd den Hörer ab. Kincaid hörte Stimmen, zuerst gedämpft, dann erkannte er Eugenias schrille Tonlage. Potts meldete sich wieder. »Eugenia hatte gestern noch eine Zwanzig-Pfund-Note in ihrem Portemonnaie. Die ist jetzt verschwunden«, berichtete er laut, um die Stimme seiner Frau zu übertönen.
»Wie konnte er nur?« hörte Kincaid Eugenia im Hintergrund zetern. »Nach allem, was wir für ihn getan haben. Wir haben schließlich schon genug gelitten ...«
»Ich finde, es ist Kit, der genug gelitten hat«, fuhr Kincaid auf. »Ihr solltet froh sein, daß er das Geld genommen hat. Dann hat er sich vermutlich nichts angetan.«
»Halt doch endlich deinen Mund, Eugenia!« brüllte Potts am anderen Ende. In die folgende Stille hinein sagte er zögernd: »Du glaubst doch nicht ...«
Kincaid bereute seinen unbeherrschten Ausbruch bereits. »Ich wollte dir keine Angst machen, Bob. Mit dem Jungen ist bestimmt alles in Ordnung. Aber er steht unter Schock und ist todunglücklich. Das macht ihn unberechenbar.«
»Was können wir tun?« fragte Potts, der hörbar um Beherrschung rang.
Kincaid überlegte. Die örtliche Polizei war kaum bereit, die Suche nach einem Jungen aufzunehmen, der erst seit zwei Stunden vermißt wurde. Trotzdem hatte er vor, sie wenigstens zu bitten, die Krankenhäuser zu überprüfen. Dann mußte er eine sinnvolle Beschäftigung für Bob Potts finden. Alles war besser als das Warten. »Habt ihr ein neueres Foto von Kit?« wollte er wissen.
»Er hat uns Weihnachten ein gerahmtes Schulfoto geschenkt«, antwortete Potts verwirrt. »Aber was ...?«
»Klappere damit sämtliche Bus- und Bahnstationen ab. Kit hatte genug Geld für eine Fahrkarte. Frag die Leute an den Fahrkartenschaltern, ob sie ihn gesehen haben. An einen Jungen mit einem Hund dürften sie sich erinnern. Ich rufe die Ortspolizei an und bitte sie, die Augen offenzuhalten. Aber vorerst suchen wir lieber selbst.«
»Du hilfst uns?« Potts klang dankbar und überrascht. Kin-caid fragte sich, was er eigentlich erwartet hatte.
»Natürlich helfe ich.« Und gnade ihm Gott, wenn er bei Kit versagte, wie er bei Vic versagt hatte. Er hätte das kommen sehen müssen.
Unter einem stumpfen grauen Himmel erstreckte sich die mittlerweile vertraute Autobahn nach Cambridge wie ein breites Band. Kincaid blieb auf der Überholspur, und die Nadel des Tachometers vibrierte, während er das Letzte aus dem Midget herausholte.
Beim Fahren versuchte er die Bilder zu verdrängen, die ungefragt vor seinem geistigen Auge aufflackerten - Kit verletzt, Kit zerlumpt und verloren wie die heimatlosen Straßenkinder, die er bettelnd vor der U-Bahn-Station Hampstead gesehen hatte. Er fragte sich, ob die zermürbende Angst, die er empfand, ein Teil dessen war, was >Vater sein< bedeutete. Dabei wurde ihm klar, daß er mittlerweile davon ausging, daß Kit sein Sohn war.
Über diese Erkenntnis hinaus jedoch vermochte er nicht zu denken - noch nicht, nicht bis er Kit sicher und wohlbehalten wiedergefunden hatte. Vorerst konzentrierte er sich auf die Gegenwart, auf das Wesentliche. Er hatte nach dem Telefonat mit Bob eine Tasse Tee getrunken, Jeans und Pullover angezogen und dabei telefoniert.
Die Polizei von Reading hatte erwartungsgemäß zurückhaltend reagiert, sich jedoch bereit erklärt, ein paar Nachforschungen anzustellen. Laura Miller hatte nichts von Kit gehört, wollte jedoch sofort anrufen, falls er sich bei ihr oder anderen Freunden melden sollte. Gemma versprach, in ihrer Wohnung abzuwarten, ob er anrief.
Kincaid rieb sich mit dem Handrücken über die Bartstoppeln an seinem Kinn, als er sich der Ausfahrt Grantchester näherte, und überdachte seine Möglichkeiten. Er wußte aus Erfahrung, daß die ersten Stunden bei der Suche nach einem vermißten Kind entscheidend waren. Sollte sich sein Instinkt als falsch erweisen, mußte er aufs Ganze gehen und eine große Suchaktion einleiten.
Kincaid verließ die Autobahn und erreichte schnell die Außenbezirke von Grantchester. Die Straßen waren noch leer. Nur die Rauchsäulen über den Schornsteinen widersprachen dem Eindruck, daß das Dorf in einen Schneewittchenschlaf gesunken war. Er bremste fast auf Fußgängertempo ab, als plötzlich Zweifel in ihm aufkamen. Weshalb vergeudete er wertvolle Zeit, um einem derartig halbgaren Verdacht nachzujagen? Kit konnte es bis hierher kaum geschafft haben, hatte vermutlich nie die Absicht gehabt, nach Grantchester zu kommen. Wahrscheinlich war er mittlerweile längst in London, wurde bereits von den Zuhältern angemacht, die immer und überall auf Ausreißer lauerten, die sich als Strichjungen eigneten.
Trotzdem parkte er den Midget am Straßenrand und nicht in der Kiesauffahrt, wo das Motorengeräusch jeden im Haus gewarnt hätte. Er stieg aus dem Wagen, schloß leise die Tür und betrachtete einen Moment aufmerksam das Haus. Obwohl es erst wenige Tage leer stand, machte es einen verlassenen Eindruck. Der pinkfarbene Verputz wirkte gegen den grauen Himmel geradezu frivol.
Kincaid ging lautlos und vorsichtig ums Haus, überprüfte die Türen und Fenster an der Vorderseite und betrat dann durch die Gartentür den Hintergarten. Die große Glastür zur Terrasse war verschlossen. Das hatte er damals selbst geprüft. Aber als er das Küchenfenster erreichte, entdeckte er, daß an der Unterseite ein schmaler Spalt klaffte. Er zwängte sich zwischen den Büschen an der Hauswand hindurch und zog sich am Fensterbrett hoch. Das Fenster ließ sich problemlos nach oben schieben. Nach kurzem Zögern kroch er lautlos durch die Öffnung ins Innere.
In der Küche klopfte er sich den Staub von den Kleidern und sah sich um. Nichts deutete darauf hin, daß jemand hier gewesen war. Hatte er das Fenster bei seinem letzten Rundgang nachlässigerweise offengelassen? Er mußte plötzlich feststellen, daß sein Erinnerungsvermögen an den Abend von Vics Tod bestenfalls lückenhaft war.
Er warf einen Blick ins Wohnzimmer. Alles war noch so, wie er es verlassen hatte. Dann ging er in Vics Arbeitszimmer. Hier allerdings hatte die Polizei, wie schon in Vics Büro in der Englischen Fakultät, ihre Visitenkarte hinterlassen.
Leise stieg er die Treppe hinauf, prüfte methodisch zuerst das Gästezimmer, dann Vics Schlafzimmer. Schließlich blieb er im Flur stehen und hörte auf das Pochen seines Herzens. Solche Angst hatte er vor einem Fehlschlag, daß er das Naheliegendste bis zum Schluß aufhob. Er wartete, bis sein Atem ^wieder regelmäßig ging, dann öffnete er vorsichtig die Tür zu Kits Zimmer.
Nach dem Halbdunkel des Flurs zuckte er vor dem Licht, das durchs Fenster flutete, geblendet zurück. Er wartete, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah das leere Bett und die unberührte Überdecke. Sein Mut sank. Er hatte sich getäuscht, und die Zeit, die er mit der Fahrt nach Cambridge vergeudet hatte, war unwiederbringlich verloren.
Dann, gerade als er sich abwenden wollte, hörte er ein Geräusch - ein Rascheln und ein verhaltenes Klopfen. Er erstarrte, horchte, und als es sich wiederholte, wußte er auch, woher es kommen mußte. Langsam durchquerte er den Raum und beugte sich über das Fußende des Bettes, bis er in die Ecke zwischen Bett und Wand sehen konnte. Dort lag ein kleiner, struppiger Hund auf einer zerknüllten Decke. Er hatte den Kopf zwischen die Pfoten gelegt und musterte ihn aufmerksam, während sein Schwanz leise auf den Fußboden klopfte.
Und unter der Decke lag Kit, die Augen geschlossen, einen Arm über den Kopf gelegt, als habe er geträumt. Er trug noch immer seinen Anorak, und seine Brust hob und senkte sich in gleichmäßigem Rhythmus, während er mit offenem Mund atmete.
Schwindel erfaßte Kincaid, und die Knie wurden ihm puddingweich. Er setzte sich aufs Bett, streckte die Hand aus und tätschelte den Hund, der prompt heftig mit dem Schwanz zu wedeln begann. »Du bist mir vielleicht ein Wachhund«, sagte er mit einem Lachen, das verräterisch belegt klang. Beim Klang seiner Stimme bewegte sich Kit und schlug die Augen auf. Kincaid sah den Ansatz eines Lächelns, als der Junge ihn erkannte, welches sich in blankes Entsetzen verwandelte, als er begriff, daß er entdeckt worden war.
Kit richtete sich auf und versuchte, sich von der hinderlichen Decke und dem Gewicht des Hundes auf seinen Füßen zu befreien.
»Hallo, Kit«, begann Kincaid grinsend. »Was zum Teufel machst du hier draußen?«
Kit ließ sich gegen die Wand sinken und musterte ihn verwirrt. Dann sagte er: »Ich verstecke mich. Ich dachte, falls sie hinter mir her sind, schauen sie vielleicht nicht hinters Bett. Ich habe Tess befohlen, still zu sein.«
»Sie ist ein gehorsames Mädchen. War nur ihr wedelnder Schwanz, der dich verraten hat. Warum hast du sie Tess genannt?«
Kit streichelte den Hund. »Weil ich sie hinter Tesco gefunden habe.«
»Ach, natürlich«, murmelte Kincaid. »Dumme Frage. Hat einer von euch seither eigentlich was gegessen?«
»Hamburger. Der zweite Lastwagenfahrer hat uns Hamburger spendiert. Aber das ist lange her.«
»Du bist also per Autostop hierhergekommen?« fragte Kincaid. Er dankte Gott, daß Kit seine Reise unversehrt überstanden hatte. Für eine Standpauke über die Unvernunft, in fremde Autos zu steigen, war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.
»Mit vier Lastautos«, erklärte Kit nicht ohne Stolz. »Aber von der Autobahn aus sind wir gelaufen. Ich hatte Angst, daß jemand anhält, den ich kenne.«
»Dann müßtest du jetzt eigentlich wieder Hunger haben«, sagte Kincaid leichthin. »Nicht weit von hier, an der Autobahn, gibt es ein Café. Was hältst du davon, wenn ich dir dort ein echtes Fernfahrerfrühstück spendiere? Und für Tess kriegen wir sicher auch was.«
Kit erstarrte und zog den Hund an sich. »Ich gehe nicht nach Reading zurück. Wenn du mich dazu zwingst, laufe ich nur wieder weg.«
Kincaid betrachtete den trotzigen Zug um Kits Mund und fragte sich, ob er ebenso aussah, wenn er sich auf etwas versteift hatte. Wie der Vater, so der Sohn. Seine einzige Chance ‘war es, dem Jungen mit der Ehrlichkeit zu begegnen, die er -auch für sich selbst beanspruchte. Er dachte kurz nach. »Ich kann dich verstehen, Kit. Aber du mußt schon vernünftig sein. Du weißt, daß du hier nicht allein bleiben kannst ...«
»Mein Vater kommt sicher zurück. Das weiß ich. Und dann kann ich bleiben ...«
»Das mag schon stimmen. Aber in ein paar Stunden fangen sie an, richtig nach dir zu suchen. Und dann finden sie dich hier. Dein Großvater ist außer sich vor Angst. Du willst doch nicht, daß er sich weiter Sorgen um dich macht, oder.«
»Ihr ist es ganz egal, was mit mir passiert. Sie sorgt sich doch nur um ihre beschissenen Teppiche.«
Kincaid seufzte. »Macht das die Gefühle deines Großvaters weniger wichtig?«
Kit starrte ihn an. Der Zug um seinen Mund entspannte sich. Er zuckte mit den Schultern. »Vermutlich nicht. Aber ich gehe nicht zurück. Da darf ich Tess nicht behalten.«
»Ich verspreche dir, daß wir eine Lösung finden. Und ich verspreche dir, daß ich nichts unternehme, bevor wir uns nicht abgesprochen haben. Aber irgendwo müssen wir anfangen. Und ich finde, Frühstück ist ein guter Anfang. Was meinst du?«
Kit sagte lange kein Wort. Dann nickte er kaum merklich. »Was hast du mit deinem Auge gemacht?«
In der anonymen Atmosphäre des Fernfahrerlokals bestellten Kit und Kincaid Eier, Speck, Würstchen, Champignons, Tomaten, gebratenes Brot und dazu eine Kanne Tee. Sie hatten Tess im Wagen auf der kleinen Decke zurückgelassen, die Kit für sie ausgegraben hatte, und sie hatte sich mit der Ergebenheit eines Hundes, der so etwas gewohnt war, aufs Warten eingerichtet.
Im Cottage hatte Kit die Hände gewaschen und die Haare gebürstet, dann ohne weitere Klagen seine Sachen zusammengesucht. Als er fertig war, hatte er aus der Küchenschublade einen Ersatzschlüssel genommen.
»War das Fenster nicht verriegelt?« hatte Kincaid gefragt, den sein mögliches Versäumnis beunruhigte.
»Das Schloß schnappt nicht richtig ein«, erwiderte Kit. »Das konntest du nicht wissen. Ich komme immer dort rein, wenn ich meinen Schlüssel vergessen habe. Mami ist dann stocksauer ...« Er hielt entsetzt inne, und Kincaid drängte ihn hastig aus dem Haus, den Arm um seine Schultern.
Diesmal behielt Kincaid den Schlüssel. Die Fahrt zum Fernfahrerlokal war schweigend verlaufen.
Ihr Tee kam, heiß und stark, und als sie in ihren Tassen rührten, warf Kincaid einen Blick auf die Uhr und zog sein Handy aus der Jackentasche. »Ich rufe Gemma an. Sie soll deinem Großvater sagen, daß du wohlauf bist. »Nein, warte«, fügte er hinzu, als Kit protestieren wollte. »Das ist im Moment alles. Wir machen immer nur einen Schritt nach dem anderen. Ist das fair?«
Kit nickte. Kincaid wünschte, er wäre wirklich so zuversichtlich, wie er sich gab. Was er Kit verschwiegen hatte, war, daß er nicht wußte, was der nächste Schritt sein sollte. Er wußte nur eines: Wenn er Kit jetzt seinen Großeltern auslieferte, verlor er ihn vermutlich für immer.
Er wählte Gemmas Nummer, informierte sie kurz und sagte dann: »Ruf Kits Großvater an und sag ihm Bescheid, daß Kit sicher in meiner Obhut ist. Nicht mehr und nicht weniger. Dann melde dich bei Laura Miller. Bitte, Liebling.«
»Was willst du jetzt tun?« fragte Gemma. »Du hast kein Recht, ihn ohne ihre Erlaubnis bei dir zu behalten.«
»Ich weiß«, antwortete er ausweichend. »Aber im Moment sehe ich keine Alternative.«
Am anderen Ende war es still. »Dann bring ihn hierher«, sagte Gemma schließlich. »Bis wir eine Lösung gefunden haben. Hier gibt’s wenigstens einen Garten für den Hund.«
»Was sagen Hazel und Tim dazu?«
»Ich rede gleich mit ihnen. Wir sehen uns dann in ein oder zwei Stunden«, fügte sie hinzu und legte auf.
Kincaid betrachtete Kit, der aufmerksam zugehört hatte, obwohl sein Frühstück gekommen war. »Wir besuchen erst mal Gemma«, erklärte er. »Einverstanden?«
Statt einer Antwort runzelte Kit die Stirn. »Ich wußte gar nicht, daß du die Millers kennst.«
»Sie haben sich Sorgen um dich gemacht. Gemma und ich haben uns Sorgen gemacht. Und ich schätze, all die Freunde, die Laura Miller angerufen hat, haben sich auch Sorgen gemacht.«
Kit wirkte betreten. »Daran habe ich nicht gedacht. Ehrlich. Ich wollte nur ...«
»Ich weiß. Gelegentlich verlieren wir den Überblick.« Kincaid zeichnete mit der Gabel einen Bogen in die Luft. »Iß dein Frühstück. So viele Stunden ohne Futter schaden dem Wachstum.«
»Du klingst wie Mum«, sagte Kit und konzentrierte sich auf sein Würstchen. Er aß eine Weile schweigend, dann sah er Kincaid an. »Es hat nichts genützt, weißt du? Ich meine, nach Hause zu fahren. Das hat sie auch nicht zurückgebracht.«
Gemma stand an der Spüle von Hazel und Tims Küche und machte nach dem Sonntagsessen den Abwasch. Kit hatte zwei große Portionen von Hazels Spaghetti vertilgt. Und das, nachdem er spät gefrühstückt hatte.
Seine anfängliche Zurückhaltung hatte er schnell abgelegt, wozu die vorbehaltlose und klettenhafte Bewunderung von Toby und Holly sicher mit beigetragen hatte. Hazel und Tim hatten ihn liebevoll, aber ohne großes Aufheben willkommen geheißen, und nach dem Essen hatte Hazel taktvoll vorgeschlagen, er möge Tess doch in der großen Badewanne im ersten Stock baden. Jetzt verpaßten er und Kincaid der Hundedame vor dem Kamin im Wohnzimmer eine Föhnfrisur. Die Kleinen waren natürlich dabei, waren dem Vorgang jedoch eher hinderlich, wie Gemma vermutete. Hazel und Tim nutzten die Gelegenheit zu einem Spaziergang.
Gemma war froh, ein paar Minuten für sich allein zu haben. Der Anblick von Duncan und Kit hatte ihr ganz unerwartet ein seltsames Gefühl beschert. Es kam ihr so vor, als habe das Wissen um die mögliche Verwandtschaft zwischen den beiden ihre Wahrnehmung verändert, denn jetzt fand sie die Ähnlichkeit zwischen ihnen so eindeutig, daß sie selbst nicht begriff, wie ihr das hatte entgehen können. Worauf sie allerdings nicht vorbereitet gewesen war, war die geradezu schmerzhafte Zärtlichkeit, die sie gegenüber beiden empfand. In diese mischte sich jedoch die Unsicherheit darüber, wie es mit Kit weitergehen sollte und wie Kit ihrer aller Leben verändern würde.
Die Tür ging auf, Kincaid kam herein und klopfte sich Hundehaare von seinem Pullover. »Ich stinke bestimmt nach nassem Hund«, sagte er grinsend. »Aber dafür riecht Tess jetzt eindeutig besser. Als nächstes müssen wir Kit in die Badewanne kriegen.«
Gemma trocknete die Hände an einem Geschirrtuch, ging zu ihm und schlang die Arme um seine Taille. Sie sah ihm in die Augen. »Jetzt hast du keine Zweifel mehr, oder?«
Er zog sie an sich und strich ihr übers Haar. »Nein«, sagte er leise. »Aber das macht mir angst. Es ist zu komisch ... ich hatte bereits zu fürchten begonnen, daß es vielleicht doch nicht wahr ist. Was passiert, wenn Ian McClellan zurückkommt und ihn mit nach Frankreich nimmt?«
Gemma löste sich von ihm, damit sie ihm ins Gesicht sehen konnte. »So weit sollten wir nicht denken. Ich koche uns eine Tasse Tee und erzähle dir dann, was hier alles passiert ist.«
Er ließ sie gehen, und kurz darauf kam Gemma mit zwei dampfenden Tassen Tee an den Küchentisch. »Was hat sein Großvater gesagt, als du ihn angerufen hast?« fragte er, als sie sich setzten.
»Er schien erleichtert. Er wartet auf deinen Anruf. Aber ich konnte Eugenia im Hintergrund hören. Sie ist entschlossen, Kit zu bestrafen.« Gemma schüttelte den Kopf. »Ist mir schleierhaft, wie bei dieser Familie aus Vic ein vernünftiger Mensch werden konnte.«
Kincaid dachte nach. »So schlimm ist es mit Eugenia wohl erst in den letzten Jahren geworden. Auf anderen herumzuhacken ist vielleicht ihre Art, die Trauer um ihre Tochter zu bewältigen - oder nicht zu bewältigen.«
»Zu liebenswürdig von dir«, murmelte Gemma.
Er zuckte die Schultern. »Also gut. Die Frau ist eine Hexe. Wichtig ist, daß sie in ihrem gegenwärtigen Zustand als Vormund für Kit nicht geeignet ist und das wahrscheinlich auch nie sein wird.«
»Hazel hat gesagt, daß Kit so lange wie nötig im Gästezimmer bleiben kann, und als ich heute morgen mit Laura Miller gesprochen habe, hat sie auch angeboten, Kit bei sich aufzunehmen, zumindest bis zum Schuljahresende.« Gemma stützte die Ellbogen auf den Tisch und beugte sich vor. »Das braucht der Junge - Schule und Freunde und so was wie ein normales Familienleben.«
»Da rennst du bei mir offene Türen ein, Liebes.«
»Du mußt nur die Großeltern überzeugen. Eugenia hat Laura einen Korb gegeben.«
»Ich weiß.« Er griff nach seinem Handy. »Aber ich habe nicht die Absicht, mit Eugenia über irgend etwas zu verhandeln. Ich werde die Sache nach meinem Gutdünken regeln.«
Er drückte ein paar Tasten. »Hallo, Bob. Duncan hier.« Nach einem Moment sagte er. »Nein, nein. Es geht ihm gut. Aber er bleibt die Nacht über hier bei Freunden in London. Beide sind Psychologen. Sie wissen, wie man sich in einer solchen Situation verhält.« Er hörte kurz zu und fuhr dann fort: »Ich schätze, du kannst Eugenia überzeugen, daß sie jetzt Ruhe braucht. Du hast meine Telefonnummer. Ich bin jederzeit für dich erreichbar. Wir reden morgen weiter.«
Damit legte er auf. Gemma merkte plötzlich, daß sie nicht mehr allein waren. Sie drehte sich um. Kit stand in der Küchentür. Bevor Kincaid etwas sagen konnte, berührte sie seinen Arm und deutete zur Tür.
»War das mein Großvater?« fragte Kit mit ausdrucksloser Miene.
Kincaid nickte. »Hazel und Tim laden dich ein, über Nacht hierzubleiben - vorausgesetzt, es ist dir recht.«
»Warum kann ich nicht bei dir bleiben?«
»Komm, setz dich her und trink eine Tasse Tee«, forderte Gemma Kit auf und verschaffte Kincaid damit Zeit, sich seine Antwort zu überlegen.
Als Kit langsam zum Tisch kam, sagte Kincaid: »Sicher könntest du auch auf meinem Sofa schlafen. Aber bei mir gibt’s keinen Zugang zum Garten für Tess. Ich wohne im obersten Stock.« Er hielt einen Moment inne. »Wenn du lieber hierbleibst, solange ich in der Nähe bin, kann ich bei Gemma nebenan übernachten. Vorausgesetzt, sie ist einverstanden.«
Gemma zog ihm eine Grimasse und reichte Kit die Tasse Tee. »Ich denke, das können wir hinkriegen.«
»Was ist mit morgen?« erkundigte sich Kit vorsichtig.
»Daran arbeiten wir noch.« Kincaid beobachtete ihn, während er seinen Tee trank. »Möchtest du eine Weile bei den Millers bleiben, wenn wir das vereinbaren könnten? Sie möchten, daß du zu ihnen kommst, und dann könntest du wieder in die Schule gehen und deine Freunde sehen.«
»Was ist mit Tess?«
»Laura freut sich, wenn du sie mitbringst«, erwiderte Gemma. Laura war im Gegenteil sogar wütend geworden, als sie von Eugenias Weigerung erfahren hatte, den Hund ins Haus zu lassen.
Kit starrte in seine Tasse Tee und runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob ich wieder in die Schule will.«
»Die ersten Tage ist es sicher ein bißchen peinlich«, sagte Gemma. »Weil die anderen nicht wissen, was sie zu dir sagen sollen. Aber das regelt sich von selbst.«
Kit schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht. Es ist Miß Pope.«
Gemma sah Kincaid an, der überrascht die Augenbrauen hochzog.
»Wer ist Miß Pope?« fragte er. »Eine Lehrerin von dir?«
»Englisch.« Kit zog eine Grimasse. »Ich hasse Englisch. Ich will Biologe werden - wie Nathan. Und ich hasse Miß Pope.«
Gemma spürte, daß mehr dahintersteckte als die Abneigung gegen ein bestimmtes Unterrichtsfach. »Hat Miß Pope etwas gesagt, das dich richtig wütend gemacht hat?«
Kit nickte. »Sie ... hat schlecht über meine Mutter geredet. Über meine Mum und meinen Dad. Sie hat behauptet, wenn Mum eine gute Ehefrau wäre, wäre Dad nie fortgegangen.«
»Großer Gott!« flüsterte Kincaid. Dann sagte er vorsichtig: »Kit, hast du deiner Mutter davon erzählt?«
Kits Augen füllten sich mit Tränen. Er wischte sie wütend weg und nickte. »Am Tag bevor sie ... Zuerst dachte ich, daß sie deshalb gestorben ist, weil sie sich so aufgeregt hat. Sie haben gesagt, daß es ihr Herz war. Aber gestern nacht ...« Er hielt inne und zog die Nase hoch.
»Weiter«, drängte Kincaid. »Was ist gestern nacht gewesen?«
»Tess war nicht der einzige Grund, weshalb ich fortgelaufen bin. Ich habe sie reden gehört. Großmutter hat gesagt, daß Mum ... sie hat gesagt, daß Mum ermordet worden ist. Aber ich versteh das nicht. Warum wollte jemand meine Mutter umbringen?«
Kincaid schloß kurz die Augen, und Gemma vermutete, daß er all seine Beherrschung zusammennehmen mußte, um wegen Eugenia nicht ausfallend zu werden. »Wir wissen es nicht«, antwortete er schließlich. »Die Polizei versucht es gerade herauszufinden. Aber was auch geschehen ist, es ist nicht deine Schuld. Es hatte nichts mit dir zu tun.«
Ein leises Fiepen war aus dem Wohnzimmer zu hören. Dem folgten Kindergekicher und aufgeregtes Hundegebell.
»Ach herrje!« stöhnte Gemma. »Wir haben die kleinen Kobolde zu lange allein gelassen.« Sie schob ihren Stuhl zurück.
»Ich mach das schon!« erbot sich Kit und sprang auf. »Ich hab ihnen vorhin >101 Dalmatiner< ins Videogerät geschoben. Kann sein, daß sie inzwischen einen Pelzmantel aus Tess gemacht haben.« Kit rannte hinaus, und Gemma sank auf ihren Stuhl zurück.
»Zwei Dinge weiß ich jetzt«, murmelte Kincaid. »Einmal, daß wir sicher sein können, wohin Vic gefahren ist, nachdem sie an jenem Nachmittag ihre Fakultät verlassen hat. Und zum anderen«, er machte eine Pause und sah Gemma in die Augen, »daß ich nicht zulasse, daß Kit nach Reading zurückkehrt. Um keinen Preis der Welt.«