Und die Erinnerung kommt, geht, kehrt wieder, wird vergessen, und ist doch da, an die Geschichte, die ich einst gehört oder erlebt, an eine schale Geschichte von Müßiggang und Schmerz von Zweien, die sich liebten - oder nicht geliebt -, und einem dessen verwirrtes Herz leichtfertig Böses tat,
vor langer Zeit, an anderen Gestaden.
Rupert Brooke aus >Waikiki<
»Und was sagt uns das alles?« fragte Kincaid, griff nach seinem Tomaten-Käse-Sandwich und stöhnte vor Schmerz, als er beim ersten Bissen seine aufgeplatzte Lippe berührte. Gemma hatte sich bereits über ihr Sandwich hergemacht, und er beobachtete, wie der Eiersalat über die Ränder quoll, als sie erneut hineinbiß.
Sie saßen in einer Teestube im Tiefparterre nahe der St. John’s Street, teils weil Hazel das Lokal empfohlen hatte, teils weil Kincaid mit Ralph Peregrine verabredet war, dessen Verlag in der Nähe lag. Kincaid mußte anerkennen, daß die Teestube ein angenehmes Lokal war, gemütlich warm, mit schweren Eichenmöbeln und hellblauen Tischdecken. Aber die Zeichnung von Alice im Wunderland auf der Speisekarte weckte Erinnerungen an Vic.
»Du hättest Morgan nicht so provozieren dürfen«, sagte Gemma mit leichtem Vorwurf, während sie besorgt zusah, wie er seine geplatzte Lippe betastete. »Und an der Backe kriegst du einen wunderbaren Bluterguß«, fügte sie sachlich hinzu.
»Der Mann schlägt Frauen - das hat er selbst zugegeben. Er hätte Lydia beinahe umgebracht. Wieso nimmst du ihn in Schutz?« konterte Kincaid trotzig.
»Normalerweise läßt du dich nicht von deinen persönlichen Vorurteilen leiten.« Gemma musterte ihn über den Rand ihrer blauweißen Teetasse hinweg. »Außerdem bin ich nicht sicher, daß das stimmt - ich meine, daß er Frauen schlägt. Ich glaube, er ist ein Hitzkopf, und Lydia hat ihn provoziert ...«
»Willst du damit sagen, Lydia hat nur gekriegt, was sie verdient hatte?« entgegnete er aufgebracht mit vollem Mund. »Das ist ungeheuerlich. Ich hab mich wohl verhört. Ausgerechnet du ...«
»Selbstverständlich habe ich das so nicht gemeint«, fiel sie ihm ebenso hitzig ins Wort. »Ich will damit nicht sagen, daß Morgan recht gehandelt hat. Aber das war eine Sache zwischen Lydia und Morgan. Zwei extreme Charaktere, eine brisante Mischung - was sie beide an die Grenzen des Wahnsinns getrieben hat. Außerdem gehe ich jede Wette ein, daß Morgan Francesca nie auch nur ein Haar gekrümmt hat.«
»Na und? Das bedeutet nicht, daß er Lydia vor zwanzig Jahren nicht umgebracht haben kann.«
»Er hat sie nicht umgebracht. Nicht so.« Gemma schüttelte heftig den Kopf. »Morgan handelt im Affekt. Giftmorde erfordern kaltes Kalkül - Absicht und Planung. Dazu ist Morgan nicht fähig.« Nachdenklicher fügte sie hinzu: »Mich interessiert, ob Lydia diese Szenen wirklich absichtlich provoziert hat oder ob das nur seine Sichtweise - seine Ausrede für sein Verhalten ist.«
»Das erfahren wir nie. Sowieso ist jede Diskussion sinnlos. Wir haben nichts Belastendes gegen Morgan Ashby in der Hand«, seufzte Kincaid. »Aber wenn du dir einer Sache sicher bist, gehst du mit dem Kopf durch die Wand ... Muhammed Ah.«
Gemma lächelte in der Pose der Siegerin. »Dann sollten wir jetzt nachprüfen, was Morgan uns erzählt hat, oder? Daphne erreichen wir erst Montag. Aber wir könnten es bei Darcy Eliot und Nathan Winter versuchen.« Sie trank ihre Tasse Tee aus.
»Also gut«, pflichtete er bei. »Aber zuerst möchte ich mit Ralph Peregrine reden. Die verschwundenen Gedichte liegen mir im Magen.«
Nachdem sie gezahlt hatten, stiegen sie die steile Wendeltreppe ins Parterre empor und gingen durch ein Ladengeschäft mit schöner Tischwäsche aus Leinen und Spitzen. Kincaid sah, wie Gemmas Hand sich nach einer besonders schönen Handarbeit ausstreckte, die neben der Tür ausgebreitet lag, und zurückzuckte, ohne sie zu berühren, bevor sie ihm auf die Straße hinaus folgte.
In der halben Stunde, die sie in der Teestube im Tiefparterre verbracht hatten, war das Wetter umgeschlagen. Der Himmel war wolkenverhangen, und die kühle Luft roch nach Regen.
Sie passierten einige Feinkostgeschäfte und erreichten wenige Minuten später das unauffällige Bürohaus an der Ecke zur Sidney Street. Ein Messingschild trug den Namenszug des Verlags.
Eine Klingel gab es nicht. Die Tür war offen. Sie betraten das Foyer. Eine Treppe führte in den ersten Stock und zu einer Milchglastür. »Bist du sicher, daß jemand da ist?« fragte Gemma. »Es ist still wie in einer Kirche. Und es ist Samstag.«
»Peregrine hat gesagt, daß er arbeitet«, versicherte Kincaid, als sie die Stufen hinaufstiegen. Er öffnete die Glastür im ersten Stock und ließ Gemma den Vortritt. Dahinter lag eine Art Vorzimmer mit schäbigem Sofa, Couchtisch, bunt gefüllten Bücherregalen und Stapeln von Manuskripten. Die Tür zu einem angrenzenden Büro war geschlossen. Kincaid hörte eine Männerstimme. Ralph Peregrine schien zu telefonieren.
»Die Exklusivität, die man mit dem Peregrine-Verlag verbindet, sucht man hier aber vergebens«, bemerkte Kincaid und fuhr mit dem Daumen über einen staubigen Aktenstapel. »Was meinst du, sind das Manuskripte?«
»Organisationsgenies scheinen hier nicht gerade am Werk zu sein.« Gemma rümpfte die Nase. »Ist ein Wunder, daß sie es schaffen, überhaupt Bücher zu ...«
»Hallo! Ich habe doch Stimmen gehört.« Die Seitentür hatte sich lautlos geöffnet. Ein hagerer, dunkelhaariger Mann in Cordhose und kirschrotem Pullover stand lächelnd auf der Schwelle. »Sie müssen Mr. Kincaid sein. Ich bin Ralph Peregrine.«
Nachdem Kincaid Gemma vorgestellt hatte, die unwillkürlich rot geworden war, führte Peregrine sie in sein Büro. »Hier ist es gemütlicher«, erklärte er und bot ihnen zwei antike Stühle an, die aussahen, als habe man sie aus einem Speisezimmer entwendet. Peregrines Büro war schon eine Nuance eleganter. Der Schreibtisch, auf dem sich gefährlich instabile Papier- und Bücherstapel türmten, sah wertvoll aus, und der Teppich unter ihren Füßen hatte die federnde Qualität eines echten Persers. Links vom Schreibtisch stand ein Computer modernster Machart mit Drucker auf einem Computertisch. Kincaid gefiel die Vorstellung, daß das Endprodukt dieser neuesten Technologie noch immer gedruckte Worte auf gebundenem Papier waren.
Peregrine setzte sich halb auf die Schreibtischkante und sah sie an, den Rücken dem großen Fenster hinter seinem Schreibtisch zugewandt. Er verschränkte entspannt die Arme vor der Brust und fragte: »Also, was kann ich für Sie tun?«
Es ist ein Kriminalfall, dachte Kincaid. Zitiere einfach die Fakten und laß dir den Blick nicht von den Gedanken an Vic verstellen. Er räusperte sich. »Wie ich schon am Telefon gesagt habe, geht es um Lydia Brookes letzten Gedichtband. Ich meine den, der posthum veröffentlicht worden ist. Vic McClellan hat bei Lydias Nachlaß Gedichte entdeckt, die ihrer Meinung nach in diesem Band hätten enthalten sein müssen. Deshalb stellt sich die Frage, ob es vielleicht Ihre redaktionelle Entscheidung war, gewisse Gedichte nicht in dieses Buch aufzunehmen.«
»Ganz sicher nicht«, erwiderte Ralph amüsiert. »Lydia und ich standen in bestem Einvernehmen. Ich hätte ihr nie ins Handwerk gepfuscht.« Er wurde ernst. »Und nach ihrem Tod, als wir uns nicht mehr absprechen konnten, hätte ich das erst recht nicht getan. Ich habe Lydias Manuskript so veröffentlicht, wie ich es von ihr bekommen hatte, und war sehr darauf bedacht, alles genau so zu machen, wie sie es sich gewünscht hätte.« Er nahm seine Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. »Ich erinnere mich allerdings, daß ich damals gedacht habe, der Reihenfolge der Gedichte ginge eine gewisse Kontinuität ab. Sie erschien mir etwas sprunghaft. Aber nach Lydias Tod habe ich ihre Depressionen dafür verantwortlich gemacht.«
»War das Manuskript denn fortlaufend numeriert?« wollte Gemma wissen.
Ralph schüttelte den Kopf. »Nein. Lydia hatte die Angewohnheit, mit der Reihenfolge der Gedichte bis zum letzten Tag zu spielen, und da sie auf einer Schreibmaschine arbeitete, wäre es ein Heidenaufwand gewesen, die Seiten jedesmal neu durchzunumerieren.«
»Es hätte also jemand unschwer hier und dort eine Seite aus dem Manuskript verschwinden lassen können?« vermutete Kincaid.
»Schon. Vermutlich«, erwiderte Ralph verdutzt. »Aber warum um Himmels willen hätte das jemand tun sollen?«
»Das wissen wir nicht. Wir haben nur Vics Behauptung, daß etwas nicht stimmt.« Kincaid blinzelte, als wolle er die Vision von Vics erregtem Gesicht, als sie die Durchschläge mit den Gedichten vor ihrer Nase herumschwenkte, vor seinem geistigen Auge auslöschen.
»Gewiß war Dr. McClellan eine Expertin, was Lydias Werk betrifft. Aber wenn sie der Meinung war, daß jemand an Lydias Manuskript herumgepfuscht hat, warum hat sie das nicht mit mir besprochen?« wollte Ralph wissen. Der Mann hat ein intelligentes Gesicht, dachte Kincaid. Mit wachen dunklen Augen und einer hohen Stirn. Er war nicht zu unterschätzen.
»Sie hat das erst wenige Tage vor ihrem Tod entdeckt«, warf Gemma ein. »Die Zeit lief ihr einfach davon.«
»Haben Sie eine Ahnung, wer Zugang zu Lydias Manuskript gehabt haben könnte, bevor Sie selbst es gelesen haben?« fragte Kincaid.
Ralphs Blick schweifte über die zahllosen Bücher und Manuskripte in seinem Arbeitszimmer. Das sprach Bände. »Sie sehen ja, was hier los ist. Ich komme mir wie Sisyphus vor, der alle Aufgaben gleichzeitig zu erledigen versucht. Meine Assistentin kann nur das Schlimmste verhindern. Hier kommen viele Leute durch, aber wir hatten nie Grund, auf Sicherheitsvorkehrungen zu achten.« Er warf unauffällig einen Blick auf die Uhr. »Allerdings ist es möglich, daß Lydia aus irgendeinem Grund selbst beschlossen hat, Gedichte aus der Sammlung herauszunehmen. Aber was sollte das mit Dr. McClellans Tod zu tun haben? Das alles kommt mir doch ziemlich weit hergeholt vor.«
»Es könnte nicht nur etwas mit Dr. McClellans Tod, sondern auch mit Lydias Tod zu tun haben.« Kincaid, der Ralph aufmerksam beobachtete, erkannte, wie schnell der Mann die Andeutung verarbeitete.
»Lydia? Wie meinen Sie das?« Ralph klang ehrlich überrascht. Er sah verwirrt von einem zum anderen.
»Wir halten es für möglich, daß Lydia Brooke ermordet worden ist«, eröffnete Kincaid ihm.
Ralph starrte ihn an. »Ermordet? Aber ... das ist unmöglich. Lydia war eine mäßig erfolgreiche Lyrikerin mittleren Alters, die bekanntermaßen seit Jahren an Depressionen gelitten hatte. Weshalb sollte jemand sie ermordet haben?«
»Wir hatten eigentlich gehofft, Sie könnten uns da einen Hinweis geben«, gestand Gemma mit einem Lächeln. »Wir dachten, daß Sie vielleicht eine objektivere Einschätzung von ihr haben. Immerhin hatten Sie ein reines Arbeitsverhältnis mit ihr. Und sie kannten sich seit langem.«
»Ja, das ist richtig«, erwiderte Ralph bedächtig. »Lydia gehörte zu den ersten Autoren, die ich für den Verlag gewinnen konnte. Wir sind sozusagen zusammen groß geworden. Anfangs waren wir - beide - schrecklich naiv, was das Verlagswesen anging. Aber Lydia hat mir meine Fehler verziehen. Ich mochte sie sehr.«
Ralph betrachtete nachdenklich das Brillengestell in seiner Hand und sah dann auf die Uhr. »Tut mir leid, aber ich kann Ihnen wirklich nicht mehr sagen. Je älter Lydia wurde, desto eigenwilliger wurde sie. Und gelegentlich wurde sie auch ein wenig rührselig. Aber seit wann bringt man deshalb einen Menschen um? Sie war mit ihrer Zeit und ihrem Rat sehr großzügig - sie hat jüngeren Lyrikern oft geholfen. Sicher standen Leute in ihrer Schuld.«
»Und in ihrem Privatleben?« fragte Kincaid prompt.
»Lydia hat nie über Einzelheiten aus ihrem Privatleben mit mir gesprochen, abgesehen von dem üblichen Geplänkel über Feuchtigkeit in den Hauswänden und Löchern im Dach.«
»Was ist mit Morgan Ashby?«
»Ich habe ihn natürlich zu Beginn meiner Zusammenarbeit mit Lydia kennengelernt. Er mochte mich wohl nicht besonders. Gesellschaftlich hatten wir kaum Berührungspunkte. Meine Frau und ich haben sie beide einmal zum Essen eingeladen. Daran erinnere ich mich. Das muß gegen Ende ihrer Ehe gewesen sein. Der Abend war kein Erfolg.« Diesmal war der Blick auf die Uhr vielsagend. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen. Ich habe eine Verabredung ...«
Sie hörten, wie die Tür zum Vorzimmer geöffnet und wieder geschlossen wurde. Dann ertönte eine Frauenstimme: »Entschuldigung, Ralph, Lieber. Ich bin zu früh.« Die Bürotür ging auf. »Oh, Verzeihung«, sagte die silberhelle Stimme atemlos. »Ich hatte keine Ahnung, daß du Besuch hast. Ich wollte nur ...«
»Nein, nein. Komm bitte rein, Margery.« Ralph ging hastig zur Tür, und Kincaid und Gemma drehten sich verlegen auf ihren Stühlen um. »Warum rennst du nur immer so die Treppe herauf«, sagte Ralph liebevoll besorgt. »Du bist ganz außer Atem.«
»Keine Betulichkeiten, mein Lieber. Du weißt, das macht mich alt«, erwiderte sie lachend.
Kincaid erhob sich schnell, als die Frau an Ralphs Arm das Zimmer betrat. Sie mußte um die Siebzig sein, schätzte Kincaid, und war ganz in Silbergrau gekleidet. Ein Farbton, der perfekt zum Klang ihrer Stimme paßte.
»Margery, darf ich dir Superintendent Kincaid und Sergeant James von Scotland Yard vorstellen?« Ralph nickte ihnen zu. »Dame Margery Lester.«
Die berühmte Schriftstellerin wie aus dem Bilderbuch, dachte Kincaid. Kein Wunder, daß seine Mutter sie verehrte.
Sie hatte ganz offenbar nicht nur Talent, sondern war auch eine Schönheit gewesen. Und Margery Lester war noch immer eine attraktive Frau; hoheitsvoll bis zum bläulichen Schimmer ihrer Porzellanhaut. Es überraschte ihn allerdings, daß seine Mutter mit ihrer generationenalten Labourtradition eine Frau bewunderte, die so perfekt altes Geld und elitäre Erziehung verkörperte. Aber vielleicht unterschätzte er seine Mutter. Vielleicht, überlegte er, als er in Margery Lesters helle, intelligente Augen sah, unterschätzte er sie beide.
»Dame Margery«, begann er und nahm ihre Hand. Nachdem sie Gemma begrüßt hatte, bestand er darauf, daß sie sich auf seinen Stuhl setzte. »Meine Mutter ist eine große Bewunderin von Ihnen«, fügte er hinzu und trat neben Gemma. »Ich frage mich allmählich, ob ich in dieser Beziehung etwas versäumt habe.«
»Ich schreibe keine >Frauenbücher<«, erklärte Margery und strich den Rock ihres silbergrauen Kostüms über den Knien glatt. »Ich hasse diesen Public-Relations-Trick, sämtliche Titel in blumige Cover zu pressen. Aber die Vertriebsheinis setzen immer ihren Kopf durch. Ich kann also nur hoffen, daß Männer gelegentlich trotzdem meine Bücher aufschlagen und entdecken, daß eine gute Story drinnen ist.« Sie lächelte, als wolle sie Menschen, die lesen, alles verzeihen.
»Möchte vielleicht jemand was zu trinken?« erkundigte sich Ralph, der gewandt in die Rolle des Gastgebers schlüpfte. »Die Sonne dürfte schon über den Deister sein. Außerdem ist es Samstag. Ich mixe anständige Gin Tonics - nur auf Limonen muß leider verzichtet werden.«
»Ich rühr das Zeug nicht an!« wehrte Margery abrupt ab. »Anweisung meines Arztes. Aber zu einem kleinen Sherry sage ich nicht nein.«
Ralph warf Kincaid einen fragenden Blick zu. Und Kincaid ertappte sich bei dem Wunsch, Margery Lester etwas besser kennenzulernen. »Ich schließe mich Dame Margery gern an«, Erwiderte er und fühlte Gemmas erstaunten Blick, bevor auch sie für einen Sherry votierte.
Während Ralph sich an einem Schränkchen zu schaffen machte, beugte Kincaid sich vor und flüsterte Gemma ins Ohr: »Schließlich sind wir eigentlich nicht im Dienst.«
»Was führt Sie hierher, Mr. Kincaid? Verzeihen Sie meine Neugier«, bemerkte Dame Margery, und Kincaid überlegte, ob ihr Gehör noch so gut funktionierte wie ihre grauen Zellen.
Ralph sah von der Sherrykaraffe auf, aus der er einschenkte, »Die Herrschaften haben sich nach Victoria McClellan erkundigt.«
»Eine schreckliche Geschichte!« Margery schüttelte den Kopf. »Ich bin ihr mehrfach begegnet, wissen Sie? Bei Fakultätsfeiern. Sie war eine ausgesprochen charmante Frau. Man erwartet einfach nie, daß so etwas einem Menschen zustößt, den man kennt.« Sie sah Ralph an, der ihr das Sherryglas reichte. »Das läßt unser kleines Projekt regelrecht frivol erscheinen, nicht wahr?«
Ralph reichte Gemma und Kincaid je ein Glas. »Dem armen Henry wäre das nie frivol erschienen.«
»Und welches Projekt ist das, Dame Margery?« erkundigte sich Gemma prompt.
»Ich habe Ralph geholfen, Henry Whitecliffs Aufzeichnungen aufzubereiten, damit sie endlich veröffentlicht werden können. Der arme Henry ist vergangenen Sommer gestorben, bevor er sein Manuskript fertigstellen konnte.« Margery prostete Ralph zu, der sich ebenfalls einen Sherry genehmigte.
»Zum Wohl!« sagte sie und nippte an ihrem Glas.
»Der Name sagt mir etwas«, murmelte Kincaid nachdenklich. »Aber warum wird er nur immer als der >arme Henry< bezeichnet?«
»Das ist ganz unbewußt, schätze ich«, seufzte Margery. »Aber es sieht so aus, als habe der arme Henry ... Sehen Sie, jetzt ist es mir schon wieder rausgerutscht.« Sie lächelte und korrigierte sich: »Es sieht so aus, als habe Henry Whitecliff mehr als das übliche Bündel im Leben zu tragen gehabt. Dabei war er ein wunderbarer, freundlicher Mann, der es am wenigsten verdient hätte.«
Ralph kehrte zu seinem Platz auf der Schreibtischkante zurück. »Henrys einzige Tochter ist kurz vor ihrem sechzehnten Geburtstag spurlos verschwunden. Ich erinnere mich vage an sie - wir waren ungefähr gleich alt, gingen aber nicht auf dieselbe Schule.«
»Verity war ein bezauberndes Mädchen. Sehr intelligent, freundlich, wenn auch etwas eigenwillig - genau der Typ, der sich versucht gefühlt hätte, sich ins Swinging London von damals zu stürzen, nachdem es Krach mit den Eltern gegeben hatte. Henry und Betty waren untröstlich. Jahrelang sind sie der kleinsten Spur nachgegangen und haben immer gehofft, daß sie eines Tages nach Hause zurückkehren würde. Dann bekam Betty Krebs.« Margery verstummte und umfaßte den Stil ihres Glases mit beiden Händen. Kincaid fiel auf, daß sie noch immer schöne Hände hatte. Wenn auch blaue Adern auf den Handrücken hervortraten und die Knöchel leicht verdickt waren, als leide sie an Arthritis.
Nach einem besorgten Blick auf Margery spann Ralph die Geschichte weiter. »Nach Bettys Tod zog sich Henry vom Posten des Dekans der Englischen Fakultät zurück und begann sein Buch zu schreiben. Eine umfassende Geschichte von Cambridge. Er wollte es Verity widmen. Ich glaube, der Gedanke hat ihn jahrelang am Leben erhalten. Dann hat er sich eines Abends im vergangenen Sommer ins Bett gelegt und ist anderntags nicht mehr aufgewacht.« Er zuckte mit den Schultern. »Die Leute empfinden einen solchen Tod als einen Segen. Ich finde ihn unfair. Es bleibt einem keine Chance, Unvollendetes zu vollenden oder sich zu verabschieden.«
Wäre es besser gewesen, wenn er Gelegenheit gehabt hätte, Vic Adieu zu sagen? All die Dinge zu sagen, die er vielleicht gesagt hätte? Kincaid konzentrierte sich wieder auf Margery.
»... haben Ralph und ich beschlossen, das Manuskript zu vollenden und zu verlegen«, erklärte Margery. »Ein Akt der Liebe, wenn Sie so wollen.«
Ralph klopfte mit der flachen Hand auf ein dickes Manuskript in der Mitte seines Schreibtischs. Er starrte einen Moment darauf, dann sah er stirnrunzelnd zu Kincaid auf. »Diese Gedichte, von denen Sie sprachen - ich möchte sie gern sehen. Ich bin nicht so ... beschlagen, was Lydias Werk angeht, wie Dr. McClellan. Aber möglicherweise kann ich wirklich sagen, ob sie zum Manuskript gehört haben. Die Idee, daß Seiten eines mir anvertrauten Manuskripts sich selbständig gemacht haben könnten, gefällt mir überhaupt nicht.« Er sah Magery an und fügte hinzu: »Die Herrschaften sagen, daß Dr. McClellan Gedichte gefunden hat, die in Lydias letztem Band hätten veröffentlicht werden sollen.«
»Wenn ich sie hätte, würde ich Sie Ihnen gern zeigen«, erwiderte Kincaid. »Aber wir konnten sie bei Dr. McClellans Unterlagen nicht finden. Sie sind verschwunden.«
»Wie merkwürdig«, sagte Margery nachdenklich. Ihr Blick ruhte noch immer auf Henry Whitecliffs Manuskript. »Jetzt gibt es schon wieder ein unvollendetes Buch - das von Victoria McClellan. Ich weiß, mit welcher Hingabe sie an diesem Projekt gearbeitet hat. Es wäre eine Schande, wenn alles umsonst gewesen sein sollte.«
»Margery, daran solltest du nicht einmal denken«, warf Ralph entsetzt ein. »Du hast schon genug zu tun. Und der Arzt hat dich gewarnt ...«
»Als wenn der davon eine Ahnung hätte, der alte Knacker«, entgegnete Margery geringschätzig. »Wenn ich auf ihn hören würde, könnte ich mich einbalsamieren lassen.« Sie lächelte Ralph verzeihend zu. »Ich weiß Deine Sorge zu schätzen, mein Lieber. Aber du weißt, daß die Arbeit mich am Leben hält. Und wenn ich so enden sollte wie Henry, dann habe ich nichts dagegen.«
»Dame Margery«, meldete sich Kincaid zu Wort. »Ich schlage vor, Sie lassen dieses besondere Projekt noch etwas ruhen. Ich bin auf wesentlich konkretere Art um Ihre Gesundheit besorgt - an Vic McClellans Manuskript zu arbeiten könnte sich als lebensgefährlich erweisen.«
Cambridge 27. März 1969
Liebste Mami,
Deine Ingwerplätzchen sind ein Gedicht, und ich knabbere sie, wenn ich an normales Essen nicht einmal denken kann. Ich habe die Büchse in die Mitte des Küchentischs gestellt, so daß ich sie zum Tee essen kann, während ich die Buchfinken im Garten beobachte.
Es war ein langer Winter. Aber ich glaube, ich habe mich jetzt mit allem abgefunden. Morgan hat eine Geliebte. Ich habe sie zusammen auf dem Marktplatz gesehen. Er war ganz bleich vor Elend, und ich bin sicher, er glaubt, daß ich ihm nur Schlechtes wünsche, aber das ist nicht wahr. Dazu fühle ich mich zu hohl, leicht und freischwebend wie eine leere Samenkapsel im Wind, und erst wenn der Scheidungsspruch ergeht, kann ich wieder ich selbst sein. Das Schreiben geht zäh voran, wenn überhaupt, und das fehlt mir mehr als alles andere.
Alte Freunde umsorgen mich - Adam mit nahrhaften Suppen und geistlichem Trost, und ich bin dankbar genug für seine Gesellschaft, um die unterschwelligen Hoffnungen zu ignorieren. Niemand ist es wert, das durchzumachen, was ich die letzten Monate, ja Jahre, durchgemacht habe.
Immer wieder taucht Darcy zum Cocktail auf und verbreitet akademischen Klatsch, und seine scharfe Zunge ist leichter zu ertragen als Mitleid. Nathan Winter und seine Frau Jean haben gerade ihr erstes Baby bekommen - ein Mädchen namens Allison, und ich soll Patin werden. Ich habe mich aufgerafft und das Taufgeschenk erworben, einen Silberbecher mit ihrem Namen und Geburtsdatum, und habe mir später ein Abendessen bei Browns genehmigt.
Daphne ist mein Fels in der Brandung, aber sie mußte sich schließlich wegen der Lehrerstelle in Bedford entscheiden, und ich konnte sie nur dazu ermutigen. Bedford ist eine angesehene Mädchenschule und nur eine Stunde Fahrt entfernt, so daß wir uns weiter an den Wochenenden sehen können. Ein tröstlicher Gedanke.
Alles Liebe, Lydia
Kincaid bat Gemma, Laura Miller anzurufen, um sich zu erkundigen, wo sie Darcy Eliot an seinen Wochenenden finden konnten. Sie schickte sie zum All Saints’ College. »Er bewohnt dort seit einer Ewigkeit dieselben Räumlichkeiten«, klärte Laura sie auf. »Ich habe die männlichen Professoren immer um die Möglichkeit beneidet, ihr Domizil im College aufzuschlagen. Sie werden dort verköstigt, bedient und hängen am collegeeigenen Weinvorrat wie am Tropf. Darcy hat aus diesem Grund nie geheiratet - seiner Ansicht nach hätte er sich nur verschlechtern können«, fügte sie lachend hinzu und legte auf.
Gemma und Kincaid betraten die Portiersloge und wurden zur Rückseite des Collegegebäudes dirigiert. Gemma ging langsam. Sie war sich Kincaids Ungeduld wohl bewußt, ignorierte sie jedoch. Sie warfeinen Blick auf den Faltplan, den sie Vom Portier bekommen hatte, und sah dann zu den vier Gebäudetrakten hinüber, die den Hof umschlossen. »Das ist der Haupthof«, sagte sie. »Und hier links muß der Durchgang zur Kapelle sein. Wir gehen hier durch« - sie deutete auf das vor ihnen liegende Gebäude - »und kommen auf der anderen Seite wieder raus.«
Als sie dort angelangt waren, blieb sie stehen und studierte erneut den Plan.
»Gemma ...« kam es ungeduldig von Kincaid.
»Schon gut.« Sie führte ihn über den Rasen und an den Gebäuden entlang, die sich zu ihrer Rechten halbmondförmig an den öffentlichen Park anschlossen und an der Mauer über der Cam endeten.
Darcy Eliots Aufgang erwies sich als der letzte in dem Gebäudeteil, der dem Fluß am nächsten lag. Den Anweisungen des Portiers folgend stiegen sie in den ersten Stock hinauf. Dort fanden sie die Tür mit Eliots Türschild ohne Schwierigkeiten. Bevor sie jedoch klopfen konnten, ging die Tür auf.
»Bill hat angerufen und Ihr Kommen angekündigt«, empfing Darcy Eliot sie erfreut. »Aber ich dachte schon fast, Sie seien in die Cam gefallen.« Er trat zurück und winkte sie herein. »Was hat Sie aufgehalten?«
»Tut mir leid, aber ich habe mir wohl alles zu genau angesehen«, gestand Gemma und schwenkte ihren Lageplan.
»Kann ich Ihnen kaum verdenken. All Saints’ ist ein Kleinod - klein, aber fein, finden Sie nicht?« Eliot musterte sie neugierig. Er trug einen großen blauen Kaschmirpullover über der Hose und wirkte legerer und menschlicher, als sie ihn von der Beerdigung her in Erinnerung hatte. »Bitte nehmen Sie Platz.« Er deutete auf ein Samtsofa von demselben Blau wie sein Pullover.
Aber Gemma hatte bereits das Zimmer durchquert, wie magisch angezogen von dem Erkerfenster auf der anderen Seite. Die Männer folgten ihr und nahmen sie in ihre Mitte, während sie aus dem Fenster blickten.
»Drüben über der Flußbiegung, das ist St. John’s«, erklärte Darcy. »Es ist sehr schön, was? Ich werde meiner Aussicht nie überdrüssig.«
Einer der Fensterflügel war nur angelehnt, und Gemma fühlte die kühle, frische Luft auf ihrer Haut. »Ja, das verstehe ich«, murmelte sie mit einem Seitenblick auf den noch immer schweigsamen Kincaid.
• Sie war eine gewisse Beständigkeit an ihm gewohnt, die es ihr erlaubte, als der impulsive Teil ihrer Partnerschaft zu fungieren, doch in den letzten Tagen war er nahezu unberechenbar gewesen.
Und in diesem Moment wurde ihr klar, wie sehr sie sich angewöhnt hatte, sich auf ihn zu verlassen - selbst wenn sie mit ihm stritt und seine Entscheidungen in Frage stellte. Das Gefühl, daß sie möglicherweise nicht mehr auf seine Stärke zählen konnte, machte ihr angst.
Gut, dann handle ich für uns beide, entschied sie, aber sie hatte dabei das Gefühl, daß es all ihres Geschicks bedurfte. Sie wandte sich lächelnd an Darcy Eliot.
»Sie müssen sich hier wie ein Feudalherr fühlen«, bemerkte sie, während er sie zur Couch zurückführte. Sie ließ ihre Blicke schweifen. Der Raum war mit viel Gold an den Bilderrahmen und Spiegeln, opulenten Stoffen und antiken Möbeln eingerichtet, die eine professionelle Hand verrieten. In der Mitte der Wand gegenüber den Fenstern stand ein reich verziertes Bücherregal aus Mahagoni, in dem die zahlreichen Titel aus Darcys Feder standen - einige mit dem mittlerweile vertrauten Verlagsemblem des Peregrine-Verlags. Gemma empfand die kleine Eitelkeit als ausgesprochen sympathisch.
Darcy nahm am anderen Sofaende Platz, legte bedächtig ein Fußgelenk über das Knie, wobei eine bunte Socke im Schottenmuster sichtbar wurde, und sagte: »Abgesehen von den Attraktionen meines Colleges - wem oder welchem Umstand habe ich Ihren Besuch zu verdanken?«
Dies war auch Vics College gewesen, erinnerte Gemma sich mit einem flüchtigen Blick auf Kincaid.
Er drehte sich um, gesellte sich jedoch nicht zu ihnen. »Wir hatten gerade ein angenehmes Gespräch mit Ihrer Mutter«, sagte er. »Ich kannte sie bislang nicht persönlich.«
»Sagen Sie jetzt bloß, daß meine Mutter Sie so übel zugerichtet hat.« Darcy starrte neugierig auf Kincaids geschwollene Lippe und den rotunterlaufenen Bluterguß. »Ihre Manieren sind normalerweise erstklassig.«
»Ihre Manieren waren erstklassig«, bestätigte Kincaid, ohne weiter darauf einzugehen. »Wir scheinen Ihre Verabredung im Peregrine-Verlag gestört zu haben, aber sie war sehr freundlich.« Er setzte sich in den Sessel gegenüber Darcy.
»Ah, das zweite Kind meiner Mutter«, bemerkte Darcy leicht belustigt. Als Kincaid fragend die Augenbrauen hochzog, fuhr er fort: »Hat sie nicht erwähnt, daß sie dem Verwaltungsrat angehört?«
»Sie hat nur gesagt, daß sie Peregrine bei der Aufarbeitung von Henry Whitecliffs Manuskript geholfen habe.«
»Henry saß ebenfalls im Verwaltungsrat«, führte Darcy aus. »Beide von Anfang an. Aber ohne die beträchtliche Unterstützung meiner Mutter hätte der Peregrine-Verlag nie das Licht der Welt erblickt. Sie und Ralph verbindet eine lange, produktive Beziehung.« Er lächelte. Gemma war ein wenig geschockt und fragte sich, ob es das bedeutete, was sie glaubte, daß es bedeute. Dame Margery mußte mindestens fünfundzwanzig Jahre älter sein als Ralph Peregrine, wenn nicht noch mehr. Sicher ...
»Hat Vic Ihnen gesagt, daß sie glaubte, einige Gedichte aus Lydias letztem Manuskript seien verschwunden?« hörte Gemma Kincaid in diesem Moment sagen.
»Das ist nicht Ihr Ernst?« Darcy sah von Kincaid zu Gemma. Sein Lächeln verschwand. »Es ist Ihr Ernst. Sie glauben doch Wohl nicht, daß Ralph etwas damit zu tun hat? Er ist absolut ehrlich und integer.«
»Im Augenblick wissen wir noch gar nichts - mit Ausnahme der Tatsache, daß Vic dieses Manuskript Kopfzerbrechen bereitet hat«, erklärte Kincaid. »Ich dachte, sie hätte es Ihnen gegenüber vielleicht erwähnt.«
Darcy strich die Socke an seinem Fußgelenk glatt, bevor er das Bein auf den Boden stellte. »Nein, das hat sie nicht. Und ich bezweifle, daß Vic mich je ins Vertrauen gezogen hätte. Leider, muß ich gestehen. Wir waren nicht immer einer Meinung - was Lydias Werk betraf.«
»Ich erinnere mich, daß Sie nicht zu Lydias Bewunderern gehört haben, Dr. Eliot. Im Anbetracht der ... intimen Natur Ihrer Beziehung finde ich das interessant.« Kincaid lehnte sich im Sessel zurück. Er wirkte zunehmend entspannt, je unruhiger Darcy wurde.
»Lydia und ich waren viele Jahre befreundet. Aber ich habe die Freundschaft nie als Grund für unkritische professionelle Bewunderung angesehen. Solche Dinge steigern nicht gerade ' das Ansehen in akademischen Kreisen.« Das klang, als habe Darcy etwas mehr Scharfsinn von Kincaid erwartet.
Kincaid zog die Augenbrauen hoch. »Soll das heißen, daß man gute Arbeit von Freunden lieber nicht loben sollte - aus Angst, als schwach und unkritisch zu gelten? Damit stellen Sie die Scheinheiligkeit auf den Kopf.«
Darcy lachte kurz und barsch. »Ich hätte eigentlich seit unserem ersten Gespräch wissen müssen, daß man Sie nicht unterschätzen darf, Mr. Kincaid. Natürlich haben Sie recht. Aber da ich ganz ehrlich nichts für die späteren Arbeiten von Lydia übrig habe, fühle ich mich nicht der Scheinheiligkeit schuldig. Ich finde die bekennende Stimme immer irgendwie peinlich, egal, wem sie gehört.«
»Trotzdem - was Lydia betrifft, sind Sie nicht ehrlich zu uns gewesen, Dr. Eliot. Sie haben mir gegenüber Lydias Beziehung zu Daphne Morris angedeutet, aber Sie haben kein Wort darüber verloren, daß die Dinge komplizierter waren. Nach Morgan Ashbys Aussage ...«
»Ah, das ist Ihnen und Ihrem Gesicht also zugestoßen«, fiel Darcy ihm grinsend ins Wort. »Sie haben eine kleine Kostprobe von Morgans berühmtem Temperament bekommen, was? Sie sollten ...«
»Morgan Ashby hat uns erzählt«, unterbrach Kincaid ihn seinerseits, »daß Sie ebenfalls ein Liebesverhältnis mit Lydia hatten. Des weiteren ist Morgan offenbar der Ansicht, Lydia habe mit jedem geschlafen - mit Ihnen, Adam, Nathan und Daphne.«
»Morgan Ashby ist geistesgestört und gehört in eine Anstalt«, erklärte Darcy unerschüttert. »Außerdem ist er krankhaft eifersüchtig. Den Mann hätte man schon Vor Jahren einsperren sollen.«
»Heißt das, daß es nicht stimmt, was er mir gesagt hat?« wollte Kincaid wissen.
Gemma, die die beiden Männer von ihrer Sofaecke aus beobachtete, gab sich mit der Zuschauerrolle zufrieden. Nach der Szene mit Morgan war sie froh, daß Kincaid wieder die übliche Ruhe und Gelassenheit an den Tag legte.
»Und wenn schon?« konterte Darcy. »Das waren die wilden Sechziger - erinnern Sie sich? Die Profumo-Affäre. Wir erlebten die Ausläufer der großen sexuellen Revolution, haben auf unsere reichlich zahme und provinzielle Art das imitiert, was, wie wir glaubten, in London Mode war. Wir waren jung, wir waren weg von zu Hause, und wir waren besoffen von der Vorstellung, wahnsinnig progressiv und unkonventionell zu sein.« Er grinste. »Gott, allein der Gedanke daran macht mir klar, wie spießig und alt ich geworden bin.«
»Wenn diese ... Dinge geschehen sind, bevor Lydia Morgan geheiratet hat, warum hat er sich dann derart bedroht gefühlt?« wollte Gemma wissen. »Sie scheint ihn doch sehr geliebt zu haben.«
Darcy zog eine Grimasse. »Verknallt trifft es vielleicht besSer. Natürlich hatte Lydia schon immer eine gewisse Ausschließlichkeit in ihrem Tun, aber ich hätte sie für klüger gehalten, als sich auf einen Mann mit Ashbys Herkunft zu konzentrieren.«
»Herkunft?« wiederholte Gemma, und die Nackenhaare Stellten sich ihr auf. »Was hat Morgan Ashbys Herkunft damit zu tun?«
»Ach, Sie wissen schon. Walisische Bergmannsfamilie, Salz der Erde und so weiter - und die ganze Last des Puritanismus, die damit verbunden ist. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, daß Lydia es mit anderen mal genossen hatte, so sehr sie ihn auch liebte.« Darcy hielt inne und fügte düster hinzu: »Ich glaube, für Ashby war Genuß in jeder Form etwas Verwerfliches, sogar wenn es ihn selbst betraf.«
»Was man von Ihnen wohl kaum behaupten kann, Dr. Eliot«, warf Gemma lächelnd ein. Sie schaute zur Kommode hin, wo ein Tablett mit Gläsern neben einem Eiskübel und frisch geschnittenen Limonen bereitstand.
»Allerdings nicht«, sagte er gespielt beleidigt. »Obwohl ich zugeben muß, daß mir die Feiern der Examensstudenten heutzutage im Vergleich mit den guten alten Zeiten doch reichlich langweilig Vorkommen.« Sein Lächeln erinnerte Gemma daran, daß er noch immer ein sehr attraktiver Mann war. Dann seufzte er übertrieben. »Aber selbst ich kann der Pflicht nicht vollkommen entgehen. Besonders, da es so aussieht, als müsse ich Iris Arbeit abnehmen.«
»Ist mit Dr. Winslow alles in Ordnung?« fragte Kincaid hastig und besorgt.
»Sie hat Montag einen Termin bei einem Spezialisten - wegen ihrer Kopfschmerzen«, erwiderte Darcy. Zum ersten Mal war nichts von dem Spott in seiner Stimme, an den sich Gemma beinahe schon gewöhnt hatte. »Das geht schon eine ganze Zeit, und ich muß sagen, daß mich die Sache beunruhigt«, fuhr er fort. »Iris ist eine der ältesten Freundinnen meiner Mutter. Wenn ihr etwas zustoßen sollte ...« Er sah auf und begegnete Gemmas Blick. »Es hat keinen Sinn, pessimistisch zu sein. Ich hasse es, in die Jahre zu kommen, in denen man ständig an die Sterblichkeit erinnert wird. Es verursacht mir Gänsehaut.«
»Soviel ich gehört habe, stehen Sie ganz oben auf der Liste der Kandidaten für die Nachfolge von Dr. Winslow«, warf Kincaid ein. »Das dürfte doch eine große Befriedigung für Sie sein.«
»Wobei soviel ich gehört habe gleichbedeutend mit gerüchteweise ist, oder?« Darcy schnippte eine Staubfussel von seiner Hose. »Ich habe schon vor langem gelernt, der akademischen Gerüchtebörse nicht allzuviel Bedeutung beizumessen. Wie in allen kleinen, inzestuösen Gemeinschaften wird vieles enorm übertrieben.«
Kincaid neigte den Kopf zur Seite, als habe ihn die Bemerkung an etwas erinnert. »Vic war sich dessen ebenfalls bewußt. Sie hielt es daher für seltsam, daß zum Zeitpunkt von Lydias Tod so wenig Spekulationen im Umlauf waren. Man hat die Selbstmordtheorie damals wohl fraglos hingenommen.«
Darcy sah Kincaid verdutzt an. »Wer Lydia gekannt hat, wußte um ihren Gemütszustand. Die Nachricht hat uns traurig gemacht, aber nicht überrascht. Was gibt es da viel zu sagen?«
»Zum Beispiel, daß man es sich ein bißchen zu einfach gemacht hat, indem man annahm, daß Lydia das getan hatte, was alle von ihr erwarteten. Vic ist jedenfalls zu dieser Ansicht gelangt. Sie war tatsächlich überzeugt, daß Lydia keinen Selbstmord begangen hatte.« Und bedächtig fügte Kincaid hinzu: »Sie war ziemlich sicher, daß Lydia ermordet worden war.«
Für einen Moment saß Darcy stumm da, protestierte nicht, das Gesicht ausdruckslos, dann schüttelte er den Kopf. »Ich fürchte, Mr. Kincaid, wir haben es hier mit dem Fall zu tun, in dem die Biographin sich etwas zu intensiv mit dem Gegenstand ihrer Arbeit identifiziert hat. Als Victoria McClellan an Unserer Fakultät angefangen hat, war sie eine vernünftige und kritische Person. Daß sie soweit kam, diesen Unsinn zu glauben, beweist nur, wie ungesund Kritiklosigkeit sein kann.«
Kincaid lächelte. »Ich wäre Ihrer Argumentation vielleicht sogar gefolgt, Dr. Eliot - stünde es nicht zweifelsfrei fest, daß sie ermordet wurde. Haben Sie das vergessen?«
»Damit habe ich so meine Schwierigkeiten«, gestand Gemma mit einem Seitenblick auf Kincaids Profil, während sie erneut durch den Kreisverkehr von Newnham fuhren. Diesmal waren die Grantchester Road und Nathan Winters Cottage ihr Ziel. »Ich hatte Männer vor Rob, aber immer nur einen zur Zeit.«
«Und keine Freundinnen?« fragte Kincaid mit einem flüchtigen Grinsen.
»Nicht in diesem Sinn«, entgegnete Gemma etwas spröde. »Bin ich deshalb spießig?«
»Sehr.«
»Daran ist vermutlich meine Herkunft schuld«, witzelte sie, doch sie hörte selbst die Verletzlichkeit in ihrer Stimme.
Kincaid sah sie an. »Du bist prima, so wie du bist, Gemma. Laß dir nichts einreden.« Er berührte leicht mit dem Handrücken ihre Wange. »Wenn jemand aus einer sehr bürgerlichen Familie kam, dann Lydia«, fügte er hinzu und griff nach dem Schalthebel. »Die Tochter einer Schullehrerin aus einem kleinen Dorf.«
»Was hätte sie zu einer Bäckerstochter aus Nord-London gesagt?« überlegte Gemma. »Allmählich geht es mir fast wie Vic - ich wünschte, Lydia würde plötzlich auftauchen und mit mir reden, mir erzählen, was sie dachte und wie sie wirklich war.«
»Wir können ja Nathan fragen«, schlug Kincaid vor und nahm Gas weg. Sie hatten die vereinzelt liegenden Häuser am Dorfrand erreicht. Über das Feld zu ihrer Linken hinweg konnten sie die Baumreihe sehen, die das Ufer der Cam markierte.
»Und Adam Lamb«, ergänzte Gemma. »Von allen ist er derjenige, zu dem das alles am wenigsten zu passen scheint - du weißt schon, das, was sie getan haben. Er wirkt so sanft und sensibel.«
Von Adams zerbeultem Mini war vor Nathans Cottage jedoch nichts zu sehen. Auf ihr Klingeln blieb alles still. Sie klingelten erneut und warteten, horchten auf ein Geräusch von drinnen, doch Gemma hörte nur das leise Flöten der Vögel und das gelegentliche Summen von Autoreifen auf dem Asphalt.
»Schauen wir mal in den Garten«, schlug Kincaid vor, trat von der Veranda zurück und sah nach beiden Seiten. »Dort rechts scheint ein Gartenweg ums Haus zu führen.«
Er wandte sich in diese Richtung. Gemma folgte. Als sie vorsichtig auf die Wegplatten trat, stieg ihr ein süßlich-würziger Geruch in die Nase. Sie bückte sich, kniete nieder und pflückte einige der winzigen grünen Stengel, die aus den Ritzen der Steine sprossen. Sie zerrieb die Blätter zwischen den Fingern und hielt sie sich unter die Nase. Der Duft war betäubend, und sie schloß für einen Moment berauscht die Augen. »Das ist Thymian, stimmt’s?« sagte sie zu Kincaid, der näher gekommen war und sie beobachtete. »Schau doch, da wachsen alle möglichen Sorten.«
»Wie auf Prince Charles’ Thymianweg in Highgrove? Ist nicht für einen Landhausgarten ein bißchen hoch gegriffen?«
»Ich find’s wunderbar.« Gemma richtete sich auf und klopfte sich den Staub von der Hose. »Am liebsten würde ich mich darin wälzen wie eine Katze in Katzenminze.«
»Tu dir keinen Zwang an«, sagte er und zog amüsiert eine Augenbraue hoch.
Sie hatten eine Steinmauer erreicht, in die ein weißes Gartentor eingelassen war. Er griff über die Pforte, um sie zu entriegeln. Dahinter öffnete sich vor ihnen ein Weg durch ein tunnelartig geschnittenes Eibenspalier. Gemma reagierte mit einem Frösteln auf die plötzliche Kühle und den Geruch nach Feuchtigkeit unter dem grünen Gewölbe. Dann traten sie am anderen Ende in den rückwärtigen Gartenteil. Die Sonne zauberte lichte Flecken auf das Gras und die Gestalt von Nathan Winter, der vor einem Hügelbeet kniete.
Er grub wild mit einer kleinen Gartenschaufel in der Erde. Sie beobachteten ihn einige Sekunden, bevor er aufsah und sie entdeckte. Der Wind hatte sein weißes Haar zerzaust, doch er trug nur eine Jacke, die aussah, als habe sie intensiven Kontakt mit dem Komposthaufen gehabt, und schmutzige Jeans. Rote flecken glühten auf seinen Wangen, und Gemma fand, daß er trotz der körperlichen Aktivität noch kränker aussah als am Vortag. Als sie über den Rasen auf ihn zugingen, richtete er sich in der Hocke auf. Ein halbes Dutzend kleiner grüner Pflanzen glänzten auf dem Boden vor ihm, die Wurzeln nackt.
»Hat Ihnen mein Laubengang gefallen?« begrüßte er sie, als sie ihn erreichten. »Kit hat dort gern gespielt. Er war noch jung genug für Phantasiespiele mit Soldaten oder Entdeckern. In ein paar Jahren hätte er dort Zigaretten geraucht oder "Mädchen geküßt.«
•Gemma fröstelte, denn Nathan redete, als sei Kit ebenfalls tot oder zumindest für ihn ebenso verloren wie Vic. Sie sah zu Kincaid hinüber, aber seine Miene war unbewegt, verschlossen. Er hatte seit dem Vorabend nicht mehr von Kit gesprochen, und sie hatte keine Ahnung, was er fühlte.
Da Nathan keine Anstalten machte aufzustehen, setzte sich Gemma zu ihm ins Gras. In der Hoffnung, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, berührte sie eine der welkenden Pflanzen und sagte: »Was graben Sie denn da aus?«
»Den verdammten Liebstöckel.« Er stieß wütend die Schaufel in die Erde. »Ich hatte ihn für Vic gepflanzt, aber jetzt habe ich keine Verwendung mehr dafür, oder?«
»Vics Tees, natürlich«, sagte Kincaid unvermittelt und schüttelte den Kopf. »Wie dumm von mir.« Er sank auf ein Knie und sah Nathan in die Augen. »Sie haben die Tees für Vic gemixt, stimmt’s, Nathan? Ich erinnere mich, daß Laura gesagt hat, daß sie Liebstöckel-Tee getrunken hat.«
Nathan starrte ihn an. »Wer, haben Sie denn geglaubt, hätte sie sonst mixen sollen? Aber Liebstöckel ergibt eigentlich keinen Tee, sondern einen Sud. Er schmeckt ein bißchen nach Sellerie.«
»Haben Sie Fingerhut in Ihrem Garten?«
»Selbstverständlich habe ich Fingerhut. Direkt hinter dem Lavendel am Wegrand.« Er wollte in Richtung Plattenweg deuten, der vom Eibengang zur Terrasse führte, und sah dann wieder Kincaid an.
Er war bleich geworden, so daß die roten Flecken auf seinen Wangen beinahe wie aufgemalt wirkten. »Sie glauben doch wohl nicht, ich hätte Digitalis in Vics Tee gegeben, oder? Für was für einen Idioten halten Sie mich?« Er sprang auf die Beine und schwankte leicht.
Einen Moment lang dachte Gemma, er sei betrunken, doch er roch nicht nach Alkohol.
Kincaid, der sich ebenfalls aufgerichtet hatte, streckte die Hand aus, um ihn zu stützen. »Könnte jemand anderer das Zeug in Vics Tees getan haben?«
»Ich habe die Blätter persönlich gepflückt und sie in der Küche getrocknet. Dann habe ich sie in Reißverschlußsäckchen gesteckt.«
Erst an der Steifheit im Nacken merkte Gemma, daß sie als einzige noch immer auf dem Rasen kniete. Sie kam auf die •Beine und sagte: »Was war, nachdem sie die Säckchen mit in die Fakultät genommen hat, Nathan? Könnte dort jemand Digitalis beigemischt haben? Hätte sie es geschmeckt?«
»Das weiß ich nicht. Fingerhut ist hochgiftig ... es genügen winzige Mengen. Und der Geschmack von Liebstöckel ist Vielleicht stark genug, um jede Bitterkeit zu übertünchen.«
Gemma hörte das Beben in Nathans Stimme. Schock, überlegte sie, und Krankheit? Sie streckte die Hand aus und berührte seinen Hals. Er fuhr vor ihr zurück, doch ihre Fingerspitzen hatten die Hitze seiner Haut bereits gespürt.
»Nathan, Sie haben hohes Fieber. Was machen Sie hier '‘draußen im Wind?« Und Kincaid flüsterte sie zu: »Bringen wir ihn ins Haus.«
Kincaid nahm seinen Ellbogen und dirigierte ihn zur Terasse. »Trinken wir eine Tasse Tee miteinander, Nathan. Wo ist Adam?«
Nathan ließ sich widerstandslos zum Haus führen. »Konnte ihn schließlich überreden zu verduften«, brummelte er. »Hab ’ihm gesagt, daß seine Mumien ihn mehr brauchen als ich.« Plötzlich entwand er Kincaid seinen Arm und sah zurück. »Meine Schaufel. Ich muß sie waschen - ich wasche sie immer 'gleich ab.«
»Ich hole sie«, erbot Gemma sich und rannte zurück.
»... komisch, aber jetzt, da er weg ist, vermisse ich ihn«, sagte Nathan gerade schleppend, als sie wiederkam. »Guter alter Knabe. Wenigstens läßt er mich über sie reden, wechselt nie das verdammte Thema.« Er drehte sich plötzlich heftig um und sah Gemma aus fieberglänzenden Augen an. »Sie wollten mich schonen. Tun Sie aber nicht.«
Sie bugsierten Nathan durch die Flügeltür ins Wohnzimmer und in den nächstbesten Sessel. Zu diesem Zeitpunkt war sein leichtes Frösteln in Schüttelfrost übergegangen. Während Kincaid eine Decke holte, ging Gemma in die Küche, um Tee zu kochen.
Als Kincaid zu ihr kam, sagte sie leise: »Ein heißes Getränk hilft vielleicht, aber ich glaube, er ist ernstlich krank. Wundert mich, daß er nicht schon phantasiert.«
»Dauert nicht mehr lang. Sein Zustand verschlechtert sich minütlich«, erwiderte Kincaid. »Ich habe Adams Nummer in meiner Brieftasche. Ich rufe ihn an.« Er ging durch die Flügeltür wieder ins Freie, und Gemma sah, daß er sein Handy zückte, während sie den Wasserkessel füllte.
Sie brauchte einige Minuten, bis sie sich in der fremden Küche zurechtfand. Als das Teetablett fertig war, kehrte Kincaid von der Terrasse zurück. Er nahm ihr das Tablett ab und flüsterte ihr ins Ohr: »Adam ist unterwegs. Er bringt den Arzt mit.«
Sie gingen auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer und stellten fest, daß ihr Flüstern umsonst gewesen war. Nathan schlief tief und fest.
Sie saßen am Küchentisch, tranken Tee und horchten auf Nathans leicht rasselnde Atemzüge. »Es haut nicht hin«, sagte Kincaid.
Gemma hatte sich im Zimmer bewundernd umgesehen und sich gefragt, ob Vic oft hier gewesen war. »Was?«
»Es wirkt zu schnell. Falls jemand in der Fakultät Digitalis in Vics Tee getan hätte, wäre sie schon krank gewesen, als sie die Universität verlassen hat.«
»Hat sie das Zeug auch zu Hause getrunken?« fragte Gemma. »Vielleicht hat sie sich eine Tasse nach ihrer Rückkehr genehmigt.«
Kincaid schüttelte den Kopf. »Die Spurensicherung hat nichts dergleichen gefunden.«
»Könnte jemand den Tee später entfernt haben?«
»Kits dunkle Gestalt im Garten?« Er starrte sie an. »Niemand hat bisher eine Erklärung dafür.« Sein Mund wurde hart. »Aber wenn sie noch gelebt hat - wie konnte der Mörder nur so gründlich aufräumen?«
Gemma zuckte zusammen, als von der Straße her ein Geräusch ertönte, das wie eine Gewehrsalve klang. Ihm folgten die merkwürdigsten Motorengeräusche. »Adam?« murmelte sie und trank den letzten Schluck Tee.
Adam war mit seinem Schlüssel im Haus, bevor sie überhaupt aufstehen konnten. Er begrüßte sie leise. Er wirkte gehetzt, sein Haar war vom Wind zerzaust, sein Kragen saß schief, aber Gemma fühlte denselben unmittelbaren Trost in seiner Gegenwart wie schon nach der Trauerfeier.
Ein Blick auf Nathan aus nächster Nähe schien eine Vermutung zu bestätigen, denn er wandte sich kopfschüttelnd zu ihnen um. »Das habe ich befürchtet. So war er auch nach Jeans Tod. Scheint seine Art von Schockbewältigung zu sein.«
»Gibt sich das wieder?« fragte Gemma.
»Es hat ihn schwer erwischt. Und das letzte Mal hat er eine Lungenentzündung gekriegt«, berichtete Adam. Dann lächelte er und bemühte sich, optimistisch zu sein. »Aber er ist störrisch wie ein Esel - vermutlich ist es die Reaktion seines Körpers, der sich damit Ruhe verschafft. Wahrscheinlich pumpt ihn der Arzt gleich mit all dem Zeug voll, das er bei vollem Bewußtsein ablehnt.« Er seufzte. »Danke, daß Sie mich angerufen haben. Ich warte auf den Arzt und bleibe dann bei ihm.«
Gemma warf einen letzten Blick auf Nathan, als Adam sie zur Haustür begleitete. Mit seinem weißen Haar und den im Schlaf entspannten Zügen sah er überraschend kindlich aus.
»Adam«, begann Kincaid, als sie die Tür erreichten. »Wir haben heute einige merkwürdige Dinge erfahren - über Lydia und Nathan, Darcy und sogar Daphne Morris. Morgan Ashby hat uns erzählt ...«
»Das stimmt alles«, unterbrach Adam ihn tonlos.
Kincaid starrte ihn an. »Aber ich dachte, Sie und Lydia ...«
»Oh, ich hatte die Ehre, richtig. Obwohl - wenn ich die Folgen nur geahnt hätte, hätte ich es nie getan. Jugend ist keine Entschuldigung für verantwortungsloses Verhalten - und unseres hat Lydia unendlich viel Leid gebracht.«
Gemma sah die Resignation in seinen Augen. »Adam, Sie haben Lydia geliebt, oder? Wie konnten Sie zulassen, daß sie ...«
»Wie konnte ich sie davon abhalten?« sagte er mit einer hastigen, ungeduldigen Handbewegung. »Was Sie nicht begreifen, ist, daß Lydia immer ihren Kopf durchgesetzt hat - gleichgültig, welche Folgen das für sie oder andere hatte.«