Ein weiterer Lieblingsspielplatz der Kinder vom »Island« war Island Gardens, ein kleiner Park am Flußufer direkt gegenüber Greenwich, den das London County Council 1895 angelegt hatte.
Eve Hostettler, aus: Erinnerungen an eine Kindheit
Gemma wurde durch Tobys Stimme aus einem wirren, morgendlichen Traum geweckt. Als sie die Augen aufschlug, erkannte sie im Gegenlicht vor dem Fenster zum Garten die kleine Silhouette ihres Sohnes, der neben ihrem Bett stand.
»Mami, ich hab schlecht geträumt.«
»Wirklich, Schätzchen?« Sie setzte sich auf und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Das blaßblaue Karussellpferd, das ihr Sohn gegen seine Brust gepreßt hielt, hatte schon einen Teil seines Sattels aus Filz eingebüßt, und von seiner einst weißen Mähne und dem Schweif waren nur noch kümmerliche Reste übrig. Seine schwarzen Glasaugen jedoch waren glänzend und klar wie am ersten Tag, und Toby liebte das Stofftier mit Hingabe und Treue. »Hat Pferdchen auch schlecht geträumt?« fragte sie und fühlte am Hals des Jungen nach Anzeichen von Fieber. »Sind es wieder die Monster gewesen?«
Toby nickte heftig, und sie schwor sich insgeheim, ihm abends nie wieder aus dem Buch Wo die Wilden Kerle leben vorzulesen. »Komm zu Mami ins Bett, Herzchen, und schlaf weiter.« Als er sich zwischen sie und die Wand kuschelte, legte sie kurz ihre Wange an seine und genoß seinen süßen Duft. Auch wenn er täglich mehr wie ein kleiner Junge aussah, im Schlaf roch er noch immer wie ein Baby.
Sie lag still neben ihm und horchte auf seine Atemzüge. Trotzdem verspürte sie eine wachsende Unruhe, eine Rastlosigkeit, die sich schließlich nicht mehr unterdrücken ließ. Nach einer halben Stunde glitt sie aus dem Bett und ging zum Fenster. Sie zog die Jalousien hoch, beobachtete eine Weile, wie fahles Licht über den Garten kroch, und horchte auf die Vögel, die den Tag mit geradezu aufreizender Fröhlichkeit begrüßten. Sie fühlte dumpfe Kopfschmerzen aufkommen, Symptome eines mittelschweren Katers.
Am vergangenen Abend, während sie auf Kincaids Anruf nach dessen Treffen mit Ian McClellan gewartet hatte, hatte sie mehr als die zwei Gläser Wein getrunken, die normalerweise ihr Limit waren. Aber Duncan hatte nichts von sich hören lassen, und schließlich war sie, bereits reumütig angesichts ihrer Maßlosigkeit, ins Bett gekrochen.
Bestimmt war Kincaid noch immer verärgert wegen der Sache mit Gordon Finch. Gemma trat vom Fenster zurück und ging in ihre kleine Küche, um Teewasser aufzusetzen. Es sah ihm nicht ähnlich, nachtragend zu sein, weder privat noch beruflich, aber seit Vics Tod war er in seinen Launen und seinen Temperamentsausbrüchen unberechenbar geworden.
Der Wasserkessel pfiff, als sie die Kaffeebohnen aus dem Kühlschrank genommen und gemahlen hatte, und während sie den Kaffee aufgoß, dachte sie an Annabelle Hammond. Welcher Zauber mußte von ihr ausgegangen sein, daß sie andere Menschen zwingen konnte, ein Leben nach ihren Bedingungen zu akzeptieren? Dahinter hatte mehr als nur äußere Schönheit gesteckt, soviel war ihr klargeworden. Einen Moment wünschte Gemma, sie gekannt zu haben ... selbst beurteilen zu können, ob sie eine Heilige oder eine Sünderin gewesen war.
Eine Stunde später, als Toby glücklich singend seine Cornflakes aß, zog sie sich sorgfältig an: beige Hose, weißes T-Shirt und einen olivfarbenen Leinenblazer. Sie war entschlossen, an diesem Tag der Welt draußen professionell und geschäftsmäßig gegenüberzutreten, welche Temperaturen auch immer herrschen mochten.
Obwohl der Morgen eine kleine Atempause von der sengenden Hitze des Vortages versprach, war die Luftfeuchtigkeit mit der dünnen Wolkendecke gestiegen, die den Himmel wie geronnene Milch überzog. Schon auf der Fahrt ins East End fühlte sie, wie sich ein feiner Feuchtigkeitsfilm auf ihre Haut legte, und sie fragte sich, ob schiere Willenskraft verhindern konnte, daß sie dahinschmolz, noch bevor ihr Arbeitstag überhaupt begonnen hatte.
Kincaid war bereits vor ihr angekommen und wartete, gegen den Rover gelehnt, den er gegenüber der Firma Hammond’s am Straßenrand geparkt hatte. Er richtete sich auf, sah ihr lächelnd entgegen und fuhr sich mit der Hand durch sein windzerzaustes Haar. »Könnte Regen geben«, sagte er zur Begrüßung.
»Alles in Ordnung?« fragte sie und musterte ihn prüfend. Sein Lächeln wirkte aufgesetzt, und Gespräche übers Wetter gehörten normalerweise nicht zu seinem Repertoire.
Er sah sie arglos an, seine Augen so blau wie das Baumwollhemd, das er trug. »Warum nicht?«
»Du hast nicht angerufen. Was hat Ian ...«
»Ich dachte, daß du schon schläfst.« Er wandte den Blick ab und klopfte den Staub der Kühlerhaube des Rovers von seiner Hose. »Außerdem habe ich erst mal Zeit gebraucht ... um mir über einiges klarzuwerden.« Er sah sie an. »McClellan will hierbleiben. Er zieht wieder in das Haus bei Cambridge. Und er will Kit zu sich nehmen.«
»Aber ...« Gemma versuchte, das zu verarbeiten. »Nachdem er monatelang nichts mit dem Jungen zu tun haben wollte? Einfach so? Wie hast du reagiert?«
»Was hätte ich sagen sollen?« Er grinste hilflos. »Du kennst die Situation so gut wie ich.«
Gemma suchte nach einer Antwort. Alles, was ihr einfiel, kam ihr trivial und dumm vor. Sie berührte seinen Arm. »Tut mir leid, daß momentan alles so kompliziert für dich ist. Wenn ich irgendwie helfen kann...«
»Wir könnten uns heute abend unterhalten ... sofern die Sterne günstig stehen.« Er nahm sie beim Ellbogen und führte sie zum Haupteingang der Firma Hammond’s. »Bis dahin ... Ich habe eine Verabredung mit dem Chef am späten Vormittag und möchte zumindest einen kleinen Fortschritt bei unseren Ermitdungen vermelden können. Hoffen wir, daß sich Reg Mortimer kooperativ zeigt.«
Das erste, das Gemma beim Betreten des alten Speichers auffiel, war der alles überlagernde Geruch von Tee. Das zweite war die emsige Betriebsamkeit, die am Sonntag gefehlt hatte. Kincaid sprach kurz mit der Empfangsdame. Gemma neigte den Kopf leicht zur Seite, um sich über die einzelnen Geräusche klarzuwerden. Von oben ertönte das Rattern von Maschinen und ein dumpfes Pochen, und aus den offenen Türen zu den Laderampen drang Radiomusik, und das Klingeln von Telefonen übertönte leises Stimmengemurmel. Die Stimmung schien allgemein gedämpft zu sein.
Ein Mann mit schütterem Haarwuchs und in grüner Schürze ging um den Verkostungstisch. Er mußte Mac, der Teeprüfer, sein, den Teresa erwähnt hatte. Bevor sie ihn jedoch ansprechen konnte, führte die Empfangsdame sie die Treppe zur Galerie hinauf.
Als sie am ersten Büro vorüberkamen, sahen sie durch die offene Tür Teresa, den Telefonhörer am Ohr. Sie hob den Blick, starrte sie verblüfft an und hob verlegen eine Hand zum Gruß.
Reg Mortimer erwartete sie im angrenzenden Büro hinter seinem Schreibtisch und stand auf, als er sie sah. Er trug ein blaßrosa Hemd mit passender Krawatte. Die normalerweise schmeichelnde Farbe seines Hemds besserte seine vor Erschöpfung fahle und ungesunde Gesichtsfarbe kaum. Gemma registrierte erschrocken, wie sehr sich sein Äußeres seit ihrer ersten Begegnung vor drei Tagen verändert hatte. Was steckte dahinter? Schuld? Oder Trauer?
»Sie sind schwer zu erreichen, Mr. Mortimer«, begann Kincaid, als sie sich setzten.
»Tatsächlich?« Mortimer lächelte einigermaßen freundlich. »Ich hatte viel zu erledigen ... und aufzuräumen.« Er strich mit der Handfläche über die polierte Schreibtischplatte. »Ihre Jungs haben ein ziemliches Chaos hinterlassen.«
»Aufräumen gehört nicht zu ihrem Job«, erwiderte Kincaid und ließ den Blick interessiert durch das Büro schweifen.
Gemma sah keinerlei Hinweise auf Spuren, die die Spurensicherung hinterlassen haben könnte, fand jedoch die Mischung von Möbeln und Bildern in Mortimers Büroraum reichlich seltsam. Der große, moderne Schreibtisch war aus hochglanzpoliertem Ebenholz, der dazugehörige Schreibtischsessel aus schwarzem Leder, während die hochlehnigen Besucherstühle aus einer Zeit weit vor Mortimers Geburt zu stammen schienen und nur zweckmäßig waren. Aus derselben Epoche stammten wohl die abgewetzten, hölzernen Aktenschränke zu beiden Seiten des Fensters hinter dem Schreibtisch. Über einem der Aktenschränke drehte sich unter der Decke leise schwirrend ein Ventilator.
Nach ihrem Blick auf den Ventilator hätte Gemma beinahe ein altmodisches Bakelittelefon mit Wählscheibe auf dem Schreibtisch erwartet, doch die moderne Telefonanlage im Designerstil zur Rechten von Reg Mortimer brachte sie sofort in die Gegenwart zurück.
Als habe er ihre Gedanken gelesen, sagte Kincaid zu Mortimer: »Wie ich sehe, haben Sie Ihre unmittelbare Umgebung in dem alten Gemäuer hier etwas auf Vordermann gebracht. War das Annabelles Büro?«
»Nein. Annabelle hat sich den Raum daneben mit Teresa geteilt. Teresa verkraftet das nur schwer. Die ständige Erinnerung ... Ich glaube, ich hätte das nicht ertragen ...« Mortimer schüttelte den Kopf. »Büroraum war bei uns immer knapp. Das ist eines der Probleme mit dem zugigen, alten Gemäuer, das und die Feuchtigkeit«, fügte er geistesabwesend hinzu. Gemma hatte das Gefühl, daß er mit den Gedanken ganz woanders war.
»Da sind noch ein paar Dinge, die wir gern mit Ihnen geklärt hätten, Mr. Mortimer«, begann Kincaid. »Wußten Sie, daß Annabelle ihre Anteile an der Firma Harry und Sarah Lowell vermacht und deren Vater als Treuhänder eingesetzt hat?«
Gemma zückte unauffällig ihr Notizbuch, während sie Mortimers Reaktion beobachtete. Er verzog zwar kurz das Gesicht, doch seine Antwort kam schnell und spontan. Gemma ahnte sofort, daß er vorbereitet war.
»Bis gestern hatte ich keine Ahnung. Teresa und ich haben heute nachmittag eine Verabredung mit der Anwältin. Mal sehen, was wir tun können.«
»Dann teilen Sie Jo Lowells Ansicht, daß ihr Exmann Schwierigkeiten machen wird?«
»Persönlich habe ich nichts gegen Martin Lowell. Trotzdem macht uns die Vorstellung Sorge, daß jemand, der mit dem Teegeschäft überhaupt nicht vertraut ist, einen großen Teil der stimmberechtigten Anteile besitzt. Das verstehen Sie sicher«, fügte er geschäftsmäßig hinzu.
Gemma sah von ihren Notizen auf. »Finden Sie es nicht merkwürdig, daß Ihre Verlobte so etwas Wichtiges wie ihre testamentarischen Verfügungen nicht mit Ihnen besprochen hat?«
Mortimer bog leicht den Kopf zurück und spielte mit dem Kugelschreiber auf seiner Schreibunterlage. »Annabelle war geradezu fanatisch auf ihre Eigenständigkeit bedacht. Außerdem hat sie es wohl nicht für nötig gehalten, über so etwas zu reden«, fügte er ausdruckslos hinzu.
»Vielleicht wollte sie bis nach Ihrer Heirat warten und Sie dann als Erben einsetzen«, schlug Gemma vor.
»Vorauszusagen, was Annabelle getan >hätte, wenn<, erscheint mir ein besonders fruchtloses Unterfangen.«
Gemma erkannte ihr Stichwort. »Hatte Annabelle ihre Meinung bezüglich der Hochzeit geändert? Ging es bei Ihrem Streit am Freitag abend vielleicht darum?«
Mortimer wurde sichtlich blaß. »Wovon ... wovon reden Sie? Sie hatte ihre Meinung selbstverständlich nicht geändert. Ich habe doch gesagt ... Sie hat sich nicht gutgefühlt.«
»Komisch«, fiel Kincaid ein. »Jo Lowell erzählt, daß Sie beide Streit hatten und daß Sie auf Annabelle auf der Straße gewartet haben, ohne sich bei Ihrer Gastgeberin zu verabschieden. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie so unhöflich gewesen wären, wenn der Abend für Sie friedlich geendet hätte.«
Mortimer sah von einem zum anderen. »Es klingt jetzt alles so idiotisch.« Tränen traten in seine Augen, und er wischte sie mit dem Handrücken weg. »Und wir haben keine Chance, zurückzunehmen ... was wir gesagt haben.«
»Wir alle haben dumme Auseinandersetzungen«, warf Gemma ein und vermied es, Kincaid anzusehen. »Wenn wir Glück haben, können wir sie bereinigen. Bauschen Sie die Sache nicht auf, nur weil Ihnen das jetzt verwehrt ist.«
Reg stieg Röte in die Wangen. »Also gut«, sagte er nach kurzem Zögern. »Annabelle war wütend, weil sie glaubte, Jo habe mit mir geflirtet... Ich habe doch gesagt, daß es idiotisch war.«
»Und hat Jo mit Ihnen geflirtet?« wollte Kincaid wissen. »War da was dran?«
»Nein, natürlich nicht. Annabelle war nur nicht gut drauf.« Reg sah weg und zuckte verlegen die Schultern.
»Vielleicht habe ich Jo mehr Aufmerksamkeit geschenkt als sonst, weil Annabelle so widerborstig war. Und Jo schien das zu genießen. Das war alles. Es war dämlich, ich weiß, aber wenn man sich so lange kennt, verfällt man leicht in alte, kindische Rituale.«
»Wissen Sie, weshalb Annabelle so schlecht drauf war?«
»Ich habe keinen Schimmer. In letzter Zeit hat es hier in der Firma mehr Streß gegeben als sonst. Das ist alles.« Er sah sich seufzend um. »Sie hat Änderungen vorgenommen, die tiefgreifenden Einfluß auf die Zukunft der Firma gehabt hätten ... neue Produkte, neue Verpackungen, neue Marketingstrategien. Jetzt ...« Reg sank in seinen Stuhl und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie wir ohne Sie weitermachen sollen.«
Gemma dachte an die auffallenden Teebüchsen, die Annabelle entworfen hatte, an Teresa Robbins’ Begeisterung, als sie von Annabelles Plänen, neue Marktnischen für Hammond’s zu erschließen, gesprochen hatte, an den offensichtlichen Schock und die Trauer der Firmenbelegschaft. Konnte die Firma Hammond’s ohne Annabelles Schwung und weise Voraussicht erfolgreich weiterbestehen? »Gibt es irgendjemanden in der Firma, der durch Annabelles Tod Vorteile hat?« fragte sie.
»Nicht daß ich wüßte«, antwortete Reg vorsichtig. »Sogar für Martin Lowell könnten die Anteile mehr Belastung als Gewinn sein ... jetzt, da Annabelle nicht mehr das Sagen in der Firma hat«, fügte er hinzu, und Gemma glaubte, so etwas wie Genugtuung herauszuhören.
Kincaid musterte ihn nachdenklich. »Sind Sie sicher, daß Annabelle an jenem Abend eifersüchtig war? Und nicht Sie?«
»Wie bitte?« Mortimer, der mit dem Stift gespielt hatte, hielt inne.
»Scheint so, als hätten Sie guten Grund gehabt, Reg.« Kincaid klang mitfühlend. »Wußten Sie, daß Annabelle den Straßenmusikanten aus dem Tunnel gekannt hat? Und daß sie eine Affäre mit ihm hatte?«
»Was?« Mortimers Adamsapfel hüpfte, als er schwer schluckte. »Das ist unmöglich, ich ... Wie sollte Annabelle den Typ gekannt haben? Noch dazu ein Straßenmusikant? Sie müssen sich irren.«
Gemma dachte an die Fotos aus dem Tatler, die sie an Annabelles Pinboard gesehen hatte ... Annabelle und Reg, die sich elegant von einer Party der Gesellschaft zur anderen und in einer Welt bewegten, in der kein Außenseiter Platz fand, es sei denn durch einen Akt der Barmherzigkeit.
Sie brachte ein Lächeln zustande. »Dieser Musiker ist ziemlich gut. Möchte behaupten, man bekommt für die Münzen, die man in seinen Kasten wirft, ’ne Menge mehr geboten, als das normalerweise der Fall ist.« Zu spät fühlte sie Kincaids Blick neugierig auf sich gerichtet.
»Er ist kein gewöhnlicher Straßenmusiker, wenn Sie das beruhigt«, warf Kincaid ein. »Er heißt Gordon Finch und ist Lewis Finchs Sohn.«
Diesmal starrte Mortimer sie nur an.
»Kennen Sie Lewis Finch?«
Mortimer kämpfte ganz offensichtlich um Haltung. »Selbstverständlich kenne ich Lewis Finch. Jeder auf dem >Island< weiß, wer Lewis Finch ist.«
»Annabelle eingeschlossen?«
»Ich ... Ich nehme doch an ... Sie muß ihm zwangsläufig irgendwann begegnet sein.«
»Überrascht es Sie, daß sie den Vater ebensogut kannte wie den Sohn ... ganz im biblischen Sinn? Wir sind nicht sicher, wer der erste war, das Huhn oder das Ei, aber es scheint sicher zu sein, daß sie trotz ihrer Verlobung mit Ihnen mit beiden eine Affäre hatte.«
»Nein!« Reg Mortimer war aufgesprungen. Sein Schreibtischstuhl flog krachend in einen Aktenschrank. »Das glaube ich nicht! Verdammt, niemals! Können Sie mir nicht wenigstens einen Rest von Illusion lassen, Mann?«
Als sie nicht antworteten, tastete er nach dem Stuhl hinter seinem Rücken, sank hinein und schlug die Hände vors Gesicht.
»Also gut, Jo Lowell ist wieder dran«, erklärte Kincaid. Sie stiegen in den Rover. »Allmählich komme ich mir wie ein verdammtes Jo-Jo vor.« Er hatte vor seiner Verabredung mit Superintendent Childs gerade noch Zeit für den Besuch von Greenwich. »Macht es dir was aus, den Rückweg durch den Tunnel zu nehmen?«
»Aber ich bitte dich!« erwiderte Gemma, und Kincaid bog nach Norden in die Manchester Road ein.
»War das gerade sarkastisch gemeint?« Kincaid wandte den Kopf nach rechts und sah aus den Augenwinkeln George Brents Vorgarten und George selbst in weißem T-Shirt, der verwelkte Rosen abschnitt. Er winkte, doch der alte Mann war in seine Arbeit vertieft und sah nicht auf. »Fällt schwer zu glauben, daß George Brent und Lewis Finch derselben Generation angehören sollen.«
»George muß mindestens sechs Jahre älter sein.« Gemma kurbelte das Fenster herunter und zog eine Grimasse, als ein heißer, sandiger Wind in den Wagen wehte. »Aber du hast recht. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Annabelle auf den alten George abgefahren wäre.«
»Glaubst du, Reg Mortimer hat es gewußt?«
»Von Annabelle und Lewis, oder von Annabelle und Gordon?«
»Von beiden.«
»Keine Ahnung. Er wirkte ziemlich niedergeschmettert.«
»Wie auch immer. Seine Geschichte über den Streit bei der Dinnerparty ist frei erfunden. Das garantiere ich dir.«
»Du solltest die Rivalität unter Geschwistern nicht unterschätzen. Jo war unsicher, weil sie die erste Einladung als alleinstehende Frau gegeben hat. Durchaus möglich, daß sie sich zu einem Flirt mit dem Freund der Schwester hat hinreißen lassen. Und wenn es so gewesen ist, würde sie das unter diesen Umständen nie freiwillig zugeben. Peinliche Geschichte. Und ein guter Grund für einen handfesten Krach mit ihrer Schwester«, fügte Kincaid hinzu und versuchte, sich die Szene vorzustellen.
»Was sie natürlich ebenfalls nicht zugeben würde. Aber das ist auch keine Antwort auf die Frage, was passiert ist, nachdem Annabelle und Reg die Party verlassen hatten.«
Sie hatten die Spitze der Isle of Dogs erreicht. Kincaid bog in den Aspen Way nach rechts ein, der in vielen Kurven wieder in Richtung Süden und zum Blackwell Tunnel führte.
Als sie in den Tunnel fuhren, blies ein kühleres Lüftchen in den Wagen. Gemma lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze und schloß die Augen.
Kincaid warf einen Blick auf sie. »Wolltest du Mortimer eigentlich reizen, als du ihm gesagt hast, daß Gordon Finch ein guter Musiker ist?«
Einen Moment antwortete Gemma nicht. Dann sah sie auf und bedachte ihn mit einem Blick, den er nicht deuten konnte. »Nicht unbedingt. Er hat gerade geübt, als ich gestern zu ihm in die Wohnung gekommen bin. Aber ich hatte ihn schon vorher gehört. In Islington.«
»In Islington?« wiederholte er überrascht. »Wann?«
Sie zuckte die Schultern. »Ist ein paar Monate her. Aber ich weiß erst seit gestern sicher, daß er’s tatsächlich gewesen ist.«
»Gordon Finch ist kaum der Typ, den man leicht vergißt«, bemerkte Kincaid, als der Verkehr plötzlich mitten im Tunnel zum Erliegen kam. Obwohl er aus Erfahrung wußte, daß er selten beurteilen konnte, was andere Männer für Frauen attraktiv machte, hatte er sofort gespürt, daß Finch eine gewisse magische Anziehungskraft besaß. Und wenn der Mann auf Annabelle gewirkt hatte ... »Der starke, schweigsame Typ, was?«
»Wer? Finch?«
»Oder sollte es sein Hund gewesen sein, der dich so beeindruckt hat?«
»An den Hund habe ich mich übrigens gleich erinnert«, erwiderte Gemma gelassen. »Als ich die beiden gestern zusammen gesehen habe, war ich meiner Sache endgültig sicher.« Sie lächelte, betrachtete ihre Fingerspitzen, und er fragte sich, wer da wem etwas vorzumachen versuchte.
Die restliche Fahrt nach Greenwich verlief schweigend. Trotzdem wurde Kincaid das Gefühl nicht los, daß Gemma etwas vor ihm verbarg.
Jo Lowell öffnete die Tür, noch bevor Kincaid den Finger vom Klingelknopf genommen hatte. Der Anblick der beiden Kriminalbeamten war für sie offensichtlich eine Enttäuschung. »Ich wollte gerade ausgehen. Ich habe einen Termin bei einem Kunden und bin spät dran. Die Kinder waren heute morgen eine Katastrophe ...« Sie hielt inne. »Na, egal. Was kann ich für Sie tun?«
Sie trug eine elegante Hose und eine weiße Seidenbluse. Ein Hauch von Make-up überdeckte ihre Sommersprossen, ihr kastanienbraunes Haar war mit einer goldenen Spange im Nacken zusammengefaßt, und sie hatte schlichte Topas-Ohrringe angelegt. Zum ersten Mal fiel Kincaid auf, wie attraktiv sie aussehen konnte.
»Dauert nur eine Minute«, begann er entschuldigend. Sie trat zurück und bat sie ins Haus.
»Ist es in Ordnung, wenn wir gleich hier bleiben?« fragte sie und deutete auf das Eßzimmer.
Die Vase mit Sonnenblumen stand noch auf dem Tisch. Als sie sich setzten, dachte Kincaid an Annabelle und daran, wie sie hier gesessen und vielleicht über die Bemerkung eines anderen gelacht hatte.
»Kommen wir gleich zur Sache, Mrs. Lowell. Wir hatten gerade ein Gespräch mit Reg Mortimer. Er gibt zu, daß er und Annabelle Streit hatten.«
Bildete er sich das flüchtige, angespannte Zucken umjo Lo-wells Mundwinkel nur ein? »Sind Sie sicher, daß Ihre Schwester Ihnen nicht erzählt hat, worum es bei dem Streit ging?«
»Nein ... Ich ... Was hat Reg gesagt?«
»Daß Annabelle wütend war, weil Sie mit ihm geflirtet hätten.«
Einen Moment starrte Jo sie mit offenem Mund an. Dann lachte sie laut auf. »Reg hat gesagt, ich hätte mit ihm geflirtet?«
»Sind Sie anderer Meinung?« erkundigte sich Kincaid.
»Der träumt wohl!« Jo kicherte beinahe hysterisch. »Wenn Sie wüßten, wie oft ich mich mit ihm als Kind geprügelt habe! Und dabei hat er nie gut ausgesehen! Der hat sie wohl nicht alle. Ich könnte ihn umbringen.« Sie schlug die Hände vor den Mund. »Das war nicht so ...«
»Ich weiß. Aber trotzdem ... könnte Annabelle gedacht haben, es sei was zwischen Ihnen und Reg? Er sagt, sie sei wirklich sauer gewesen.«
»Der Bastard. Nicht Annabelle ist sauer gewesen ... jedenfalls nicht am Anfang. Er war wütend auf sie.«
»Warum haben Sie uns das nicht gleich gesagt?« Kincaid rückte die Blumenvase zur Seite, damit er ihr Gesicht besser sehen konnte.
Jo lehnte sich zurück und ließ die Hände in den Schoß gleiten, aber Kincaid sah trotzdem, wie diese sich ineinander verkrampften. Er wurde sich plötzlich ihres Parfüms bewußt. Es war ein frischer, kräuterähnlicher Duft. Ihre Brust hob und senkte sich schwer im warmen Zimmer. »Sie haben die ganze Zeit über gewußt, worum es bei diesem Streit gegangen ist, stimmt’s, Jo? Warum haben Sie’s uns nicht gesagt? Und warum hat Reg uns in diesem Punkt zweimal belogen?«
Er wartete, spürte Gemma an seiner Seite, wußte jedoch, daß sie die gespannte Atmosphäre nicht auflockern und Jo keinen leichten Ausweg bieten würde.
»Als Sie mich das erste Mal gefragt haben, wußte ich nicht, daß Annabelle tot ist«, flüsterte Jo schließlich, ohne den Blick von ihren Händen zu nehmen. »Und später habe ich mich geschämt.«
»Sie haben sich geschämt?« drängte Gemma sanft. »War etwas, das Sie gesagt hatten, der Auslöser?«
Jo schüttelte den Kopf. Die Tränen, die sich in ihren Wimpern gesammelt hatten, rollten ihr über die Wangen. Sie rührte keine Hand, um sie wegzuwischen. »Es war Harry. Dazu müssen Sie wissen ... Martin hat die giftige Saat gegen Annabelle bei ihm gesät. Sie hatte es verdient, das muß ich zugeben, aber sie hatte Harry von Anfang an vergöttert, und ich glaube, es hat ihr das Herz gebrochen.«
Gemma beugte sich vor und berührte ihre Schulter. »Jo, fangen wir von vorn an. Erzählen Sie uns, was passiert ist.«
»Ich möchte nicht, daß Sie schlecht von Annabelle denken.« Jo hob in flehentlicher Geste die geballte Faust an die Brust.
»Tun wir nicht«, versprach Gemma, ohne Jo aus den Augen zu lassen. Und Kincaid bewunderte wie so oft ihre Fähigkeit, anderen die Angst zu nehmen und Vertrauen zu wecken.
Jo holte zitternd Luft, atmete mit einem Seufzer aus und blinzelte gegen die Tränen an. »Es fing an, als Sarah ein Baby war ... oder eigentlich schon vor ihrer Geburt. Martin und ich hatten Probleme ... ich spielte sogar mit dem Gedanken, ihn zu verlassen ... und dann wurde Mami krank. Und ich wurde schwanger.« Sie wandte den Blick ab, schüttelte den Kopf und fuhr leise fort: »Es war dumm von mir, sogar verrückt, aber ich konnte mir einfach nicht helfen. Ich konnte diesem Drang nicht widerstehen ... Ich habe sogar absichtlich mit der Pille gepfuscht.« Sie sah die beiden Besucher an und lächelte flüchtig. »Das hat die Sache mit Martin nicht leichter gemacht, und es hat Mami nicht vor dem Tod bewahrt. Aber es hat mir etwas gegeben, das ich lieben konnte, das die Lücke ausfüllen konnte, die Mami hinterließ ... Warum erzähle ich das nur? Ich habe nie ...«
Gemma berührte Jos Hand. Kincaid kam sich reichlich überflüssig vor. »Ich habe einen Sohn, der ist genauso alt wie Ihre Sarah. Ich weiß, wie das ist.«
Nach einem Moment nickte Jo. »Martin war auf Harry eifersüchtig gewesen, aber mit Sarah fühlte er sich endgültig ausgeschlossen und war noch wütender auf mich als zuvor. Und Annabelle ... Beim Tod unserer Mutter hatte Annabelle niemanden ...« Ihr Seufzen klang beinahe wie ein Schluchzen. »Sie hatten eine Affäre - Martin und Annabelle. Annabelle hat es mir ein paar Monate später gestanden. Sie sagte, sie habe es nicht mehr ertragen, mich und die Kinder zu hintergehen, aber daß Martin keinen Grund sehe, die Beziehung zu beenden. Daraufhin habe ich die Scheidung eingereicht.«
»Waren Sie sehr böse auf sie?« fragte Gemma leise.
»Natürlich war ich wütend. Ich war außer mir vor Wut. Aber sie ist meine Schwester. Und nach einiger Zeit ... hat sie mir gefehlt.
Aber Martin hat ihr nie verziehen. Er behauptet, sie habe sein Leben ruiniert, ihm seine Kinder genommen ... so als sei er an der Geschichte völlig unbeteiligt.« Sie schüttelte noch immer fassungslos den Kopf.
»Und Harry?«
»Martin hat ihm erzählt, Annabelle sei schuld, daß wir keine Familie mehr sind ... und daß alles wunderbar wäre, wenn sie sich nicht eingemischt hätte. Das war schlimm genug, aber ich hatte keine Ahnung, daß das nicht alles war. Bis zum Abend meiner Dinnerparty.« Jo sah sich im Zimmer um, als nehme sie die Umgebung zum ersten Mal wieder wahr. »Annabelle war nicht oft hiergewesen ... Die Dinge standen nicht zum besten zwischen uns, obwohl wir uns um Vaters willen redlich Mühe gaben, die Fassade zu wahren. Ich fand jedenfalls, es sei Zeit, den Streit zu begraben. Deshalb habe ich sie eingeladen ... Annabelle und Reg ... und Mamis Freundin Rachel Pargeter, die gleich um die Ecke wohnt, und Kunden, die unvoreingenommen waren, was meine Scheidung betraf...«
Als Jo schwieg, fragte Gemma sanft: »Was ist passiert?«
»Es war die reinste Katastrophe. Das heißt, nicht zu Anfang. Harry war gemein zu ihr, aber ich hatte ihn mit Sarah nach draußen zum Spielen geschickt, und wir haben das Essen brillant über die Runden gebracht. Dann kam Harry in die Küche, als Annabelle und Reg mir beim Aufräumen geholfen haben. Annabelle hatte immer wieder versucht, die Sache mit Harry wieder ins Lot zu bringen. Sie hatten sich schrecklich gern gehabt, und ich glaube, sie hat nie wirklich begriffen, wie tief die Wunde bei ihm war. Sie hat ihn berührt, ihn bei seinem Kosenamen genannt, und er ... er ist auf sie losgegangen. Er hat Sachen gesagt ... sie mit furchtbaren Ausdrücken beschimpft ...« Jo hielt inne. Sie war unter ihrer Bräune bleich geworden.
»Was für Ausdrücke?«
»Nutte«, sagte Jo so leise, daß Kincaid sie kaum verstand. »Schmutziges Flittchen. Er sagte, wenn sie nicht ... Ich hatte keine Ahnung, woher er diese Worte überhaupt hatte. Annabelle hat ihm eine Ohrfeige verpaßt, und dann ist Reg ... auf sie losgegangen.«
»Reg war wütend auf Annabelle?« Kincaid runzelte die Stirn. »Nicht auf Harry?«
»Reg hatte von der Sache zwischen Annabelle und Martin keine Ahnung gehabt. Er hat sie angeschrien: >Ist das wahr? Stimmt das?< Und der arme Harry hat geweint ... Dann ist Annabelle aus dem Haus gestürmt und Reg hinterher. Am nächsten Tag, als er mir erzählte, daß sie seine Anrufe nicht beantwortete, fand ich, daß sie einen verdammt guten Grund dafür hatte.«
»Und als man sie tot aufgefunden hatte? Ist Ihnen da nicht der Gedanke gekommen, daß er sie umgebracht haben könnte?«
»Nein. Ich dachte nicht an Reg. Ungeachtet all seiner Fehler ... wir drei sind seit unserer Kindheit zusammen. Reg hätte ihr niemals etwas angetan.«
»Was ist mit Martin? Angenommen, sie ist zu Martin gegangen, nachdem sie Reg im Tunnel allein gelassen hatte.«
Jos Augen wurden groß vor Entsetzen. Einen Moment war es so still im Zimmer, daß Kincaid glaubte, das Pochen seines Blutes in den Ohren zu hören. »Oh, Gott! Nicht Martin!«
Gemma stand neben Kincaid auf der schmalen Straße und beobachtete, wie Jo Lowell mit ihrem kleinen Fiat davonfuhr.
»Komisch. Martin Lowell hat mit keinem Wort erwähnt, daß er eine Affäre mit seiner Schwägerin gehabt hatte, als wir uns mit ihm unterhalten haben«, bemerkte Kincaid und hob die Hand, als Jo noch einmal zurückblickte, bevor sie um die Ecke in die Hyde Vale einbog.
»Oder daß er sie haßte. Obwohl wir von selbst hätten draufkommen können.« Ohne Begeisterung fügte Gemma hinzu: »Ich mache auf dem Weg bei der Bank in Greenwich halt und rede noch mal mit ihm.«
»Verschieben wir das auf heute nachmittag. Ich glaube, da möchte ich dabei sein.« Kincaid sah auf die Uhr. »Den Chef allerdings kann ich nicht warten lassen. Ich rufe dich vom Yard aus an.« Er schloß die Wagentür des Rovers auf. »Spring rein. Ich nehme dich bis ins Stadtzentrum mit.«
Gemma zögerte. »Würde mir gern noch eine Version von dieser Dinnerparty anhören. Jo hat doch gesagt, die Freundin ihrer Mutter lebe gleich um die Ecke. Ich versuche mein Glück mal bei ihr.«
»Kennst du die Adresse?«
»Ich bin schon groß genug, um an Türen zu klopfen«, konterte Gemma und winkte ihm zum Abschied zu.
Bei ihrem zweiten Versuch landete sie bereits bei Rachel Pargeter, die im zweiten Haus hinter der Ecke zur Hyde Vale wohnte. Sie war eine großgewachsene Frau über Sechzig mit gewelltem, silbergrauem Haar. Sie trug eine grüne Gartenschürze über Bluse und Hose.
»Entschuldigen Sie meine Gartenkluft«, erklärte sie mit rauchiger Stimme, nachdem Gemma sich vorgestellt hatte. »Kommen Sie mit nach hinten. Ich wasch mir nur schnell die Hände.«
Gemma sah sich bewundernd um, als die Dame des Hauses sie in einen Wintergarten führte, dessen große Glastüren auf eine Terrasse und einen schattigen Garten führten. »Das ist ja bezaubernd hier.«
»Ist das kühlste Zimmer im Haus. Ich koche uns nur eine Tasse Tee ... Bin gleich wieder da.«
Auf einem Rattansofa lag ein riesiger Kater auf dem Rücken, alle vier Pfoten in die Luft gestreckt. Er schlug die Augen auf, blinzelte Gemma an und reckte sich lässig. Sie hatten sich soweit bekannt gemacht, daß Gemma ihm den Bauch kraulte, als Rachel Pargeter mit dem Teetablett zurückkam.
»Mach Platz, Francis, du Riesenvieh«, befahl sie liebevoll. Und zu Gemma gewandt, fügte sie hinzu: »Schmeißen Sie ihn einfach runter. Er ist höchstens dreißig Sekunden beleidigt ... der Verlust des Kurzzeitgedächtnisses kann ein Segen sein.«
Als Gemma den Kater sanft beiseite geschoben und einen Becher Tee entgegengenommen hatte, setzte sich Rachel Pargeter in einen Rattanschaukelstuhl neben sie und musterte sie aufmerksam. »Ich schätze, Sie kommen wegen Annabelle Hammond?«
»Soviel ich gehört habe, sind Sie eine alte Freundin der Familie.«
»Oh, seit ewigen Zeiten, ja«, sagte Rachel. »Isabel hat sich mit mir angefreundet, als wir vor dreißig Jahren hierhergezogen sind. War ein schwerer Schlag ... als Isabel starb. Und jetzt das.« Sie trank einen Schluck von dem Tee, der Gemma noch viel zu heiß war. »Annabelle hat mir immer irgendwie leid getan. Aber ich hätte nie gedacht, daß es so weit kommen würde.«
»Annabelle hat Ihnen leid getan?«
»Ich war von jeher der Meinung, daß außergewöhnliche Schönheit ein ebensolcher Fluch sein kann wie körperliche Defekte ... wenn nicht noch schlimmer. Es ist so schwierig für einen schönen Menschen, ob Mann oder Frau, einen guten Charakter zu entwickeln, finden Sie nicht? Spricht schließlich von Anfang an alles gegen sie.«
Gemma runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«
»Schöne Menschen müssen sich nie Aufmerksamkeit oder Zuneigung der anderen durch ihr Verhalten verdienen. Im Gegenteil. Sie nehmen es als etwas, das ihnen selbstverständlich zusteht. Und man verzeiht ihnen fast alles, einfach nur wegen ihres Aussehens. Annabelle hatte noch das Glück, daß ihre Mutter verhindert hat, daß sie komplett verwöhnt wurde.«
Francis wählte diesen Augenblick, um auf Rachels Schoß zu springen. Die Dame des Hauses vermied es geschickt, ihren Tee zu verschütten, streichelte die Katze und fuhr fort: »Die andere tragische Komponente ist meiner Meinung nach, daß schöne Menschen so selten das sichere Bewußtsein genießen können, daß sie um ihrer selbst willen geliebt werden ... dafür geliebt werden, wie sie wirklich sind. Aber Isabel hat ihre Tochter trotz und nicht wegen ihrer Schönheit geliebt. Und sie war geradezu fanatisch gerecht mit den Kindern.« Sie seufzte. »Und William hat sie auf eine harte Probe gestellt, aber sie hat sich nie beklagt.«
»Auf eine harte Probe? Inwiefern?«
»Annabelle war das Kind seiner Träume ... ein wunderschönes Mädchen, das im Lauf der Zeit eine Leidenschaft für alles, was mit Tee zusammenhing, entwickelte, die seine Hingabe an die Firma noch überstieg.«
»Also hat er sie furchtbar verwöhnt?«
»O ja. Und er hat ihr die Last auferlegt, perfekt sein zu müssen. Damit zu leben, ist verdammt schwer. Kein Wunder, daß Annabelle völlig aus dem Gleichgewicht geraten ist, als ihre Mutter starb.«
»Sie haben von Annabelle und Martin Lowell gewußt?«
»Leider«, antwortete Rachel und nickte traurig. »Jo hat sich mir anvertraut. Die Arme hatte niemanden, mit dem sie hätte reden können ... Ihrem Vater konnte sie auf keinen Fall sagen, was seine heißgeliebte Annabelle getan hatte.« Sie warf Gemma einen kurzen Blick zu. »Vermutlich mißbrauche ich Jos Vertrauen, indem ich es Ihnen erzähle. Aber die ganze Geschichte belastet mich sehr ...«
»Jo hat es uns bereits selbst gesagt. Sie enttäuschen sie also keineswegs«, versicherte Gemma ihr. »Was ich nicht verstehe, ist, wie die beiden überhaupt je auf Martin Lowell reinfallen konnten.«
Rachel Pargeter lächelte. »Ich schätze, Sie haben Martin Lowell noch nicht in Bestform erlebt. Er kann außerordentlich charmant sein. Sogar ich war ihm verfallen - damals am Anfang ihrer Ehe -, als er mich in Gartenfragen um Rat gefragt hat. Er hat mir das Gefühl gegeben, meine Meinung sei alles, was zähle. Diese Ausschließlichkeit muß für ein Mädchen sehr verführerisch gewesen sein, das daran gewöhnt war, die zweite Geige zu spielen.«
»Und Annabelle?«
»Ich nehme an, daß sie sich nach Isabels Tod einfach verzweifelt danach gesehnt hat, geliebt zu werden. Und sie hat Martins Verlangen als Liebe mißverstanden. Ich schätze, sie hat schnell genug herausgefunden, daß Martin zu echter Liebe gar nicht fähig ist.«
»Aber dazu, die eigene Schwester zu betrügen!« Gemma hatte bisher gar nicht gemerkt, wie sehr sie diese Sache aufgebracht hatte. Daß Annabelle Reg Mortimer mit Gordon Finch betrogen hatte, hatte sie rechtfertigen können, nicht aber die Affäre mit ihrem Schwager.
»Rivalität unter Geschwistern gibt es seit Kain und Abel. Ich nehme an, Annabelle wollte das haben, wovon sie glaubte, daß ihre Schwester es hatte ... Glück in der Ehe, Kinder ... und sie war es gewöhnt, sich zu nehmen, was sie wollte.«
»Und Jo hat ihr vergeben?«
»Letztendlich, ja. Aber Harry nicht.«
»Ich bin eigentlich wegen dieser Dinnerparty zu Ihnen gekommen«, gestand Gemma.
Rachel schloß für einen Moment die Augen. »Ah, das war ein schrecklicher Abend!«
»Sie haben die Auseinandersetzung mitbekommen?«
»Es ist ein kleines Haus, und sie haben sich angeschrien. Nicht, daß mich das alles überrascht hätte! Keinesfalls. Ich hatte schon den Verdacht, daß sich da was zusammenbraute. Harry ist öfter bei mir, und ich habe längst gemerkt, was sein Vater mit ihm gemacht hat.« Rachel schob den Kater von ihrem Schoß und stellte die leere Tasse auf den Tisch. »Martins Untreue kann ich verzeihen, aber nicht, daß er seinen Sohn dazu mißbraucht, seine eigenen Rachegefühle zu befriedigen. Es überrascht mich offengestanden, daß noch niemand dem Mistkerl den Hals umgedreht hat.«
»Erzählen Sie mir bitte, was an jenem Abend in der Küche gesagt worden ist.«
»Zuerst habe ich Harry gehört. Er hat Annabelle mit gemeinen Schimpfwörtern bedacht. Jos ahnungslose Kunden waren völlig konsterniert. Ich glaube, die dachten zuerst, das alles käme aus dem Fernseher. Dann schrie Jo Harry an ... und Harry fing an zu weinen.«
»Und Annabelle?«
Rachel wandte den Blick ab. »Sie war ... sie hat Harry angefleht. Dann ging Reg auf sie los... Ich konnte nicht alles verstehen, aber er war außer sich. Annabelle wiederum schrie ihn an. Dann knallte die Tür zum Garten zu. Zweimal. Keiner von beiden kam ins Eßzimmer zurück. Jo erschien wenige Minuten später und hat versucht, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, aber wir haben uns so schnell wie möglich verabschiedet.«
»Was für einen Eindruck haben Annabelle und Reg beim Essen gemacht? Haben sie sich normal verhalten?«
»Ja. Sie waren vielleicht ein bißchen schnippisch zueinander, aber für ein Paar, das sich so gut kannte, ist das nichts Ungewöhnliches.«
»Und es kam sonst nichts zur Sprache, das den Streit ausgelöst haben könnte?«
»Nicht daß ich wüßte.« Rachel Pargeter fügte nachdenklich hinzu: »Ich hoffe, Sie schließen daraus nicht, daß Reg etwas mit Annabelles Tod zu tun hat. Er ist kein schlechter Kerl... Er hat mit meinem Jimmy gespielt, wenn er zu Jo und Annabelle zu Besuch gekommen ist.«
»Er war sehr wütend auf sie.«
»Ich vermute, daß er nicht so sehr aus eigener Verletztheit heraus wütend war ... sondern um Jos willen. Er hat Annabelle nämlich angeschrien: >Wie konntest du das nur deiner Schwester antun?<
Ein Jammer, daß Annabelle nie die Chance hatte auszuprobieren, was sie noch aus sich hätte machen können ... ob es ihr gelungen wäre, ihre Fehler auszubügeln«, fuhr Rachel kurz darauf fort. »Die meisten sind untröstlich, wenn ungewöhnliche Menschen sterben. Ich dagegen neige zu der Ansicht, daß die meisten sich dem Leben entziehen, sobald sie ihre Schuldigkeit getan haben.«
»Bei Annabelle war das nicht der Fall.«
»Sie konnte lieben. Ich glaube, sie hat ihre Schwester geliebt - trotz allem, was sie ihr angetan hatte -, und ich weiß, daß sie Harry geliebt hat. Die Zurückweisung durch den Jungen muß ein schwerer Schlag für sie gewesen sein, etwas, das sie noch nie erfahren hatte, und dieser Schmerz wäre vielleicht die Flamme gewesen, die ihren Charakter hätte formen können«, endete Rachel. Sie lächelte und begann das Teegeschirr aufs Tablett zu stellen. »Aber Sie brauchen Fakten, Sergeant. Und ich habe nichts zu bieten als Spekulationen.«
»Es hat mir sehr geholfen, mit jemandem zu sprechen, der Annabelle so klar gesehen hat, Mrs. Pargeter.«
»Finden Sie?« Rachel Pargeter hielt inne, eine Hand an der Zuckerdose. »Ich bin nicht sicher, daß ich sie überhaupt klar gesehen habe. Ein guter Teil dessen, was ich gesagt habe, mag Unsinn sein, Wunschdenken von meiner Seite. Weil ich sie auch geliebt habe, wissen Sie ... und nicht zuletzt deshalb, weil sie mich an ihre Mutter erinnert hat. Und Liebe ist eine gefährliche Sache.«
Gemma hörte die Musik, als sie aus dem Lift in Island Gardens trat. Es war Dixieland-Jazz, laut und swingend, und zweifelsfrei kam er weder aus dem Radio noch vom Band. Sie folgte dem Klang um den Kuppeleingang des Tunnels herum, und als sie um die Ecke in den Park selbst einbog, entdeckte sie die Band unter der Platane, die wie ein Wächter den Weg säumte, der in die Uferpromenade mündete.
Der Stamm des Baumes teilte das Royal Naval College auf der gegenüberliegenden Uferseite in zwei symmetrische Teile, und die fünf Musiker standen im Schatten seines Blätterdachs. Alle waren mittleren Alters, hatten angegraute Bärte und sahen mit ihren Filzhüten und den über den Hosenbund ihrer Shorts hängenden Hemdschößen wie Geschäftsleute in unvollständiger Verkleidung aus. Gelegentlich warf ein Passant eine Münze in den aufgestellten Banjokasten.
Gemma hörte ihnen kurz zu, konnte nicht widerstehen, sich im Rhythmus der Musik zu wiegen, und schlenderte dann zu einem Erfrischungskiosk weiter, um sich eine Orangeade zu kaufen. Der Park lag in seiner ganzen Weite so einladend vor ihr, daß sie beschloß, lieber quer hindurch als auf der Straße außen herum zu gehen.
Sie nahm den Pfad, der mitten durch den Park führte, genoß das prickelnde kühle Getränk und bewegte sich unwillkürlich noch immer im Takt der Musik. Mittlerweile spielte die Band einen Benny-Goodman-Titel, den ihr Vater besonders gemocht hatte, als sie noch klein gewesen war. Sie summte die Melodie mit, betrachtete geistesabwesend die Mütter mit Kindern in Sportwagen und die Paare, die ausgestreckt auf Decken im Gras lagen.
Vor ihr schleppte sich eine alte Frau im Schneckentempo den Weg entlang, und etwas weiter vorn lag ein Mann neben einem Hund ... Gemma brauchte in ihrer Verblüffung einen Moment, um zu begreifen, daß dieser Mann Gordon Finch mit Sam war. Sie blieb abrupt stehen und starrte ihn an wie eine Erscheinung aus dem Kindermärchen.
Gordon lag auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen. Er trug T-Shirt und Jeans. Die Füße waren nackt, und neben dem Klarinettenkasten standen ordentlich nebeneinander seine Stiefel. Das Jackett hatte er - als Kissen gefaltet - unter den Kopf geschoben. Die Sonne kam hinter den Wolken hervor, und das Licht fiel gebrochen durch das Blätterdach und warf zuckende Reflexe auf sein Gesicht und seinen Körper.
Gemma überquerte die Wiese und blieb neben ihm stehen. Sam hob den Kopf. Als sich der Hund bewegte, schlug Gordon die Augen auf und sah zu ihr auf. »Welch schöner Anblick ist denn dies?« sagte er, ohne eine Miene zu verziehen.
»Was machen Sie denn hier?« fragte Gemma.
»Heute nicht zu schlagfertigen Kontern aufgelegt, was?« Er setzte sich auf, hob die Arme über den Kopf und knackte mit den Fingerknöcheln. »Ist ein freier Park in einem freien Land, geschätzte Lady. Ich könnte Sie dasselbe fragen. Wollen Sie sich zu mir setzen?«
Gemma sah sich um, als könnte sie irgendwo einen Stuhl entdecken, dann sank sie in die Hocke. »Ich muß mit Ihnen reden.«
Gordon nickte in Richtung der Musikanten. »Ich warte auf eine Chance, die Herren abzulösen. Solange bin ich ganz der Ihre.«
In seiner Spötterlaune wirkte er entspannter als zuvor.
»Was gibt’s denn?« fragte er und betrachtete sie eingehender. »Alles in Ordnung?«
Sein besorgter Ton traf sie völlig unerwartet. »Ich ... Ja, natürlich«, stammelte sie. »Mit mir ist alles in Ordnung. Aber...«
»Dann setzen Sie sich doch anständig hin«, befahl er. »Sie sehen ja aus wie ein Sprinter an den Startblöcken.« Sie gehorchte vorsichtig, doch bevor sie die Beine überkreuzen konnte, legte Gordon eine Hand auf ihr Fußgelenk. »Und ziehen Sie die Schuhe aus. Man kann nicht im Gras sitzen und Schuhe anbehalten.« Er ergriff den Absatz ihrer Sandalette und zog ihr diese vom Fuß. Gemma zuckte zurück.
»Ich kann hier nicht barfuß mit Ihnen im Park herumsitzen. Das ist nicht... Was würde ...«
»Wovor haben Sie Angst, Sergeant?« Er sah auf, als er ihr die zweite Sandalette vom Fuß streifte. »Sie können mich ja wegen Beamtenbelästigung verknacken, wenn Sie sich dann wohler fühlen.«
»Seien Sie nicht blöd!« konterte sie, aber sie zog ihre Sandaletten nicht wieder an.
Gordon schlang die Arme um die Knie und sah sie ausdruckslos an, während Sam aufstand und sich mit einem lauten Schnauben gegen Gordons Hüfte sinken ließ. »Sagten Sie nicht, daß Sie mir auf den Zahn fühlen wollen?«
»So war das nicht gemeint ...« Gemma schluckte den Protest hinunter. »Also gut.« Sie zog die nackten Füße unter sich. »Wußten Sie, daß Annabelle eine Affäre mit ihrem Schwager gehabt hatte?«
Seine Miene verriet Überraschung. »Nein. Ich habe Ihnen ja bereits gesagt ... sie hat nie über sich gesprochen. Und ich schätze, das wäre das letzte gewesen, was sie mir erzählt hätte.« Er zögerte. »War das ... wissen Sie, wann das gewesen ist?«
»Ist schon eine Weile her. Die Ehe ihrer Schwester ist daran zerbrochen, und der Mann, Martin Lowell, hat Annabelle dafür verantwortlich gemacht.«
»Heißt er so?« fragte er stirnrunzelnd. Er zog die Augenbrauen steil hoch. »Sie hat ihn nie erwähnt. Aber was hat das mit der ganzen Sache zu tun?«
»Annabelles Verlobter hat von ihrer Affäre mit Lowell am Freitag abend bei der Dinnerparty der Schwester erfahren.«
»Aber wenn ihre Schwester längst geschieden ist, dann muß das doch vor der Verlobung dieses... wie hieß er noch? ... mit Annabelle gewesen sein.«
»Reg Mortimer.«
»Weshalb hätte ihn das also vom Sockel hauen sollen?«
»Vielleicht wußte oder vermutete er, daß da ein anderer Mann war. Und er dachte vielleicht, wenn sie ihre Schwester betrügen konnte ... weshalb nicht auch ihn? Dann hat er Annabelle und Sie im Tunnel gesehen ...«
»Was soll das heißen?'Glauben Sie, er hat ihr aufgelauert? Sie getötet?«
»Das ist eine Möglichkeit. Aber bisher haben wir keine Beweise. Hat Annabelle Ihnen gesagt, daß sie ihre Verlobung gelöst habe?«
»Nein. Hatte sie es denn?«
»Wissen wir nicht. Ihr Vater behauptet das. Angeblich hatte Annabelle eine entsprechende Nachricht auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen. Sie soll sehr erregt geklungen haben. Ihr Vater hat sie daraufhin zurückgerufen, sie aber nicht erreicht.«
»Mein Vater?« Gordons Miene war plötzlich wieder völlig ausdruckslos.
Gemma hatte das Gefühl, sich auf eine Gratwanderung zu begeben. Sie kämpfte mit dem unerklärlichen Bedürfnis, ihn in Schutz zu nehmen. »Wir haben mit Ihrem Vater gesprochen. Er hat uns unter anderem erzählt, daß er und Annabelle Hammond seit langem eine Affäre hatten. Und ich kann einfach nicht glauben, daß Sie keine Ahnung davon gehabt haben sollten.«
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, mein Vater und ich - wir haben kaum etwas miteinander zu tun. Woher also hätte ich es wissen sollen?« Seine Stimme klang unbeteiligt, aber Gemma erkannte am Spiel seiner Kiefermuskeln, wie angespannt er war.
»Offensichtlich ist sie oft genug in seiner Begleitung gesehen worden. Diese Insel ist ein Dorf. Und angesichts der Geschwindigkeit, wie sich Klatsch und Tratsch in einer solchen Umgebung verbreiten ... Ich denke, früher oder später mußten Sie davon Wind bekommen haben.«
Gordon zog eine Grimasse und sah weg. »Wir haben hier gewohnt, als ich noch ein Kind war«, begann er schließlich. »Hier bin ich eingeschult worden ... gleich dort oben an der Straße. Mein Vater hatte sich in der Gegend einen Namen gemacht, indem er versuchte, die alte Bausubstanz zu erhalten ... war für damalige Zeiten ziemlich exzentrisch. Die meisten haben nicht geglaubt, daß es mit den Docks jemals bergab gehen könnte. Aber sie haben seinen Erfolg respektiert. Überall, wo ich hingekommen bin, bin ich nur Lewis Finchs Sohn gewesen.
Als ich acht war, hat meine Mum beschlossen, daß wir in die Vorstädte ziehen sollten. Das war ihre Vorstellung von Erfolg - Bridge und Cocktails -, aber mein Vater hat es gehaßt. Nach der Scheidung ist er für immer auf das >Island< zurückgekommen.«
»Und Sie sind bei Ihrer Mutter geblieben?«
»Lewis hat mich ins Internat geschickt. Erziehung und Bildung bedeutet ihm alles. Und er war entschlossen, mir das Beste zu bieten. Was er nicht akzeptieren konnte, war meine Weigerung, einfach zu schlucken, was er mir auf dem Tablett serviert hat ... zumindest nicht so, wie er es sich eingebildet hatte.«
Gemma dachte an ihren Vater. Im Vergleich mit Lewis Finch war er ein unbedeutender Selfmademan. Und doch war er stolz auf das, was er aus seiner Bäckerei gemacht hatte. Hatte er davon geträumt, daß seine Töchter in seine Fußstapfen treten würden? Wenn ja, dann hatten ihn beide enttäuscht.
»Er wollte, daß Sie in seine Firma eintreten?« fragte sie ins Blaue hinein.
Gordon vergrub seine Finger im rauhen Fell seines Hundes. »Ich habe ein Jahr durchgehalten. Haben Sie eine Ahnung, was es heißt, im Schatten eines Menschen wie mein Vater zu stehen?«
Gemma musterte ihn prüfend. Seine grauen Augen lagen unter den geschwungenen Brauen tief in den Höhlen, das Haar stand ihm widerspenstig vom Kopf ab, und die eingefallenen Wangen unter hohen Wangenknochen und die Falten in den Mundwinkeln verrieten harte Jahre. »Also haben Sie ein neues Leben angefangen - eines, das sich so weit wie möglich von dem des Vaters unterschied - als Straßenmusikant und Aktivist, der auf jede Art von Konvention verzichtet ...«
»Ich hatte herausgefunden, was mit den Menschen passiert war, die es sich nicht mehr leisten konnten, in ihrer angestammten Umgebung zu leben«, protestierte er.
»Sie hätten überallhin gehen können. Niemand hätte gewußt, wer Sie sind. Trotzdem sind Sie auf die >Insel< zurückgekommen.« Sie deutete mit dem Finger auf ihn. »Weil Ihnen am Herzen liegt, was hier passiert. Sie sind der Sohn Ihres Vaters, ob Sie’s wollen oder nicht. Und ich glaube, deshalb ist Annabelle auf Sie verfallen.«
»Blödsinn!« entgegnete Gordon hitzig. »Am Anfang kannte sie nicht mal meinen Namen!«
»Ich glaube schon. Ich glaube, sie kannte zu diesem Zeitpunkt bereits Ihren Vater und war neugierig auf Sie. Also hat sie sich Ihr Klarinettenspiel angehört. Vielleicht wollte sie zuerst gar nicht mehr ... aber dann ist mehr daraus geworden, als sie vorgehabt hatte.«
»Aber warum? Was kann sie von mir gewollt haben?«
»Ich weiß nicht.« Gemma pflückte einen Grashalm von der Wiese. »Aber es gibt eine Verbindung zwischen Ihren Familien ... den Finchs und den Hammonds: Eure Väter sind während des Krieges zusammen evakuiert gewesen.«
Er sah sie überrascht an. »Davon hatte ich keine Ahnung.«
»Haben Sie nie davon gehört, daß zwischen Ihrem Vater und William Hammond so etwas wie eine Fehde bestand?«
»Nein. Die Vorstellung ist absurd.«
»Annabelles Schwester Jo behauptet, ihr Vater habe sie vor Ihrem Vater und seiner Familie gewarnt.«
Gordon schien etwas sagen zu wollen, hielt jedoch abrupt inne. Er wirkte verwirrt. »Komisch, jetzt, da Sie das sagen ... Annabelle hat mich immer wieder über meine Familie ausgefragt. Ich dachte, es sei nur Neugier, bis ...«
»Bis was?«
»Ach, das war nichts. Wirklich.« Er kraulte Sam. »Eines Tages ist mir aufgefallen, daß sie in bezug auf andere Dinge überhaupt nicht neugierig war ... Sie wissen schon, wer meine Freunde sind, was ich getan habe, wenn ich nicht mit ihr zusammen war ... der übliche Weiberkram.«
Gemma entnahm seinem schnellen Seitenblick, daß er sie provozieren wollte, und ließ die Bemerkung unkommentiert.
»Ich ...« Gordon starrte nachdenklich zum Fluß hinüber. »Wirklich sehr komisch. Sind Sie sicher, daß mein Vater in seiner Jugend Annabelles Vater gekannt hat?«
»Beide haben es mir bestätigt.«
»Mein Vater hat nie über seine Kindheit gesprochen, und ich bin sicher, daß er William Hammond nie erwähnt hat. Meine Mutter allerdings... sie hat immer Geschichten über das Leben auf der Isle of Dogs vor dem Krieg erzählt. Sie war an schönen Sommerabenden als Kind häufig in Island Gardens, um sich die Vergnügungsschiffe auf der Themse anzusehen. Die Schiffe waren mit bunten Lichtern geschmückt, und Musik hallte über das Wasser. Manchmal haben die Leute getanzt, und meine Mutter hat sich immer gewünscht, alt genug zu sein, um mittanzen zu können. Aber so weit ist es nie gekommen. Nach dem Krieg hatte sich alles verändert.«
»Vielleicht haben Sie daher Ihre Liebe zur Musik ... von Ihrer Mutter?«
Er zuckte die Schultern, den Blick noch immer in die Ferne gerichtet. »Vielleicht.«
Die Band hatte mittlerweile zu spielen aufgehört, doch jetzt begann die Musik erneut. Zuerst war es ein Beat, dann nahm die Klarinette die Melodie in melancholischem Moll als Solo auf. Gordon streckte den Arm aus, ergriff Gemmas Hand und zog sie auf die Beine.
»Was ...«, begann sie, doch er hatte bereits eine Hand auf ihren Rücken gelegt und schob sie energisch.
»Hat man Ihnen auf der Polizeischule etwa nicht das Tanzen beigebracht?« sagte er dicht an ihrem Ohr.
»Natürlich nicht. Das ist...« Sie hatte »absurd« sagen wollen, doch das Gras fühlte sich kühl und prickelnd unter ihren bloßen Sohlen an, und der Druck seiner Hand auf ihrem Rücken und der Rhythmus der Melodie erschienen ihr plötzlich unwiderstehlich. »Was ist das für eine Nummer?« fragte sie, und wehrte sich gegen die Versuchung, die Augen zu schließen. »Kommt mir so bekannt vor. Aber ich kann nicht ganz ...«
»Rogers und Hart.« Er zog sie etwas näher an sich und summte die Melodie mit. »Where or When heißt der Titel«, fügte er amüsiert hinzu.
Eine leichte Brise fuhr durch Gemmas Haar, und für einen Moment hatte sie das Gefühl zu schweben, schwerelos zwischen der Musik und seiner Berührung zu verharren. »Ich hätte Sie nie für einen Tänzer gehalten«, flüsterte sie.
»Mein heimlicher Ehrgeiz war, wie Gene Kelly zu sein ...«
Sie fühlte seinen Atem an ihrem Hals, dann war sie sich nur noch der Musik und der Harmonie ihrer Bewegungen bewußt.
Das letzte Aufbäumen der Klarinette erwischte sie mitten in einer Schrittkombination. Sie hielten verlegen inne, die Hände noch immer ineinander verschlungen. Gemma fühlte, wie ihr Herz bis zum Hals schlug, dann wurde sie rot.
Sie trat zurück, entzog ihm ihre Hand. Donner grollte in der Ferne, als sie hastig ihre Schuhe anzog und nach ihrer Handtasche griff, die noch im Gras lag. »Ich muß gehen«, sagte sie, wandte sich ab und ging, ohne einen Blick zurück zu werfen, davon.
Es wurde Weihnachten, bevor Lewis zu Besuch auf das »Island« zurückkehrte. Seit Monaten strömten Evakuierte nach London zurück, aber die Londoner Schulen waren zu Beginn der Evakuierung geschlossen worden, und so hatten die zurückkehrenden Kinder keine Schule, in die sie hätten gehen können. Die Regierung hatte bislang auf die Forderungen, die Schulen wieder zu eröffnen, nicht reagiert... die Lehrer waren mit ihren Schützlingen aufs Land geflohen, und viele der Schulgebäude waren für den Zivilschutz requiriert worden.
»Ich will nicht, daß du dich auf der Straße rumtreibst, nicht, solange du eine Chance auf eine anständige Schulerziehung hast«, hatte seine Mutter energisch erklärt. Doch obwohl die Regierung eine Publicity-Kampagne zu Weihnachten lanciert hatte, die Kinder von London fernzuhalten - Sicherheit und Geborgenheit für unsere Kinder -, hatte sie schließlich Lewis’ Bitten nachgegeben, die Ferien zu Hause verbringen zu dürfen.
Während der Monate auf dem Land war Lewis vom Krieg fast unberührt geblieben. Seit der Benzinrationierung im vergangenen September waren Edwinas Autos öfter poliert denn gefahren worden, doch zu Lewis’ Vergnügen hatte John angefangen, Lewis beizubringen, wie man die Fahrzeuge instand hielt. Gartenarbeit war weniger nach seinem Geschmack, doch William und er hatten geholfen, hinter der Küche des Anwesens einen Garten mit Wintergemüse einzurichten. Edwina hatte zwei Jersey-Kühe von einem benachbarten Farmer als Gegenmaßnahme zur Rationierung von Milch und Butter gekauft, und in den Downs mehrten sich die Anzeichen, daß sich die Armee auf eine Invasion vorbereitete. Funkmeldeeinheiten waren plötzlich dort stationiert worden.
Nichts von alledem hatte Lewis jedoch auf den Anblick Londons vorbereitet. Er hatte das Gesicht an einen Schlitz im provisorisch mit Klebeband verdunkelten Bus gepreßt, während dieser langsam durch die leeren Straßen kurvte. Die Menschen sparten ihre Benzinzuteilungen für die Wochenenden und nutzten, wenn möglich, die überfüllten öffentlichen Verkehrsmittel. Schützengräben aus Sandsäcken, manche durch grelle Farbmarkierungen gekennzeichnet, verschandelten die öffentlichen Parks. Die hin und her hastenden Fußgänger waren alle in düsteres Grau und Braun gekleidet, als hätten sie sich freiwillig das Tragen von Tarnkleidung auferlegt.
Er ging von der Bushaltestelle zur Stebondale Street zu Fuß, und seine Schritte wurden immer schleppender, als er die letzte sanfte Anhöhe erklomm. Die Straße kam ihm elender und schmutziger vor, als er sie in Erinnerung hatte, und plötzlich befiel ihn eine gewisse Unsicherheit, als sein Zuhause in Sicht kam. Hatte sich vielleicht auch zu Hause einiges verändert? Was würde ihn erwarten? Er betrat den verwilderten Garten von der Rückseite her, stieß die Küchen tür auf und spähte hinein. Vertraute Gerüche schlugen ihm entgegen ... Kohl und Speck und frisches Brot im Ofen. Seine Mutter hatte ihm den Rücken zugewandt, die rosarote Schürze sorgfältig um die Taille gebunden. Sie hielt einen Moment beim Rühren inne und neigte in vertrauter Geste den Kopf leicht zur Seite. »Lewis?« Sie drehte sich um. Ihr hageres Gesicht strahlte, und im nächsten Augenblick wurde er in einer Wolke von Mehlstaub umarmt. »Laß dich anschauen!« rief sie und hielt ihn auf Armeslänge von sich. »Mein Gott, deine Brüder werden dich kaum wiedererkennen. Du bist so groß geworden!«
Beim Anblick seines verdutzten Gesichts lachte sie. »Eigentlich sollte es eine Überraschung sein. Tommy und Edward haben es geschafft, über Weihnachten einen Tag frei zu kriegen. Sie kommen heute abend.«
Dann kam Cath herein. Ihre hohen Absätze klapperten über den Boden. Sie gab ihm einen Lippenstiftkuß auf die Wange. Lewis starrte sie verwirrt an. »Was soll denn die Hollywood-Maskerade?«
Cath warf den Kopf zurück, aber die heftige Bewegung konnte ihrer sanft gewellten Haartracht nichts anhaben. »Ich bin jetzt eine erwachsene Frau, Lewis Finch. Also benimm dich entsprechend. Ich treffe mich mit jemandem, wenn du’s wissen willst.«
»Nicht, wenn dein Vater dich in diesem Aufzug sieht«, erklärte seine Mutter. »Lewis hat recht, Cathleen, wisch dir die Schminke vom Gesicht, bevor dein Vater nach Hause ...«
»Aber Mami, du weißt doch, wie lange ich für diesen Lippenstift anstehen ...«
»Dann war das eben umsonst, mein Fräulein. Du bleibst heute abend zu Hause bei deinen Brüdern. Und jetzt will ich nichts mehr hören.«
»Du mußt ja gerade reden«, sagte Cath, ohne sich weiter mit der Mutter zu streiten. »Siehst wie ein Fatzke aus.«
»Was soll das heißen, >Fatzke<?«
»Na, schau dich doch bloß an!« Sie deutete auf seinen Pullover und die Hose, die er von William geerbt hatte. Die Hose war ihm noch ein bißchen zu lang. »Und hör dich an! Redest wie der Ansager bei der BBC. Wie heißt er noch? Der, der so redet, als halte er sich dabei die Nase zu.«
»Ich rede überhaupt nicht...«
»Natürlich tust du das, Lewis Finch. Und glaub bloß nicht, daß du mir damit imponierst.«
»Glaubst du, das juckt mich?« Er streckte ihr die Zunge raus.
Cath packte ihn beim Ohr und drehte es um.
Er schrie auf, zwickte zurück, bis seine Mutter dazwischenging und auf beide Kinder schimpfte. Es war, als sei er nie fort gewesen. Als der Tag in den Abend überging, tauschten sie beim Tee am Küchentisch Nachrichten aus, bis sein Vater aus der Werft kam, und kurz darauf erschienen seine beiden Brüder, groß und laut, die wie Männer - und Fremde - aussahen in ihren neuen Uniformen.
An jenem Abend nach dem Tee nahm ihn sein Dad zu einem Spaziergang zum Fluß mit. Ihr Weg war nur vom Mondlicht erhellt, das die weiße Schneedecke reflektierte. Lewis war an die Verdunklung auf dem Land gewöhnt, hatte die Isle of Dogs jedoch nie ohne Straßenbeleuchtung, Scheinwerferlicht oder strahlend erhellte Fenster erlebt. Es schien eine völlig andere Stadt zu sein, und er atmete tief die frische, nicht von Petroleumgestank verunreinigte Luft ein. In der absoluten Stille hallte gelegentlich eine laute Stimme in den Straßen wider, und irgendwo in der Ferne läutete eine Kirchenglocke zum Weihnachtsgottesdienst.
Lewis’ Vater ging schweigend dahin, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und rauchte seine Pfeife, die erzwischen den Zähnen hielt. Er war nie ein Mann vieler Worte gewesen, und Lewis beunruhigte das nicht. Er spürte die Zufriedenheit des Vaters darüber, daß er bei ihm war, und fühlte Stolz in sich aufkeimen.
Als sie die Island Gardens erreicht hatten, mußten sie sich vorsichtig durch die Finsternis unter dem Blätterdach vorwärtstasten, doch als sie die vom Mond beschienene Uferpromenade erreichten, glitzerte der Fluß wie ein silbernes Band. Der Rauch aus der Pfeife des Vaters glitt über die Wasserfläche wie eine zerbrechliche Wolke.
Ein Schleppkahn kam vorbei, nur durch eine kleine, abgedunkelte Laterne an Bug und Heck beleuchtet. In der Dunkelheit und Stille wirkte er grob und schnörkellos wie ein Langschiff der Wikinger, das aus dem Reich der Toten zurückgekehrt war. Lewis fröstelte. Plötzlich überkam ihn das Heimweh so intensiv wie in den ersten Tagen im Herrenhaus ... und doch war es mehr. Er wollte die Zeit anhalten, alles so bewahren, wie es war. Die Last dieser Sehnsucht nahm ihm den Atem.
»Pa«, sagte er und mußte sich zu jeder Silbe zwingen. »Laß mich hierbleiben. Der Krieg ist doch sowieso eine Farce, das weiß jeder. Es passiert überhaupt nichts. Kein Grund also, warum ich nicht heimkommen sollte.«
Sein Vater nahm die Pfeife aus dem Mund und seufzte, »Schön wär’s, Lewis. Aber der Krieg wird nur in der Schwebe gehalten, er ist wie ein wildes Tier, bevor es dich anspringt. Ich fühle schon seinen Hauch. Deiner Muttergeht’s genauso.«
Lewis war lange genug fort gewesen, als daß ihn Anspielungen auf die übersinnlichen Kräfte seiner irischstämmigen Familie verlegen machten ... denn das war etwas, was William und Edwina für abergläubischen Unsinn halten würden. Daher entgegnete er mit aller Bestimmtheit: »Aber in der Zeitung und im Radio heißt es ...«
»Das spielt keine Rolle. Die wollen nur keine Panik machen. Also tun sie so, als wäre alles beim alten. Aber jeder Idiot hat inzwischen begriffen, daß die Deutschen jetzt nicht einfach Schluß machen werden. Es ist nur eine Frage der Zeit, Junge, und es ist besser, wenn du dann außer Reichweite bist.« Sein Vater klopfte die Pfeife am Geländer aus und steckte sie in die Jackentasche. »Verstehst du nicht? Dich in Sicherheit zu wissen ist die einzige Beruhigung, die deine Mutter hat. Deine Schwester können wir nicht wegschicken, und deine Brüder haben ihren eigenen Weg gewählt - aber ich glaube, daß es nicht mehr lange dauert, bis alle, die noch kräftig genug für den Kampf sind, eingezogen werden.«
»Ich melde mich auch freiwillig, wenn’s lange genug dauert«, sagte Lewis, den es ärgerte, daß man ihn immer als Kind behandelte.
»Du weißt, ich bin kein gläubiger Mann, Junge - das ist deine Mutter, die die hohe Meinung von der Kirche hat -, aber ich bete zu sämtlichen Heiligen deiner Mutter, daß der Krieg vorher zu Ende ist.« Er sah lächelnd auf Lewis herab. »Und jetzt gehen wir lieber zurück, sonst schickt deine Mutter Pater Joseph nach uns aus.«
Das war, wenn man seinen Vater kannte, so gut wie ein Witz und ein wirksames Mittel, um das Streitgespräch zu beenden. Lewis fiel in den Schritt seines Vaters ein und blieb dicht neben ihm, bis sie den stockfinsteren Park hinter sich gelassen hatten. Sie gingen so schnell, wie es die Verdunklung erlaubte, in die Stebondale Street zurück, und in die Enttäuschung, die an Lewis nagte, mischte sich fast unmerklich Erleichterung.
Aber auch die Enttäuschung war nur von kurzer Dauer, denn zurück im Haus, war er bald in die Vorbereitungen für das Weihnachtsessen eingebunden. Seine Familie hätte sich nur wenig Luxus leisten können, selbst wenn dieser käuflich zu erwerben gewesen wäre, doch seine Mutter war eine Meisterin darin, noch aus wenig viel zu machen, und sie setzten sich am nächsten Tag an einen schön gedeckten Tisch. Tommy und Edward hatten ihm geholfen, aus Zeitungen Hüte zu basteln, und Cath hatte irgendwoher ein Stück farbiges Papier für das selbstgebastelte Tischfeuerwerk aufgetrieben. Sie hatten die Knallbonbons mit Flitterkram und Scherzsprüchen gefüllt, die unter großem Gelächter am Vorabend zusammengestellt worden waren. Lewis durfte sogar einen Schluck Weihnachts-Gin trinken, was ihm glühende Wangen und eine noch nie dagewesene Toleranz gegenüber den Hänseleien seiner Schwester bescherte.
Dabei wußte er nicht, welches Geschenk die Familie ihm mit diesem Weihnachtsfest gemacht hatte, denn er hatte nicht die geringste Ahnung, daß es das letzte Mal sein würde, daß sie alle zusammen waren.