* 7

 

Daß die Insel längst nicht mehr das sei, was sie einst gewesen ist, ist eine gefühlsmäßige Aussage, der jeder Bewohner der Isle of Dogs über Vierzig zustimmen würde ... wenn er sich mit sehnsüchtigem Bedauern jener Tage erinnert, als noch »alle Haustüren unverschlossen waren« und »jeder jeden kannte«. Diese Sätze beschwören eine nachbarschaftliche Verbundenheit und jenen Sinn für Ortszugehörigkeit herauf, die früher selbstverständlich war, deren Existenz jedoch durch fast alles bedroht wurde, das seit 1939 auf der Isle of Dogs passiert ist.

 

  EVH Hostettler, aus:Docklands, ein illustrierter historischer Überblick

 

Kincaid glitt auf den Fahrersitz, berührte vorsichtig das Steuerrad und zuckte zurück. »Verdammter Mist! Wetten, daß wir auf dem Armaturenbrett Eier braten könnten?«

  Sie hatten William Hammond allein gelassen. Der alte Herr hatte ihnen versichert, er müsse sich erst wieder ein wenig fassen. Für Gemma war jedoch die Last der Trauer im alten Speicher so spürbar gewesen, daß selbst die gleißende Hitze draußen eher eine Erleichterung für sie war. »Schrecklich, ein Kind zu verlieren ... auch wenn es schon erwachsen ist«, bemerkte sie und hantierte mit dem Sicherheitsgurt, dessen Schnalle brennend heiß war. »Meinst du, es ist noch schlimmer, wenn ein Kind so perfekt ist, wie Annabelle Hammond es gewesen zu sein scheint?«

  »So makellos kann sie nicht gewesen sein, sonst hätte man sie nicht umgebracht.«

  »Soll das heißen, sie hat ihr Schicksal selbst verschuldet?« Gemma wurde angesichts ihrer bockigen Entgegnung augenblicklich verlegen.

  »Selbstverständlich nicht.« Kincaid sah sie überrascht an. »Überleg doch, was wir bisher erfahren haben.« Er startete den Motor, fuhr den Wagen in den Schatten und hielt bei laufendem Motor und Kühlung wieder an. »Annabelle Hammond war eine ungewöhnlich schöne Frau, was, das mußt du zugeben, normalerweise mit einer gewissen Egozentrik verbunden ist. Sie war eigensinnig, hat sich bei der Leitung des Familienunternehmens sogar gegen die Wünsche ihres Vaters durchgesetzt. Das wiederum führt zum nächsten Punkt... sie hat ihren Job offenbar leidenschaftlich geliebt. Und Leidenschaft macht Menschen gefährlich.«

  Gemma dachte an Gordon Finch und fragte sich, ob sich Annabelles Leidenschaft auch auf ihn erstreckt hatte. »Ich habe den Verdacht, daß sie in bezug auf die Hochzeit mit Reg Mortimer kalte Füße bekommen hat. Warum hätte sie sie sonst so lange hinausschieben sollen?«

  »Wir kommen immer wieder auf Mortimer zurück, was? Schauen wir beim Ferry House vorbei. Mal sehen, ob uns dort jemand seine Aussagen über Freitag abend bestätigen kann.«

  In diesem Moment registrierte Gemma erschreckt, daß der Nachmittag in den frühen Abend übergegangen war. Sie zog ihr Handy aus der Handtasche. »Wird langsam spät. Ich rufe erst mal Hazel an und erkundige mich nach Toby.«

  »Oh, Mist!«

  »Was ist?« Sie sah verblüfft auf, den Zeigefinger über der Tastatur.

  »Herrgott, das habe ich völlig vergessen! Ich habe versprochen, Kit zum Bahnhof zu bringen.« Er warf einen Blick auf die Uhr und schaltete krachend in den ersten Gang. »Und es ist niemand da, der für mich einspringen könnte.«

  »Der Major?« schlug Gemma vor, und im nächsten Moment fiel ihr ein, daß der alte Herr kein Auto hatte.

  »Kein Auto. Außerdem habe ich ihn dieses Wochenende schon genug beansprucht. Ich setze dich in Limehouse ab und fahr so schnell wie möglich nach Hampstead zurück.«

  Willkommen in der Gemeinde der Alleinerziehenden, dachte Gemma, behielt es jedoch vernünftigerweise für sich.

  Kincaid hätte sich ohrfeigen können, als er am unteren Ende in die Carlingford Road einbog. Er hatte vorgehabt, im Lauf des Tages anzurufen und sich nach Kit zu erkundigen. Außerdem war er fest entschlossen gewesen, sein Versprechen wegen heute abend einzulösen. Aber dann hatten ihn die Ermittlungen mit Haut und Haaren verschlungen, und seine guten Vorsätze waren ihm abhanden gekommen.

  Kit saß auf der Treppe vor der Haustür, die Arme um die Knie geschlungen, die Reisetaschen neben sich. Er beobachtete mit unbewegter Miene, wie Kincaid am Straßenrand hielt, und stand nicht auf, um ihn zu begrüßen.

  Kincaid stieg aus und ging über die Straße. »Tut mir leid, Kit. Ich bin aufgehalten worden.«

  Kit sah ihn nicht an. »Ich habe Laura angerufen und ihr gesagt, daß sie mich nicht vom Zug abholen soll.«

  »Wir setzen dich in den nächsten. Dann sage ich ihr Bescheid, wann sie dich abholen kann.« Als Kit nicht antwortete, klimperte Kincaid ungeduldig mit den Schlüsseln in der Hosentasche. »Hast du dich vom Major verabschiedet?«

  Das brachte ihm einen vernichtenden Blick ein. »Natürlich habe ich. Und mich auch bedankt. Ich bin doch nicht von gestern.«

  Kincaid schloß einen Moment die Augen und holte tief Luft.

  »Okay, können wir dann fahren? Je schneller wir am Bahnhof sind, desto schneller bist du ... wieder in Cambridge.« Er hätte fast »zu Hause« gesagt. Aber seit dem Tod seiner Mutter im April hatte Kit kein richtiges Zuhause mehr.

  Kit stand auf, das Gesicht abgewandt, und trottete betont langsam zum Wagen. Nachdem Kincaid die Reisetasche des Jungen im Kofferraum des Rovers verstaut hatte, setzte er sich zu ihm. Nach kurzem Zögern steckte er den Schlüssel ins Zündschloß. »Wir fahren zum Bahnhof King’s Cross. Wenn wir vor Abfahrt des Zuges noch Zeit haben, gehen wir was essen. So spät kommst du nicht zurück.«

  »Ist jetzt sowieso egal. Ich habe Tess’ Stunden auf dem Ab-richteplatz schon verpaßt«, sagte Kit hölzern, den Blick unverwandt geradeaus durch die Windschutzscheibe gerichtet.

  »Du hast mir nicht gesagt, daß du mit Tess trainierst.«

  »Hatte kaum Gelegenheit dazu, oder? Habe dich das ganze Wochenende doch kaum gesehen.«

  »Kit. Ich habe gesagt, daß es mir sehr leid tut. Aber manchmal passieren Dinge ...«

  Kit wirbelte zu ihm herum. »Du kommst immer zu spät!« zischte er. Rote Flecken zeichneten sich auf seinen Wangenknochen ab, und er rieb sich mit der Faust über seine bebende Unterlippe. »Du sagst, daß du was tun willst, und dann hältst du nicht Wort. Du bist genau wie mein Dad.«

  Kincaid hielt das Steuerrad fest umklammert. »Gib mir eine Chance, okay, Kit? Das ist alles neu für mich. Ist schon schwierig genug für mich, meinen Job in Einklang mit ...«

  »Dann laß es lieber.« Kit wandte sich ab, die Lippen fest aufeinandergepreßt, das Kinn trotzig nach vorn gereckt. »Ist doch immer derselbe alte Mist, oder? Mein Dad ...«

  »Ich liebe meinen Beruf, Kit, aber das heißt nicht, daß du mir nichts bedeutest. Bei mir kannst du sicher sein, daß ich nicht das Interesse verliere und mich einfach aus dem Staub mache.«

  »Dad hat es getan. Er ...«

  »Verdammt noch mal, Kit, wir reden nicht von Ian. Wir reden von mir. Und ich bin dein Dad.« Kincaid hörte seine Worte voller Entsetzen, aber es war zu spät, sie zurückzunehmen.

  Kit starrte ihn an. »Das ist Quatsch. Wovon redest du überhaupt?«

  Verdammte Scheiße, dachte Kincaid. Was hatte er gemacht? Er schüttelte den Kopf. »Ich wollte es dir nie auf diese Weise sagen. Aber ich bin sicher, daß ich dein Vater bin. Ich dachte ...«

  »Das ist idiotisch. Mein Dad ist in Frankreich.«

  »Sieh mich an, Kit.« Kincaid griff nach Kits Schulter, aber der Junge zuckte vor ihm zurück. »Schau dir mein Gesicht an, und dann sieh in den Spiegel.« Kincaid klappte die Sonnenblende vor dem Beifahrersitz herunter. »Du bist mein Ebenbild, als ich so alt war wie du. Meine Mutter hat es sofort gesehen. Und ich sehe es jedesmal, wenn ich dich anschaue.«

  »Ich glaub dir nicht«, murmelte Kit, warf jedoch einen flüchtigen Blick in den Spiegel.

  Kincaid zog seine Brieftasche aus der Tasche und zog zwei alte Fotos heraus. »Meine Mutter hat mir das geschickt. Da bin ich elf gewesen.« Er reichte es Kit, der es widerwillig entgegennahm. Dann hielt er das zweite Bild hoch. »Das hier habe ich aus dem Arbeitszimmer deiner Mutter mitgenommen.« Es zeigte Vic und Kit, die Arm in Arm im Garten des Häuschens in Grantchester standen und in die Kamera lachten. »Du siehst die Ähnlichkeit auch, oder?«

  »Nein.« Kit schüttelte den Kopf und warf die Fotos ins Handschuhfach. »Ich glaub das nicht. Meine Mutter hätte nie ...« Sein Blick huschte erneut zum Foto.

  »Das bedeutet nicht, daß deine Mutter was Falsches getan hat, Kit. Du weißt, daß wir verheiratet waren, bevor sie Ian geheiratet hat. Sie muß mit dir schwanger gewesen sein, als wir uns getrennt haben.«

  »Sie hätte es mir gesagt. Mum hat mir alles gesagt.«

  »Versteh doch! Das konnte sie nicht. Sie war damals mit Ian zusammen, und sie wollte, daß du ihn für deinen Vater hältst.« Und dann hatte Ian die beiden verlassen. Nach Ians Verrat hatte Vic Kincaid ... in ihr und Kits Leben zurückgeholt. Was sie damit beabsichtigt hatte, würden sie allerdings nie erfahren.

  Kit knetete seine Knie mit den Fingern und vermied es, Kincaid anzusehen.

  »Ich hatte keine Ahnung von deiner Existenz ... bis zu jenem Tag, als ich nach Grantchester gekommen bin. Deine Mutter hat mir nie gesagt, daß sie ein Kind hat.«

  Ein winziges Loch in Kits Jeans wurde immer größer, während er daran riß und zupfte. »Du bist nicht mein Dad. Du kannst es nicht beweisen.« Eine weizenblonde Haarsträhne fiel ihm in die Stirn und verdeckte die Augen, doch das eigensinnig vorgereckte Kinn sagte alles.

  Kincaid sah auf seine ruhige Wohnstraße im Licht des frühen Abends hinaus. Auf dem Nachbargrundstück wuschen ein Mann und ein Junge einen Wagen und lachten, als sie im Wasserstrahl pitschnaß wurden. Er konnte Grilldunst riechen, hörte die hohen Kinderstimmen aus den Gärten. Es war die Sprache der Familien, und er kannte sie nicht. »Ich kann es beweisen, Kit. Mit einem DNS-Test. Aber ich mache das nicht, solange du es nicht willst. Gib mir eine Chance, dein Dad zu sein. Ich weiß, wir können es zusammen schaf...«

  »Wie dieses Wochenende vielleicht?« Es gab ein seltsames Geräusch, als Kit das Stückchen Stoff aus der Jeans riß, das er herausgepult hatte. »Oder so wie du zugelassen hast, daß meine Mum stirbt?«

  »Kit, ich...«

  »Ich will zurück nach Cambridge. Tess braucht ihr Futter, und ohne mich ißt sie schlecht.« Kit schnallte sich an. Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte stur geradeaus.

  Sie fuhren schweigend zum Bahnhof.

 

Lewis stellte fest, daß sich die Küche von der seiner Mum gar nicht so gravierend unterschied. Obwohl der Raum riesig war, war der Eichentisch in der Mitte abgenutzt, vom vielen Scheuern ausgeblichen, und die Fußstützen von Generationen von Füßen abgewetzt. Geschirrtücher hingen an Stangen zum Trocknen über dem Herd. Es roch nach Gebackenem, aus einem Radio ertönte Tanzmusik. Und die Köchin, eine mollige Frau mit mehlbestäubter Schürze, war zwar das genaue Gegenteil von Lewis’ schlanker Mutter, schimpfte jedoch auf dieselbe liebevolle Weise mit ihm.

  Die Köchin hatte ihm ein großes Stück Rindfleischpastete mit Pilzen und Schinken aufgetan ... was sie als Reste bezeichnete ..., doch es war mehr Fleisch, als Lewis je bei einer Mahlzeit gegessen hatte. Dazu gab es einen Krug Apfelwein, und als John Pebbles zurückkam, um ihn zu holen, fielen ihm schon fast die Augen zu.

  John trug eine abgedunkelte Laterne in der Hand, und in ihrem gedämpften Licht führte er Lewis über einen gepflasterten Hof. Als Lewis mit der Schuhspitze an einem Stein hängenblieb und strauchelte, hielt John ihn fest und schnalzte mißbilligend mit der Zunge. »Die Köchin soll sich schämen, einen kleinen Jungen mit Apfelwein abzufüllen. «

  »Sie hat gesagt, ich brauchte was Nahrhaftes«, erklärte Lewis.

  John schnaubte verächtlich. »Heißer, süßer Tee oder ein Krug Milch aus der Molkerei wäre besser gewesen. Merk dir das fürs nächste Mal, und laß dir von der Köchin keine schlechten Angewohnheiten beibringen. Hier sind wir schon«, fügte er hinzu. Sie hatten den Stall erreicht.

  Sie betraten das Gebäude durch ein großes Tor, und John nahm das Tuch von der Laterne. Lewis sah flüchtig Pferdeboxen zu seiner Rechten. In der einen stand Zeus, der sie neugierig über das Boxengatter hinweg musterte, in der anderen war ein dunkelbraunes Pferd mit einer weißen Blesse auf der Stirn.

  Auf der linken Hälfte der Scheune waren die alten Boxen offenbar entfernt worden. Dort standen unter Planen zwei große Autos. Doch bevor Lewis etwas sagen konnte, erklärte John: »Morgen, Junge.« Damit schob er ihn eine steile Treppe hinauf. »Die Autos darfst du dir morgen ansehen. Bis dahin kannst du’s dir hier oben gemütlich machen.«

  Lewis erkannte im Licht der Laterne einen schmalen holzgetäfelten Raum mit einem Bett, auf dem Decken lagen. Ein Stuhl mit steiler Lehne und eine alte Kommode mit Waschschüssel komplettierte die Möblierung. Sein verbeulter Koffer stand ordentlich neben dem mit schweren Vorhängen verdeckten Fenster.

  »Du hast einen Ölofen, aber den brauchst du heute nacht nicht. Die Wasserpumpe ist draußen auf dem Hof, und das Klo ist hinten.« John schien zu zögern. »Ich lasse dir die Laterne hier, aber du mußt mir versprechen, vorsichtig damit zu sein. Und vergiß nicht, daß wir Verdunklung haben«, sagte er schließlich. Dann stellte er die Laterne auf die Kommode und wandte sich zur Tür. »Morgen früh gehst du gleich rüber in die Küche. Gute Nacht, Junge.« Seine schweren Schritte polterten die Treppe hinunter, dann fiel unten die Stalltür zu.

  Zu Hause hatte Lewis immer mit seinen Brüdern in einem'Zimmer geschlafen, und seine Mutter oder die Schwester waren stets dagewesen, wenn er nachmittags von der Schule nach Hause gekommen war. Jetzt war er zum ersten Mal in seinem Leben vollkommen allein.

  Er setzte sich auf die rauhe Decke und starrte auf das Licht der Laterne, das über die Wände flackerte. Obwohl der Raum die Hitze des Tages noch gehalten hatte, begann er zu frösteln. Er stand auf, machte die Laterne aus, rollte sich auf dem schmalen Bett zusammen und preßte die Faust fest gegen die Lippen, um Elend und Heimweh nicht hinauszuschreien.

  So schlief er tief und traumlos, bis die Morgensonne einen schwachen Schein um sein Fenster zauberte.

  Beim Aufwachen umfing ihn ein wohliges Gefühl, bis ihm klar wurde, daß er die Küchendüfte seiner Mutter nicht riechen und die Melodien nicht hören konnte, die sie stets sang, solange sie in der Küche hantierte. Die Wirklichkeit hatte ihn eingeholt, und er hatte plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden.

  Er schlug die Augen auf, blinzelte mühsam und starrte auf die Umrisse eines Schattens im Türrahmen. Als sein Blick klarer wurde, erkannte er in den verschwommenen Umrissen einen Jungen seines Alters, der jetzt durchs Zimmer ging und die Vorhänge zurückzog. Licht durchflutete den Raum, und Lewis erkannte, daß der Junge groß und schlank war und einen marineblauen Blazer mit einer Krawatte mit Schulemblem trug. Sein dunkles Haar war feucht und glatt zurückgekämmt. Seine Haut war blaß.

  »Die Köchin schickt mich, dich zu holen«, sagte der Junge mit einem Akzent, den Lewis nur aus dem Radio kannte. »Außerdem wollte ich dich kennenlernen. Konnte gestern abend nicht weg ... Mami hat mich den Laufburschen für Tante Edwina spielen lassen, während sie über den Krieg geredet haben.«

  Lewis richtete sich auf und rieb sich die Augen. »Über den Krieg? Ist jetzt Krieg?«

  Der Junge lehnte sich gegen den Fensterrahmen. »Nicht offiziell. Aber man erwartet für heute die Kriegserklärung. Tante Edwina hat im Wohnzimmer ständig das Radio an. Und die Köchin in der Küche. Tante Edwina hat mit meinem Dad gewettet, daß die Sache in der Luft verpufft. Für sie ist Hitler ein >dämlicher Sprüchemacher<. Aber ich glaube, da liegt sie falsch. Es gibt Krieg.«

  »Bist du auch deshalb hier?« fragte Lewis verwirrt. Er konnte sich nicht recht vorstellen, daß man den eleganten Jungen wie eine irregeleitete Paketsendung von zu Hause weggeschickt hatte.

  »Edwina ist meine Patentante«, klärte der Junge ihn auf. »Richtig heißt sie  Edwina Burne-Jones. Das Haus hier gehört ihr. Mami ist überzeugt, daß die Hunnen London und damit auch meine Schule bombardieren. Deshalb soll ich erst mal hier bleiben. Edwina sagt, daß du von der Isle of Dogs kommst. Die Firma meiner Familie hat dort ihren Sitz ... Hammond’s Teas.«

  »Liegt gleich um die Ecke bei meiner Schule«, rief Lewis aus. Er war glücklich, jemanden getroffen zu haben, mit dem er etwas gemeinsam hatte. »Dann bist du ein Hammond?«

  »Oh, entschuldige.« Der Junge stieß sich vom Fensterbrett ab und kam mit ausgestreckter Hand auf Lewis zu. »Ich hätte mich vorstellen müssen. Mein Name ist William, William Hammond.«

 

Kincaid klopfte erneut an Gemmas Tür. Nichts rührte sich, obwohl ihr Wagen vor der gelben Doppeltür ihrer Garagenwohnung stand. Er war direkt vom Bahnhof King’s Cross zu ihr gefahren und hatte sich nicht vorher telefonisch angemeldet, was er selten tat. Jetzt erst merkte er, daß er gar nicht überlegt hatte, ob er überhaupt willkommen war.

  Die Vorstellung, in seine leere Wohnung zurückzukehren, wo ihn alles an das verpatzte Wochenende erinnerte, war zu unangenehm, als daß er gleich aufgegeben hätte. Er öffnete die schmiedeeiserne Tür, die in den Garten der Cavendishs führte. Vielleicht war Gemma, wie so oft, nur nebenan.

  Der von einer Mauer umgebene Garten lag in kühlen, nach Rosen duftenden, abendlichen Schatten, und als Kincaid den Plattenweg entlangging, der zum großen Haus führte, sah er Hazel vor einem Blumenbeet an der Terrasse knien. Sie trug alte Shorts und ein pinkfarbenes, ärmelloses Oberteil, das ihre leicht sommersprossigen Schultern freiließ.

  »Gemma ist mit Toby in den Park gegangen!« rief Hazel ihm zu. »Du mußt eine Weile mit mir vorlieb nehmen. Es sei denn, du willst hinterhergehen.«

  »Mit dir nehme ich gern vorlieb. Obwohl es so aussieht, als störe ich dich bei der Arbeit.«

  »Löwenzahn überwuchert meine Margeriten«, erklärte Hazel, als Kincaid in einen Gartenstuhl auf der Terrasse sank. »Das hat man von diesem phantastischen Wetter. Das Unkraut gedeiht wie nichts.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, so daß ein Schmutzstreifen zurückblieb. »Im Krug dort ist noch Limonade.« Dann musterte sie ihn genauer. »Oder möchtest du was Stärkeres? Du siehst erledigt aus.«

  Er nahm ein Glas vom Tablett auf dem Tisch und griff nach dem Silberkrug, dessen Oberfläche beschlagen war. »Nein, das ist wunderbar. Du bist eine Zauberin, Hazel.«

  »Erzähl das meinem Kind. Wir hatten einen ganz besonders schlechten Tag. Tim mußte schließlich zwischen uns Kampfhähne gehen, und hat mich zur Gartentherapie nach draußen geschickt.« Hazel setzte sich auf die Fersen und trank einen Schluck aus ihrem Glas, das sie auf die Terrassenumrandung gestellt hatte.

  »Ach komm, Hazel! Hab noch nie erlebt, daß du dich von den Kindern aus der Ruhe bringen läßt.«

  Sie lachte. »Da hättest du mich heute mal hören sollen. Ich habe gekreischt wie ein Fischweib, weil Holly sich geweigert hat, die Spielsachen aufzuheben, die sie absichtlich herumgeworfen hatte. Toby hat auch noch einen Teil abbekommen, aber er kann mich längst nicht so auf die Palme bringen wie meine Tochter. Beim eigenen Kind ...« Hazel griff nach ihrem Spaten und stieß ihn zwischen den Löwenzahn.

  »Hilft dir deine Ausbildung als Psychologin nicht?«

  »Zu meiner großen Enttäuschung muß ich feststellen, daß das intellektuelle Verständnis für die Verhaltensweisen von Kindern es einem auch nicht leichter macht, damit umzugehen.« Erde spritzte, als sie die Löwenzahnpflanze ausstach und in einen Eimer warf.

  »Ich habe nicht mal diesen kleinen Vorteil.« Kincaid konnte nichts gegen die Bitterkeit in seiner Stimme tun.

  Hazel sah zu ihm auf. »Was ist los? War das Wochenende mit Kit kein Erfolg?«

  »Das ist noch eine Untertreibung«, schnaubte er verächtlich.

  Hazel stand auf, klopfte die Knie ab und setzte sich neben ihn. »Was ist passiert?«

  Kincaid wandte den Blick ab. Die weißen Lilien in Hazels Rabatte schimmerten hell im Zwielicht der Dämmerung. »Ich hab’s versaut. Er war störrisch und unvernünftig,und ich hab die Beherrschung verloren. Dabei ist mir rausgerutscht, daß ich sein Vater bin, ohne an die Folgen zu denken.«

  »Und?« drängte Hazel.

  »Er ...« Kincaid schüttelte den Kopf. »Er war wütend. Hat mich beschuldigt, ihn anzulügen, und hat mir mehr oder weniger gesagt, ich solle bleiben, wo der Pfeffer wächst.«

  Hazel nickte. »Überrascht mich nicht. Schon vergessen, wie geschockt du am Anfang gewesen bist? Und du hast Kits Welt ohne Vorwarnung einfach auf den Kopf gestellt. Nicht mal der Tod seiner Mutter dürfte seine Sicht der Dinge auf diese Weise beeinträchtigt haben.«

  Kincaid runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht.«

  »Du hast aus seinem Leben eine einzige Lüge gemacht... aus seiner Vorstellung von sich selbst und seiner Entstehung. Besonders jetzt, da Vic tot ist, ist diese Vorstellung alles, was ihn noch aufrecht erhalten hat.«

  »Heißt das, ich hätte es ihm überhaupt nie sagen dürfen?«

  »Nein.« Sie legte die Hand auf seinen Arm. »Ich wollte dir nur vor Augen führen, wie schwer du ihn mit deiner Enthüllung getroffen hast. Wie ist es zu dieser Auseinandersetzung gekommen?«

  »Meine Arbeit war schuld. Ein Fall ist dieses Wochenende dazwischengekommen ... Gemma hat dir sicher schon alles erzählt ... Und ich konnte mein Versprechen nicht einhalten. Kit fühlte sich um das Wochenende betrogen. Und damit hat er natürlich recht.« Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Ich hatte gedacht, es sei das naheliegendste, ihn zu mir zu nehmen, sobald er sich an alles gewöhnt hat. Jetzt frage ich mich, ob diese Besuche nicht mehr verderben, als sie gutmachen.«

  »Das ist sicher nicht der Fall. Aber ich glaube, dir ist nicht klar, welche Verantwortung du damit übernimmst«, fügte Hazel hinzu und seufzte. Sie griff nach einer Streichholzschachtel und zündete die Zitronenkerze auf dem Tisch an. »Diese Art von Verantwortung ist neu für dich. Und dein Job macht alles doppelt schwierig.«

  »Ich weiß. Aber ich sehe keine andere Alternative, als Kit zu mir zu nehmen. Er kann nicht ewig bei den Millers bleiben ... so lieb es auch war, daß sie ihn während des Schuljahres bei sich aufgenommen haben.«

  »Was hört man von Ian McClellan?«

  Vics Exmann war gerade so lange nach Cambridge gekommen, um Kincaids Arrangement für Kit gutzuheißen, bevor er mit fliegenden Fahnen zu seiner Geliebten nach Frankreich zurückgekehrt war. »Keinen Piep. Schätze, er genießt den Süden Frankreichs mit seiner Examensstudentin. Aber Kit hat die Hoffnung nicht aufgegeben, daß Ian ihn zu sich holt.« Kincaid schüttelte den Kopf. »Ich dachte, wenn Kit erfährt, daß nicht Ian sondern ich sein Vater bin, würde das Ians Verrat ihm gegenüber erträglicher machen.«

  »Mit der Zeit mag das so sein. Aber du verlangst von Kit, daß er dir einfach glaubt, ohne daß du etwas beweisen kannst.«

  Er dachte an den Tag von Vics Beerdigung, als seine Mutter ihn beiseite genommen und ihm gesagt hatte, er sei blind, die Ähnlichkeit des Jungen mit ihm nicht gesehen oder die Monate zwischen seiner Trennung von Vic und Kits Geburt nicht gezählt zu haben. Seine erste Reaktion war Ablehnung gewesen; die zweite, Panik; erst die Angst, Kit ganz zu verlieren, hatte ihn erkennen lassen, wie sehr er sich wünschte, daß es die Wahrheit war.

  Im Haus ging in der Küche das Licht an, und er hörte das Klappern von Geschirr durch das offene Fenster. »Kit hat noch mehr zu verdauen als die Tatsache, daß er mein Sohn ist«, sagte er langsam. »Er gibt mir die Schuld an Vics Tod.«

  »Duncan, Kit ist ein Kind. Er hat keine andere Möglichkeit, das zu erklären, was mit ihm passiert ist, bis der Prozeß ...«

  »Das ist kaum eine Hilfe. Es kann zwei Jahre dauern, bis Vics Mörder vor Gericht gestellt wird. Und wenn Kit recht hat ... wenn ich bei Vic versagt habe ...?«

  Hazel beugte sich vor, so daß der Lichtschein aus der Küche auf ihr Gesicht fiel. »Du weißt, daß das absurd ist«, entgegnete sie energisch. »Du hast für Vic alles getan, was du tun konntest.«

  Hatte er das? Seit Vics Tod hatte er sich davon zu überzeugen versucht, aber mittlerweile hatten die nagenden Zweifel die Oberhand gewonnen. »Wichtig ist jetzt nur Kit«, sagte er schließlich und verdrängte die Gedanken. »Wie kann ich wiedergutmachen, was ich angerichtet habe?«

  Hazel musterte ihn prüfend. »Das wichtigste ist, daß du ihn nicht aufgibst. Zeig ihm, daß du ihn nicht zurückweist, egal, wie er sich benimmt.« Nach kurzem Nachdenken fügte sie hinzu: »Ich glaube, er stellt dich auf die Probe ... und schützt sich. Wenn er dich jetzt von sich stößt, muß er sich später keine Sorgen machen, daß du wegläufst und ihn bei der ersten Gelegenheit allein läßt, wenn er sich als ein schlechter Sohn erweist.«

  »So wie Ian es getan hat.«

  »Ja. Wenn du ein Versprechen nicht einhalten kannst, dann mach es irgendwie wieder gut, und zwar so schnell wie möglich. Ist die einzige Methode, ihm beizubringen, daß er dir vertrauen kann. Und, Duncan ... hab Geduld mit ihm.«

  »Geduld scheint im Augenblick nicht meine Stärke zu sein.« Kincaid fühlte sich plötzlich erschöpft und ausgelaugt. Der Adrenalinschub, der ihn während der Auseinandersetzung mit Kit aufrecht gehalten hatte, war verpufft. Nur mit Mühe trank er sein Glas Limonade aus und stand auf. Er sah durch den Garten. Hinter Gemmas Fenstern brannte noch immer kein Licht.

  »Willst du nicht warten?« fragte Hazel. »Ich habe eine Quiche im Kühlschrank, und der Weißwein ist kalt gestellt.«

  Kincaid zögerte, dann schüttelte er den Kopf. »Ich glaube, ich brauche heute abend Zeit für mich allein. Trotzdem, danke, Hazel. Richtest du Gemma aus, daß ich hiergewesen bin?«

  »Natürlich.« Hazel stand auf und umarmte ihn kurz. »Mal sehen, ob ich mit einer halben Stunde Winnie the Pooh bei Holly einiges wieder ins Lot bringen kann.«

  Wenn es nur so einfach wäre, dachte Kincaid, als er durch die Gartentür ging und den Rover aufschloß. Aber er und Kit hatten keine tröstenden Rituale, um die ersten Risse in ihrer Beziehung zu kitten.

  Als die Innenbeleuchtung des Wagens aufflammte, entdeckte er, daß das offene Handschuhfach nur ein paar Pfefferminzbonbons und Münzen enthielt. Dabei war er sicher, daß Kit das alte Foto dort hineingelegt hatte; jenes Bild, das seine Mutter von dem elfjährigen Duncan in Pfadfinderuniform mit dem zahnlückigen Lächeln geschickt hatte.

  Als die Suche zwischen den Sitzen und auf dem Fußboden nichts ergab, fiel ihm ein, daß er Kit am Bahnhof kurz allein im Wagen gelassen hatte, um seine Reisetasche aus dem Kofferraum zu holen.

  Falls Kit seine Meinung geändert und das Foto mitgenommen hatte, bestand vielleicht doch Hoffnung, daß er sich mit der veränderten Beziehung zu ihm, Duncan, abfand. Angesichts dieses unerwarteten Hoffnungsschimmers wurde Kincaids Kehle eng.

 

Etwas Salat mit den ersten Tomaten und Gurken aus seinem Gemüsegarten, Erbsen, zwei in der Schale gebackene Kartoffeln und zwei Koteletts vom Metzger in der Manchester Road. George Brents Blick schweifte glücklich und in froher Erwartung über die Köstlichkeiten, denn es war das erste Mal, daß er für Mrs. Singh ein Abendessen zubereitete.

  Er war stolz auf die kulinarischen Fähigkeiten, die er entwickelt hatte, denn seine Frau hatte mehr als vierzig Jahre lang die Mahlzeiten gekocht. Es ist nie zu spät, um zu lernen, hatte sein alter Vater gern gesagt.

  Und für einige andere Dinge war es auch nie zu spät, dachte er mit einem schlauen Grinsen. Ein sauberes Hemd nach dem Bad, eine großzügig bemessene Dosis Rasierwasser auf die rasierten Wangen und den Hals... das machte ihn zweifellos ebenso unwiderstehlich wie die jungen Kerle im Fernsehen. Als er in deren Alter gewesen war, hatte er es allerdings für idiotisch gehalten, mehr als einmal die Woche zu baden.

  In seiner Jugend, vor dem Krieg, war das Bad am Samstag eine regelrechte Aktion gewesen. Sie hatten Wasser für die große alte Blechwanne in der Spülküche heiß gemacht, und jeder hatte ein Stück Sunlichtseife bekommen. An wärmen Sommertagen allerdings hatten sie ihr Stück Seife mit an den Fluß genommen. Damals war das Wasser sauber und die großen Schiffe so vertraut gewesen wie ihr Wohnzimmer.

  Der Gedanke an den Krieg erinnerte ihn daran, daß er das Programm im Radio über den Blitzkrieg weiterverfolgen wollte, das er am Vorabend gehört hatte. Die Ereignisse des Vortages hatten es ihn vergessen lassen ... genau wie das Getue seiner Tochter Brenda, was nur bewirkt hatte, daß er ständig an das tote Mädchen hatte denken müssen. Ihr Gesicht war ihm sogar im Traum erschienen.

  Um das Bild zu verdrängen, dachte George an Mrs. Singh und wie sie auf der anderen Seite des Tisches sitzen, sich ihre Knie unter dem Tisch berühren würden. Der kleine Tisch war einladend für zwei Personen gedeckt. In der Mitte stand sogar eine Vase mit einem bunten Blumenstrauß aus dem Garten ... die perfekte Kulisse für einen romantischen Abend.

  Als er die Kartoffeln im Backofen anstach und die Koteletts in der Pfanne wendete, klingelte es an der Tür. Er sah auf die Uhr. Mrs. Singh kam früh, aber er liebte Pünktlichkeit bei Frauen. Er wischte sich die Hände an einem Geschirrhandtuch ab und ging in die Diele.

  Janice Coppin stand in der offenen Tür. »Hallo, George. Überrascht?«

  »Was willst du?« Er musterte sie düster, doch sie lächelte ungerührt.

  »Nur auf ein Wort. Kann ich reinkommen?«

  »Also gut«, sagte er zähneknirschend und ging in die Küche voraus, wo er die Gasflamme unter der Pfanne ausmachte.

  »Damenbesuch?« fragte Janice und erfaßte Blumen und den sorgfältig gedeckten Tisch mit einem Blick, als sie sich auf einen der Küchenstühle setzte. »George Brent, du bist ein alter Bock.«

  »Was dich gar nichts angeht, Mädel«, schnaubte er, doch er hatte Bewunderung aus ihrer Stimme herausgehört. Sie trug Shorts und ein T-Shirt statt ihrer steifen Polizeiuniform, sie sah überhaupt viel menschlicher aus ... fand George.

  »Geht um die tote Frau, George«, begann sie. »Die, die du im ...«

  »Ich weiß, wer gemeint ist. Wie viele tote Frauen, meinst du, habe ich in letzter Zeit wohl gefunden?«

  »Dann erinnerst du dich an den weiblichen Sergeant, der bei dir gewesen ist?«

  Er starrte Janice nur wütend an, ohne sich die Mühe einer Antwort zu machen. Er hatte die Kriminalbeamtin mit der freundlichen Stimme gemocht. War ein hübsches Mädel mit schönem, rotem Haar gewesen ... aber dabei erinnerte er sich nur wieder an die andere, an die, die so still im Gras gelegen hatte ...

  »Sergeant James hat erzählt, daß du nicht ganz sicher gewesen bist, wo du die tote Frau schon mal gesehen hattest, George. Ich dachte, vielleicht ist dir inzwischen was eingefallen.«

  George gab ungern zu, wie sehr ihn das beschäftigte, und schon gar nicht gegenüber Janice Coppin. »Ich bin nicht senil, weißt du«, murmelte er pampig, um seine Unsicherheit zu verbergen.

  »Selbstverständlich nicht«, stimmte Janice ihm zu. »Und ich habe dir nicht viel zugetraut, stimmt’s? Dabei bist du ganz schön auf der Höhe, wenn’s darum geht, sich an Dinge zu erinnern, Einzelheiten zu bemerken.«

  »Möchtest du eine Tasse Tee, Mädel?« fragte er und dachte, daß Janice Coppin vielleicht doch nicht so übel war, wie er angenommen hatte.

  »Wäre riesig.«

  Er stellte Wasser auf und öffnete eine Schachtel Kekse, die er speziell für Mrs. Singh gekauft hatte.

  Nachdem er Janice Tee und Kekse serviert hatte, sagte sie: »Ich habe mir gedacht, George ... wenn du vielleicht nicht sagen willst, wo du die Frau gesehen hast, dann deshalb, weil sie vermutlich in Begleitung von jemandem gewesen ist, den du kennst... und den du nicht in Schwierigkeiten bringen willst. Aber wenn wir ihren Mörder schnappen sollen, dann müssen wir alles über sie wissen.«

  George begegnete ihrem Blick, sah weg, fummelte mit dem Geschirrtuch herum, mit dem er den verschütteten Tee von ihrer Untertasse gewischt hatte. »Du bist eine Insulanerin, Mädel. Du weißt, wie es hier ist ... obwohl du die besten Jahre, die Zeiten vor dem Krieg, gar nicht erlebt hast.«

  »Meine Mutter sagt, daß sie als Mädchen alle hier gekannt hat. Alle Nachbarn ...«

  »War schwierig damals, in die Bredouille zu kommen«, stimmte George ihr lächelnd zu. »Irgendjemand hat dich immer rausgepaukt. An schönen Tagen haben wir auf den Straßen gespielt... Murmeln und mit Reifen ..., ganz andere Spiele als die Kinder heute.«

  Wenn er die Augen zumachte, konnte er alles so deutlich sehen, als sei es erst gestern gewesen. »Die Mädels hatten bunte Papierstreifen an ihren Oberteilen befestigt, und sie sahen so hübsch aus, wenn sie sich gedreht haben ... Und wir haben alle zusammen Cricket gespielt, Mädels und Jungs, während die Erwachsenen zugeschaut und getratscht haben ...«Er schlug die Augen auf und sah, daß Janice ihn aufmerksam beobachtete. »Damals habe ich ihn gekannt. Er war noch ein kleiner Junge, und ich schon ein Teenager. Wer hätte damals gedacht, daß es so kommen würde, wie’s gekommen ist?«

  »Wie meinst du das?«

  »Der Krieg, seine Familie ...« George seufzte und schüttelte den Kopf. »Aber er ist zurückgekommen, und das habe ich ihm immer hoch angerechnet. Er hat nie vergessen, woher er stammt und welche Verpflichtungen er hat. Und er hatte immer ein freundliches Wort und ein Glas Bier in der Kneipe für mich übrig.«

  Janice hielt ihre Tasse bewegungslos in beiden Händen. »Wer, George?«

  »Lewis Finch«, gab er zögernd zu.

  »Du hast Annabelle Hammond mit Lewis Finch gesehen?«

  »Hieß sie so? Hammond wie Hammond’s Teas?«

  »Genau. Die Firma gehört ihrer Familie. Sie hat sie geleitet. Wo hast du die beiden gesehen?«

  George faltete sein Geschirrtuch zusammen. »Einmal sind sie aus dem indischen Restaurant am Ende der Straße gekommen. Er hat sie am Arm gehalten ... ganz freundschaftlich, und sie hat gelacht. Man konnte sie kaum übersehen. Und dann einmal im Waterman’s Arms, und in seinem Mercedes. Die Fenster waren getönt, aber man hat genau gesehen, daß sie’s war.«

  »Erst kürzlich?«

  »In der Kneipe - vor ungefähr einem Monat. Draußen vor dem Restaurant - da bin ich nicht sicher. Weiß nur, daß es genieselt hat. Könnte im Herbst gewesen sein.«

  »Und das eine Mal im Wagen?«

  »War nur ein kurzer Augenblick, als ich Sheba Gassi geführt habe. Bedeutet nicht, daß er was mit ihr hatte.«

  »Nein. Aber wir müssen trotzdem mit ihm darüber reden«, warf Janice ein, und George dachte, daß sie diese Aussicht auch nicht glücklicher machte als ihn seine Aussage.

  Sie trank ihren Tee aus und stand auf. »Danke, George. Ich lasse dich jetzt lieber dein Essen weiter vorbereiten.«

  George dachte unglücklich an die inzwischen sicher zu Chips gerösteten Kartoffeln im Ofen und die kalten Koteletts auf dem Herd und brachte sie zur Tür.

  Auf dem Gartenweg drehte sie sich um und grinste frech.

  »Übrigens, George - tut mir leid, das mit dem Abschlußball. Sag das doch bei Gelegenheit mal deinem Georgie, ja?«

 

Gordon Finch stand am Fenster seiner Wohnung im ersten Stock und sah auf die East Ferry Road hinaus. Eine kühle Brise bewegte die dünnen Vorhänge. Die Straßenlaternen waren angegangen, und auf der gegenüberliegenden Seite hatten die Bowlspieler ihr Spiel im Millwall Park aufgegeben und sich in die Kneipe zurückgezogen.

  Alles war so normal, so alltäglich. Einen Moment klammerte er sich an den Gedanken, daß er sich nur umdrehen mußte, damit das Leben so weiterging wie bisher. Annabelle würde dann nackt an der Spüle in seiner Küche stehen, sich die Zähne putzen, und dabei mit einer Hand die Masse ihres Haars zurückhalten, damit es nicht naß würde. Sie würde sich Vorbeugen, und das schräg einfallende Licht würde die sanfte Rundung ihrer Hüfte beleuchten. Und wenn sie sich aufrichtete, würden die Schatten weiterwandern und spielerisch wie die Hand eines Liebenden über ihre Haut gleiten.

  Von Anfang an hatte sie ihre Kleidungsstücke überall verstreut, sobald sie seine Wohnung betreten hatte, hatte ihre teuren Kostüme nachlässig über Stühle geworfen und auf dem Fußboden liegenlassen. Manchmal, an kühleren Tagen, war sie in einen Seidenkimono geschlüpft, den er auf einem Straßenmarkt erstanden hatte. Fasziniert von den schönen Farben der alten Seide hatte er ihn spontan gekauft. Es war das einzige Geschenk, das er ihr je gemacht hatte, und er hing seither an einem Haken hinter der Badezimmertür.

  Dann erinnerte er sich wieder, wie die goldenen und rostroten Falten des Kleidungsstücks auseinandergefallen waren und ein Stück von Annabelles cremefarbener Haut freigegeben hatten, als sie sich an seinen kleinen Tisch gesetzt und Essen von einem indischen Take-away-Restaurant mit einer Plastikgabel gegessen hatte. Die Kerzen, die er auf Teller gestellt hatte, hatten zwischen ihnen geknistert und gequalmt. Lachend hatte sie ihn einen Barbaren genannt, doch als er sie gedrängt hatte, ihn zu einem anständigen Essen in ihre Wohnung einzuladen, hatte sie abgelehnt.

  Sie war bereits monatelang zu ihm gekommen, bevor er ihren Namen erfuhr, und selbst danach hatte sie nie von sich gesprochen. Nur durch einen Zufall hatte er sie eines Tages aus der Wohnung in der Ferry Street kommen sehen und erfahren, daß sie am anderen Ende der Straße wohnte ... nur wenige Blocks weit entfernt und doch in einer völlig anderen Welt.

  Nicht daß er die Bestätigung überhaupt gebraucht hätte, daß Annabelle Hammond alles verkörperte, was er verachtete, daß sie eine jener Privilegierten war, die sich alles nehmen, ohne an die zu denken, die sie dabei einfach beiseite schieben. Warum hatte er nur angenommen, er könne ausnahmsweise unbeschadet bleiben?

  Einmal, als sie sich rittlings auf seinem schmalen Bett auf ihn gesetzt hatte, hatte sie seine Klarinette zwischen ihren Brüsten gehalten und ihn gefragt, ob er das Instrument für sie aufgeben würde. »Sei nicht blöd«, hatte er geantwortet, aber für einen Moment hatte sich der Abgrund ihrer Besessenheit vor ihm aufgetan.

  Was alles hätte er erst für sie getan, fragte er sich, wenn er ihren Verrat nicht entdeckt hätte?