Wo Schönheit zu Schönheit kommt, nackt und rein, ist die Erde süß von Tränen, und flirrend klar die Luft, die wirbelnd, schwindelnd dich erfaßt, mit leisem, trunkenem Lachen; und alles verschleiert, das kommen mag, später ... später
Rupert Brooke aus: >Schönheit zu Schönheit<
Die Post glitt durch den Briefschlitz, ergoß sich auf den Fliesenboden des Flurs mit einem Rascheln wie Wind im Bambuswald. Lydia Brooke hörte das Geräusch im Frühstückszimmer. Sie hielt die Tasse mit beiden Händen. Der Tee war längst kalt geworden, doch sie blieb sitzen, unfähig, sich zwischen den nichtigen Tätigkeiten zu entscheiden, die ihren Tagesablauf bestimmen sollten.
Durch die gläserne Flügeltür am anderen Ende des Raumes konnte sie die Buchfinken beobachten, die unter den gelben Kaskaden der Forsythien auf der Erde pickten, und versuchte stumm, das Bild in Worte umzusetzen. Für sie eine Gewohnheit, fast so selbstverständlich wie das Atmen: die Suche nach Sprachbild, Metrum, Rhythmus. Aber an diesem Morgen wollte es nicht gelingen. Sie schloß die Augen und hob ihr Gesicht der schwachen Märzsonne entgegen, die schräg durch die hochliegenden Fenster des Zimmers mit der gewölbten Decke fiel.
Morgan und sie hatten sein kleines Erbe dazu benutzt, diesen Küchen- und Eßtrakt an das viktorianische Reihenhaus anzubauen.
Er ragte in den rückwärtigen Garten hinein, bestand ganz aus Glas, klaren Linien und hellem Holz, ein Monument gescheiterter Hoffnungen. Ihre Pläne für die Modernisierung des restlichen Hauses waren irgendwie in der Realität untergegangen. Die Wasserleitungen leckten noch immer, die Tapete mit dem Rosenmuster löste sich von den Dielenwänden, die Risse im Verputz platzten auf wie brüchige Adern, die Heizung zischte und rumpelte wie ein unterirdisches Ungeheuer. Lydia hatte sich an die Mängel gewöhnt, hatte einen fast bizarren Trost darin gefunden. Das alles bedeutete, daß sie klarkam, daß sie sich arrangiert hatte, und das war es schließlich und endlich, was von einem erwartet wurde, auch wenn jeder bevorstehende Tag wie eine trostlose Wüste vor ihr lag.
Sie schob ihre Tasse mit dem kalten Tee von sich und stand auf, zog den Gürtel ihres Bademantels enger um ihre 'schmale Taille und lief barfuß zum vorderen Teil des Hauses. Die Fliesen unter ihren nackten Fußsohlen waren sandig, und sie zog die Zehen ein, als sie in die Hocke ging, um die Post aufzuheben. Ein Umschlag wog den gesamten Rest auf. Das förmliche braune Kuvert trug den Absender ihres Anwalts. Sie warf die übrigen Briefe in den Korb auf dem Dielentisch und fuhr mit dem Daumen unter die Lasche des Umschlags, um ihn zu öffnen.
Von der Hülle befreit, glitt die dicke Urkunde in ihre Hand, und ihr Blick fiel automatisch auf die Worte >In der Scheidungssache Lydia Lovelace Brooke Ashby gegen Morgan Gabriel Ashby ...< Sie erreichte den unteren Treppenabsatz und hielt inne, während ihr Gehirn eine Formulierung aus dem juristischen Kauderwelsch herauspickte ... Scheidungsantrag am heutigen Tag stattgegeben ... Die Seiten entglitten ihren gefühllosen Fingern, und es schien ihr, als segelten sie zu Boden wie Federn im Wind.
Sie hatte gewußt, daß es kommen würde, hatte sich gewappnet geglaubt. Jetzt erkannte sie mit niederschmetternder Klarheit, wie hohl und heuchlerisch ihre Tapferkeit gewesen war - die Schale der Akzeptanz so dünn wie der Algenfilm auf einem Weiher.
Nach endlosen Augenblicken begann sie langsam, mühsam die Treppe hinaufzusteigen, und ihre Waden und Oberschenkel schmerzten unter der Last jedes Schritts. Im ersten Stock stützte sie sich wie betrunken an der Wand ab und ging ins Badezimmer.
Sie fröstelte und atmete flach. Sie machte die Tür hinter sich zu und schloß ab. Jede Bewegung erforderte besondere Konzentration; ihre Hände schienen seltsam losgelöst von ihrem Körper. Als nächstes kamen die Wasserhähne; sie stellte die Temperatur mit derselben Sorgfalt ein wie immer. Lauwarm - sie hatte irgendwo gelesen, daß das Wasser lauwarm sein sollte. Und natürlich gab sie Badesalz hinein. Auf diese Weise war das Wasser salzig, warm und samtig wie Blut.
Zufrieden stand sie einen Augenblick da. Die dunkelblaue Seide ihres Morgenmantels glitt zu Boden. Sie stieg ins Wasser. Aphrodite kehrte zurück, woher sie gekommen war, das Rasiermesser in der Hand.
Victoria McClellan nahm die Hände von der Tastatur, atmete tief durch und schüttelte sich. Was zum Teufel war gerade mit ihr geschehen? Verdammt, sie schrieb eine Biographie, keinen Roman, und sie hatte nie dergleichen selbst erlebt, geschweige denn darüber geschrieben. Trotzdem hatte sie zu spüren geglaubt, wie das Wasser über ihre Haut schwappte, hatte die Magie des Schreckens gefühlt, die vom Rasiermesser ausging.
Sie erschauderte. Natürlich war das alles Unsinn. Die ganze Passage mußte gestrichen werden. Sie strotzte vor Spekulationen und Mutmaßungen. Objektivitätsverlust war für eine Biographie fatal. Hastig markierte sie den Text auf ihrem Bildschirm und zögerte mit dem Finger über der Löschtaste ... Vielleicht trat unter dem entlarvenden Licht des Morgens doch noch etwas Brauchbares zutage. Sie rieb sich die brennenden Augen, versuchte den Blick auf die Uhr über ihrem Schreibtisch zu konzentrieren. Beinahe Mitternacht. Die Zentralheizung ihres zugigen Cottages in Cambridgeshire hatte sich schon vor einer Stunde ausgeschaltet, und sie merkte plötzlich, daß sie fror. Sie bewegte die steifen Finger, sah sich um und suchte Trost in der Vertrautheit ihrer Umgebung.
Das kleine Zimmer quoll über von dem Treibgut, das von Lydia Brookes Leben zurückgeblieben war. Und Vic, von Natur aus ordentlich, fühlte sich gelegentlich machtlos angesichts der Flut von Papieren, Briefen, Journalen, Fotografien, Manuskriptfragmenten und ihren eigenen Karteikarten. All das schien sich jeder Ordnung zu widersetzen. Eine Biographie war zwangsläufig ein Abenteuer. Dabei war ihr Lydia Brooke als die ideale Persönlichkeit für eine Biographie vorgekommen, und das Thema schien perfekt dazu angetan, Vics Position an der Englischen Fakultät zu festigen. Die Lyrikerin Brooke mit dem chaotischen Privatleben, geprägt von komplizierten Beziehungen und etlichen Selbstmordversuchen, hatte die Episode in der Badewanne in den späten sechziger Jahren gut zwei Jahrzehnte überlebt. Dann, nachdem sie die Arbeit an ihrer besten Gedichtsammlung beendet hatte, war sie völlig überraschend an einer Überdosis ihres Herzmedikaments gestorben.
Der Tatsache, daß Lydia Brookes Tod nur fünf Jahre zurücklag, verdankte Vic den Umstand, daß sie Kontakt zu Lydias Freunden und Kollegen aufnehmen und sämtliche erhaltene Manuskripte und Unterlagen einsehen konnte. Womit sie allerdings nicht gerechnet hatte, war, daß im Laufe ihrer Arbeit Lydia Brooke zu neuem Leben erwachen würde. Sie hatte Lydias Haus besucht - das Morgan Ashby, ihr Ex-Mann, geerbt und an einen Arzt mit Frau und vier kleinen Kindern vermietet hatte. Trotz Legosteinen und Schaukelpferden atmete es für Vic noch immer jene Atmosphäre, die sie mit Lydia Brooke verband. Aber selbst dieses seltsame Phänomen konnte nicht ihre Faszination erklären, die einer Besessenheit von dem Thema gefährlich nahe kam.
Lydia Lovelace Brooke Ashby ... wiederholte Vic stumm und fügte mit einem ironischen Lächeln ihren eigenen Namen hinzu: Victoria Potts Kincaid McClellan. Das allerdings klang bei weitem nicht so poetisch. In den letzten Jahren hatte sie kaum über ihre eigene Scheidung nachgedacht - aber möglicherweise waren ihre Eheprobleme der jüngsten Zeit daran schuld, daß sie sich so sehr mit Lydias schmerzlichen Erfahrungen identifizierte. Eheprobleme! Ist ja lächerlich ... dachte sie wütend. Welchen Sinn hatte es, die Sache zu beschönigen? Sie war verlassen und verraten worden, genau wie Lydia von Morgan Ashby verlassen worden war. Dabei hatte Lydia damals wenigstens gewußt, wo Morgan sich aufhielt. Außerdem hatte Lydia kein Kind gehabt, auf das sie hätte Rücksicht nehmen müssen, ergänzte Vic stumm, als sie das Knarren von Kits Schlafzimmertür hörte.
»Mammi!« rief er leise von der Treppe herab. Seit Ian verschwunden war, hatte Kit angefangen, sie zu kontrollieren, so als habe er Angst, daß auch sie sich eines Tages einfach in Luft auflösen könne. Außerdem litt er unter Alpträumen. Sie hatte ihn im Schlaf jammern gehört, aber auf ihre Fragen am Morgen hatte er nur eigensinnig und stolz geschwiegen.
»Komme gleich rauf! Leg dich wieder ins Bett, Schatz.« Das alte Haus ächzte unter seinen Schritten und schien dann erneut in einen unruhigen Schlaf zu sinken. Mit einem Seufzer wandte Vic sich wieder dem Computer zu und strich sich das Haar aus der Stirn. Wenn sie jetzt nicht Schluß machte, kam sie am nächsten Morgen nicht aus den Federn, und sie hatte eine Frühstunde an der Universität. Aber das letzte Bild von Lydia war noch frisch. Sie konnte sich nicht davon losreißen. Etwas nagte in ihr ... da war etwas, das nicht zusammenpassen wollte. Und im nächsten Augenblick wurde ihr klar, was es war und was sie in diesem Punkt unternehmen mußte.
Und zwar jetzt gleich. Noch an diesem Abend. Bevor sie Angst vor der eigenen Courage bekam.
Sie zog ein Londoner Telefonbuch aus dem Regal über ihrem Schreibtisch, suchte die Nummer heraus und notierte sie. Dann griff sie mit klopfendem Herzen nach dem Hörer und wählte.
Gemma James legte den Stift nieder, bewegte die verkrampften Finger und hob die Hand an den Mund, um ein Gähnen zu unterdrücken. Sie hatte nicht damit gerechnet, den Bericht fertigzubekommen. Jetzt fiel alle Anspannung von ihr ab. Sie hatte einen anstrengenden Tag und einen komplizierten Fall hinter sich gebracht. Angenehme Zufriedenheit stellte sich ein. Sie saß mit angezogenen Beinen in der einen Ecke von Duncan Kincaids Sofa, während er das andere Ende mit Beschlag belegte. Er hatte das Jackett ausgezogen, die Krawatte gelockert, den Hemdkragen aufgeknöpft und schrieb mit ausgestreckten Beinen. Seine Fersen balancierten gefährlich kippelig auf der Kante des Couchtischs zwischen den leeren Schachteln eines chinesischen Schnellrestaurants.
Sid verteidigte, auf dem Rücken ausgestreckt, die Augen halb geschlossen, den restlichen Sofaplatz zwischen ihnen. Alles an ihm Ausdruck kätzischer Zufriedenheit. Gemma streckte die Hand aus, um den Bauch des Katers zu kraulen. Kincaid sah auf und lächelte. »Fertig, Liebes?« fragte er, und als sie nickte, stöhnte er. »Weiß auch nicht, weshalb ich mich nie kurz fassen kann. Alles nur Korinthenkackerei. Du schlägst mich immer um Längen.«
Gemma grinste. »Reine Berechnung. Ab und zu möchte ich auch mal die Nummer eins sein.« Mit einem Gähnen sah sie auf die Uhr. »Großer Gott, ist es schon so spät? Ich muß gehen.« Sie schwang die Beine auf den Boden und schlüpfte in ihre Schuhe.
Kincaid legte seine Papiere auf den Couchtisch, setzte Sid sanft auf den Boden und rutschte zu Gemma hinüber. »Sei nicht blöd. Hazel erwartet dich heute nicht mehr. Und das Mutterkreuz verdienst du auch nicht, wenn du Toby aus dem Schlaf reißt, um ihn mitten in der Nacht nach Hause zu bringen.« Mit der rechten Hand begann er Gemma den Rücken zu massieren. »Du bist wieder ganz verspannt.«
»Autsch ... Mmmm ... das ist nicht fair.« Gemma protestierte halbherzig, während sie ihm genüßlich ihren Rücken überließ.
»Was soll daran nicht fair sein?« Er rutschte näher, und seine Hände glitten zu ihrem Nacken. »Du kannst gleich morgen früh nach Hause fahren, um Toby Frühstück zu machen. Und bis dahin ...« Das Telefon schrillte. Kincaid zuckte zusammen. Seine Hände verharrten auf Gemmas Schultern. »Verdammter Mist!«
Gemma stöhnte. »Oh, nein! Nicht schon wieder. Nicht heute abend. Das sollen andere erledigen.«
»Mach dich schon mal auf das Schlimmste gefaßt.« Mit einem Seufzer hievte Kincaid sich aus den Polstern des Sofas und ging in die Küche. Gemma hörte, wie er sich schroff mit »Kincaid!« meldete, nachdem er das schnurlose Telefon von der Basisstation genommen hatte. Dann folgte ein verwirrtes: »Ja? Hallo!«
Falsch verbunden, dachte Gemma und sank in die Polster zurück. Aber Kincaid kam ins Wohnzimmer, das Telefon am Ohr, die Stirn in Falten.
»Ja«, sagte er schließlich. »Nein, das ist schon in Ordnung. Ich war nur so überrascht. Ist schließlich lange her«, fügte er mit einem Anflug von Sarkasmus hinzu. Er trat vor die Balkontür, zog den Vorhang zurück und starrte in die Nacht hinaus, während er zuhörte. Gemma konnte seine Anspannung an seinem Rücken ablesen. «Ja, es geht mir gut. Danke. Nur ... ich verstehe nicht ganz, wie ich dir helfen kann. Wenn das eine Polizeisache ist, wende dich an die örtliche ...«Er hörte erneut zu. Diesmal dauerte die Pause länger. Gemma beugte sich vor. Sie war seltsam beunruhigt.
»Na gut«, sagte er schließlich, als gäbe er nach. »In Ordnung. Bleib dran.« Er kam zum Couchtisch, griff nach seinem Notizblock und schrieb etwas darauf, das Gemma nicht entziffern konnte. »Gut. Also dann bis Sonntag. Wiedersehen.« Er drückte auf die Hörertaste und starrte auf Gemma hinab, als wisse er nicht recht, wohin mit dem Telefon in seiner Hand.
Gemma konnte sich nicht länger beherrschen. »Wer war das?«
Kincaid zog eine Augenbraue hoch und grinste schief.
»Meine Ex-Frau.«