Wir waren so heiter, war’n so im Recht, so strahlend in unserem Glauben, und der Weg war so sicher ausgelegt. Doch als ich gegangen, welch dummes Ding erhob da den Kopf? War es ein Wort, ein plötzlicher Schrei, daß ergeben und wortlos die Treue du brachst und seltsam, schwach, dich aufgabst?
Rupert Brooke aus >Verlassen<
Ein heftiger Windstoß erfaßte die Papierserviette auf Vics Schoß, wirbelte sie durch die Luft und über den Rasen. Kin-caid beobachtete, wie sie Anstalten machte aufzuspringen, dann jedoch auf den Stuhl zurücksank und sich geschlagen gab, als die Serviette über die Mauer segelte und verschwand. Während ihres ausgedehnten Imbisses im Garten hatten sich düstere Wolkentürme am westlichen Horizont aufgebaut, und Vic sah jetzt auf und runzelte die Stirn. »Ich glaube, der Wettergott hat uns betrogen, was? Wenn wir schlau sind, gehen wir rein«, fügte sie hinzu und begann das Geschirr abzuräumen. »Ich hole nur ein Tablett.«
Während er zusah, wie sie von ihrem Stuhl glitt und sich über die Terrasse entfernte, dachte Kincaid daran, wie seltsam es war, wieder mit ihr zusammenzusein - und wie vertraut. Er war sich deutlich der Silhouette ihrer Schulterblätter unter dem dünnen Stoff ihres Kleids bewußt, der Länge ihrer Finger, des besonderen Schwungs ihrer Augenbrauen, all jener Dinge, an die er Jahre nicht gedacht hatte. Er erinnerte sich an ihre stumme Art des Zuhörens, als sei das, was man sagte, unendlich wichtig ... Dabei vergaß er nicht, daß sie ihm noch immer nicht den Grund für ihren Anruf verraten hatte. Aber auch das kam ihm bekannt vor. Bei der Trennung war ihm klargeworden, wie selten Vic ihm je gesagt hatte, was sie fühlte oder dachte. Sie hatte von ihm erwartet, daß er es wußte, und jetzt fragte er sich, ob er wieder einmal sein Stichwort verpaßt hatte.
Vic kam mit einem Tablett zurück. »Ich habe das Kaminfeuer im Wohnzimmer angemacht.« Sie hatte eine lange goldbraune Jacke übergezogen und begann das Tablett zu beladen. »Das war’s mit unserem Picknick. Kurz, aber schön.«
Kincaid stellte Teller übereinander. »Kann man von vielen Dingen sagen«, murmelte er und fluchte innerlich, als sie bei dieser unverhohlenen Spitze zusammenzuckte. »Tut mir leid, Vic. Ich ...« Er verstummte unsicher. Wie sollte er sich entschuldigen, ohne die Minenfelder der Vergangenheit zu betreten, die er hatte vermeiden wollen?
Vic nahm wortlos das Geschirr und hielt mit dem Tablett in den Händen inne. Sie sah ihn einen Moment ruhig an. »Manchmal ist man zu unerfahren, um zu wissen, wie gut etwas gewesen ist. Oder den Wert eines Menschen zu erkennen. Ich war ein dummes Huhn, aber es hat lange gedauert, bis mir das klargeworden ist.« Sie lächelte. Als Kincaid sie verdutzt anstarrte, fügte sie hinzu: »Komm, hilf mir, das alles in die Küche zu bringen. Dann koche ich Tee. Es sei denn, du möchtest was Stärkeres?«
Kincaid suchte sein Heil in Allgemeinplätzen. »Nein, nein, Tee ist ausgezeichnet. Ich muß noch nach London zurückfahren. Und mit dem Wein habe ich die Promillegrenze schon überschritten.«
Er nahm ihr das Tablett aus den Händen. Sie hielt ihm die Tür auf. Er brachte es in die winzige Küche und stellte es auf die Arbeitsplatte. Vics Entschuldigung war für ihn völlig unerwartet gekommen, und jetzt wußte er nicht damit umzugehen.
Vic stellte Tassen und Teekanne bereit und bemerkte sachlich: »Es wartet also jemand auf dich.«
»Ist das eine spezifische oder eine allgemeine Feststellung?« fragte er grinsend. Er dachte an Gemma und den Balanceakt, der ihre Beziehung in den vergangenen Monaten gewesen war, und fragte sich, ob ihre Weigerung, ihn zu begleiten, einen anderen Grund hatte als ihren Wunsch, mehr Zeit mit ihrem Sohn zu verbringen. Sie hatte ihn zwar eingeladen, am Abend nach seinem Besuch in Cambridge zu ihr zu kommen, aber was ihn dort erwartete, war ungewiß.
Vic warf ihm einen Blick zu und schaltete den Wasserkocher aus. Nachdem sie Tee aufgegossen hatte, dirigierte sie Kincaid ins Wohnzimmer. Über die Schulter fragte sie: »Weiß sie dich zu schätzen?«
»Ich werde ihr erzählen, daß du nette Sachen über mich gesagt hast. Nach dem Motto >Erprobt und für gut befunden<.«
»Klingt wie eine Schlagzeile aus der Boulevardpresse. Untertitel: EX-FRAU GIBT GEBRAUCHSANWEISUNG. Das müßte es doch bringen.«
Sie setzten sich in die tiefen Sessel am Kamin. Vic zog die Beine an und trank einen Schluck Tee. »Ernsthaft, Duncan. Ich freue mich für dich. Aber ich habe dich nicht hergebeten, um dich über dein Privatleben auszufragen. Obwohl ich zugegebenermaßen neugierig bin.« Sie sah ihn über den Rand ihrer Teetasse lächelnd an.
Das Blumenmuster auf dem Porzellan war ihm schon die ganze Zeit irgendwie bekannt vorgekommen, und als er es so dicht an ihrem Gesicht sah, kam die Erinnerung zurück ... Vic, die einen Geschenkkarton öffnete, eine Tasse herausnahm und hochhielt, damit er sie begutachten konnte. Das Porzellan war ein Hochzeitsgeschenk ihrer Eltern gewesen, ein >gutes Service< hatte ihre Mutter es genannt, als befürchte sie, von seiner Familie könne etwas >Unpassendes< kommen.
»Die Neugier hatte Alice von jeher in Schwierigkeiten gebracht«, neckte er sie. Alice war sein Spitzname für sie gewesen, und er hatte nicht nur wegen der physischen Ähnlichkeit gut zu ihr gepaßt.
»Ich weiß«, erwiderte sie leicht zerknirscht. »Und ich fürchte, viel hat sich daran nicht geändert. Der Grund, weshalb ich dich sprechen wollte ... Es hat mit meiner Arbeit zu tun und ist ein bißchen kompliziert. Aber zuerst wollte ich dich wieder etwas besser kennenlernen, erst mal abwarten, ob du mich vielleicht für hysterisch und typisch weiblich überspannt hältst.«
»Ach, komm schon, Vic! Du und hysterisch? Nichts paßt weniger zu dir. Du bist von jeher der Inbegriff kühler Distanziertheit gewesen.« Während er das sagte, fiel ihm das einzige Gebiet ein, auf dem sie ihre Reserviertheit völlig aufgegeben hatte, und er wurde peinlicherweise rot.
»Einige Kollegen in der Fakultät würden weniger schmeichelhafte Ausdrücke für mich finden.« Sie zog eine Grimasse. »Und die Themenwahl für mein Buch hat mich in gewissen Kreisen äußerst unpopulär gemacht.«
»Buch?« Kincaid wandte den Blick von dem Foto, das Vics abtrünnigen Ehemann zeigte. Was hatte sie bloß an ihm gefunden? McClellan sah konventionell und bärtig aus, doch er erfüllte rein äußerlich das Cliché vom gutaussehenden Akademiker, und Kincaid konnte sich vorstellen, wie er seine Studentinnen einwickelte. Eigentlich hätte er Genugtuung darüber empfinden können, daß das Leben Vic so bitter bestraft hatte, statt dessen packte ihn die blinde Wut - nicht auf Vic, sondern auf den Geschlechtsgenossen.
Kincaid fühlte sich nicht schuldlos am Scheitern seiner Ehe. Sie waren beide jung gewesen, hatten gerade erst angefangen zu begreifen, was sie vom Leben erwarteten. Allerdings konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, welche Entschuldigung Ian McClellan für sein Verhalten haben sollte. Und was für eine Sorte Mann, so fragte er sich, machte sich ohne ein Wort zu seinem Sohn aus dem Staub?
»Meine Biographie«, antwortete Vic. »Ich arbeite seit ungefähr einem Jahr daran. Die Biographie von Lydia Brooke.« Sie knipste die Leselampe neben ihrem Sessel an, so daß ihr Gesicht plötzlich im Schatten und ihre Hände an der Teetasse im Licht waren. »Ian hat behauptet, ich hätte ihn über meiner Arbeit vernachlässigt. Und damit hatte er vermutlich nicht ganz unrecht. Männer ... Augenblicklich stehe ich mit dem männlichen Geschlecht ein wenig auf Kriegsfuß. Sie wollen einen brillant und erfolgreich. Aber nur, solange das nicht mit einem Verlust der Aufmerksamkeit für sie und ihre Bedürfnisse einhergeht. Und natürlich nur, solange die Erfolge der Frau nicht größer sind als die des Mannes.« Sie sah lächelnd zu ihm auf.
»Klingt ziemlich zickig, was? Außerdem kann man das nicht verallgemeinern. Natürlich weiß ich, daß es Männer gibt, die anders sind. Aber ich komme immer mehr zu der Ansicht, daß sie die Ausnahme darstellen. Ian hat sich erst an Studentinnen rangemacht, als ich genauso viel verdient habe wie er.« Ihr Mund zuckte verächtlich. »Egal. Was weißt du über Lydia Brooke?«
Kincaid dachte angestrengt nach. Dann kam ihm eine vage Erinnerung an schmale Gedichtbände im Bücherregal seiner Eltern. »Sie war eine Lyrikerin aus Cambridge. So was wie eine Ikone der Sechziger ... Sie ist erst vor kurzem gestorben, glaube ich. War sie mit Rupert Brooke verwandt?«
»Sie war besessen von Rupert Brooke, als sie nach Cambridge kam. Ob sie mit ihm verwandt war, spielt keine Rolle.« Vic wechselte ihre Stellung, so daß der Schein der Lampe erneut ihr Gesicht erfaßte. »Und du hast recht. Lydia hat Mitte der sechziger Jahre die Szene beherrscht. Ihre Gedichte drückten Schmerz und Desillusionierung aus und haben das Lebensgefühl der Generation von damals genau getroffen. Nach dem katastrophalen Fehlschlag einer Ehe hat sie einen Selbstmordversuch unternommen, wurde jedoch gerettet. Anfang Dreißig hat sie es noch mal versucht, und dann ist es ihr schließlich vor fünf Jahren gelungen, sich umzubringen. Da war sie siebenundvierzig.«
»Hast du sie gekannt?«
»Ich habe sie einmal auf einer Veranstaltung des College gesehen. Kurz nachdem ich hierhergekommen war. Leider kannte ich niemanden gut genug, um vorgestellt zu werden. Und eine zweite Chance bekam ich nicht.« Vic zuckte die Schultern. »Klingt vielleicht komisch, aber ich habe mich schon damals zu ihr hingezogen gefühlt, spontan eine Verbindung zwischen uns gespürt, die alte Geschichte.« Sie wurde ernst. »Und als ich gehört habe, daß sie gestorben ist, war ich am Boden zerstört, als hätte ich einen mir nahestehenden Menschen verloren.«
Kincaid zog eine Augenbraue hoch und wartete ab.
»Den Blick kenne ich.« Vic zog eine Grimasse. »Jetzt fragst du dich, ob ich nicht doch eine Meise habe. Aber dieses Gefühl der Seelenverwandtschaft mit Lydia ist vermutlich der Grund, weshalb mir ihr Tod so merkwürdig vorkommt.«
»Es war doch Selbstmord? Das stand doch nicht außer Frage?«
»Die Polizei ist davon überzeugt.« Vic starrte aus dem Fenster und auf den Himmel voller tiefhängender dunkler Wolken. »Wie soll ich es erklären? Lydia hat sich angeblich mitten in einer ihrer produktivsten Schaffensperioden umgebracht. Und zwar aufgrund von Depressionen, an denen sie Zeit ihres erwachsenen Lebens gelitten hatte. Ich finde, da stimmt einfach was nicht.«
Kincaid mußte unwillkürlich an die vielen Stunden denken, die er mit ähnlichen Theorien zu Beginn seiner Ehe mit Vic verbracht hatte, und wie absolut desinteressiert sie an seinen Fällen gewesen war. Mittlerweile hatte er Verständnis für ihr Verhalten von damals. Er war neu im Morddezernat und vermutlich in seiner Faszination für das Ungewohnte für jeden Zuhörer eine Zumutung gewesen. »Und weshalb?« fragte er vorsichtig.
Vic stellte die Füße auf den Boden und beugte sich vor. »Beide früheren Selbstmordversuche sind während lange anhaltender Phasen von Schreibblockade passiert. Ich glaube, Lydia war nur wirklich glücklich, wenn sie dichtete. Fielen persönliche Probleme mit einer unkreativen Schaffensperiode zusammen, kam sie mit nichts und niemandem mehr klar. So war es zum Beispiel auch nach dem Scheitern ihrer Ehe. Später allerdings, mit fortgeschrittenem Alter, war sie sich selbst genug. Sie lebte ganz zufrieden allein. Falls sie in den letzten zehn Jahren ihres Lebens eine ernsthafte Beziehung gehabt hat, habe ich dafür keinerlei Hinweise gefunden.«
»Hatte sie denn vor ihrem Tod eine solche unproduktive Phase?« Kincaids Interesse war geweckt.
»Nein.« Vic stellte ihre Tasse auf den Tisch. »Das ist es ja, verstehst du? Als sie starb, hatte sie am Manuskript für ein neues Buch gearbeitet - das beste, das sie je geschrieben hat. Die Gedichte haben Tiefe und Lebendigkeit, es ist, als habe sie für sich plötzlich eine neue, ultimative Dimension ihrer Kunst entdeckt.«
»Vielleicht war das der Auslöser«, gab Kincaid zu bedenken. »Sie hat keine weiteren Entwicklungsmöglichkeiten mehr gesehen.«
Vic schüttelte den Kopf. »Das war auch mein erster Gedanke. Aber je besser ich sie kennenlerne, desto unwahrscheinlicher wird das. Ich glaube vielmehr, sie hatte endlich ihre Stilebene gefunden. Sie hätte noch so viel schreiben, uns noch so viel geben können ...«
»Vic.« Kincaid beugte sich vor und berührte ihre Hand. »Was in einem anderen Menschen vorgeht, weiß man nie mit letzter Sicherheit. Es passiert häufiger, daß Leute morgens aufwachen und beschließen, genug vom Leben zu haben, ohne eine Erklärung zu hinterlassen. Vielleicht trifft das auch auf Lydia zu.«
Sie schüttelte energisch den Kopf. »Das ist ja noch nicht alles. Lydia starb an einer Überdosis ihres Herzmedikaments. Ist es nicht normalerweise so, daß Selbstmörder ihrer Methode treu bleiben? Nur zu noch drastischeren Methoden greifen, wenn sie keinen Erfolg haben?«
»Gelegentlich sicher. Aber das trifft nicht auf alle zu.«
»Das erste Mal hat sie sich im Bad die Pulsadern aufgeschnitten - nur weil ein Freund sie unverhofft besucht hat, konnte sie gerettet werden. Das zweite Mal ist sie mit dem Auto gegen einen Baum gerast. Sie ist mit einer schweren Gehirnerschütterung davongekommen. Später hat sie behauptet, ihr Fuß sei vom Bremspedal gerutscht. Verstehst du?«
»Du meinst, beim dritten Versuch hätte sie eine noch drastischere Methode wählen müssen?« Kincaid zuckte die Achseln. »Möglich. Worauf willst du hinaus?«
Vic wandte den Blick ab. »Ich bin nicht sicher. Bei Tag klingt es so absurd ...«
»Raus damit!«
»Was, wenn Lydia sich gar nicht umgebracht hat? In Anbetracht ihrer Vorgeschichte wäre es die logische Konsequenz gewesen. Aber überleg mal, wie leicht es darum für andere gewesen wäre.« Vic hielt inne, holte Luft und fügte bedächtiger hinzu: »Was ich sagen will ... Ich glaube an die Möglichkeit, das Lydia ermordet worden ist.«
In der nachfolgenden Stille zählte Kincaid stumm bis zehn. Sei vorsichtig, mahnte er sich. Sag ihr jetzt nicht, daß sie die nötige Distanz verloren hat. Sag ihr nicht, wie weit Menschen gehen, den Selbstmord ihrer Lieben zu leugnen - und er hatte keinen Zweifel, daß Vic sich Lydia Brooke enger verbunden fühlte als so manch anderer einem Familienmitglied - und sag ihr um Himmels willen nicht, sie sei hysterisch. »Also gut«, begann er laut. »Drei Fragen: Warum, wie und wer?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Vic beinahe heftig. »Ich habe mit allen geredet, die ich ausfindig machen konnte. Es gab offenbar niemanden, der Streit mit ihr hatte. Trotzdem ist was faul.«
Kincaid trank seinen Tee aus, während er sich eine Antwort zurechtlegte. Vor zehn, zwölf Jahren war er ein Faktenfetischist gewesen und hätte vermutlich über ihren Verdacht gelacht. Inzwischen hatte er gelernt, den Faktor Intuition nicht zu unterschätzen, auch wenn sie abwegig erschien. »Also gut«, seufzte er. »Nehmen wir an, du hast recht und an Lydias Tod ist was faul. Was erwartest du in dieser Angelegenheit von mir?«
Vic lächelte, und er stellte zu seiner Verblüffung fest, daß sie Tränen in den Augen hatte. »Sag mir einfach, daß ich nicht verrückt bin. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr es mich erleichtert, überhaupt darüber sprechen zu können.« Sie verstummte. Ihre Finger berührten ihre Kehle. »Und ich habe mir gedacht, daß du vielleicht ein paar Dinge in Erfahrung bringen könntest ...«
Kincaid versuchte seinen Ärger zu unterdrücken. »Vic, der Fall ist fünf Jahre alt! Und er gehört nicht in meinen Zuständigkeitsbereich. Warum sprichst du nicht mit einem Beamten von der örtlichen Polizeidienststelle?«
Sie schüttelte den Kopf. »Machst du Witze? Du weißt genau, daß sie mich mit einem freundlichen Schulterklopfen wegschicken und die Akte verrotten lassen würden. Sie sind viel zu sehr mit Drogen und organisiertem Verbrechen beschäftigt, um ihre Zeit mit mir zu verschwenden. Du hast andere Möglichkeiten, kannst mit jemandem reden. Oder mir wenigstens Türen öffnen.«
Kincaid dachte an die Aktenstapel auf seinem Schreibtisch, an den täglichen Kampf um ein bißchen Zeit mit Gemma, an seine Glaubwürdigkeit ... Es war idiotisch, sich auch das noch aufzuhalsen. Dann sah er aus den Augenwinkeln das Foto im Silberrahmen, auf dem Beistelltisch - Vic, ihr Sohn und Ian McClellan, wie sie in die Kamera lächelten - und er wußte, daß er es ihr nicht abschlagen konnte.
»Verdammt«, murmelte er gepreßt. Er kannte jemanden bei der Polizei von Cambridgeshire, einen ehemaligen Kollegen, der sich dorthin hatte versetzen lassen - in der Hoffnung auf ein streßfreieres Leben. Wie weit konnte er diese Freundschaft strapazieren? »In Ordnung, Vic. Ich versuche, an die Akte heranzukommen. Aber erwarte bitte keine Wunder! Wahrscheinlich ist die Akte ein einziger Persilschein für die Polizei.«
Sie lächelte flüchtig. »Danke.«
Ein Donnerschlag ließ sie beide zusammenzucken. Als er aufsah, prasselte Regen gegen die Fensterscheiben. Er warf einen Blick auf die Uhr und merkte, wie spät es geworden war. War Gemma inzwischen von ihren Eltern zurück und wartete auf ihn? »Tut mir leid, Vic.« Er stand auf und stellte seine Tasse auf den Tisch. »Ich muß los ... Mist!« entfuhr es ihm. »Ich habe das Wagenverdeck offengelassen!«
»Du wirst naß bis auf die Haut!« Vic sprang ebenfalls auf. »Ich hole Schirm und Handtuch.«
Bevor er sie davon abhalten konnte, war sie vor ihm aus der Tür gerannt und wartete bereits mit Schirm und Handtuch im Flur, als er nachkam. Er packte beides, sprintete über den Kiesbelag der Auffahrt und versuchte dabei, den Schirm zu öffnen. Als er den Wagen erreichte, sprang der Schirm auf, und er klemmte sich den Finger ein. Er hielt den Schirm in der einen Hand und kämpfte mit der anderen mit dem Verdeck. Als die Verschlußscharniere schließlich einrasteten, war das Handtuch, das er auf die Kühlerhaube geworfen hatte, klatschnaß. Er lachte und trug es zerknirscht zu Vic zurück, nachdem er erfolglos versucht hatte, es mit einer Hand auszuwringen. »Entschuldige.«
»Ich kann es nicht fassen, daß du den Wagen noch immer hast.« Sie stand so dicht vor ihm, daß er die dunklen Punkte in der Iris ihrer Augen erkennen konnte. »Ich habe ihn immer gehaßt. Das weißt du.«
»Ja, ich weiß. Hier ist dein Schirm«, sagte er, die Hand am Verschluß.
»Du sagst Bescheid, wenn du was gefunden hast, ja?« Sie berührte seinen Arm. »Und Duncan ... Das war nicht der einzige Grund für meinen Anruf. Ich war dir was schuldig. Es nagt schon seit langem an mir.«
»Schon in Ordnung.« Er lächelte. »Es heißt, die Zeit heilt alle Wunden - und manchmal kommt auch noch ein bißchen Weisheit dazu. Wir mußten beide erst noch erwachsen werden.« Er legte seine Wange an ihre. Es war ein kurzer Augenblick der Berührung von feuchter Haut an feuchter Haut, dann wandte er sich ab.
Als er aus der Auffahrt fuhr, warf er einen Blick zurück. Sie stand noch immer bewegungslos hinter einem Vorhang aus Regen und sah ihm nach.
»Du hast was versprochen?« Gemma drehte sich um und hob einen Finger voller Spülschaum, um eine Haarsträhne aus der Stirn zu streichen. Sie und Toby hatten sich gerade zum Abendessen gesetzt, als Kincaid eintraf. Er hatte Toby auf den Schoß genommen und mit den entsprechenden Flugzeuggeräuschen Karotten in den Mund des Jungen geschoben, selbst jedoch kaum einen Bissen angerührt, nicht einmal die warmen Fleischpasteten, die Gemmas Mutter ihr aus der Bäckerei mitgegeben hatte. Er hatte nichts über den Verlauf seines Tages erzählt, bis Gemma gefragt hatte. Und sein Bericht über das Treffen mit Vic war mehr als mager ausgefallen.
»Ich habe nur versprochen, einen alten Bekannten bei der Polizei von Cambridge anzurufen und zu fragen, ob ich mir die alte Akte ansehen kann«, antwortete er jetzt. Das klang selbst in seinen Ohren gewollt beiläufig.
Gemma löste den Stöpsel im Spülbecken ihrer winzigen Küche und trocknete die Hände ab, bevor sie sich umdrehte. Von dort, wo sie stand, konnte sie Toby in der ehemaligen Abstellkammer sehen, die als sein Schlafzimmer diente. Toby kramte in einem Korb nach seinem Lieblingsbilderbuch, das Kincaid versprochen hatte, ihm vorzulesen. »Warum?« fragte sie und versuchte so leise zu sprechen, daß Toby sie nicht hörte. »Warum solltest du freiwillig etwas für sie tun? Diese Frau hat dich ohne ein einziges Wort sitzenlassen, ohne einen Brief, hat einen anderen geheiratet, kaum daß die Tinte auf der Scheidungsurkunde getrocknet war. Und zwölf Jahre später taucht sie wieder auf und verlangt, daß du ihr einen Gefallen tust? Was denkst du dir eigentlich?«
Kincaid saß auf dem Boden, wo er und Toby mit Bauklötzen gespielt hatten. Jetzt stand er auf und sah auf sie herab. »So ist das nicht ... so war das überhaupt nicht. Du kennst sie nicht. Vic ist sehr verschlossen, und im Augenblick macht sie eine harte Zeit durch. Was du eigentlich am besten verstehen müßtest. Was soll ich deiner Ansicht nach denn tun?«
Die Spitze hatte gesessen. Aber sie erkannte an seinem Ton, daß sie sich auf verbotenes Gelände gewagt hatte. Also lächelte sie und versuchte, die Sache herunterzuspielen. »Sie in die Wüste schicken, vermutlich. Oder dorthin, wohin Ex-Frauen gehören, damit sie einen in Ruhe lassen.«
»Sei nicht blöd, Gemma«, erwiderte er ernst. »Ich rufe morgen Alec Byrne in Cambridge an und frage, ob ich ganz inoffiziell mal einen Blick in Lydia Brookes Akte werfen kann. Dann zerstreue ich Vics Bedenken, und die liebe Seele hat Ruh. Ist doch blödsinnig, deswegen zu streiten, oder?«
»Ich hab’s gefunden, Mammi!« quietschte Toby und kam mit einem Buch in der Hand ins Wohnzimmer. »Alfis Stiefel!« Er zupfte Duncan an der Hose. »Lies es mir vor, Duncan. Du hast’s versprochen.«
»Es heißt Alfis Füße, mein Herz«, verbesserte Gemma ihn. Toby liebte das Buch über alles und wollte es ständig vorgelesen bekommen. Gemma kannte die Geschichte inzwischen auswendig. Sie kniete nieder und nahm ihm das Buch ab. »Ich sag dir was, Liebling. Warum gehst du nicht in dein Zimmer und suchst auch noch das andere Buch von Alfi. Dann lese ich dir beide vor dem Schlafengehen vor.« Sie gab ihm einen aufmunternden Klaps, stand auf und wandte sich erneut an Duncan. »Ich streite nicht«, sagte sie. »Du bist nur so verbohrt.«
»Gemma, es ist die Sache nicht wert«, entgegnete Kincaid und lehnte sich gegen die Kante des halbrunden Tischs, der in der winzigen Wohnung als Eß- und Arbeitsplatz diente. »Du regst dich doch auch nicht auf, wenn ich so was für andere tue.«
»Sei nicht so verdammt blasiert«, zischte Gemma. »Für jemand anderen würdest du’s doch ohnehin nicht tun!«
Ein Schatten glitt vor den vorhanglosen Fenstern vorbei. Einen Augenblick später klopfte es an der Tür. Gemma holte Luft und rieb sich die geröteten Wangen.
»Erwartest du Besuch?« fragte Kincaid, der mit verschränkten Armen an der Tischkante lehnte und aufreizend lässig wirkte.
»Muß Hazel sein.«
Gemma warf ihm einen wütenden Blick zu, ging durchs Zimmer zur Tür und schob den Riegel beiseite. Als Gemma sich von ihrem Ex-Mann getrennt und das gemeinsame Haus aufgegeben hatte, um in die Garagenwohnung in Islington zu ziehen, hatte sie in ihrer Vermieterin Hazel Cavendish ganz unerwartet eine Freundin und Toby eine Verbündete in deren Tochter Holly gefunden.
»Hallo, Schätzchen«, begrüßte Hazel Gemma mit einer Umarmung und hielt mit einer Hand eine Videokassette hoch, während sie mit der anderen Kincaid zuwinkte. »Hallo, Duncan. Wir haben noch mal den König der Löwen ausgeliehen, und ich dachte, Toby möchte ihn vielleicht mit uns ansehen, bevor wir die Gören ins Bett verfrachten. Und wenn die Kids vor dem Fernseher auf dem Sofa einschlafen, dann lassen wir sie einfach schlafen.« Sie warf Gemma und Duncan einen Verschwörerblick zu.
»Du bist ein Schatz, Hazel«, murmelte Gemma und versuchte, Haltung zu bewahren.
»Reiner Egoismus. Du bist den ganzen Tag mit Toby fort gewesen, und Holly löchert mich schon dauernd, daß sie herüberkommen will. Ich kann ihr Gejammere keine Sekunde länger ertragen. Erlöse mich!« Hazel ging durchs Zimmer zu Kincaid und gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Mmm, du riechst gut. Und das Hemd ist auch hübsch«, fügte sie hinzu und rieb das Material zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Danke, Hazel. Das ist das Netteste, das heute jemand zu mir gesagt hat.«
Es war Gemmas Lieblingshemd, ein dunkelblaues Fein-cordhemd, das Kincaids graublaue Augen tiefblau leuchten ließ. Die Erkenntnis, daß er es für den Besuch bei Vic getragen hatte, brachte Gemma erneut in Rage.
»Tante Hazel!« Toby stürmte ins Zimmer und umklammerte Hazels Bein wie ein Ertrinkender. »Dürfen wir wirklich König der Löwen sehen?« Er gab Töne von sich, die wie das Gebrüll eines Löwen klingen sollten, und schlich dann in der drohenden Haltung des Königs der Savanne um sie herum.
»Ich schätze schon«, sagte Gemma und gab nach. »Sonst hätten wir keine ruhige Minute mehr.« Sie fuhr ihm durch sein blondes Haar.
»Du auch, Mammi! Du sollst es mit angucken!« forderte er.
»Nein, Liebling. Ich ...«
»Tu’s ruhig, Gemma«, unterbrach Kincaid sie. »Ich muß sowieso gehen. Es war ein langer Tag, und morgen haben wir früh Dienst.« Er griff nach seinem Jackett, gab Gemma einen flüchtigen Kuß, der ihren Mundwinkel gerade eben verfehlte, kauerte dann nieder und hielt Toby die flache Hand hin, damit dieser einschlagen konnte. »Auf bald, Kumpel!« An der Tür drehte er sich um. »Tschüs, Hazel. Gemma, wir sehen uns morgen im Yard.« Er lächelte sie an und ging hinaus.
Gemma und Hazel starrten sich an, während das Echo der zuschlagenden Tür verhallte, dann hörten sie das ferne Aufheulen des Sportwagenmotors.
»Gemma, meine Liebe, habe ich was falsch gemacht?« fragte Hazel stirnrunzelnd. »Habe ich irgendwie gestört?«
Gemma schüttelte wortlos den Kopf und stieß dann gepreßt hervor: »Was bildet der sich eigentlich ...« Sie verstummte.
Hazel erfaßte die Situation sofort. »Zeit, daß wir beiden Frauen uns mal unterhalten«, entschied sie. »Ich bin dafür, wir wechseln den Schauplatz. Was meinst du, Gemma?« Sie nahm Gemmas Nicken als Zustimmung und drängte sie und Toby aus der Tür.
Die umgebaute Wohnung in der ehemaligen Garage lag rechtwinklig zur viktorianischen Villa der Cavendishs hinter dem Garten und etwas unterhalb des Gartenniveaus. Gemma schloß ihre gelbe Wohnungstür ab und ging hinter Hazel die Treppe hinauf, die vom Garagenhof zum Haus führte. Sie traten durch das Eisentor und tasteten sich im Dunkeln den Plattenweg entlang. Toby lief sicher wie eine Katze voraus. Die Fenster der Garagenwohnung lagen jetzt auf der Höhe von Gemmas Kies. Sie sah hinunter durch die halb geöffneten Jalousien. Leer und licht wirkte die Wohnung in ihrer Schlichtheit, und doch bewohnt. Es gab Gemma einen Stich in die Herzgegend, als ihr klar wurde, wie sehr sie mittlerweile an diesem Zuhause hing. Die Wohnung war ihre Zuflucht vor dem bürgerlichen Reihenhausleben, das sie hatte führen sollen, und sie gab ihr Unabhängigkeit, denn sie konnte sie sich ohne fremde Unterstützung und eigene Opfer leisten.
Toby erreichte Hazels Hintertür als erster und ging hinein, denn er war bei den Cavendishs ebenso zu Hause wie in der Wohnung seiner Mutter. Gemma, die hinterherkam, fand in der Küche Hazels Ehemann Tim, der am Herd stand und in einem Topf rührte, während die Kinder wie Kobolde »Kakao! Kakao!« skandierten. Hazel nannte die beiden Tag und Nacht, denn das blonde Haar des blauäugigen Toby war glatt, während Holly die Locken der Mutter und das dunkle Haar und die dunklen Augen des Vaters geerbt hatte.
Hazel war klinische Psychologin, setzte jedoch vorübergehend in ihrem Beruf aus, um sich ganz ihrer kleinen Tochter widmen zu können, und hatte inzwischen darauf bestanden, tagsüber auch Toby zu sich zu nehmen - da zwei Kinder viel leichter zu versorgen waren als eines allein. Sie nahm von Gemma das für eine Tagesmutter übliche Honorar. Allerdings vermutete Gemma, daß dies nicht aus finanzieller Notwendigkeit geschah, sondern aus Rücksicht auf ihren Stolz.
»Möchtest du auch einen Kakao zum Video, Gemma?« Tim lächelte ihr freundlich zu.
Hazel gab ihrem Mann im Vorübergehen einen liebevollen Klaps und sagte: »Ich glaube, Gemma und ich unterhalten uns erst mal, Liebling. Wir müssen die Ereignisse dieses Wochenendes aufarbeiten.« Damit holte sie Kakaobecher, Löffel und die Büchse mit Kakaopulver aus dem Schrank.
Nachdem sie zerbrochene Kreide und eine Babypuppe beiseite geräumt hatte, sank Gemma auf einen Stuhl am Küchentisch. Es war unmöglich, sich in diesem Raum nicht wohlzufühlen. Bunte Kochbücher und Hazels Wollvorräte machten sich gegenseitig den Platz auf den Arbeitsflächen streitig, ein Korb mit Spielzeug und Bilderbüchern stand neben dem Kühlschrank, und der Flickenteppich auf dem Fußboden lud zu Phantasiespielen unter dem Tisch ein. Selbst die pfirsich-farbenen Wände und graugrünen Schränke vermittelten tröstliche Gemütlichkeit.
»Ich wollte dir Kaffee und frischen Strudel anbieten«, sagte Hazel zu Gemma, als sie Tim mit Kakaotablett und Kindern ins Wohnzimmer entlassen hatte. »Aber jetzt schlage ich vor, daß wir die Flasche Riesling aufmachen, die ich für dich aufgehoben habe. Du siehst aus, als hättest du ein therapeutisches Getränk nötig.«
»Unsinn, Kaffee ist prima. Heute abend wäre der gute Wein an mich verschwendet. Nach feiern ist mir nicht zumute.« Um nicht undankbar zu erscheinen, fügte sie mit einem gezwungenen Lächeln hinzu: »Aber auf deinen Strudel verzichte ich nicht.«
Hazel betrachtete sie nachdenklich und ernst. »Etwas Süßes wird dir guttun.« Wenige Minuten später stellte sie Kaffeekanne und eine Platte mit warmem Apfelstrudel auf den Tisch und setzte sich Gemma gegenüber. Sie schenkte Kaffee ein und lud zwei große Stücke Kuchen auf die Teller. »Also gut. Erzähl!«
Gemma zuckte mit den Schultern, stocherte in ihrem Strudel und legte dann die Gabel beiseite. »Er ist heute bei seiner Ex-Frau gewesen. Dr. Victoria Kincaid McClellan heißt sie jetzt. Nach zwölf Jahren absoluter Funkstille ruft sie ihn an, und er funktioniert wie auf Knopfdruck. Ist das zu fassen? Sie erzählt ihm von einem Fall. Sie möchte, daß er die Polizeiakte einsieht. Und er ist einverstanden. Ihr Mann scheint mit einer seiner Studentinnen durchgebrannt zu sein. Und statt daß er sich sagt, geschieht ihr recht, tut sie ihm leid.« Gemma nahm einen Schluck Kaffee und zuckte zusammen, als sie sich daran den Mund verbrannte.
»Aber du hast doch davon gewußt, oder?« fragte Hazel mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ich meine, er hat dir doch gesagt, daß er vorhatte, sie zu besuchen?«
»Blieb ihm ja nichts anderes übrig. Schließlich war ich dabei, als sie angerufen hat.« Widerwillig fügte Gemma hinzu: »Obwohl - wenn ich mich recht erinnere, wollte er, daß ich mit ihm fahre.«
»Wenn du dich recht erinnerst?« fragte Hazel amüsiert. »Wie ich dich kenne, hast du dich aufs hohe Roß gesetzt und abgelehnt, was?«
»Ich hatte Toby versprochen, mit ihm heute zu Mum und Dad zu fahren. Du weißt, wie sie sich immer freuen.« Gemma selbst kam das plötzlich wie eine fadenscheinige Ausrede vor. Sie hätte den Besuch schließlich ohne weiteres verschieben können.
Hazel schonte sie nicht. »Wem bist du denn eigentlich böse? Ihm oder ihr?«
»Ihr natürlich«, entgegnete Gemma. »Ich finde, sie hat wirklich Nerven. Nach allem, was sie ihm angetan hat.« Sie hob die Tasse an die Lippen und hielt inne, als sie Hazels Ausdruck sah. »Ja, schon gut. Ich bin wütend auf ihn, wenn du’s unbedingt wissen willst. Er hat sich so gemein benommen. Er hat behauptet, ich rede von Dingen, die ich nicht verstehe - und die mich auch nichts angehen. Nicht wörtlich natürlich, aber es war deutlich genug.«
Hazel aß ein Stück Strudel. »Was weißt du eigentlich über Duncans Ehe?«
Gemma zuckte die Achseln. »Nur, daß sie ihn aus heiterem Himmel und ohne ein Wort verlassen hat.«
»Und der Grund? Hat er das gesagt?«
»Angeblich, weil er sie über seiner Arbeit vernachlässigt hat«, erwiderte Gemma zögernd.
»Wenn er dieser - wie hieß sie doch? Victoria? - nicht die Schuld gibt, warum tust du es dann? Kann dir doch nur recht sein, daß sie ihn verlassen hat, oder?« Hazel grinste verschmitzt. »Sonst hättest du echte Konkurrenz.«
»Stimmt. Du hast recht.« Gemma schob die Kaffeetasse von sich. »Könnten wir die Flasche Wein vielleicht doch noch aufmachen?« Sie sah zu, wie Hazel die Flasche aus dem Kühlschrank nahm.
»Was ist denn dann so kompliziert?« Hazel stellte Flasche und zwei Gläser auf den Tisch. »Warum fühlst du dich durch seine Beziehung zu Victoria bedroht?«
»Vic. Er nennt sie immer Vic.«
»Also dann Vic.«
»Ich fühle mich nicht bedroht«, protestierte Gemma. »Ich bin auch nicht eifersüchtig. Ich behaupte schließlich nicht, daß er sich an jede Frau ranmacht, die ihm über den Weg läuft.« Sie nahm das Glas, das Hazel ihr reichte. »Es ist nur ... Ich weiß einfach nicht, was zwischen den beiden ist.«
»Warum fragst du ihn nicht? Sag ihm, daß dich die Situation beunruhigt.«
»Das kann ich nicht.« Gemma hatte sich am Wein verschluckt und hustete, bis ihre Augen tränten. Als sie wieder sprechen konnte, fügte sie hinzu: »Schließlich habe ich darauf bestanden, daß wir uns gegenseitig unsere Freiheit lassen. Ich hatte Angst, in einer Beziehung zu ersticken. Und nachdem er sich so mies benommen hat, wie hätte ich da was sagen sollen?«
»Könnte es nicht sein, daß er so wortkarg war, weil er Angst vor deiner Reaktion hatte?« gab Hazel zu bedenken. »Und ich schätze, seine Befürchtungen haben sich bewahrheitet. Dafür hast du gesorgt. Reichlich sogar.«
»Leugnen hätte keinen Zweck«, bemerkte Gemma zerknirscht. »Ich war schon das ganze Wochenende auf hundertachtzig. Heute abend habe ich dann bei der erstbesten Gelegenheit einen Streit vom Zaun gebrochen. Manchmal wünschte ich, ich wäre stumm auf die Welt gekommen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Was soll ich jetzt nur machen?«
»Zu Kreuze kriechen?« Hazel lächelte amüsiert. »Darf ich dir einen Tip geben? Vergiß deinen Ex-Mann. Nur dieses eine Mal. Überwinde deine Abneigung gegen vermeintliche Zwänge. Deine berufliche Zusammenarbeit mit Duncan funktioniert doch nur so gut, weil ihr miteinander redet.« Sie stieß Gemma den Zeigefinger in die Brust. »Warum übertragt ihr das nicht auf euer Privatleben? Wie lange spielst du jetzt schon das blödsinnige Spiel >Wer an eine Beziehung Ansprüche stellt, hat verloren<? Seit November? Am Anfang war das ganz in Ordnung. Aber in einer Beziehung dreht sich alles um Ansprüche, Pflichten und Verpflichtungen. Und wenn eure Beziehung von Dauer sein soll, dann muß einer von euch mal etwas zulegen.«
Das Gewitter war vorbei. Zurück blieb kühle, gereinigte Luft. Vic zog den Gürtel ihres Morgenmantels enger und trat von der Terrasse in den dunklen Garten, so daß sie ungehindert zu den Sternen aufsehen konnte. Sie hatte die Sternbilder nie auseinanderhalten gelernt. Während sie jetzt zum Himmel aufsah, hatte sie plötzlich das Bedürfnis, die einzelnen Sternkonstellationen bei ihren Namen nennen, sie mit den Strichzeichnungen in Verbindung bringen zu können, die sie als Kind gesehen hatte. Vielleicht sollte sie Kit eine jener in der Dunkelheit leuchtenden Sternenkalender kaufen, die sie in der Buchhandlung in Cambridge gesehen hatte. Dann konnten sie es gemeinsam lernen.
Armer Kit, dachte sie wehmütig. Seit Ian sie verlassen hatte, hatten es sich ihre Eltern zur Aufgabe gemacht, die Lücke in seinem Leben zu füllen, und sich damit nur zum Hauptziel seiner Aggressionen gemacht. Je mehr er bockte, desto heftiger drängten sie ihn. Vic war die undankbare und immer schwieriger werdende Aufgabe zugefallen, Schiedsrichter bei dieser Kraftprobe zu spielen. Heute hatten sie Kit in London vom Zug abgeholt, fest entschlossen, mit ihm ins British Museum zu gehen, während Kit sich darauf versteift hatte, daß sie mit ihm die Videotheken am Piccadilly Circus ansahen.
Natürlich war er mürrisch und enttäuscht nach Hause gekommen. Vic hatte von vornherein gewußt, daß seine Wünsche nicht die Spur einer Chance gegen die rigide Tagesplanung ihrer Mutter haben würden. Trotzdem hatte sie ihn überredet, zu den Großeltern nach London zu fahren. Für eine Begegnung zwischen Kit und Duncan war sie noch nicht bereit gewesen. Nicht, solange sie nicht sicher gewesen war, daß Duncan sich in den wesentlichen Dingen nicht verändert hatte.
Sie wandte sich nach Norden, wo Nathans Cottage außer Sichtweite direkt hinter der Straßenbiegung lag. Sie hatte ihn anrufen wollen, gehofft, sich auf ein Glas Wein vor seinem offenen Kamin für eine halbe Stunde aus dem Haus schleichen zu können. Aber Kit hatte sie gebraucht, und ihre Schuldgefühle hatten verlangt, daß sie den Abend mit ihm vor einem schrecklichen, aber sehnlichst gewünschten Actionfilm verbrachte.
Jetzt war es zu spät, Nathan anzurufen. Sie fühlte sich rastlos und aufgewühlt. An den dringend benötigten Schlaf war nicht zu denken. Sie hätte sowieso nur wach im Bett gelegen und über ihre Unterhaltung mit Duncan nachgedacht. Hatte sie zuviel gesagt? Hatte sie genug gesagt? Hatte er sie ernst genommen oder sie nur einfach reden lassen?
Sie schloß für einen Moment die Augen, überließ sich ganz der Dunkelheit und ging dann abrupt ins Haus zurück. Sie mußte etwas übersehen haben, etwas Entscheidendes, das sie ihm als Beweis nennen konnte. Sie tastete sich den dunklen Korridor entlang, schlich in ihr Arbeitszimmer und starrte auf das Durcheinander von Papieren im Schein ihrer Schreibtischlampe. Sie mußte noch einmal anfangen, und zwar ganz von vorn.
Newnham 7. Oktober 1961 Liebste Mutter,
wie sehr wünschte ich, Du wärst hier. Alles ist, wie wir es erträumt, und doch ganz anders, als wir es uns eigentlich vorgestellt hatten. Newnham ist kein bißchen kalt und unnahbar; der rote Backsteinbau mit den weißen Holzverzierungen ist anheimelnd, und ich habe das schönste Zimmer, ein Eckzimmer mit Blick auf die Gärten. Sobald ich meine Drucke an die Wände gehängt und meine Habseligkeiten ausgepackt habe, werde ich in meinem Sessel vor dem Gasofen sitzen und lesen, lesen, lesen ... Heute habe ich mit dem Dekan meiner Fakultät gesprochen. Es ist Dr. Barrett. Ich glaube, wir kommen gut miteinander aus. Schwierig ist nur zu entscheiden, welche Vorlesungen ich hören und welche Scheine ich dieses Semester machen will. Ich fühle mich wie das Kind im Süßwarenladen - überwältigt von den Möglichkeiten.
Bis jetzt scheinen die anderen Mädchen trotz anfänglicher Zurückhaltung ganz nett zu sein. Mit Daphne, einer großen Rothaarigen vom Zimmer gegenüber, kann ich mich, glaube ich, anfreunden. Sie ist wie ich aus einem kleinen Dorf auf dem Land. Aus Kent. Damit haben wir schon eine Gemeinsamkeit.
Gestern abend bin ich zum ersten Mal beim Evensong im King’s College gewesen. Es war toll! Diese Stimmen ... ich war wie in Trance. Ich saß neben einem Jungen vom Trinity College. Er wirkte sehr ernsthaft und hat mich für Donnerstag zu einer Lesung in seinem Zimmer eingeladen. Wie du siehst, habe ich bereits gesellschaftliche •Kontakte. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen.
Wenn Sonntag das Wetter schön ist, will ich am Fluß entlang nach Grantchester wandern. Dann tu ich so, als sei ich Virginia Woolfauf dem Weg zu Rupert Brooke. Wir trinken dann Tee im Garten der Old Vicarage und diskutieren über wichtige Dinge: über Poesie und Philosophie und das Leben.
Liebste Mutter, ich habe mich noch gar nicht richtig bedankt. Du hast mich zur Arbeit angetrieben, wenn ich müde und übellaunig war; Du hast mich ermutigt, wenn ich einen Rückschlag nicht verwinden konnte. Wären deine Weitsicht und Entschlossenheit nicht gewesen, wäre ich vermutlich hinter der Ladentheke einer Apotheke anstatt hier an diesem herrlichen Ort gelandet. In ein paar Tagen schreibe ich Dir meinen Stundenplan.
Deine Dich liebende ... Lydia