Ich stehe hier für die Vernunft, unbesiegbar, tadellos und ewig, für Sicherheit, Vorschrift, Pflastersteine, Straßenlampen, Polizei, für Luxushäuser reihenweise. Stehe für gesunden Geist, Komfort, Zufriedenheit, für Wohlstand und Zylinderhüte, Alkohol, steife Krägen, Fleisch ...
Rupert Brooke aus der Satire >John Rump<
Kit stemmte sich gegen den Wind, die Hände in den Taschen, den Kopf in den Kragen seiner Jacke eingezogen wie eine Schildkröte. Die Luft roch penetrant nach Regen, und obwohl es erst wenige Minuten nach vier Uhr war, war es bereits so dämmrig, daß sich die Straßenbeleuchtung eingeschaltet hatte.
Kit kümmerte weder das naßkalte Wetter noch die frühe Dunkelheit. Er war froh über die Gelegenheit, aus dem Haus zu kommen - die er sich unter dem Vorwand verschafft hatte, vom Supermarkt am Rand der kleinen Siedlung die Lieblingskekse seiner Großmutter zu besorgen.
Eugenia war voller Skepsis gewesen, und in seiner Verzweiflung hatte er zu einer List gegriffen. Mit falschem Lächeln hatte er gesagt: »Bitte, Großmutter! Dauert nur ein paar Minuten, dann hast du deine Orangenkekse zum Tee - und es geht dir gleich viel besser.«
Er wartete mit angehaltenem Atem, das Lächeln gefroren, bis sich die Falten über ihrer Nasenwurzel glätteten und sie das malvenfarbene Bettjäckchen seufzend fester an ihrem Hals zusammenzog.
»In Ordnung. Aber nicht trödeln, Christopher. Vergiß das nicht. Du sollst deinem Großvater Tee kochen, wenn er nach Hause kommt. Ich kann mich schließlich nicht um alles kümmern«, fügte sie hinzu. Kit beherrschte sich mühsam. Sein Großvater hatte Eugenia bedient und gepflegt, seit Kit im Haus war, und sie doch nie zufriedengestellt oder länger von der Schachtel ablenken können, die immer neben ihrem Bett stand. Sie enthielt Souveniers aus der Kindheit seiner Mutter, Zeugnisse und Fotos, Kreidezeichnungen, Medaillen von Rechtschreibwettbewerben und ein Stückchen Spitze von einem Partykleid.
»Selbstverständlich, Großmutter«, erwiderte er im Brustton der Überzeugung. »Ich kümmere mich um alles.«
»Hol mir meine Handtasche aus dem Wohnzimmer. Ich gebe dir ein Pfund. Mehr brauchst du nicht. Und ich erwarte, das Wechselgeld nachgezählt zu bekommen.«
Eugenia sank in die Kissen zurück und schloß die Augen. Es sah aus, als habe sie die kleine Ansprache völlig erschöpft. Kit tat, was sie von ihm verlangte, bevor sie ihre Meinung ändern konnte. Sie war allerdings nicht so schwach, daß sie die Henkel ihrer Handtasche auch nur einen Moment aus der Hand gegeben hätte. Hatte sie kein Vertrauen zu ihm? Glaubte sie, er würde den Rest in die eigene Tasche stecken, wenn man ihm eine Pfundnote anvertraute?
Seit der Beerdigung am Vortag hatte sie zu Kits - und dieser vermutete, auch seines Großvaters - großer Erleichterung, das Bett gehütet. Der Großvater und er hatten endlos in der Küche Karten gespielt. Eine Zeitlang hatte die ruhige, selbstzufriedene Gegenwart des Großvaters den Druck auf seiner Brust erleichtert. Heute jedoch war Bob Potts mittags in sein Versicherungsbüro gerufen worden. In der Abwesenheit ihres Mannes war Eugenia immer gereizter geworden, hatte so lange wegen Nichtigkeiten an Kit herumgenörgelt, bis er am liebsten laut geschrien hätte.
Seine Schritte wurden jetzt langsamer. Er hatte die Reihen flacher Backsteinhäuser passiert. Er wußte, daß der Tesco-Supermarkt am Ende der Straße bereits zu sehen sein mußte, aber er starrte beharrlich weiter auf die Spitzen seiner Joggingschuhe und schlurfte über das Pflaster. Der Schnürsenkel seines rechten Schuhs hatte sich gelöst, und als er niederkniete, um die Schuhe zu binden, fiel ihm ein, wie oft seine Mutter ihn wegen der Schnürbänder ermahnt hatte.
Plötzlich sah er sie lebhaft vor sich. Sah, wie sie sich das Haar mit resigniertem Lächeln aus der Stirn strich. Kit erstarrte, ein Knie gebeugt, die Hände bewegungslos über den losen Enden der Schuhbänder, und hatte Angst, die geringste ' Bewegung seinerseits könne ihr Bild zerstören.
»Du brichst dir eines Tages den Hals, Kit. Du wirst noch an mich denken«, sagte sie lachend. Es war ein stehender Ausdruck zwischen ihnen gewesen, ein Witz über all die unlogischen Dinge, die Mütter zu ihren Kindern sagen. Als sie die Hand ausstreckte, um ihm durchs Haar zu fahren, verschwand das Bild, und er fühlte nur noch den Wind.
Ein stechender Schmerz fuhr ihm in die Brust, und er schluchzte auf. Seine so mühsam bewahrte Beherrschung war im Eimer. Warum sie? Warum nicht er? Dann müßte er jetzt nicht hier sein, mit diesem Kloß in der Brust, der mehr war, als er ertragen konnte. Kit preßte das Gesicht auf sein Knie und weinte.
Zuerst schien das leise Rauschen vom Blut zu kommen, das in seinen Schläfen pochte. Dann wurde ihm allmählich klar, daß es sich um ein von ihm losgelöstes Geräusch handelte.
• Sein Schluchzen verebbte. Er horchte. Der Wind war es nicht ... der Wind wehte stetig, wie ein leises Stöhnen knapp unterhalb der Wahrnehmungsgrenze. Er sah auf, rieb sich das Gesicht. In diesem Moment traf ihn der Regen wie eine Dusche, prasselte wie tausend Nadelstiche auf ihn nieder und durchweichte seine Sachen in Sekunden bis auf die Haut.
Kit schoß wie ein Sprinter aus den Startblöcken hoch und rannte blindlings los, um sich irgendwo unterzustellen. Er hörte am Klang seiner Schritte, daß er den geteerten Parkplatz des Supermarkts erreicht hatte. Dann tauchte das Tesco-Zeichen vor ihm auf. Er erkannte blitzschnell, daß die Rückseite des Gebäudes näher war, schwenkte in Richtung der Mülleimerreihen ein und zwängte sich zwischen die Stapel leerer Kartons. Hier hielt das Vordach über der Laderampe den schlimmsten Regen ab. Keuchend lehnte er sich gegen die feuchte Pappe.
Nach kurzer Verschnaufpause strich er sich das nasse Haar aus der Stirn und starrte an sich hinunter. Er war klatschnaß. Die Großmutter würde ihn umbringen. Im Geiste hörte er bereits ihr Genörgle: >Christopher, warum hast du dich nicht untergestellt? Warum bist du so gedankenlos? Und schau dir an, was du gemacht hast ... Mein Teppich ist ruiniert<.
»Blöde alte Schachtel!« entfuhr es ihm gepreßt. Das gefiel ihm. Er saugte seine Lungen voll Luft und brüllte in den Regen: »Blöde Schachtel! Dumme Kuh!« Aber der Wind verschlang die Schreie. In seiner Nähe hörte er ein anderes Geräusch. Ein Kratzen zwischen den Kartons. Dann ein Fiepen. Er horchte, kniete nieder, hob den nächstbesten umgestürzten Karton hoch. Zwei schwarze Knopfaugen starrten ihn an. Der kleine Hund jaulte auf und zuckte vor ihm zurück.
»Ist ja gut«, murmelte Kit. »Ich tu dir doch nichts. Du bist auch naß. Und dir ist kalt, was Hündchen?« Er redete in leisem Singsang unaufhörlich weiter, sagte jeden Blödsinn, der ihm einfiel, und streckte dem kleinen Tier die Handfläche hin. Der Hund hatte ein struppiges, graubraunes Fell - Kit tippte auf eine Terriermischung und ahnte, daß sich unter dem drahtigen Haarpelz nichts als Haut und Knochen verbargen-
Nach einigen Minuten kroch der Hund langsam auf dem Bauch vorwärts und leckte Kits ausgestreckte Finger. »Gutes Hündchen. Braves Hündchen«, flüsterte Kit und drehte die Hand, bis er ihm das Ohr kraulen konnte. Dann berührte er vorsichtig seinen Rücken. Das Tier zuckte zusammen, verharrte jedoch zitternd an derselben Stelle. »Was soll ich nur mit dir machen?« überlegte Kit ernst, als erwarte er eine Antwort. »Hier kannst du nicht bleiben - ohne ein Dach über dem Kopf und ohne Fressen.« Er hörte auf, den Hund zu streicheln, während er nachdachte. Das Tier wandte den Kopf und stupste ihn mit der Nase an, um ihn aufzufordern weiterzumachen.
Bei der Berührung der kalten Hundeschnauze faßte Kit einen Entschluß. Er grub in seiner Jackentasche nach der Schnur, mit der ihm sein Großvater am Vormittag Schnurspiele beigebracht hatte. Es war nur ein notdürftiger Ersatz für Halsband und Leine, aber es mußte genügen.
Cambridge 21. Mai 1970
Liebste Mami,
ist es nicht seltsam, welche Affinität man zu gewissen Orten entwickelt? Während des Monats mit Dir und Nan habe ich mich davor gefürchtet, nach Cambridge zurückzukehren und die Scherben meines Lebens zu kitten. Es schien mir, als sei allein unser Häuschen mein Zuhause, und ich wünschte mir nichts sehnlicher als das tröstliche Alltagskorsett Eures häuslichen Lebens. Was es zum Tee geben soll ... was im Garten getan werden muß ... welcher Roman aus der Bibliothek geliehen werden soll ... all das ergibt ein überschaubares, beherrschbares Universum.
Aber die ganze Zeit fühlte ich den Drang zu schreiben stärker werden, so unabänderlich wie das Aufsteigen der Säfte im Frühling. Ich muß schreiben, komme, was wolle. Es macht mich zu dem, was ich bin, und dazu muß ich auf eigenen Beinen stehen, so wackelig diese auch sein mögen.
Aber all das hast Du längst gewußt, stimmt’s, Mami? Du hast mir einen kleinen, sanften Schubs gegeben, bis ich mir selbst darüber klarwurde. Das komische ist, seit ich wieder hier in diesem Haus bin - das ich so voller Gespenster wähnte - fühle ich mich zu Hause. Durch einen unerfindlichen Fingerzeig des Schicksals ist es nicht länger Morgans Haus, nicht einmal Morgans und Lydias Haus, sondern meins. Und es ist so angenehm vertraut.
Ich versuche alles so einfach wie möglich zu halten. Ein eiserner Tagesplan aus Hausarbeit, Lesen und Schreiben hält die düsteren Schatten in Schach.
Bislang gehe ich kaum unter Menschen. Ich bin für ihre Fragen noch nicht bereit. Nathan und Jean hatten mich zum Abendessen eingeladen und mir das Gefühl gegeben, nie fort gewesen zu sein. Wir haben uns über normale und unverfängliche Dinge unterhalten - über Allisons Windeln und die besten Zutaten für Linsensuppe. Jean ist wieder schwanger.
Du hast nach Adam gefragt. Er ist wie üblich rührend besorgt, aber ich fühle den drängenden Wunsch, der dahintersteht, und ich fürchte, das ist mehr, als ich geben kann. Ich kann es mir nicht leisten, mich je wieder an einen Mann zu verlieren, für unverbindliche Romanzen fehlt mir die Kraft, und ich scheue das Risiko.
Deine Dich liebende Lydia