* 9

 

... Glaubst du an einen fernen Ort, irgendwo, Saum der Wüste, letzte Scholle, die wir kennen, die karge letzte Grenze unsres Lichts, wo wartend ich dich finde; und wir gemeinsam wandern, wieder Hand in Hand, hinaus in unbekannte Weiten, in die Nacht?

 

Rupert Brooke aus >Die Wanderer<

 

Kincaid warf den Rest seiner Büroarbeit in den Ablagekorb, sah auf seine Uhr und gähnte. Es war erst halb sechs. Der Montag galt gemeinhin als der längste Wochentag, aber dieser trostlose Dienstag hatte den Vortag an Langeweile weit übertroffen. Er war froh, nach Hause zu kommen.

  Er mußte nur noch auf Gemma warten, die unterwegs war, um letzte Informationen in einem Fall zu sammeln, der so gut wie gelaufen war. Wenigstens hat sie das Glück, aus dem verdammten Büro rausgekommen zu sein, dachte er, schaukelte auf dem Stuhl und reckte sich. Das Telefon klingelte. Er griff faul nach dem Hörer und erwartete, Gemmas Stimme zu hören. »Kincaid«, meldete er sich und klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter, um weiter den Schreibtisch aufzuräumen.

  »Duncan? Alec Byrne hier.« Die Verbindung war schlecht, und die Lautstärke schwankte. »Tut mir leid - aber das Mobiltelefon ist nicht in Ordnung. Jetzt wird’s besser«, ertönte Byrnes Stimme klar und deutlich. »Hör zu, Duncan ...«

  Er klang zögerlich, beinahe zaghaft. Amüsiert sagte Kincaid: »Was gibt’s, Alec? Hast du deine Meinung geändert? Was den Fall Lydia Brooke betrifft?«

  »Nein, Duncan. Tut mir leid ... Aber ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten.«

  Kincaid kippte mit dem Stuhl wieder in die Waagerechte. »Wovon redest du, Alec?« Er konnte sich nicht erinnern, daß Alec je einen Hang zu schlechten Witzen gehabt hatte.

  »Ich bin zufällig in der Einsatzzentrale gewesen, als der Anruf kam, und bin gleich persönlich rausgefahren. Der Name kam mir bekannt vor. Hieß nicht deine Ex-Frau Victoria McClellan?«

  Kincaid kannte diese Art der Formulierung nur zu gut. Sein Herz setzte plötzlich mehrere Schläge aus. »Was meinst du mit >hieß<?«

  »Tja, Duncan. Sie ist tot. Die Ärzte tippen auf Herzinfarkt. Sie konnten nichts mehr für sie tun.«

  Der Raum begann sich um Duncan zu drehen. Byrnes Stimme klang wie von weither. Erst allmählich erfaßte er den Sinn seiner Worte.

  »Duncan, alles in Ordnung?«

  »Das muß ein Irrtum sein, Alec«, brachte Kincaid schließlich gepreßt unter der Zentnerlast heraus, die plötzlich auf seiner Brust lastete. »Es muß sich um eine andere Victoria McClellan handeln ...«

  »Eine Englischprofessorin, die in Grantchester lebt?« sagte Byrne mit zögernder Sicherheit. »Tut mir leid, mein Freund. So viele Zufälle gibt’s doch gar nicht. Kannst du mir sagen, wie wir ihren Mann erreichen ...«

  Es war unmöglich. Byrne täuschte sich. Es muß eine dumme Verwechslung sein, dachte Kincaid. Und dann hörte er sich sagen: »Bin schon auf dem Weg.« Byrnes Stimme drang noch immer schwach aus dem Hörer, als Kincaid auflegte.

  Während er im Korridor mit seinem Jackett kämpfte, stolperte er Chief Superintendent Childs in die Arme.

  »Na, wollten Sie sich heimlich in die nächste Kneipe absetzen?« fragte Childs und richtete ihn an den Schultern wieder auf. Dann sah er Kincaids Miene. »Duncan, ist mit Ihnen alles in Ordnung? Sie sind ja leichenblaß, Mann!«

  Kincaid schüttelte den Kopf und entwand sich Childs’ Griff. »Ich muß los!«

  »Warten Sie, Junge.« Childs bekam ihn erneut zu fassen. »Was ist los?« fragte er und baute sich vor dem benommenen Kincaid auf. »So kommen Sie mir nicht davon!«

  »Es ist wegen Vic«, brachte Kincaid mühsam heraus. »Meine Frau ... Ex-Frau. Sie sagen, sie sei tot. Ich muß da sofort hin.«

  »Wohin?« fragte Childs prompt.

  »Cambridgeshire.«

  »Wo ist Gemma? Sie sehen nicht aus, als seien Sie fahrtüchtig.«

  »Schon in Ordnung«, sagte Kincaid, entwand sich erneut dem Griff seines Vorgesetzten und sprintete zum Lift.

  Selbst in seinem Schockzustand war ihm klar, daß Childs recht hatte. Es war Unsinn, bei schlechtem Wetter mit dem Midget nach Cambridge zu rasen. Er nahm sich den erstbesten Wagen aus der Bereitschaft, einen neuen Rover mit starkem Motor.

  Auf dem Weg nach Cambridge wiederholte er im Rhythmus der Reifen auf dem nassen Asphalt der Autobahn, was er nicht glauben wollte: Es kann nicht Vic sein. Vic kann nicht an einem Herzinfarkt gestorben sein - sie ist zu jung. Es kann nicht Vic sein.

  Eine kleine Stimme der Vernunft meldete sich aus dem Hintergrund seines Bewußtseins und erinnerte ihn daran, daß er und Vic fast vierzig, also nicht mehr ganz so jung waren. Einige Monate zuvor war die Frau eines Kollegen, jünger als Vic, plötzlich an einem Aneurysma, einer krankhaften Arterienerweiterung, gestorben.

  Also gut, es kommt vor. Natürlich passiert so was. Aber nicht mir. Nicht Vic.

  Sein Panzer begann zu bröckeln, als er die Ausfahrt Grantchester erreichte. Er umfaßte das Steuerrad fester, um das Zittern zu unterbinden, und versuchte, überhaupt nicht mehr zu denken.

  Er sah das Blaulicht der Einsatzfahrzeuge, als er in die High Street einbog. Zwei Streifenwagen parkten am Straßenrand vor Vics Cottage, aber eine Ambulanz war nirgends zu sehen. Kincaid stellte den Rover in der Kieseinfahrt ab, wo er schon Sonntag geparkt hatte. Sonntag, dachte er. Am Sonntag war mit Vic noch alles in Ordnung gewesen.

  Langsam stieg er jetzt aus dem Wagen und schlug die Tür zu. Seine Knie waren wie Pudding, als er unsicher über den Kies ging, und er atmete tief ein und aus, um des Schwindelgefühls Herr zu werden. Die Haustür ging auf, und eine dunkle Gestalt zeichnete sich gegen das Licht im Flur ab. Vic? Nein, nicht Vic. Alec Byrnes Schritte knirschten auf dem Kies, als er auf ihn zukam.

  Byrne berührte seinen Arm. »Duncan. Du hättest den weiten Weg nicht zu kommen brauchen. Wir haben alles im Griff.«

  »Wo ist sie?«

  »Sie haben sie schon ins Leichenschauhaus gebracht«, antwortete Byrne leise. Er musterte Kincaid prüfend. »Komm, wir machen dir jetzt erst mal ’ne Tasse Tee.«

  Leichenschauhaus. Noch nicht. Er konnte den Gedanken noch nicht akzeptieren. Noch nicht.

  Kincaid ließ sich ins Haus und ins Wohnzimmer führen, während der unbeteiligte Teil in ihm daran dachte, wie komisch es für ihn war, einmal der umsorgte Part in einem Fall zu sein. Byrne schob ihn sanft zum Sofa, ein weiblicher Constable brachte ihm heißen, süßen Tee. Er trank gehorsam und durstig. Dann, nach einigen Minuten, begann sein Denkvermögen wieder zu funktionieren.

  »Was ist passiert?« fragte er Byrne. »Wo war sie? Bist du sicher, daß ...«

  »Ihr Sohn hat sie in der Küche gefunden, als er vom Sport nach Hause kam. Bewußtlos, vielleicht auch schon tot - das wissen wir nicht sicher.«

  »Kit?«

  »Du kennst den Jungen?« fragte Byrne. »Wir konnten den Vater noch nicht erreichen, und es sollte jemand bei ihm sein, den er kennt.«

  Kit, großer Gott! Er hatte nicht an Kit gedacht. Und Kit hatte sie gefunden. »Wo ist er?«

  »In der Küche bei Constable Malley. Schätze, sie hat ihm auch Tee gekocht.«

  »In der Küche?« wiederholte Kincaid, und alles, was er verdrängt hatte, war plötzlich wieder da. Lydia Brooke tot aufgefunden in ihrem Arbeitszimmer. Todesursache offenbar Herzversagen. Irgendeine schriftliche Nachricht, die auf Selbstmord gedeutet hätte, gab es nicht. Kerzen und Musik und Gartenkleidung. Er stand auf. »Was ist mit der Spurensicherung? Weshalb wird das Haus nicht gründlich untersucht?«

  Byrne sah ihn skeptisch an. »Ich sehe keinen Grund dafür. Unter den Umständen ...«

  »Du kennst die Umstände doch gar nicht!« schrie Kincaid ihn unvermittelt an und bemühte sich sofort, seine Stimme zu dämpfen. »Sie sollen nichts anfassen, bis wir den Obduktionsbefund haben. Der Himmel weiß, was schon verpfuscht worden ist.« Seine Wut war wie eine Erlösung, brannte sich eine saubere Bahn durch den Nebel in seinem Gehirn.

  »Hör mal, Duncan«, begann Byrne und baute sich vor ihm auf. »Mir ist klar, daß du durcheinander bist. Aber das hier ist nicht dein Fall. Und ich führe eine Routineuntersuchung in einem normalen Todesfall durch. Und zwar so, wie ich es für richtig ...«

  Kincaid stieß ihm seinen Zeigefinger gegen die Brust. »Und was ist, wenn du dich irrst, Alec? Kannst du’s dir leisten, einen Fehler zu machen?«

  Sie starrten sich an. Beide rot im Gesicht. Nach einem Moment entspannte sich Byrne und sagte: »Also gut. Du sollst deinen Willen haben. Wir haben schließlich nichts zu verlieren.«

  »Ich rede jetzt mit Kit«, erklärte Kincaid. »Und du hältst uns die anderen vom Leib.«

  Kit saß zusammengesunken auf einem Küchenstuhl, mit dem Rücken zu Kincaid, ihm gegenüber ein weiblicher Constable.

  »Wir haben die Großeltern benachrichtigt«, flüsterte Byrne in Kincaids Ohr, als sie auf der Schwelle standen. »Sie sind auf dem Weg hierher.«

  »Vics Eltern?«

  »Ja. Ihre Mutter war ziemlich ... aus dem Leim.« Byrne machte dem Constable ein Zeichen. Sie stand auf und trat zu ihnen. »Wir warten im Wohnzimmer«, sagte er zu Kincaid. Damit gingen sie hinaus und machten die Tür zu.

  Der Raum wirkte wie immer, völlig unberührt von dem, was in ihm geschehen war. Kincaid ging um den kleinen Tisch herum und setzte sich auf den Stuhl, den die Polizistin verlassen hatte. »Hallo, Kit.«

  Der Junge sah auf. »Du bist gekommen«, sagte er mit fast entrücktem Erstaunen. Sein Gesicht war vor Schock so ausdruckslos, daß Kincaid ihn auf der Straße vermutlich nicht erkannt hätte.

  »Ja.«

  »Ich konnte sie nicht wach kriegen«, sagte Kit, als setze er eine unterbrochene Unterhaltung fort. »Ich dachte, sie schläft, aber ich hab sie nicht wach gekriegt. Ich habe in angerufen.« Die Teetasse vor ihm war unberührt.

  »Ich weiß.« Kincaid streckte die Hand aus. Die Tasse war eiskalt. Er nahm sie, goß den Inhalt in den Ausguß und machte sich daran, frischen Tee für sie beide zu kochen. Kit beobachtete ihn teilnahmslos.

  Als der Kessel kochte, gab Kincaid eine großzügige Portion Zucker in Kits Tee und fügte soviel Milch hinzu, daß er noch warm, aber schon trinkbar war. Dann kehrte er mit beiden Tassen zum Tisch zurück und schob Kit eine davon zu. »Trink deinen Tee.«

  Kit hob die Tasse mit beiden Händen und trank sie aus, ohne abzusetzen, wie ein kleines Kind. Kincaid sah ihm zu. Nach einigen Minuten kam wieder etwas Farbe in Kits Wangen.

  »Du hast nach der Schule heute noch Sport gehabt?« fragte Kincaid und trank einen Schluck Tee.

  Kat nickte. »Laufen. Ich trainiere für die 500 Meter.«

  »Bist du zu Fuß nach Hause gegangen?«

  Er schüttelte den Kopf. »Zu weit. Ich fahre mit dem Fahrrad. Meistens.«

  »Und wann bist du heute nach Hause gekommen?« Die Frage rutschte ihm einfach so raus, denn er hatte das dringende Bedürfnis, die Details wie Stützen anzulegen, vielleicht ein Gerüst zu bauen, das sie beide tragen konnte.

  »Gegen fünf. Wie üblich.«

  »Erzähl mir, was dann passiert ist.«

  Kit scharrte ruhelos mit den Füßen. »Sie war nicht in ihrem Arbeitszimmer, also habe ich im Wohnzimmer nachgesehen. Wir hatten gestern Monopoly angefangen, und sie hatte versprochen, daß wir weiterspielen, wenn ich nach Hause komme.«

  Kincaid hatte das Spiel registriert, ohne es wirklich wahrzunehmen. Es hatte auf dem Wohnzimmertisch, ganz an der Seite, gestanden. »Und was war dann?« Vorsichtig, vorsichtig! Aber er mußte es wissen.

  Keine Antwort. Die Stille dauerte so lange, daß Kincaid schon glaubte, der dünne Draht zu dem Jungen sei abgerissen. Dann stieß Kit heftig hervor: »Die haben mir nicht geglaubt.«

  »Haben was nicht geglaubt?« fragte Kincaid stirnrunzelnd.

  »Ich hab jemanden gesehen. Ich bin in die Küche gekommen und habe aus dem Fenster geguckt. Bevor ich Mum ...« Sein Blick schweifte ab.

  Kincaid wußte, was er nicht aussprechen konnte. »Was hast du vorher gesehen? Als du aus dem Fenster geschaut hast?«

  »Eine Gestalt. Eine dunkle Gestalt. Bei der Gartentür unten am Grundstück. Dann habe ich gar nicht mehr daran gedacht.«

  Kincaids Puls ging schneller. »Eine männliche oder eine weibliche Gestalt?«

  »Keine Ahnung!« Zum ersten Mal schien Kit den Tränen nahe. »Es ging so schnell ... wie ein Blitz. Aber ich hab’s gesehen. Ich weiß, daß ich’s gesehen hab. Warum hören die nicht auf mich?«

  »Ich glaube dir«, erklärte Kincaid mit wachsender Überzeugung.

  Kit sah ihm in die Augen. »Wirklich?«

  Die Tür ging auf, und Byrne schaute herein. Er machte Kincaid ein Zeichen, zu ihm in den Flur zu kommen.

  »Bin gleich wieder da«, sagte Kincaid zu Kit und ging hinaus.

  »Heute abend können wir hier nichts mehr ausrichten«, erklärte Byrne. »Würdest du auf die Großeltern warten?«

  Nein, nur das nicht, dachte Kincaid. Sich mit Vics Eltern auseinanderzusetzen, war eine Pflicht, die er freiwillig nie übernommen hätte. Allerdings konnte er Kit auch nicht allein lassen. »In Ordnung«, antwortete er. »Ich warte. Alec, du hast mir nicht gesagt, daß Kit jemanden im Garten gesehen hat.«

  Byrne zuckte die Schultern. »Er hat zusammenhangloses Zeug geredet, der arme Junge. Hat sich alles mögliche eingebildet.«

  »Er redet jetzt aber gar kein zusammenhangloses Zeug. Und er ist glaubhaft, Alec. Schick lieber die Spurensicherung her. Gleich morgen früh.« Als er Byrnes abwehrende Haltung sah, fügte er hinzu: »Für alle Fälle. Es zahlt sich immer aus, auf Nummer Sicher zu gehen, Alec. Und bete zu Gott, daß es heute Nacht nicht regnet.«

  Schließlich sagte Byrne widerwillig: »Also gut. Ich habe übrigens mit dem Pathologen telefoniert. Er kann die Obduktion erst morgen nachmittag durchführen. Willst du da-beisein?«

  Kincaid schüttelte den Kopf und antwortete barsch: »Nein.« Nicht das, noch nicht. Der Gedanke war unerträglich.

  »’tschuldige«, murmelte Byrne. »War taktlos von mir. Hör zu, Duncan. Die ganze Sache tut mir aufrichtig leid.« Er zuckte die mageren Schultern. »Ich rufe dich nach der Obduktion an.«

  Kincaid, dem die Worte im Hals steckenblieben, nickte nur.

  »Wir haben noch immer keine Ahnung, wie wir den Ehemann erreichen können. Kannst du vielleicht was aus dem Jungen rauskriegen? Oder ihren Eltern? Wir versuchen es morgen in seinem College.« Byrne zog eine Grimasse. »Verdammt unangenehme Geschichte.«

  Sie verabredeten einen Ort, wo Kincaid die Schlüssel zum Haus deponieren sollte, dann trat Byrne mit kaum verhohlener Erleichterung den Rückzug an. Kincaid sah ihm nach, wie er, gefolgt von den anderen Beamten, abfuhr, dann kehrte er ins Haus zurück.

  In der Küche saß Kit, als habe er sich während Kincaids Abwesenheit nicht bewegt. Wortlos durchsuchte Kincaid Schränke und Kühlschrank nach etwas Eßbarem. Er fand Brot und Käse und hatte kurz darauf ein Käse-Sandwich mit Butter und Pickles gemacht. Er faßte so wenig wie möglich an, begnügte sich mit einem Messer aus der Schublade und einem Stück Küchenpapier von der Rolle unter dem Hängeschrank. Für die Spurensicherung war schon fast alles verpfuscht, aber er sah keinen Grund, es noch schlimmer zu machen.

  Er legte das Sandwich vor Kit auf den Tisch und setzte sich ihm gegenüber. »Ich weiß, du glaubst, daß du nichts runterkriegst«, begann er. »Aber es ist wichtig, daß du ißt. Versuch’s mal.«

  Einen Augenblick sah es so aus, als wollte Kit protestieren, aber dann biß er lustlos in das Brot. Er kaute zuerst mechanisch, dann schien er zu merken, daß er Hunger hatte, und er verschlang den Rest. »Ich hasse Pickles«, erklärte er, als er den letzten Bissen vertilgt hatte.

  »Tut mir leid«, seufzte Kincaid. »Das nächste Mal weiß ich’s besser.«

  »Bleibst du?« fragte Kit mit einem Funken Hoffnung in den Augen.

  Kincaid schüttelte den Kopf. »Nur bis deine Großeltern dich holen.«

  »Ich gehe nicht weg«, erklärte Kit heftig. »Ich hasse sie. Ich will hierbleiben.«

  Kincaid schloß die Augen und wünschte sehnsüchtig, Gemma wäre da. Sie würde wissen, was zu tun war. Sie würde auf ihre sanfte, praktische Art sagen: »Komm, Schatz, wir packen deine Sachen.« Sie würde vielleicht den Arm um Kit legen, sein Haar zerzausen. Alles Dinge, die Kincaid nicht wagte.

  Er blinzelte und sagte: »Du kannst nicht hierbleiben, Kit. Soviel ich weiß, sind deine Großeltern dein gesetzlicher Vormund. Außerdem versuchen wir deinen Vater zu erreichen. Hast du eine Idee, wo wir ihn finden können?«

  Kit schüttelte ungeduldig den Kopf. »Nein, das habe ich ihnen schon gesagt. Er hat uns nie geschrieben. Mum hatte nicht mal eine Adresse.«

  »Wir finden ihn«, versprach Kincaid. »Er muß schließlich im College eine Adresse hinterlassen haben. Aber bis dahin bleibst du in Reading bei deinen Großeltern. Du willst doch sicher nicht, daß deine Großmutter deine Sachen packt, oder?« Er grinste Kit mit Verschwörermiene an, und nach einem Moment lächelte Kit widerwillig zurück.

  »Also gut. Aber ich bleibe nur einen Tag. Ich kann da überhaupt nichts machen, und sie lassen mich nicht mal fernsehen.«

  Kincaid verkniff sich jeden Kommentar. Er erinnerte sich nur zu gut an den sterilen Haushalt in Reading. Trost würde ein unglückliches Kind dort vergeblich suchen. Er ging mit Kit zum Fuß der Treppe, und als Kit zögerte, sagte Kincaid: »Ich komme gleich nach, ja?«

  Er beobachtete, wie Kit die Treppe hinauf verschwand, und von seinem Blickwinkel aus schien der Junge nur aus großen Füßen und langen Beinen zu bestehen. Dann drehte er sich um und schlenderte den Korridor entlang in Vics Arbeitszimmer. Beinahe erwartete er, sie auf ihrem Platz am Computer zu entdecken, und merkte, daß er das Unwiederbringliche noch nicht begriffen hatte. Er konzentrierte sich darauf, sich alles einzuprägen, wie das seine Art war.

  Etwas an ihrem Zimmer kam ihm seltsam vor. Er sah sich weiter um, ohne etwas zu berühren. Dann wußte er, was es war. Am Sonntag war ihr Schreibtisch mit Büchern und Papieren übersät gewesen. Alles hatte nach einem durchaus organisierten Chaos ausgesehen, in dem jedes Ding seinen angestammten Platz hatte. Wo waren die Bücher jetzt? Hatte sie sie weggeräumt? Eines lag mit der Vorderseite nach unten auf dem Boden, seine Seiten waren umgebogen. Vic war geradezu peinlich ordentlich gewesen - sie hätte ein Buch nie so liegenlassen.

  Es sei denn, sagte die unbeteiligte Stimme in ihm, sie hatte sich nicht wohl gefühlt und das Buch von seinem Platz gerissen, als sie aufgestanden war, um sich vielleicht in der Küche ein Glas Wasser zu holen.

  Das wäre eine logische Erklärung, sagte er sich und verdrängte die Gedanken an eine Vic, die krank war, Schmerzen und Angst litt, allein war. Er ignorierte also die Stimme und fuhr mit der Begutachtung ihres Schreibtischs fort. Ein dicker Stapel Manuskriptseiten lag neben dem Computer. Er schloß die Augen und dachte daran, wie es am Sonntag ausgesehen hatte ... Der Stapel war geradezu militärisch gerade gewesen. Jetzt war er schief und krumm. Dann entdeckte er, daß die Reihenfolge der Seitennumerierung nicht mehr stimmte. Er dachte daran, wieviel Vic an ihrem Buch gelegen hatte, und er fühlte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten.

  Er empfand plötzlich Widerwillen bei dem Gedanken, ihr Manuskript hierzulassen, ungeschützt, für jeden einsehbar. Er sah sich nach etwas um, in dem er es transportieren konnte. Auf dem Boden lag eine leere Büchertasche aus Leder : Sie erfüllte den Zweck.

  Sorgfältig steckte er die losen Seiten in die Tasche. Dann begann er, wie von einem inneren Zwang getrieben, die alte Holzkiste zu durchsuchen, die Vic offenbar als Aktenablage benutzt hatte. Sie enthielt die Original-Unterlagen für die Biographie, Briefe in einer ihm fremden energischen Handschrift und Vics Notizen, Fotos und sogar ein paar Postkarten. Er steckte all das und was ihm unter den Dingen auf ihrem Schreibtisch sonst noch wichtig schien zum Manuskript in die Tasche, brachte sie zum Wagen hinaus und schloß sie in den Kofferraum ein.

  Wieder in Vics Arbeitszimmer, schaltete er kurz den Computer ein. Offenbar hatte Vic ihre Arbeit auf der Festplatte und nicht auf einer Diskette gespeichert. Aber er hatte keine Zeit, ihre Dateien ordnungsgemäß zu öffnen. Er hatte Kit schon zu lange allein gelassen. Er konnte daher nur hoffen, daß Vics Ausdrucke auf dem neuesten Stand waren.

  Kincaid war schon auf der Treppe, als ihm einfiel, daß er weder seine Notizen über Lydias Akte noch die Durchschläge der von Vic entdeckten Gedichte bei ihren Unterlagen gefunden hatte.

  Kit saß auf seiner Bettkante, eine offene Reisetasche zu seinen Füßen. Als Kincaid hereinkam, hob er den Kopf und sagte tonlos: »Ich weiß nicht, was ich mitnehmen soll.« Das Zimmer hätte das von Kincaid sein können, als er im selben Alter wie Kit gewesen war. Es war voller Bücher, Sportgeräte und Spielsachen. In einem Regal lagen unterschiedliche Vogelnester, in einem anderen eine Steinsammlung.

  Kincaid warf einen Blick in die Tasche und entdeckte auf dem Boden ein Sweatshirt und ein Paar Jeans. »Was ist mit einem Pyjama?« fragte er. »Zahnbürste? Bademantel?«

  Kit zuckte mit den Schultern. »Hm, stimmt. Ist alles im Badezimmer.«

  Er braucht Sachen, die er bei der Beerdigung tragen kann, überlegte Kincaid. Aber er braucht auch ein paar Tage, bevor er überhaupt daran denken kann. »Ich mach dir einen Vorschlag«, erklärte er. »Du holst deine Toilettensachen, und ich packe den Rest für dich. Okay?«

  »In Ordnung«, stimmte Kit zu. Als er gegangen war, eilte Kincaid zum Schrank. Ein Schulblazer, eine Krawatte, eine dunkle Hose, ein weißes Hemd. Das mußte reichen. Er fand ein Paar schwarze Schnürschuhe, die ganz unten in der Tasche verschwanden. Dann kamen die anderen Sachen, sorgfältig zusammengelegt, und darüber das Sweatshirt und die Jeans. Als nächstes packte er Socken und Unterhosen aus der Kommode, dann ein Cambridge-Sweatshirt. Kincaid ließ den Blick durch den Raum schweifen, entdeckte einen abgeliebten Teddy auf dem Regal über Kits Bett und steckte ihn zuoberst in die Tasche.

  Kit kam mit seinen Nacht- und Toilettensachen. Als Kincaid sie ihm abnahm, entdeckte er in den Falten des Bademantels den auberginefarbenen Pullover, den Vic am Sonntag getragen hatte. Er roch nach ihrem Parfüm und ihrer Haut.

  Ihre Blicke trafen sich, als sie neben der Tasche knieten, und nach einem kurzen Augenblick faltete Kincaid Vics langen Pullover zusammen und packte ihn wortlos ein.

  Kits Zimmer lag an der Frontseite des Hauses, und als sie den Reißverschluß seiner Tasche zuzogen, hörten sie Autoreifen über den Kies knirschen und das Schlagen einer Autotür.

  »Gerade noch geschafft, was?« seufzte Kincaid aufmunternd.

  »Nein.« Kit setzte sich auf die Fersen und zitterte fast vor Verzweiflung.

  Der Junge wirkte wie ein verängstigtes Kaninchen auf der Flucht, und Kincaid wußte, er mußte verhindern, daß Kit völlig die Beherrschung verlor. »Komm, Junge«, sagte er, stand auf und nahm die Tasche. »Ich bin direkt hinter dir. Wir machen das zusammen.«

  »Nein, warte! Ich habe Nathans Bücher vergessen. Ohne Nathans Bücher kann ich nicht gehen.« Kit nahm einen Stapel Bücher vom Nachttisch und stopfte sie in die schon pralle Tasche. Dann begleitete Kincaid ihn, die Hand auf seiner Schulter, die Treppe hinab.

  Kincaid hatte Vics Eltern seit dem Weihnachtsfest vor der Trennung nicht mehr gesehen, und er bezweifelte, daß Zeit oder Umstände die tiefe gegenseitige Abneigung gelindert hatten. Er und Kit empfingen sie an der Tür. Wobei Kincaid zumindest den Vorteil hatte, vorbereitet zu sein.

  Eugenia Potts Gesicht, bereits rot und geschwollen vom Weinen, verlor bei seinem Anblick vor Schreck jegliche Kontur. In Bob Potts nichtssagenden Zügen zeichnete sich lediglich andeutungsweise so etwas wie Überraschung ab. Kincaid fragte sich, ob der Mann überhaupt Gefühle hatte.

  »Hallo, Bob. Mrs. Potts.« Er hatte sich nur schwer überwinden können, Eugenia, und schon gar nicht, >Mutter< zu ihr zu sagen.

  »Du!« keuchte sie. »Was tust du hier?«

  Kincaid nahm den vorwurfsvollen Ton gelassen. »Die Polizei hat mich angerufen«, erwiderte er höflich. »Kommt erst mal rein.«

  »Das ist die Höhe! Welches Recht hast du, uns ins Haus unserer Tochter zu bitten?« Damit drängte sie sich an ihm vorbei. Ihre Stimme war schrill geworden. »Du gehörst hier nicht her. Und ich wäre dir dankbar, wenn ...« Dann sah sie Kit, der sich bislang hinter Kincaid verschanzt hatte, hielt inne und schlug sofort einen anderen Ton an. »Christopher, oh mein armer Liebling!« jammerte sie, riß ihn an sich und drückte seinen Blondschopf an ihren Busen.

  Kincaid sah, wie Kit ganz steif wurde und versuchte, sich von ihr zu befreien. Ein Klaps auf den Arm erinnerte ihn, daß er, wie üblich, Bob Potts vergessen hatte.

  »Danke, Duncan, daß du gekommen bist«, sagte Potts höflich. »Aber es ist nicht nötig, daß du bleibst. Gibt es etwas ... Ich meine, sollten wir ...«

  Kincaid beschlich plötzlich das Gefühl, den Mann vielleicht doch falsch eingeschätzt zu haben. Leise sagte er: »Nein, ihr könnt nichts tun. Nicht bis morgen zumindest. Dann ruft man euch sicher an. Die Polizei ist fieberhaft darum bemüht, Kits Vater aufzutreiben. Hast du eine Ahnung ...?«

  »Dieser Mann!« zischte Eugenia, die, nachdem sie Kit fast erdrückt hatte, den letzten Gesprächsfetzen aufgeschnappt hatte. »Er ist an alldem schuld. Wenn er sie nicht verlassen hätte, wäre das alles nicht passiert. Mein Baby würde noch leben ...«

  Kit wurde bleich. Er drehte sich um und lief weg.

  Kincaid platzte der Kragen. »Das reicht! Halt den Mund, bevor du noch mehr Schaden anrichtest!« Dann ließ er sie mit offenem Mund einfach stehen und rannte hinter Kit her.

  Er fand ihn im Wohnzimmer auf dem Fußboden, vor sich, in alle Richtungen zerstreut, die Einzelteile des Monopoly-Spiels. »Ich hab danach getreten«, sagte Kit und sah zu Kincaid auf. Tränen rannen ihm übers Gesicht. »Warum hab ich das getan! Ich war so wütend. Und jetzt ... jetzt krieg ich’s nicht mehr zusammen.«

  Kincaid kniete neben ihm nieder. »Ich helf dir.« Damit begann er, das Papiergeld in die Fächer zu ordnen. »Kit, kümmere dich nicht darum, was deine Großmutter sagt. Sie ist völlig von der Rolle. Du hast heute nachmittag alles richtig gemacht. Laß dich nicht unterkriegen.«

  »Warum muß sie immer so gemein sein?« Kit hatte Schluckauf. »Warum ist sie so gemein zu dir?«

  Kincaid seufzte. Er fühlte sich todmüde, und jedes Wort fiel ihm schwer. »Eigentlich will sie das ja gar nicht. Aber sie redet, bevor sie denkt. Versuch Geduld mit ihr zu haben.«

  »Du hattest aber gerade auch keine Geduld mit ihr«, konterte Kit. »Ich habe gehört, wie du gebrüllt hast.«

  »Stimmt«, gab Kincaid zu und grinste. »Ich bin da wirklich kein Vorbild.« Er hörte bereits mit halbem Ohr auf das Gemurmel im Korridor. Eugenias Stimme wurde immer lauter, während Bob sie offenbar zu beruhigen versuchte. Dann wurde die Haustür leise geschlossen. »Sie sind zum Wagen gegangen, glaube ich«, murmelte Kincaid und stülpte den Deckel über die Monopoly-Schachtel. »Komm jetzt. Ich bring dich raus.«

  Als sie die Veranda erreichten, stieg Potts aus dem Wagen und kam auf sie zu. »Ich muß mich für sie entschuldigen«, murmelte er. Die Lampe über der Tür spiegelte sich in seiner Brille, so daß Kincaid seine Augen nicht sehen konnte. »Ein Beruhigungsmittel und viel Schlaf, das braucht sie jetzt dringend.«

  Und was ist mit Kit? dachte Kincaid, schwieg jedoch. »Eugenia meint... das heißt, wir sind der Ansicht, das Haus sollte gut abgeschlossen werden. Den Schlüssel wollen wir behalten ...« stammelte Potts und rang die Hände. »Das heißt, falls es dir nichts ausmacht ...«

  Kincaid fischte den Schlüssel, den Byrne ihm gegeben hatte, aus der Tasche. »Ich hatte nicht vor, mit dem Tafelsilber durchzubrennen, Bob«, entgegnete er humorlos und hielt ihm den Schlüssel hin.

  »Nein, nein. So war das nicht gemeint. Ich wollte damit nur sagen ...« Potts machte eine hilflose Geste in Richtung Haus. »Würdest du ... könntest du vielleicht ... bevor du gehst ... Ich glaube nicht, daß ich im Augenblick noch einmal ins Haus zurück möchte.«

  Kincaid hatte begriffen. »Natürlich. Du wartest hier bei deinem Großvater, Kit. Ich bin sofort zurück.«

  Er ging hastig durchs Haus, schloß die Terrassentür im Wohnzimmer, dann die Küchentür und löschte alle Lichter. Dann nahm er Kits Reisetasche, die noch in der Diele stand, ging hinaus und schloß die Tür hinter sich ab.

  Bob und Kit warteten in der Auffahrt. Ihr Atem kondensierte in der windstillen, kalten Nachtluft. Kincaid drückte Vics Vater den Schlüssel in die Hand. »Alles in Ordnung. Fahrt jetzt lieber.«

  »Auf bald, Junge«, sagte er zu Kit und klopfte ihm auf die Schulter.

  Sie gingen die Einfahrt hinunter. Als Kit den Wagen erreichte, drehte er sich um, warf einen Blick zurück zu Kincaid, öffnete die Tür zum Rücksitz und verschwand im dunklen Inneren des Autos.

  Kincaid beobachtete, wie der Wagen auf die Straße abbog, sah, wie die Bremslichter an der Coton-Road-Kreuzung aufflammten, bevor er ganz aus seinem Blickfeld verschwand.

  Das Bewußtsein seiner Unzulänglichkeit drohte ihn plötzlich zu erdrücken, und er protestierte laut: »Was zum Teufel hätte ich denn tun können?«

  Die einzige Antwort war das Echo seiner Stimme, und erst dann, als er allein vor dem dunklen, leeren Haus stand, gestattete er sich zu akzeptieren, daß sie wirklich nicht mehr da war.

 

Ralph war der erste, der das lähmende Entsetzen überwand. »Aber wie ... wo ... ein Unfall?«

  Iris schüttelte den Kopf.

  »Offenbar nicht. Die Polizei nimmt an, daß sie einen Herzinfarkt erlitten hat. Mehr weiß ich nicht.«

  »Iris, ist mit dir alles in Ordnung?« erkundigte sich Darcy besorgt!

  Durch Darcys Frage aufgeschreckt, sprang Adam wie elektrisiert auf und half Iris auf ihren Stuhl.

  Sie sah dankbar lächelnd zu ihm auf. »Die Polizei hat Laura angerufen, und sie hat Enid gebeten, mich zu benachrichtigen. Natürlich muß Ian dringend informiert werden.«

  »Wer ist Ian?« fragte Adam.

  »Victorias Ehemann«, erklärte Darcy. »Anfang des Wintersemesters hat er sich nach Südfrankreich abgesetzt - mit einer appetitlichen Examensstudentin. Ohne Angabe einer Adresse.«

  »Darcy ...«, begann Margery, aber sie hatte nicht den Mut, ihn vor allen anderen zurechtzuweisen. Sie war tief betroffen. Das überraschte sie selbst. Sie war Victoria McClellan nur wenige Male bei Fakultätsveranstaltungen begegnet. Aber die junge Frau hatte sie immer ein wenig an sich selbst in diesem Alter erinnert.

  »Entschuldige, Mutter«, murmelte Darcy. »Die Macht der Gewohnheit, fürchte ich. Eine schreckliche Geschichte.«

  Iris war den Tränen nahe. »Ich weiß, es ist egoistisch von mir, überhaupt daran zu denken, aber für die Fakultät ist das ein schwerer Schlag. Wie sollen wir nur so schnell Ersatz für sie finden?« Sie schüttelte den Kopf. »Manchmal glaube ich, wir stehen unter einem schlechten Stern. Zuerst die schreckliche Sache mit dem armen Henry ...«

  »Sprechen wir heute abend bitte nicht darüber, Iris«, sagte Margery bekümmert.

  »Ich bin ihr begegnet ... Dr. McClellan, meine ich«, bekannte Ralph. »Habe ich dir das erzählt, Margery? Ich mochte sie sehr. Ich frage mich, was jetzt aus ihrer Biographie über Lydia Brooke wird?« Er fing den Blick seiner Frau auf und las einen Vorwurf darin. »Oh, tut mir leid. Das war ziemlich unpassend. Ich habe das nicht aus Geldgier gesagt. Ich war nur neugierig.«

  »Wir müssen gehen, Ralph«, sagte Christine liebevoll, »bevor du noch mehr ins Fettnäpfchen trittst. Wir könnten Sie mitnehmen, Iris. Die Nachricht hat Sie zu sehr mitgenommen. Sie sollten nicht Auto fahren.«

  Iris protestierte halbherzig. »Aber Enid braucht den Wagen morgen. Es ist ihr Einkaufstag.«

  »Dann fahren Sie mit mir«, schlug Christine vor. »Ralph kann Ihren Wagen fahren. Damit ist allen gedient.« Sie stand auf, und die anderen folgten ihrem Beispiel. Alle gingen in die Diele, murmelten Dankeschöns und Entschuldigungen.

  »Du kommst doch mal wieder, Adam, ja?« sagte Margery, als er sich verabschiedete und wie verloren in ihrer Diele stand. »Unter fröhlicheren Umständen.«

  Adam lächelte, und seine ehrliche Freude tat ihr gut. »Ja, gern. Jederzeit.«

  Nachdem sich die Haustür hinter ihren Gästen geschlossen hatte, gingen Margery und Darcy in stummem Einverständnis ins Wohnzimmer.

  »Mix mir bitte einen Drink, Darcy«, sagte Margery und sank in den Sessel am Kamin. »Und zwar einen großen.«

  »Sollte ich dich nicht lieber ins Schlafzimmer bringen?« erkundigte er sich besorgt. »Es war ein anstrengender Abend.«

  »Behandle du mich nicht auch noch wie ein Kind«, entgegnete sie ärgerlich. »Grace ist schon schlimm genug.« Sie starrte ihn wütend an, bis er seufzend zum Getränkewagen ging.

  »Du bist unmöglich«, sagte er und brachte ihr dennoch einen nicht zu knapp bemessenen Whisky.

  Margery war besänftigt. »Wenn ich nicht mehr allein ins Bett finde, hilft Grace mir. Da kannst du Gift drauf nehmen. Ehrlich gesagt, bin ich viel zu aufgewühlt, um an Schlaf zu denken.« Sie sah besorgt zu ihrem Sohn, der sich ebenfalls einen Whisky eingeschenkt hatte und auf das Sofa sank. »Die Frage, die mich bewegt, Darcy, ist, ob mit dir alles in Ordnung ist? Immerhin bist du derjenige, der von den Auswirkungen dieser ... dieser schrecklichen Geschichte direkt betroffen ist.«

  »Ich weiß«, antwortete er, plötzlich zögernd. »Warum, liebste Mutter, schieben wir unsere guten Absichten immer so lange auf, bis es zu spät ist?« Er begegnete ihrem Blick über den Rand seines Glases. »Ich wollte mich immer mit ihr aussprechen, aber irgendwie ist es dazu nie gekommen. Mit Vater war es dasselbe.«

  »Kann sein«, erwiderte Margery vage. »Es bleiben immer zu viele Dinge ungesagt. Das ist so unausweichlich wie der Tod.«

 

Adam fröstelte in seinem ungeheizten Wagen und wickelte sich den Schal enger um den Hals. Warum hatte er an Dame Margerys Tisch nicht offen gesagt, daß er Vic gekannt hatte? Daß auch er sie gemocht hatte? Er fühlte sich schuldig, als habe er sie durch sein Schweigen verraten.

  »Sei nicht dämlich«, schimpfte er laut mit sich. »Du hast die Frau kaum gekannt.« Aber das half nichts. Tränen bildeten sich unter seinen Lidern. Sie war so bezaubernd gewesen, wie sie auf dem mottenzerfressenen Samtbezug seines Sessels gesessen und seinen Sherry getrunken hatte. In seinem Gedächtnis sah er wieder den Schwung ihres sanft gewellten blonden Haars, als sie den Kopf gedreht und über eine seiner Äußerungen gelacht hatte.

  Sie hatte eine Zartheit, die Verlassenheit eines Kindes ausgestrahlt, die ihn irgendwie an Lydia erinnert hatte. Aber sie hatte auch Lydias Entschlossenheit gehabt. Er hatte sofort gespürt, daß sie sich mit vagen Antworten nicht würde abspeisen lassen. Trotzdem hatte er es nicht über sich gebracht, ihr mehr zu sagen.

  Auch bei Lydia hatte er letztendlich versagt, wie er alle enttäuscht hatte, die ihm etwas bedeutet hatten.

  Plötzlich war der Gedanke, allein in das Pfarrhaus zurückzukehren, unerträglich. Im Kreisverkehr an der Queen’s Road blieb er auf der rechten Spur und fuhr weiter in Richtung Grantchester. Er wollte Nathan besuchen. Nathan hatte sie ebenfalls gekannt. Sie konnten über sie reden, und vielleicht würde dies das hohle Gefühl in ihm vertreiben.

 

Newnham 4. Juli 1963

  Liebste Mami,

ich verstehe Deinen Kummer angesichts meiner Nachricht, aber es ist nichts mehr zu ändern. Ich habe während der Semesterferien so viel zu arbeiten, daß ich es mir nicht einmal leisten kann, nur für ein paar Tage nach Hause zu kommen. Und so gern ich Dich sehen würde, solltest du mich auch nicht besuchen.

  Bitte, bitte, mach Dir keine Sorgen um mich. Mir geht es gut. Nur der Druck der Arbeit lastet auf mir. Ich muß einfach bei der Sache bleiben.

  Und dann sind da noch meine Gedichte. Nachdem ich einmal in Schwung gekommen bin, muß ich weitermachen, Examen hin oder her, denn schließlich ist das ja das Ziel des ganzen Unterfangens, oder? Alles soll meinem Erfolg als Lyrikerin Vorschub leisten, und wenn ich das Ziel aus den Augen verliere, ist alles umsonst.

Alles Liebe, Lydia

 

Adam pochte nachdrücklich an die Tür des dunklen Hauses. Es war mehr die Angst vor dem einsamen Pfarrhaus als die Hoffnung, daß Nathan doch noch reagieren würde, die ihn ausharren ließ. Aber gerade, als er tatsächlich aufgeben wollte, hörte er Schritte, und die Tür schwang auf.

  Er sah auf einen Blick, daß sein Freund sturzbetrunken war. Nathan hielt sich am Türknauf fest wie ein Ertrinkender, und seine Augen saugten das Licht in sich auf wie ein bodenloser schwarzer Brunnenschacht.

  »Nathan?«

  Nathan blinzelte, machte den Mund auf und wieder zu, als könne sein Gehirn nur schwer eine Verbindung zu seiner Zunge herstellen. Er versuchte es erneut. »Adam, du bist es«, artikulierte er mühevoll. Wieder blinzelte er wie eine Eule. »Natürlich bist du es. Du weißt, daß du’s bist. Dumm von mir. Komm lieber rein.« Er wandte sich ab, ging den spärlich beleuchteten Korridor entlang und überließ es Adam, die Tür zu schließen und ihm zu folgen.

  Adam stolperte im spärlichen Licht unsicher hinter ihm her. Er erreichte die Tür am anderen Ende des Korridors. Seine Augen mußten sich erst an das strahlende Licht im Raum gewöhnen. Im Kamin flackerte ein Feuer. Nathan hatte sich in einen Sessel am Kamin gesetzt, und auf dem Tisch neben ihm glänzte eine Flasche im Schein der Flammen.

  Adam tastete sich über den Teppich und setzte sich in den Sessel gegenüber. Er hatte Nathan seit dem Studium nur wenige Male in einem solchen Zustand erlebt, und jedesmal hatte er unter großem seelischen Streß gelitten. Adam glaubte zu wissen, was ihn diesmal zur Flasche hatte greifen lassen.

  »Nathan, du hast es schon gehört, stimmt’s? Das mit Vic McClellan.«

  »Im College«, sagte Nathan und griff mit unsteter Hand nach der Whiskyflasche. »Dinner ... Fakultätsessen. Hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Mußte mich beim Präsidenten entschuldigen.« Der Rest ging in Lallen unter.

  »Du bist mitten im Fakultätsessen gegangen?« fragte Adam, der versuchte, den Sinn der Worte zu verstehen.

  Nathan nickte. »Mußte ich. Konnte es nicht glauben, weißt du? Bin hingefahren. Haus war dunkel. Abgeschlossen. Niemand zu Hause.« Er hob die rechte Hand, und Adam sah zum ersten Mal, daß sie notdürftig mit einem blutigen Verband umwickelt war. »Kann nich’ mehr Klavierspielen.« Die Hand fiel ihm in den Schoß, als habe ein Marionettenspieler die Schnüre durchtrennt. »Nachbarn kamen, haben gesagt, alles ist wahr.«

  »Nathan, willst du damit sagen, daß du versucht hast, ihre Haustür einzuschlagen? Und die Nachbarn sind gekommen?«

  Nathan lächelte, als habe Adam eine brillante Schlußfolgerung gezogen. »So isses. Muß gebrüllt haben. Kann mich nicht erinnern.«

  »Hat jemand deine Hand untersucht? Du solltest zu einem Arzt gehen.«

  »Is’ doch egal«, murmelte Nathan, dann richtete er sich in seinem Sessel ein wenig auf und schien den Blick auf Adams Gesicht zu konzentrieren. »Ist egal«, erklärte er bedächtig. »Nichts spielt mehr eine Rolle.«

  Großer Gott, dachte Adam. Er war ein Idiot, ein blinder Idiot gewesen. Nathans verschleierte Andeutungen über jemanden in seinem Leben, seine nervöse Erregung. Und der Ausdruck auf Vic McClellans Gesicht, als er Nathans Namen erwähnt hatte.

  »Es tut mir so leid, Nathan. Ich hatte keine Ahnung.«

  Nathan rutschte plötzlich in seinem Sessel nach vorn und stieß sein Glas vom Beistelltisch. Es fiel auf den Teppich und rollte mit einem sanften >Klick< gegen den Kaminsockel. »Ich muß sie sehen«, sagte er klar und deutlich, als habe die Verzweiflung seinen Alkoholnebel vorübergehend gelichtet. »Verstehst du? Ich muß sie im Arm halten, berühren, damit ich weiß, daß es wahr ist. Ich habe Jean gehalten, bis sie nicht mehr Jean war. So hab ich’s begriffen.« Er sah Adam stirnrunzelnd an, streckte erneut die Hand nach seinem Whiskyglas aus und starrte verdutzt auf den leeren Fleck auf dem Tisch.

  Adam stand auf und holte das Glas. Als er zum Tisch zurückkam, sah er, daß die Flasche Whisky fast leer war. Wie voll war sie anfangs gewesen, fragte er sich. Mußte er eine Alkoholvergiftung seines Freundes fürchten?

  »Komm Nathan, ich bringe dich jetzt ins Bett«, drängte er sanft.

  Nathan schenkte den letzten Whisky in sein Glas und kippte ihn weg. »Will nich’ schlafen. Dann muß ich nämlich aufwachen, kapiert?« Er legte den Kopf gegen die Rücklehne des Sessels und schloß die Augen. »Geh heim, Adam. Gibt nichts zu tun.« Nach wenigen Sekunden wiederholte er wie zu sich selbst: »Nichts zu tun.«

  Adam blieb, beobachtete ihn, bis sich der Rhythmus seines Atems änderte. Ob Nathan eingeschlafen war oder das Bewußtsein verloren hatte, vermochte er nicht zu beurteilen. Aber seine Atemzüge waren tief und regelmäßig, und er reagierte nicht, als Adam leise seinen Namen rief.

  Adam kniete vor dem Kamin nieder und häufte das Feuer auf. Dann befestigte er den Funkenschutz. Er nahm die Decke, die über seinem Sessel hing, und breitete sie über Nathans reglose Gestalt. Als es nichts mehr zu tun gab, verließ er das Haus.

  Erst, als er in der tristen Stunde vor dem Morgengrauen in seinem Bett im Pfarrhaus aufwachte, wurde ihm klar, was er im flackernden Schein des Kaminfeuers bei Nathan kurz gesehen hatte: das alte Schrotgewehr von Nathans Vater, das im Schatten hinter der Gartentür gestanden hatte.

 

Als Kincaid in die Carlingford Road einbog, sah er Gemma im Widerschein der Straßenlaterne. Sie trug Jeans und den alten Marine-Kolani, den sie bei Ausflügen am Wochenende benutzte, und saß auf den Stufen vor dem Eingang seines Wohnhauses, die Arme um die Knie geschlungen, als sei ihr kalt.

  Zuerst empfand er grenzenlose Erleichterung. Nur zu wissen, daß sie lebte und es ihr gutging, daß sie ihm nicht auch noch genommen worden war, beruhigte ihn. Bis sich in die Erleichterung jene sinnlose Wut mischte, die man einem Kind entgegenbrachte, das gerade einem Unglück entronnen war.

  Er fuhr den Rover in eine Parklücke am Straßenrand, stieg aus und ging zu ihr. »Warum bist du nicht raufgegangen?« fragte er. »Du bist ja halb erfroren.«

  »Ich bin drinnen gewesen«, antwortete sie. »Aber ich konnte nicht stillsitzen.« Sie stand auf. »Der Chef hat mir das mit Vic erzählt, Duncan. Es tut mir so leid.«

  In diesem Moment wurde ihm klar, daß er alles ertragen konnte, nur ihr Mitgefühl nicht, daß er bei jedem Versuch einer Antwort seine so mühsam aufrechterhaltene Beherrschung endgültig verlieren würde. Er wandte den Blick ab. »Gehen wir rauf und trinken wir ein Glas.«

  Gemma hatte bereits die Lichter in der Wohnung und die Heizung angemacht. Nachdem er zwei Gläser Scotch eingeschenkt hatte, setzte er sich zu ihr aufs Sofa. Sid sprang auf seinen Schoß und schnurrte, als sei er eine Woche weggewesen. »Hallo, Sportsfreund«, murmelte er und streichelte über das weiche schwarze Fell des Katers. »War ein verdammt langer Tag, was?«

  »Erzähl mir, was passiert ist«, bat Gemma. »Ich weiß nur, was du Denis gesagt hast.« Sie zog die Beine an und schmiegte sich in die Sofaecke.

  Er trank einen Schluck Whisky, und während der Alkohol noch in seiner Kehle brannte, sagte er barsch: »Kit hat sie in der Küche gefunden, als er aus der Schule kam. Die Ärzte sagen, sie hätten nichts mehr tun können. Vermutlich sei’s ein Herzinfarkt gewesen.«

  »Oh, nein!« sagte Gemma atemlos und schüttelte den Kopf. »Es ist einfach nicht zu glauben. Sonntag schien es ihr doch bestens zu gehen.«

  »Ich glaube es auch nicht, Gemma.« Sid legte beleidigt die Ohren an, und Kincaid bemühte sich, seine Stimme zu dämpfen. »Das sind mir zu viele Zufälle.«

  »Wie meinst du das?« erkundigte sich Gemma vorsichtig.

  »Wenn du den ganzen Selbstmord-Zauber wegläßt, ist auch Lydia Brooke an einem Herzinfarkt gestorben.«

  »Aber Lydia war herzkrank«, protestierte Gemma. »Ihr Herzversagen wurde durch eine Überdosis ihres Medikaments verursacht.«

  »Und wenn der Selbstmord vorgetäuscht war? Was, wenn jemand Lydia die Überdosis ihres Medikaments verabreicht hat? Das hat Vic vermutet. Auch wenn sie es nicht ausgesprochen hat.«

  »Aber warum? Warum hätte jemand Lydia umbringen sollen?«

  »Genau das hat Vic herauszufinden versucht. Und ich habe sie nicht ernst genommen.« Kincaid sah Gemma endlich an. Sie las die Verzweiflung in seinen Augen.

  »Du hast es nicht voraussehen können«, sagte Gemma leise, aber sie wußten beide, daß das keine Absolution sein konnte. »Das ist alles Spekulation. Vic hatte doch nichts mit dem Herzen, oder?«

  »Jetzt wirst du unlogisch. Das macht es doch nur noch unwahrscheinlicher, daß sie an Herzversagen gestorben ist. Und es wäre nicht auszuschließen, daß die Überdosis eines Herzmittels den Schaden angerichtet hat.«

  »Ja, du hast recht«, gab Gemma zu. »Aber sicher sind wir erst, wenn wir die toxikologischen Untersuchungsergebnisse haben.«

  »Der blöde Alec behandelt es wie einen normalen Todesfall.« Kincaid rutschte ruhelos hin und her. Sid streckte sich auf seinem Schoß.

  »Das kannst du ihm unter den Umständen nicht zum Vorwurf machen ...«

  »Ich kann und ich werde es tun, wenn die Ergebnisse der Obduktion positiv ausfallen. Das ist schlampige Arbeit, und das weißt du.« Er starrte sie wütend an. Als er ihren Ausdruck sah, murmelte er zerknirscht: »Tut mir leid, Gemma. Ich benehme mich wie ein Flegel. Es ist nur ...«

  »Möchtest du, daß ich gehe?«

  Er stand auf und deponierte Sid gefühllos auf dem Boden. Er ging zur Balkontür und starrte in die Nacht hinaus. »Nein. Bleib bitte«, sagte er schließlich. Er drehte sich zu ihr um. »Was ist mit Toby?«

  »Hazel hat angeboten, daß er die Nacht bei ihr schlafen kann«, antwortete sie und runzelte die Stirn. »Duncan, was ist mit Kit?«

  »Das ist eine andere Sache.« Er kam zum Sofa zurück, holte sein Glas und ging auf und ab. »Niemand scheint zu wissen, wo sein Vater zu erreichen ist. Also ist er mit zu seinen Großeltern gefahren.«

  »Na und?« wiederholte Gemma verwirrt. »Das dürfte doch das beste sein, oder?«

  »Du kennst sie nicht«, entgegnete er heftig und war überrascht, wie bitter er klang. »Ach, vermutlich hast du recht. Ich kann sie nur nicht ausstehen. Aber Kit war so ... verzweifelt.« Er räusperte sich. »Ich hätte es nicht zulassen dürfen, daß sie ihn mitnehmen.«

  »Duncan, sei nicht unlogisch. Was hättest du denn sonst tun können?«

  »Darauf kommen wir immer wieder zurück, was? Nichts, nichts und noch mal nichts! Aber ich komme mir so nutzlos vor.«

  Sie sahen sich lange an, dann seufzte Gemma. »Ich glaube, ich gehe ins Bett. Ich laß dich ein bißchen allein. In Ordnung?«

  Er nickte. »Tut mir leid, Liebes. Ich komme gleich nach.«

  Sie trat zu ihm, legte ihre Hand leicht an seine Wange, dann wandte sie sich ab und ging ins Schlafzimmer.

  Kincaid horchte auf das Klicken der Tür, und in die folgende Stille hinein begann der Kater zu schnurren. Sid war auf Gemmas Platz auf dem Sofa gesprungen und trat jetzt mit den Vorderläufen gegen das warme Kissen, die Augen vor Genuß zu schmalen Schlitzen verengt.

  »Du bist leicht zu trösten, was, Sportsfreund?« fragte Kin-caid leise. »Vielleicht sollte ich von dir lernen.«

  Er goß Gemmas unberührt gebliebenen Whisky in sein Glas und trat erneut ans Fenster. Er sah sein eigenes Spiegelbild, verzerrt durch die Lichter des Hauses gegenüber, fremd und unbekannt.