Die Docks waren aus der Luft unschwer zu erkennen und wurden mehr als jedes andere zivile Ziel angegriffen. Fast tausend Sprengbomben und Tausende von Brandsätzen wurden abgeworfen und große Teile der Wohngebiete in den »Docklands« verwüstet. Während des gesamten Blitzkriegs starben 30 000 Menschen. Wenig mehr als die Hälfte der Opfer hatte London zu beklagen, und ein hoher Prozentsatz davon starb in den »Docklands«.
Paul Calvocoressi, aus: Docklands, ein illustrierter historischer Überblick
»Worüber wollten Sie mit mir reden?« fragte Teresa Robbins, als sie an den Tisch an der Rückwand ihres Büros trat. Der lange Zeichentisch stand direkt unter den Fenstern und enthielt Tassen, Teekanne und elektrischen Wasserkocher sowie Schüsseln und Büchsen, die Gemma mittlerweile mit der Verkostung von Tee in Verbindung brachte. »Ich koche uns eine Tasse Tee, ja?« fügte Teresa hinzu und sah über die Schulter zu Gemma.
»Nur ein paar Routinefragen«, antwortete Gemma und erwiderte das Angebot einer Tasse Tee mit zustimmendem Nicken. Sie beobachtete, wie Teresa den Kessel mit Mineralwasser füllte. Ihre Hände schienen leicht zu zittern, was ihre beherrschte Miene Lügen strafte.
Nachdem Gemma Kincaid im Limehouse-Revier verabschiedet hatte, war sie kurz nach Arbeitsbeginn in der Firma Hammond’s erschienen, um Teresa erneut zu vernehmen.
Im Gegensatz zu Mortimers Büro war der Raum, den Teresa und Annabelle sich geteilt hatten, groß genug für zwei Schreibtische. Sie standen einander gegenüber, und in der Mitte führte ein breiter Mittelgang hindurch. Der pseudobüromäßige Stilmix aus Mortimers Zimmer fehlte. Die Schreibtische waren aus schlichter Eiche, wirkten zweckmäßig und abgenutzt. Annabelles ehemalige Tischplatte war bis auf die Schreibunterlage leer.
Rot oder schwarz beschriftete Teekisten aus Holz standen entlang der Wände, und ein einfaches Bücherregal enthielt eine Sammlung von Designer-Teekannen. Der Raum roch nach Tee und ... einem dezenten Duft, den Gemma nicht ganz einordnen konnte.
Gemma setzte sich auf den Stuhl, der Teresas Schreibtisch am nächsten stand. Sie beobachtete, wie Teresa kochendes Wasser in eine einfache, weiße Porzellankanne goß, einmal umrührte und dann eine Küchenuhr stellte. »Ich wußte gar nicht, daß Teekochen nach einem genauen Zeitplan erfolgen muß«, bemerkte Gemma und deutete auf die Uhr.
»Wie bitte?« Teresa sah sie verständnislos an. »Ach so, Sie meinen die Küchenuhr.« Sie drehte sich um und lehnte sich gegen den Zeichentisch, während der Tee ziehen mußte. »Das ist das erste, das man lernt... besonders beim Vorkosten der Tees. Wenn der Tee nicht richtig gezogen hat, kann man das Aroma der Mischungen nicht vergleichen. William besteht auf fünf Minuten, aber das ist mir zu stark. Mir genügen viereinhalb Minuten.«
»Und was für eine Sorte trinken wir jetzt?« Gemma hatte das Etikett auf der Tüte nicht erkennen können, aus der Teresa den Tee genommen hatte.
»Eine Englische Frühstücksmischung. Besteht hauptsächlich aus Assamtees ... das ist ein starker, schwarzer, indischer Tee«, klärte Teresa sie auf. »Am Nachmittag gehe ich gewöhnlich zu Ceylontees über. Sie sind etwas leichter und blumiger.« Die Küchenuhr war abgelaufen, und Teresa goß Milch in die beiden vorgewärmten Teetassen. Dann schenkte sie Tee durch ein Sieb nach. Sie reichte Gemma eine Tasse mit Löffel und Zuckerdose und setzte sich mit ihrem Tee hinter den Schreibtisch. »Ist ein Brauch, den ich von Annabelle gelernt habe. Und Annabelle von William.« Ihr Blick schweifte beinahe unfreiwillig zu Annabelles leerem Schreibtisch. Hastig konzentrierte sie sich wieder auf ihre Tasse.
»Haben Sie Annabelles Schreibtisch aufgeräumt?« fragte Gemma und trank einen Schluck Tee. Er hatte ein vollmundiges, malzartiges Aroma und schmeckte ihr besser als jeder andere Tee zuvor.
»Fürs erste habe ich alles in die Schubladen geschoben«, gab Teresa zu. »Ich konnte den Anblick der Sachen einfach nicht ertragen. Das hätte ich mir vermutlich sparen können. Schließlich denke ich sowieso jede Minute an sie.« Sie sah auf, und ihre blaßblauen Augen begegneten Gemmas Blick. »Ich weiß, Sie verstehen mich nicht... aber manchmal ist ihre Gegenwart regelrecht spürbar, und dann bilde ich mir ein, ihr Parfüm zu riechen.«
Gemma fiel der kaum wahrnehmbare Duft ein, der ihr noch vor einem Moment aufgefallen war. »Ein Duft nach Holz und Zitrone?«
»Riechen Sie ihn auch? Das Parfüm ist speziell für sie hergestellt worden. Es war Bergamotte dabei... das ist das Aroma, das im Earl Grey verwendet wird. Sie hat immer behauptet, es eigne sich viel besser für Parfüms als für Tees.«
»Ich bezweifle, daß wir’s hier mit einem Gespenst zu tun haben«, versicherte Gemma ihr. »Starke Gerüche halten sich lange ... unter anderen Umständen würde es Ihnen wahrscheinlich gar nicht auffallen.«
»Ja, vermutlich haben Sie recht«, stimmte Teresa ihr zu, aber es klang nicht überzeugt. Sie sah an diesem Vormittag beinahe hübsch aus in ihrem blaßblauen Sommerkleid. Ihr Haar wurde von einer passenden, blauen Haarspange zurückgehalten. Im Vergleich mit Annabelle allerdings mußte sie immer den kürzeren gezogen haben, egal, wieviel Mühe sie sich gegeben hatte. Gemma fragte sich, inwieweit sie das gestört haben mochte.
Gemma trank von ihrem Tee und schwor sich, diese Frühstücksmischung bei der erstbesten Gelegenheit zu kaufen. »Ist Reg Mortimer heute morgen nicht im Büro?«
Teresa errötete. »Nein, er fühlt sich nicht gut. War alles ein bißchen viel für ihn ... Reg hat Annabelle sehr geliebt.«
»Und hat Annabelle Reg geliebt?«
»Wie ... wie meinen Sie das? Selbstverständlich hat sie ...«
»Weshalb ist sie dann ihrem Verlobten mehr als nur einmal untreu gewesen?«
Teresas Hand erstarrte in der Luft über dem Henkel ihrer Teetasse. »Wie bitte?«
»Hatte sie sich Ihnen nie anvertraut? Ich dachte, das hätte sie vielleicht getan.«
»Was anvertraut? Wovon reden Sie?«
»Haben Sie gewußt, daß Annabelle eine Affäre mit Martin Lowell hatte? Daran ist seine Ehe mit Jo zerbrochen. Reg hat erst in Annabelles Todesnacht davon erfahren.«
»Martin Lowell? Das kann nicht sein ... das ist ein Irrtum«, erwiderte Teresa atemlos.
»Kein Irrtum. Harry Lowell hat bei Jos Dinnerparty davon angefangen. Reg schäumte vor Wut. Er hat es mittlerweile zugegeben ... allerdings erst, als er nicht mehr anders konnte.«
»Das kann nicht sein«, wiederholte Teresa, und ihre Augen wirkten spiegeleiergroß in ihrem schmalen Gesicht. »Warum hätte Annabelle das tun sollen?«
»Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht eine Erklärung liefern.«
»Der Tod ihrer Mutter hat sie schwer getroffen«, antwortete Teresa langsam. »Jedenfalls kam es mir so vor. Allerdings war ich damals erst wenige Monate bei der Firma Hammond’s. Ich kannte sie kaum.« Bitter fügte sie hinzu: »Fünf Jahre später scheint sich das kaum geändert zu haben, was? Annabelle hat im geschäftlichen Bereich immer ostentativ auf Ehrlichkeit bestanden ... aber für ihr Privatleben hat das offenbar nicht gegolten.« Sie sah von ihrer Teetasse auf. »Und Martin Lowell war nicht der einzige, sagen Sie?«
»Bei weitem nicht. Annabelle hatte wohl ein Verhältnis mit einem gewissen Lewis Finch ... und mit dessen Sohn Gordon.«
»Lewis Finch? Mit dem Lewis Finch?« wiederholte Teresa. »Sind Sie sicher?«
»Kennen Sie ihn?«
»Nein, ich ... nur dem Namen nach«, erwiderte Teresa unsicher.
»Wußten Sie, daß William Hammond Finch nicht ausstehen kann?«
»Aber alle bewundern Lewis Finch«, protestierte Teresa. »Er hat für das >Island< so viel getan ... Ich weiß, daß Annabelle große Stücke auf ihn hielt.«
»Hat Annabelle mit Ihnen über Finch gesprochen?«
»Nicht privat. Aber mir war klar, daß sie ihn kannte.«
»Und sein Sohn Gordon? Hat sie ihn je erwähnt?«
»Nein, nie. Ist mir ganz neu, daß Lewis Finch einen Sohn hat.«
Gemma fragte sich, ob Annabelle diese Dinge aus reinem Kalkül für sich behalten hatte oder ob sie es einfach genossen hatte, Geheimnisse zu haben. »Annabelle hat am Abend ihres Todes mit Gordon Finch gesprochen ... er war der Straßenmusiker, den Reg Mortimer im Tunnel gesehen hatte. Das war kurz nachdem sie Reg gesagt hatte, daß sie einen anderen liebe ... und nach dem Streit wegen ihrer Affäre mit Martin Lowell. Sie werden verstehen, daß es schon deshalb nicht gut für Reg aussieht.«
Teresa wollte aufstehen, schloß dann die Augen und sank auf ihren Stuhl zurück. Sie war leichenblaß geworden. »Ich habe mich wie eine Idiotin benommen.«
»Warum? Was ist passiert?« fragte Gemma hastig.
Teresa schlug die Augen auf. Erst jetzt schien ihr bewußt zu werden, was sie gesagt hatte. »Das ist persönlich ... hat nichts mit Ihren Ermittlungen zu tun.«
»Teresa, wenn das irgendwie mit Reg zusammenhängt, sollten Sie mir lieber reinen Wein einschenken. Wenn Sie ihn decken, machen Sie sich vielleicht der Komplizenschaft schuldig ... aus falsch verstandener Loyalität.«
»Nein, ehrlich ... ich weiß nichts. Es ist nur ...« Sie zögerte. »Haben Sie je etwas so Dummes getan, daß man denken könnte, Sie hätten den Verstand verloren?« fügte sie atemlos hinzu.
Unwillkürlich dachte Gemma an ihren Tanz im Park mit Gordon Finch. War Teresa ebenso empfänglich für Regs Charme? »Warum erzählen Sie’s mir nicht einfach?«
»Nein, ich ...«
Teresa fuhr zusammen, als das Telefon klingelte. Nach einem Blick auf Gemma hob sie den Hörer ab. Sie hörte zu, murmelte gelegentlich eine Antwort, dann legte sie langsam auf.
»Das war Mr. Hammond. Er möchte, daß wir für morgen vormittag eine Verwaltungsratssitzung einberufen. Martin Lowell besteht darauf.«
»Und das bedeutet?«
»Es soll entschieden werden, wer Annabelles Job als Geschäftsführerin übernimmt.«
»Dann heißt es wohl Sie oder Reg, stimmt’s?« wollte Gemma wissen.
»Es sei denn, William beschließt, die Firma selbst wieder zu übernehmen. Oder man einigt sich auf einen Außenseiter.« Teresa spielte geistesabwesend mit Papieren. »Ich muß die Finanzberichte vorbereiten ...«
Gemma beugte sich vor. »Teresa, Sie müssen mir sagen, was zwischen Ihnen und Reg vorgefallen ist. Sie können nicht beurteilen, inwiefern das für unsere Ermittlungen wichtig ist.«
Teresa schüttelte energisch den Kopf. Gemma entging nicht, daß sie erneut rot geworden war. »Nein, ich kann nicht. Und ich will nicht. Ich war eine dämliche Kuh, weil ich mir eingeredet habe, ich könnte ihn trösten ...« Sie schluckte. Ihre Hände hantierten fahrig mit den Papieren auf ihrem Schreibtisch. »Aber er wollte keinen Trost. Er wollte es Annabelle heimzahlen, weil er herausbekommen hatte, was sie getan hatte. Und ich kam da gerade recht.«
»Teresa, haben Sie mit Reg geschlafen? Ist es das? Falls er sich Ihnen anvertraut hat ...«
Teresa lächelte. »Offenbar hat er mir nicht mal die Hälfte von dem erzählt, was er Ihnen gesagt hat. Ich kann Ihnen nicht behilflich sein.« Sie stand auf. »Ich muß die Zahlen für die Finanzberichte vorbereiten. Außerdem bin ich wohl auch für die Marketingberichte zuständig ... jetzt, da Reg sich so rar macht.«
Gemma wußte, daß sie im Augenblick mit Teresa nicht weiterkam. Sie zog ihre Visitenkarte aus der Handtasche und legte sie auf Teresas Schreibtisch. »Rufen Sie mich an, falls Sie reden möchten ... oder wenn Ihnen was einfällt, das Sie mir verschwiegen haben. Jederzeit. Tag oder Nacht. In Ordnung?«
Teresa nickte, und Gemma verabschiedete sich. Draußen auf der Galerie blieb sie eine Weile stehen und sah auf das untere Stockwerk des Speichers hinab. Sie dachte an die Beziehungen zwischen den Menschen, die in diesem Gebäude gearbeitet und sich in ein Netz von Heimlichkeiten und Halbwahrheiten verstrickt hatten, das immer komplizierter geworden war. Sie wußte jetzt etwas, das sie noch vor einer halben Stunde nicht geahnt hatte.
Wenn ihr Instinkt sie nicht trog, war Teresa Robbins in Reg Mortimer verliebt, und Reg hatte diese Tatsache ausgenutzt. Aber zu welchem Zweck?
Als Reg vor dem Spiegel seines Ankleidezimmers die Krawatte band, dachte er an Annabelle und wie gern er ihr zugesehen hatte, wenn sie sich zum Ausgehen zurechtgemacht hatte. Sie hatte sich mit der Konzentration eines Malers geschminkt, der seinem Gemälde die letzten Pinselstriche hinzufügte, ohne daß man dem Resultat all die Mühe angesehen hätte ... Annabelle war einfach nur noch schöner geworden.
Sie war so egozentrisch gewesen wie eine sich putzende Katze, und er hatte das damals als amüsant empfunden. Diese Ichbezogenheit hatte sich allerdings auch auf andere Aspekte ihrer Beziehung ausgeweitet, und er fragte sich jetzt, wieso er das akzeptiert hatte. Selbst im Bett war sie ihm stets distanziert erschienen, so als bliebe ein Teil von ihr für ihn immer unerreichbar. War sie bei den anderen auch so gewesen?
Der Gedanke verursachte ihm Übelkeit, und Schweiß brach ihm aus. An diesem Morgen, als er sich von Teresa verabschiedet hatte, hatte er vorgehabt, nach einer Dusche und dem Rasieren in seinem Badezimmer sofort ins Büro zu gehen. Kaum hatte er jedoch sein Apartment erreicht, hatten Magenkrämpfe ihn aufs Sofa gezwungen.
Sein ganzes Leben schien vor seinen Augen wie ein Kartenhaus einzustürzen, und es kostete ihn all seine Kraft, die nackte Panik in Schach zu halten. Seine Eltern konnte er nicht um Hilfe bitten ... sein Vater hatte ihn schon zu oft herausgepaukt und im vergangenen Jahr keinen Zweifel daran gelassen, daß damit Schluß sei. Er konnte nicht hoffen, daß er seine Haltung ändern würde.
Wenn er nur einen Weg finden könnte, seine Gläubiger noch etwas länger hinzuhalten ... und wenn er William überzeugen könnte, seine Nominierung als Geschäftsführer vor den Mitgliedern des Verwaltungsrates zu unterstützen, dann blieb ihm vielleicht eine Hoffnung zu überleben.
Und dann war da noch Teresa. Sie wenigstens glaubte ihm. Er begriff selbst nicht, wie er die wohltuende Kraft ihrer Beständigkeit und Loyalität solange hatte übersehen können.
Das Telefon klingelte. Er zuckte zusammen, ging zum Nachttisch und hob den Hörer ab.
Es war Fiona, die Empfangsdame der Firma Hammond’s. Sie teilte ihm mit, daß Miß Robbins sie gebeten habe, ihn zu informieren, daß Mr. Hammond eine Verwaltungsratssitzung für zehn Uhr am folgenden Vormittag einberufen habe. Als er mit sinkendem Mut fragte, weshalb Teresa nicht selbst angerufen habe, antwortete Fiona verlegen: »Das weiß ich wirklich nicht, Sir.« Sie legte auf.
Reg ließ den Hörer auf die Gabel fallen. Was war jetzt schon wieder passiert? Allmählich schien sich alles gegen ihn zu wenden.
Am Nachmittag des zweiten Tages der Bombenangriffe fand Edwina Lewis in seinem Zimmer über dem Stall, wie er seine Habseligkeiten in den alten, verbeulten Koffer packte. Er richtete sich auf, sah sie trotzig an und erwartete, für seinen Ungehorsam gescholten zu werden, denn als er sie am Morgen gebeten hatte, nach London zurückkehren zu dürfen, hatte sie ihm die Erlaubnis verweigert.
Statt dessen ließ sie sich elegant auf dem einzigen Stuhl des Zimmers nieder und musterte ihn so verständnisvoll, daß er sich abwenden mußte und durchs Fenster auf die Spatzen sah, die auf den Dachsparren des Stalles saßen.
»Lewis, tu’s nicht«, sagte sie ruhig. »Ich weiß, welche schrecklichen Sorgen du dir machst. Aber das einzige, was du für deine Familie tun kannst, ist hierzubleiben ... hier, wo sie dich immer erreichen können.«
»Aber ... was, wenn ... nicht zu wissen ... Das kann ich nicht ertragen ...«
»Wir wissen nicht, wie lange die Bombenangriffe noch andauern. Und deshalb haben sie dich ja auch weggeschickt, damit du in Sicherheit bist. Wie würde sich deine Mutter fühlen, wenn du nach London zurückkommst und verletzt oder getötet wirst? Dann ist das ganze Jahr doch völlig umsonst gewesen, oder?«
Er schüttelte wortlos den Kopf und fand unerwartet Trost in der Wut seiner Mutter.
»Im East End herrscht Chaos«, fuhr Edwinafort. »Soviel weißt du. Du hast die Reportagen im Radio gehört. Und Williams Eltern haben uns das bestätigt. Sie konnten uns von Greenwich aus anrufen. Der alte Speicher der Firma Hammond’s ist zum Glück nur leicht beschädigt worden. Es ist möglich, daß deine Familie ausquartiert worden ist ... und in diesem Fall würdest du sie nicht mal finden. Das vernünftigste ist abzuwarten. Ich bin sicher, daß wir bald Nachricht erhalten.« Er hörte die Stuhlbeine knacken, als Edwina aufstand. Dann fühlte er ihre Hand zart auf seiner Schulter. »Versprich mir, daß du nichts überstürzt.«
Nach einem Moment brachte er ein Nicken zustande. »Also gut«, sagte er, ohne sie anzusehen.
»Du bist ein vernünftiger Junge, Lewis«, seufzte Edwina und drückte kurz seine Schulter. »Ich wußte, daß ich mich auf dich verlassen kann.«
Lewis hörte, wie sie die Treppe hinunterging. Der Schritt ihrer Stiefel war so schnell und präzise wie alles, was sie tat. Trotzdem - erfühlte sich keineswegs vernünftig. Tief in seinem Herzen wußte er, daß er seine Familie im Stich ließ, sie einem unbekannten Schicksal überließ, das er mit ihr hätte teilen müssen, und daß sein Verharren in Sicherheit und Vernunft ihn zum Außenseiter und Feigling stempelte.
Das Haus in der Stebondale Street wurde in der dritten Nacht des Blitzkriegs von einer Brandbombe getroffen, aber das erfuhr Lewis erst eine Woche später, als die Nachricht mit der Post kam. Das Stück Papier war schmutzig und fleckig, aber er machte fast einen Luftsprung, denn die saubere altmodische Klosterschülerinnenhandschrift seiner Mutter war unverkennbar.
Lieber Lewis,
das Haus ist zerstört, aber uns ist nichts passiert. In der dritten Nacht, als die Bomber kamen, ist eine Brandbombe auf das Hausdachgefallen. Aber wir waren bei den McNeills in der Chapel House Street in ihrem Unterstand, als die Sirenen heulten. Wir hatten also Glück, was? Man hat uns eine Wohnung in Islington zugewiesen, die wir mit zwei anderen Familien teilen. Sie ist nicht sonderlich sauber, aber zumindest haben wir ein Dach über dem Kopf. Ich schreibe bald mehr.
Vergiß nicht, daß ich dich liebhabe.
Deine dich liebende Mutter.
Lewis hatte täglich am unteren Ende der Auffahrt auf die Post gewartet, und jetzt stand er dort, starrte auf das fleckige Stück Papier, bis Tränen seinen Blick trübten und auf den Brief tropften. Er wußte, daß William, Edwina und Mr. Cuddy und sogar die Köchin ihn wie jeden Tag ängstlich vom Haus aus beobachteten, aber er konnte sich nicht überwinden, ihnen ein Zeichen zu machen.
Nach einer Weile kam William zu ihm herunter, aber Lewis brachte noch immer kein Wort heraus. Er war gezwungen, William den Brief zu übergeben, damit er ihn selbst lesen konnte.
William las, blinzelte auf die ungewohnte Schrift, und bewegte stumm die Lippen. Dann sah er auf. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, und er klopfte Lewis auf den Rücken und schrie: »Hurra! Verdammt noch mal! Hurra!« Und danach war alles gut.
Es war später Vormittag, bevor Kincaid nach einem kurzen Aufenthalt im Yard nach Cambridge fahren konnte. Er schlängelte sich konzentriert durch den Londoner Verkehr, bis er die M11 erreichte, schob dann eine Jazzkassette in den Rekorder des Autoradios des Rovers, die Gemma ihm geschenkt hatte, lenkte den Wagen auf die Überholspur und war entschlossen, schnell ans Ziel zu kommen.
Das Stück war eine Improvisation, die Klänge des Pianos gelegentlich so flüchtig wie der Wind im Gras oder so fließend wie das Plätschern eines Bachs. Nach einer Weile schienen sich in der Musik seine Gedanken an Kit mit Erinnerungen aus der eigenen Kindheit zu verweben.
Er hatte die Sommerferien mit der ungezwungenen Freiheit des Kindes verbracht, das auf dem Land aufwächst, hatte morgens Verpflegung eingepackt und war zu abenteuerlichen Wanderungen oder Fahrradtouren aufgebrochen. Manchmal mit Freunden, gelegentlich allein, wenn es ihm gelang, seine kleine Schwester abzuschütteln. Er war auf Bäume geklettert, in Kanälen geschwommen und hatte sich mit Geduld und Hingabe das Angeln beigebracht.
Natürlich mußte es auch Regentage oder ereignislose Tage gegeben haben. In der Erinnerung jedoch waren sie alle erfüllt gewesen mit der süchtigmachenden Atmosphäre des Abenteuers. Erst jetzt im Rückblick erkannte er, was ihm dieses unerschütterliche Vertrauen in die eigene Sicherheit gegeben hatte: nämlich das Bewußtsein, daß er allabendlich bei seiner Rückkehr nach Hause nach Ladenschluß seine Mutter und seinen Vater, eine warme Mahlzeit und die Schwester Miranda vorfinden würde, die mit ihm Monopoly oder Fangen spielen wollte.
Dieser familiäre Rückhalt war ihm als unumstößliche Bastion erschienen. Niemals war ihm der Gedanke gekommen, daß sie so leicht zu erschüttern war wie ein Kartenhaus.
Es war fast Mittag, als er in die Auffahrt der Millers einbog und den Motor abstellte. Laura Miller war Vics Sekretärin und gute Freundin von der Englischen Fakultät der Universität gewesen. Ihr Sohn Colin war ein Schulkamerad von Kit, obwohl die Millers in Comberton, einem kleinen Dorf wenige Meilen außerhalb von Grantchester, wohnten. Lauras Bereitwilligkeit, Kit nach dem Tod der Mutter bei sich aufzunehmen, hatte dem Jungen ein Paradies an familiärer Sicherheit und Kontinuität während des laufenden Schuljahres beschert.
Zu Kincaids Überraschung öffnete Laura selbst auf sein Klingeln. »Ich dachte, du seist im Büro«, begann er und gab ihr einen Kuß auf die Wange.
»Ich habe auch Sommerferien«, antwortete sie und ließ ihn herein. Sie trug weiße Shorts und eine farbige, indische Baumwollbluse, und ihre helle Haut war von der Hitze leicht gerötet. »Komm hinter in die Küche. Da ist es kühler.«
Das Reihenhaus war gemütlich eingerichtet. Überall lagen Schuhe und Sportgeräte herum, die verrieten, daß in diesem Haushalt Jungen wohnten. »Colin ist in diesem Sommer fußballwahnsinnig. Keine Ahnung, was ihn gepackt hat«, bemerkte Laura, als sie einen Ball und schmutzige Socken vom Küchenstuhl räumte. »Setz dich. Ich hole dir was zu trinken. Ginger Ale mit Eis?«
Als er nickte, fuhr sie fort: »Ich habe heute morgen schon versucht, dich anzurufen.« Sie reichte ihm ein Glas Ginger Ale und setzte sich ebenfalls. »Was ist eigentlich los, Duncan? Kit ist verschlossen wie eine Sphinx aus London zurückgekommen ... und dann ist gestern auch noch Ian McClellan hier aufgetaucht und hat behauptet, er sei wieder in Cambridge ... und zwar auf Dauer. Erst heute morgen habe ich Kit schließlich dazu gebracht, mir zu erzählen, daß Ian ihn zu sich ins Cottage nach Grantchester nehmen will.«
»Dann hat Ian schon mit Kit gesprochen?«
»Er ist nicht lange geblieben. Mehr war aus Kit nicht herauszubekommen. Er will überhaupt nicht darüber reden und weigert sich, das Haus zu verlassen. Ich mache mir langsam wirklich Sorgen.«
»Ich habe Kit gesagt, daß ich sein Vater bin«, gestand Kincaid zögernd. »Am Abend, bevor Ian mich in London angerufen hat.«
»Ach du liebe Zeit!« Laura war entsetzt. »Kein Wunder, daß der Junge völlig verstört war, als er hier ankam.«
»Ich wußte, daß der Gedanke gewöhnungsbedürftig sein würde, aber mit einer Abfuhr hatte ich wohl nicht gerechnet... Schätze, ich hatte gehofft, daß er sich freuen würde.«
Laura schüttelte den Kopf. »Du warst Kits Zuflucht vor seinem alten Leben, ein Außenstehender ... und bis auf die letzten Monate ein Freund.«
»Aber ein Vater ist doch sicher ...«
»Ich glaube, du verstehst nicht, Duncan. Für Kit sind Eltern die letzten Menschen, auf die er sich verlassen kann. Sie laufen weg und lassen ihn allein. Oder sie sterben. Ich glaube, nichts hätte ihm einen größeren Schreck einjagen können.«
Kincaid sah sie an und fragte sich, warum er darauf nicht schon selbst gekommen war. »Mein Gott! Mir war gar nicht klar ... Wie kann ich das nur wieder ausbügeln?«
Laura runzelte die Stirn. »Keine Ahnung. Versuch einfach, ihm die Sicherheit zu geben, daß sich zwischen euch nichts geändert hat.« Sie deutete auf die Gartentür. »Er ist hinten im Garten.«
Herumliegendes Gartengerät und leere Plastiktöpfe verrieten ihm, daß Laura an den Staudenbeeten gearbeitet hatte, die in der prallen Sonne lagen. Erst einige alte Eichen im rückwärtigen Gartenteil machten den Garten zu einer schattigen Idylle. Er pfiff nach Tess, die sofort angerannt kam, um ihn schwanzwedelnd zu begrüßen. Kit war nirgends zu sehen, bis er den ersten Baum umrundet hatte.
Dort saß Kit mit dem Rücken gegen einen Baum gelehnt, die Arme um die Knie geschlungen, und sah Kincaid mit einer Mischung aus Trotz und Mißtrauen entgegen.
»Hallo, Sportsfreund.« Kincaid ging in die Knie und kraulte Tess hinter den Ohren. »Wo ist Colin?«
Es dauerte lange, bis Kit widerwillig antwortete. »Nebenan. Er will Nägel holen. Sind uns ausgegangen.«
Im Gras sah Kincaid eine Plattform im Rohzustand neben einem kleinen Gerüst aus Brennholz liegen. »Wofür ist das?« fragte er und deutete auf die Plattform.
»Für Tess.« Beim Klang ihres Namens verließ der Hund Kincaid und setzte sich aufmerksam neben Kits Knie.
Kincaid betrachtete die Holzkonstruktion prüfend. »Okay. Aber wozu ist das?«
»Gehört zu meinem Hindernisparcours«, sagte Kit ungeduldig. »Soll eine Rampe und ein Tennisballspender werden, aber wir wissen nicht, wie der Ballspender funktionieren soll.«
»Vielleicht fällt mir ja was ein«, erbot sich Kincaid.
Kit schüttelte den Kopf. »Ist unser Projekt. Colins und meines. Außerdem hast du sowieso keine Zeit.«
Kincaid ignorierte die Spitze. »Ich dachte, wir könnten uns in Cambridge mit Sandwiches eindecken und ein Ruderboot mieten.«
»Rudern ist blöd«, behauptete Kit und sah weg. »Außerdem macht Laura Beefburger. Ich will nicht Weggehen.«
»Auch gut:« Kincaid setzte sich ins Gras. »Vielleicht können wir uns dann einfach mal unterhalten.«
»Reden will ich auch nicht.« Kit preßte die Lippen zusammen und schlang die Arme fester um die Knie.
»Wie wär’s, wenn ich rede, und du hörst zu?« schlug Kincaid vor. »Du brauchst gar nichts zu sagen.«
Als Kit nicht antwortete, redete er weiter, wobei er sich jedes Wort überlegte: »Tut mir leid, daß ich dich neulich abends damit so überfallen habe. Deshalb ändert sich nichts zwischen uns. Es ist einfach eine Tatsache ... wie wenn man blaue Augen oder blondes Haar hat und bedeutet schließlich nicht, daß ich nicht dein Freund bin oder daß ich anders gehandelt hätte, wenn es diese Verbindung zwischen uns nicht gäbe. Ist einfach eine Zugabe ... wie Zuckerguß auf dem Kuchen.« Als er innehielt, blinzelte Kit, sah ihn jedoch noch immer nicht an.
»Ich bleibe immer dein Freund, egal, was passiert. Du kannst mich weiterhin in London besuchen, genau wie vorher. Falls Ian einverstanden ist ...«
»Ich geh nicht zurück! Nicht ins Cottage.« Kit sprang auf, wandte Kincaid den Rücken zu und trat gegen den Baum. Trotzdem hatte Kincaid gerade noch gesehen, daß Tränen in seinen Augen standen. »Du kannst mich nicht zwingen.«
»Kit, ich bin nicht hier, um dich zu irgendwas zu zwingen. Aber du kannst mit mir reden. Sag mir, warum du nicht zurück willst.«
Kit schüttelte den Kopf, aber diesmal drückte die Geste eher Angst als Eigensinn aus.
»Ist es wegen deiner Mutter?« fragte Kincaid sanft, und betete, daß er wenigstens einmal das Richtige sagte.
»Ich kann nicht ...« Kit versagte die Stimme, und Kincaid merkte, welche Energie es ihn kostete fortzufahren: »Sie ist nicht ...«
Als er nicht weitersprach, dachte Kincaid einen Moment fieberhaft nach. »Kit, weißt du noch, als du von deinen Großeltern fortgelaufen bist und ich dich im Cottage gefunden habe? Du hast in deinem Zimmer geschlafen ... du und Tess. Und dort hast du dich sicher gefühlt, stimmt’s?«
Kincaid kam es wie eine Ewigkeit vor, bis Kit nickte.
»War doch gar kein so schlechtes Gefühl, oder?« Kincaid wußte, auf welch unsicheres Terrain er sich begab, als er sich weiter vortastete: »Kann auch was Gutes haben, sich an einige Dinge zu erinnern, die du mit deiner Mutter erlebt hast ...«
»Ich will hierbleiben, hier bei Laura«, sagte Kit und drehte sich zu ihm um. Zum ersten Mal klang das wie eine Bitte und nicht wie die Weigerung, Alternativen auch nur in Betracht zu ziehen.
Das allerdings war ein Wunsch, den Kincaid ihm nicht erfüllen konnte. Dazu hatte er kein Recht. Er fuhr behutsam fort. »Vielleicht kannst du erst mal besuchsweise zu Ian ins Cottage gehen, dich umsehen, feststellen, wie es so ist. Bist du in letzter Zeit bei Nathan gewesen?«
»Nein.« Kit bohrte die Spitze seiner Turnschuhe ins Gras. »Nicht, seit ich mit dem Fischprojekt für die Schule letzten Monat fertig geworden bin.«
»Du könntest Nathan besuchen. Ich bin sicher, daß er Tess sehen möchte.«
Kit zuckte die Achseln, lehnte den Vorschlag jedoch nicht rundweg ab.
»Ich könnte dich sogar hinbringen, wenn du willst«, erbot sich Kincaid, sah weg und versuchte, sich den Anschein von Gelassenheit zu geben.
Kit schüttelte den Kopf. Doch die Geste wirkte nachdenklich und unsicher. »Ich kann mit dem Fahrrad fahren.« Er sah auf und blickte Kincaid zum ersten Mal in die Augen. »Ist er dann dort... mein Dad?«
Kincaid setzte sich auf den alten Gartenstuhl, den die Jungen als Werkbank mißbraucht hatten. »Ich weiß nicht. Wie bist du denn mit ihm verblieben?«
»Er hat gesagt, daß er in dieser Woche viel im College zu tun habe und das Haus wieder bewohnbar machen wolle. Aber er hatte vor, dieses Wochenende zu kommen und meine Sachen zu holen ...« Kits Stimme wurde schrill, er rang die Hände und sah sich in wilder Panik um.
»O Mann! Bis dahin ist noch viel Zeit«, bemerkte Kincaid beruhigend. »Eines nach dem anderen, heißt meine Devise, Sportsfreund. Manchmal ist das Leben so beschissen, daß man sich nur so über Wasser halten kann. Und wenn man von einem Tag zum anderen lebt, genießt man die Dinge viel mehr als die Leute, die immer an die Vergangenheit oder die Zukunft denken.«
Kit runzelte die Stirn, wirkte nicht überzeugt, aber zu Kincaids Erleichterung entspannten sich seine Hände und Schultern etwas.
Der Duft von Grillfleisch stieg ihnen in die Nase, und von der Küche her drangen Stimmen herüber. Kincaids Zeit wurde knapp. »Warum fährst du nicht heute nachmittag mal rüber? Nur um zu schauen. Dann rufst du mich an, und wir reden darüber. Was meinst du?«
Die Küchentür ging auf, und Colin kam auf die Terrasse heraus. Er winkte ihnen zu. »Mami läßt fragen, ob du zu Beefburgern bleiben willst?« rief er Kincaid zu.
Kincaid legte die Hand um den Mund und brüllte: »Würde ich mir um keinen Preis entgehen lassen!« Dann wandte er sich wieder an Kit. »Also, abgemacht?« Er streckte die Hand aus und drehte die Innenseite nach oben, damit Kit einschlagen konnte.
Kit sah zur Terrasse, wo Colin eine Grimasse zog und ihnen bedeutete, sich zu beeilen, dann zu Kincaid. Er zuckte die Achseln. »Also gut«, murmelte er schließlich. »Kann vermutlich nicht schaden, mal einen Blick drauf zu werfen.« Er schlug ein, drehte sich um und rannte zum Haus, eine aufgeregt kläffende Tess im Schlepptau.
Kincaid sah ihnen nach. Seine Erleichterung war nicht ungetrübt. Immerhin hatte er gerade all seinen Einfluß geltend gemacht, seinen Sohn in die Arme eines Mannes zu treiben, den er weder mochte, noch ihm vertraute.
Nach der Rückkehr von Hammond’s verbrachte Gemma den restlichen Vormittag im Revier von Limehouse und arbeitete sich durch die Stapel von Ermittlungsprotokollen. Als Janice zur Mittagszeit auftauchte, ließen sie sich Sandwiches und Kaffee kommen und verglichen an einem der leeren Schreibtische ihre Notizen.
»Haben wir die Aussage von Martin Lowells Freundin schon?« fragte Gemma.
»Muß hier irgendwo sein.« Janice tippte die Brotbrösel auf, die auf die oben liegenden Protokolle gefallen waren, und kramte nach den betreffenden Unterlagen, bis sie fündig wurde. »Brandy Bannister, neunzehn Jahre alt, wohnhaft in ...«
Gemma, die den letzten Bissen ihres Thunfischsandwichs mit einem Schluck lauwarmem Kaffee hinunterspülte, prustete los und bekam einen Hustenanfall. »Brandy Bannister?« stotterte sie atemlos, als sie wieder Luft bekam. »Paßt zu ihr. Wenn sie nicht so dämlich wäre, könnte man fast Mitleid mit ihr haben.«
»Ist sie so schlimm?«
Als Gemma mit vollem Mund nickte, fuhr Janice fort: »Klingt reichlich verunglückt. Fast wie Ricky Ritze. Man fragt sich manchmal wirklich, was Eltern sich bei der Namensgebung gedacht haben.« Sie warf einen Blick auf das Protokoll. »Jedenfalls behauptet unsere Brandy, mit Martin Lowell von acht Uhr abends an zusammengewesen zu sein. Sie haben in der Trafalgar Tavern zu Abend gegessen, das Lokal gegen elf verlassen, sind von dort zu ihrer Wohnung gefahren ... angeblich zu einer gegenseitigen Ganzkörpermassage ...« Janice zog die Augenbrauen hoch. »Außerdem behauptet sie, Lowell habe die Wohnung nachts nicht mehr verlassen. Wenn dem so gewesen wäre, hätte sie es merken müssen.«
»Ganzkörpermassage? Und ganz ohne Gewerbeschein?«
»Ist das ein gutes Alibi? Was meinen Sie? Oder lügt sie, um ihn zu decken?«
»Kann mir nicht vorstellen, daß ihr Intelligenzquotient für eine gute Lüge ausreicht. Und wenn Martin Annabelle umgebracht hat, braucht er ein wesentlich besseres Alibi als das hier.«
Janice warf einen Blick auf das Vernehmungsprotokoll. »Inwiefern?«
»Annabelle müßte in den zwei Stunden nach der Begegnung im Tunnel und vor ihrer Ermordung nach Mitternacht mit ihm Kontakt aufgenommen haben.« Gemma biß in ihr Thunfischsandwich. »Schicken wir jemanden zur Trafalgar Tavern ... vielleicht kann man dort bestätigen, daß sie da waren und bis elf Uhr geblieben sind.«
»Ist ein großes Lokal. Herrscht immer viel Betrieb. Aber mal angenommen, jemand kann uns die Aussage bestätigen, wer sagt uns, daß Lowell nicht direkt in seine Wohnung gegangen ist, wo Annabelle bereits auf ihn gewartet hat?«
»Ich garantiere Ihnen, daß Martin Lowell Brandy nicht zu einem Abend mit angeregter, intellektueller Unterhaltung eingeladen hat, nur um sie dann vor ihrer Haustür mit einem Gutenachtkuß zu verabschieden.«
»Hm, und wenn er kurz bei seiner Wohnung haltgemacht hat... sagen wir, um Kondome oder so was zu holen, dort auf die wartende Annabelle getroffen ist und sie dabei umgebracht hat? Anschließend ist er zu Brandy, hat sich mit ihr amüsiert und sich in den frühen Morgenstunden davongemacht, um Annabelles Leiche in den Kofferraum seines Wagens zu verfrachten und sie im Park abzuladen«, schlug Janice vor.
»Wäre eine Möglichkeit. Aber dazu hätte er die Leiche über den Hof vor seinem Apartmenthaus schleppen müssen ... keine besonders sichere Sache, nicht mal mitten in der Nacht. Außerdem hat er eine sehr neugierige Nachbarin. Wir könnten einen Kollegen zu ihr schicken.« Gemma trank ihren Kaffee aus und warf den Becher in den Papierkorb.
»Was ist mit Teresa Robbins? Kommt aus der Ecke was Neues über Mortimer?«
»Nur das, was wir von Anfang an hätten vermuten sollen ... sie ist ziemlich vernarrt in ihn. Jedenfalls war sie’s, bis sie erfahren hat, daß Reg ihr nicht gesagt hatte, was er über Anna-belles Affären weiß.«
»Damit hätte Teresa ein Motiv«, überlegte Janice. »Und wenn nun Annabelle an jenem Abend zu Teresa gegangen ist ... sie war erregt, hat eine Freundin gebraucht, mit der sie reden ...«
»Und Teresa hat beschlossen, sie umzubringen, damit sie Reg für sich haben konnte? Sie hätte ruhig abwarten können, bis sich die Dinge von selbst erledigen. Die Beziehung zwischen Annabelle und Reg war doch sowieso am Ende.«
»Vielleicht war sie Mortimers Komplizin ... vorausgesetzt, er hat Annabelle umgebracht.« Janice stocherte angewidert in den Resten ihres Tomatensandwichs herum. »Für mich ist er, ehrlich gesagt, immer noch der Hauptverdächtige.«
»Bedenken Sie, daß er keine Möglichkeit hatte, sie in den Park zu schaffen, wenn er sie nicht in seiner Wohnung umgebracht hat. Und ich kann mir nicht vorstellen, wie er eine lebende Annabelle hätte überreden können, freiwillig mit ihm in den Mudchute Park zu gehen.«
»Vielleicht ist er ihr gefolgt und hat gesehen, wie sie sich mit einem anderen getroffen hat?« Janice fing Gemmas Blick auf.
»Gordon Finch?« sagten sie im Chor.
Janice schüttelte den Kopf. »Weshalb hätte sie ihn im Park treffen sollen? Ist dasselbe Problem wie bei Mortimer. Und Finch besitzt nicht mal einen Wagen. Seine Vermieterin hat ihm übrigens kein Alibi gegeben. Sie hat keine Ahnung, wann und ob er in jener Nacht nach Hause gekommen ist. Außerdem ist sie nicht sicher, ob sie gemerkt hätte, wenn er Besuch gehabt hätte.«
Gemma war selbst überrascht, wie sehr sie diese Information enttäuschte. Bis zu diesem Moment war ihr gar nicht klar-gewesen, daß sie insgeheim gehofft hatte, jemand könne Gordon Finch ein hieb- und stichfestes Alibi verschaffen. »Hm«, begann sie nachdenklich, »angenommen, Gordon war gemeint, als Annabelle Reg gestand, daß sie einen anderen liebe ... warum hat Annabelle daraufhin ausgerechnet Lewis Finch angerufen?«
»Nach dem Korb von Gordon kam vermutlich einfach der nächste dran ... in diesem Fall der Vater ...«, schlugjanice vor.
»Das glaube ich nicht. Nicht, nachdem sie Reg gerade erklärt hatte, sie wolle sich nicht mit Halbheiten in der Liebe zufrieden geben. Vielleicht brauchte sie jemanden, bei dem sie sich ausweinen konnte ...«
»Bei Lewis Finch? Kaum wahrscheinlich. Unterschätzen Sie Lewis nicht«, warnte Janice. »Und lassen Sie sich nicht von seinem eleganten Aussehen und seinen Maßanzügen zu der Annahme verleiten, Geld habe ihn weich gemacht. Der Mann ist ein Bauhai ... und skrupellos, wenn er etwas haben will.« Janice runzelte die Stirn. »Dabei fällt mir ein ... ich habe mich umgehört ... betrifft die Beziehung zwischen den Finchs und den Hammonds. Ich hatte ein Gerücht gehört, das mich neugierig gemacht hat. Habe dem Vorsitzenden der Bürgervereinigung ein paar Bier spendiert.
Es sieht so aus, als habe die Firma Finch in den letzten Jahren vehement den Kauf des alten Hammond-Speichers betrieben. Die Firma hatte schon etliche vergleichbare Immobilien am Flußufer renoviert, und die Familie Hammond besitzt ein Sahnestück ... eines der letzten Geschäftshäuser inmitten einer Wohngegend.«
»Aber es ist nichts draus geworden?«
»Nein. Offenbar weigert sich William Hammond, zu verkaufen, und er hat noch immer die Sperrmajorität der Anteile in der Firma. Dagegen konnte selbst Annabelle als Geschäftsführerin nichts ausrichten. Komisch ist nur, daß Finch keine vergleichbaren Immobilien im letzten Jahr gekauft hat.« Janice schwenkte die Kaffeereste in ihrem Becher, zog eine Grimasse, stellte den Becher ab und zündete sich eine Zigarette an. »Der Hammond-Speicher wäre ein Projekt gewesen, gegen das Gordon mit seinen Freunden auf die Straße gegangen wäre.«
»Warum?« Gemma fegte die letzten Krümel von ihrer Bluse und suchte eine bequemere Stellung auf dem harten Plastikstuhl.
»Dazu müssen Sie wissen, was sich hier abgespielt hat. Das letzte Dock hat Ende der Siebziger dichtgemacht, und Anfang der Achtziger war das >Island< eine Industriebrache. Ich habe das hautnah erlebt, denn ich bin während dieser Zeit hier aufgewachsen. Als ich meinen Schulabschluß gemacht habe, hatte man hier keine Perspektive. Trotzdem gibt es Leute, die jede Aktivität auf der Isle of Dogs kritisieren ... sie hassen die Yuppies und die Auflösung alter, gewachsener, nachbarschaftlicher Strukturen. Sie sind wütend, weil es immer weniger Wohn-raum für die Arbeiterklasse gibt, die aus dem >Island< das gemacht hat, was es heute ist ...«
»Und Gordon Finch gehört zu diesen Leuten?« fragte Gemma.
»Das Paradoxe ist, daß ohne das Docklands-Projekt die Insel in den vergangenen fünfzehn Jahren zu einem riesigen Slum verkommen wäre, und ich denke, das sieht er auch. So vernünftig ist er. Aber es gibt eben Probleme und Interessenskonflikte, die man vielleicht sensibler hätte lösen können.« Janice seufzte und tippte Asche in den Aschenbecher. »Ironie des Schicksals ist, daß sowohl Gordon als auch Lewis Finch die Insel erhalten wollen. Außerdem sind ihre jeweiligen Ziele gar nicht so unvereinbar. Ich sehe täglich beide Seiten der Medaille, und es gibt Probleme, die angesprochen werden müssen. Die massive Neuerschließung, die wir auf der Insel erlebt haben, geht nicht ohne Fehler und Exzesse ab ... aber ich gehöre nicht zu den ewig Gestrigen. Ich möchte keinen Rückschritt in finstere Zeiten.«
Gemma kritzelte etwas in ihr Notizbuch, während sie Ordnung in ihre Gedanken zu bringen versuchte. »Wenn Lewis Finch so scharf auf die Hammondsche Immobilie ist, warum hat er in unserem Gespräch nichts davon erwähnt? Die Affäre mit Annabelle hat er bereitwillig zugegeben.«
»Mein Freund von der Bürgerinitiative wußte übrigens auch von der Liaison.«
»Ach wirklich?« murmelte Gemma. Es fiel ihr immer schwerer, zu glauben, daß nur Gordon davon keine Ahnung gehabt haben sollte. »Dann hat er auch von Gordon und Annabelle gewußt?«
»Nein, das war für ihn ein absoluter Schocker.«
»Was, wenn Annabelles Interesse an Gordon und seiner Familie mit dem möglichen Verkauf des Hammondschen Anwesens zu tun hatte ... und kein Auflehnen gegen die strikten Vorgaben ihres Vaters gewesen ist?« bemerkte Gemma nachdenklich. »Gordon hat doch gesagt, daß Annabelle den Kontakt zu ihm gesucht habe.«
»Gordon Finch kann unmöglich monatelang mit der Frau geschlafen haben, ohne zu merken, was sie wirklich von ihm wollte ... und damit darf man wohl annehmen, daß er vom Interesse des Vaters für die Immobilie gewußt hat. Mein Freund von der Bürgervereinigung hat ein verdammt loses Mundwerk. Und wenn er schon davon gewußt hat ...«
Gemma hatte plötzlich das Gefühl, regelrecht für dumm verkauft worden zu sein. Sie klappte ihr Notizbuch zu und stand auf. »Ich knöpfe ihn mir noch mal vor.«
»Gordon? Was ist mit Lewis?«
»Zuerst will ich von Gordon die Wahrheit wissen, bevor ich mit seinem Vater rede. Ich rufe Sie gleich danach an.« Sie verdrängte die Gedanken an die Mißstimmung zwischen ihr und Kincaid, die ihr eigenmächtiger Besuch bei Gordon ausgelöst hatte, winkte Janice zum Abschied zu und ging.
Gemma ließ ihren Wagen auf dem Parkplatz des Limehouse-Reviers stehen, ging die kurze Strecke zur West India Dock Road zu Fuß und nahm den Zug ab der Haltestelle West Ferry. Sie hatte plötzlich das Bedürfnis, das »Island« aus der erhöhten Perspektive der Bahntrasse zu sehen, und der Gedanke daran, daß sich ihr Auto in der Mittagshitze mittlerweile in einen glühenden Backofen verwandelt hatte, machte die Bahnfahrt noch verlockender. Wie schon am Vortag hatten sich mit fortschreitender Tageszeit Wolken am Himmel aufgetürmt, und die ganze Stadt hoffte auf die Erlösung aus dem Schwitzkasten durch ein Gewitter.
Als der Zug in die Canary Wharf Station einfuhr, sah Gemma zum gläsernen Gewölbedach des Terminals auf und dachte über das »Island« nach. Die Architektur des Bahnhofsgebäudes war eine Mischung aus dem Stil der Viktorianischen Zeit und kühnen, modernen Akzenten. Und die Canary Wharf selbst war Ausdruck jenes Optimismus und Opportunismus, der schon die Baumeister der Viktorianischen Epoche bei der Planung der großen Docks bewegt hatte.
Wenn Fortschritt unvermeidbar war, dann schien es, als habe Lewis Finch das Menschenmögliche getan, um die Gebäude zu retten, indem er sie neuen Bestimmungen zuführte, während Gordon danach strebte, die einzigartige soziale Struktur der Isle of Dog zu bewahren. Ihrer Ansicht nach war es eine Schande, daß Vater und Sohn nicht in der Lage waren, einen Kompromiß zu finden.
Der Zug machte hinter dem Mittelteil der West India Docks eine scharfe Linkskurve und hielt an der South Quay Station, wo der Schaden noch immer sichtbar war, den eine IRA-Bombe, die hier auf dem Parkplatz detoniert war, angerichtet hatte. Dann wandte sich der Zug erneut nach rechts und fuhr parallel zum Millwall Dock weiter. Rechts davon tauchte die London Arena auf, an die sich linker Hand Teresa Robbins’ Wohnblock und der ASDA-Supermarkt anschloß. Dahinter erhoben sich die steilen Ausläufer des Mudchute Parks und die hohen Bretterzäune, die die Bauarbeiten an der Mudchute Station verdeckten.
Nach Mudchute tauchte der Zug urplötzlich in offene Landschaft ein. Er durchquerte den riesigen Millwall Park auf dem alten Millwall Viadukt. Sie erkannte flüchtig die East Ferry Road und den Bowlingrasen, eingebettet in das Docklands Settlement, die Siedlung des sozialen Wohnungsbaus. Dann überquerten sie die Manchester Road und fuhren in die Island Gardens Station ein.
Nachdem sie ausgestiegen war, stand sie einen Moment auf dem erhöhten Bahnsteig, sah auf Annabelles Apartmentgebäude hinunter und nach links, wo sie den Eingang zum Fußgängertunnel verborgen hinter den Bäumen von Island Gardens wußte. Gemma verspürte plötzlich das Bedürfnis, sich die Geographie dieses Falls und der Ereignisse einzuprägen, die zu Annabelle Hammonds Tod geführt hatten. Dann lief sie die Wendeltreppe hinunter und machte sich auf die Suche nach Gordon Finch.
Als erstes versuchte sie es im Park in der Nähe des Tunnels, doch der Platz unter der Platane war leer. Im Tunnel selbst hatte sich der wenig begabte Gitarrenspieler breitgemacht, was Gemma erneut zu der Frage verleitete, wie dieser es schaffte, seinen Unterhalt als Straßenmusiker zu verdienen. Sie warf aus Mitleid einige Münzen in seinen Gitarrenkasten, wandte sich ab und stieg wieder zurück ins Sonnenlicht.
Beim Verlassen des Tunnels wandte sie sich nach rechts in die Ferry Street in der Nähe von Annabelles Wohnung und folgte ihr, bis diese eine scharfe Rechtskurve am Ferry House Pub machte - das war die Wegstrecke, die Reg Mortimer angeblich am Abend vor Annabelles Tod gegangen war. An der Manchester Road wurde die Ferry Street zur East Ferry Road, und wenige Schritte weiter stand sie vor Gordon Finchs Wohnung. Wie einfach, dachte Gemma. Annabelle konnte den Tunnel verlassen haben und entweder zum Lokal oder zu Gordons Wohnung gegangen sein. Plötzlich fragte sie sich, wo Lewis Finch eigentlich wohnte. Gordon hatte behauptet, sein Vater sei zurück auf das »Island« gezogen ... vielleicht in die Nähe seines Büros? Sie nahm sich vor, auf dem Revier die Adresse nachzuschlagen.
Heute drang kein Klarinettenton durch die offenen Fenster der Wohnung. Gemma überquerte die Straße, klopfte an die blaue Tür und sagte sich, daß er, wenn sie Pech hatte, genausogut in South Kensington oder sogar in Islington mit seiner Klarinette unterwegs sein konnte.
Nach wenigen Minuten jedoch ging die Tür auf. Gordon starrte sie schlaftrunken an. »Gemma?«
»Habe ich Sie geweckt?« fragte sie. Das Haar stand ihm wirr vom Kopf ab und die eine Gesichtshälfte zeigte deutliche Schlafspuren.
Er schüttelte den Kopf, als müsse er wach werden. »Ja, schätze schon«, antwortete er. »Hatte gestern eine lange Nacht im Aufnahmestudio. Sind erst im Morgengrauen fertig geworden.« Er gähnte. »Wenn Sie mich wieder mit Fragen löchern wollen, dann kommen Sie lieber rein. Aber zuerst setze ich Kaffeewasser auf.« Hundekrallen ratschten über die Holzbretter der Treppe, als Sam herunterkam. Nach einem fragenden Blick auf seinen Herrn, verschwand er in einer Rabatte an der Seite des Gebäudes und machte sein Geschäft.
Als der Hund fertig war, folgte Gemma den beiden die Treppe hinauf. Die Wohnung sah aus wie bei ihrem letzten Besuch, nur war diesmal das schmale Bett nicht gemacht. Sam streckte sich mit einem Seufzer davor aus und schloß die Augen.
»Er wird für diese langen Nächte allmählich zu alt«, bemerkte Gordon und gab seinen Versuch auf, die Bettdecke zu ordnen. »Dabei hat’s so ausgesehen, als habe er im Studio nur geschlafen.« Er ging in die Hocke und rieb dem Hund die Ohren. »Schätze, er kann’s nicht leiden, wenn sein normaler Tagesablauf gestört wird.« Er richtete sich auf und deutete auf den kleinen Tisch. »Machen Sie sich’s bequem«, forderte er sie ohne den befürchteten Sarkasmus auf. »Dauert nur eine Minute«, fügte er hinzu, bevor er im Badezimmer verschwand.
Als er kurz darauf zurückkam, hatte er sich die Haare gekämmt und das Hemd zugeknöpft.
Er setzte Wasser auf und nahm eine französische Kaffeekanne und eine Tüte gemahlenen Kaffee aus dem Schrank in der kleinen Küche. Während er Kaffee in die Kanne löffelte, sah er Gemma fragend an. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich habe gerade auf dem Revier Kaffee getrunken, sofern man das Gesöff Kaffee nennen kann. Eines Tages bringen sie damit noch jemanden um.«
Sie merkte, wie idiotisch das klang, und unterdrückte jeden weiteren Versuch, das Schweigen mit Platitüden zu füllen. Statt dessen fragte sie: »Was haben Sie denn im Studio aufgenommen?«
»Ein paar Freunde von einer Rockband brauchten ein Klarinettensolo für eines ihrer Demobänder.«
»Machen Sie häufiger Studioaufnahmen?« wollte sie neugierig wissen.
Gordon zuckte die Schultern und goß Wasser über den Kaffee. »Ich lehne kein Angebot ab ... ist eine Abwechslung zur Straße.«
»Hätte nicht gedacht, daß Bands eine Klarinette für ihre Musik brauchen.«
»Ich spiele alles - Jazz, Klassik - und nehme sogar Musik für Werbespots auf. Ich bin kein musikalischer Snob. Musik ist für mich keine Einbahnstraße.« Er sah auf und goß Kaffee in einen der beiden Becher, die er zu besitzen schien. »Die Rock-Freaks, die Klassik für Schrott halten, sind genauso dämlich wie die Klassik-Fans, die Rock beschissen finden.«
Er versuchte, seinen Kaffee in der Tasse durch Hineinblasen abzukühlen, und trank vorsichtig einen Schluck. Dann setzte er sich ihr gegenüber hin. Seine Augen waren jetzt klar und direkt auf sie gerichtet. »Also, Sergeant, was liegt denn heute an?«
»Die Wahrheit.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich dachte, die hätten wir abgehakt.«
»Sie müssen gewußt haben, daß Ihr Vater großes Interesse daran hatte, den Lagerspeicher der Hammonds zu kaufen und das Gebäude zu renovieren und umzubauen«, platzte sie heraus. »Warum haben Sie mir das nicht gesagt?«
»Von den Hammonds? Sie meinen Annabelles Firma? Warum hätte ich das wissen sollen?« entgegnete er, und das klang plausibel. »Ich habe meinen Vater seit einer Ewigkeit...«
»Jedenfalls scheinen es die Spatzen von den Dächern gepfiffen zu haben. Sogar Ihr Freund von der Bürgervereinigung hat davon gewußt. Und da soll ich Ihnen abnehmen, daß er es Ihnen gegenüber nie erwähnt hat? Ganz zu schweigen davon, daß Sie es vermutlich schon seit langem gewußt haben.«
Gordon starrte sie mit ausdrucksloser Miene an. »Mein Vater kauft ständig Immobilien ... das ist sein Job. Warum sollte jemand über ein Objekt reden, das er nicht hatte kaufen können? Sie messen da Geschichten Bedeutung zu, die nie eine hatten, Sergeant.«
Gemma wich seinem Blick nicht aus. »Also gut. Versuchen wir’s andersherum. All diese Fragen, die Annabelle Ihnen bezüglich Ihrer Familie angeblich gestellt hat... bezogen sich einige davon auf die Geschäfte Ihres Vaters?«
»Schätze schon. Aber das wäre mir nicht besonders aufgefallen. Die meisten Leute sind neugierig, was meinen Vater betrifft.«
»Und Sie haben sich nie gefragt - als sie den Kontakt mit Ihnen suchte und Sie verführte -, ob sie nicht unterschwellig ein bestimmtes Motiv gehabt hat?«
»Wollen Sie damit sagen, daß sie eines gebraucht hätte?« Seine Augen blickten sie herausfordernd an.
Gemma fühlte, wie sie rot wurde. »Ich glaube, Sie haben von der Affäre zwischen Annabelle und Ihrem Vater gewußt. Ich glaube, Sie wußten vom Interesse Ihres Vaters an dem Speicher. Und ich glaube, Sie haben mich von Anfang an belogen ... was Ihre Gefühle für Annabelle betraf. Sie hat Sie geliebt. Das hat sie Ihnen an jenem Abend gesagt, stimmt’s?«
Gordons Fingerknöchel, die den Henkel des Kaffeebechers umschlossen, wurden weiß. Mit gefährlich ruhiger Stimme sagte er: »Sie wissen überhaupt nichts. Bei Annabelle ging es nie um Liebe. Es ging immer nur um Macht. Ich bin nicht blöd, Gemma. Und ich war nur gewillt, mich eine bestimmte Zeit lang benutzen zu lassen.«
»Sie haben die Beziehung zu ihr abgebrochen, weil Sie herausbekommen hatten, daß sie mit Ihrem Vater schläft. Sie haben sie geliebt. Und Sie haben nie aufgehört, sie zu lieben. Trotzdem wollten Sie ihr das nicht verzeihen.«
»Ihr verzeihen?« Gordon stieß seinen Stuhl zurück, schüttelte eine Zigarette aus dem Päckchen auf der Küchentheke und zündete mit einer wütenden Handbewegung ein Streichholz an. »Warum hätte ich ihr überhaupt glauben sollen? Und welchen Unterschied hätte es schon gemacht, wenn ich’s getan hätte? Können Sie sich vorstellen, wie eine öffentlich bekannte Beziehung zu Annabelle Hammond ausgesehen hätte? Glauben Sie, ich hätte mich einer Tauglichkeitsprüfung ihrer Familie unterzogen? Daß ich mich in Jackett und Krawatte dazu korrumpieren lasse, als Lakai im Familienunternehmen eine gute Figur zu machen?«
Gemma stand so hastig auf, daß ihr Stuhl wackelte. »Sie haben mich angelogen. Und ich habe für Sie auch noch meinen Ruf aufs Spiel gesetzt!«
»Ach, darum geht es Ihnen? Um Ihre berufliche Glaubwürdigkeit?« Sein Gesicht war nur noch Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. »Alles Quatsch! Ich bin schon früher von der Polizei vernommen worden, und die haben nicht mit mir im Park getanzt oder sind allein in meine Wohnung gekommen. Wenn Sie wollen, daß ich ehrlich mit Ihnen bin, Gemma, seien Sie erst mal ehrlich zu mir. Und dann sagen Sie mir ins Gesicht, daß es nicht um Sie und um mich geht!«
»Ich ... Sie ...« Gemma konnte den Blick nicht von ihm wenden. Und zu ihrem Entsetzen begann sie zu zittern.
»Das bringen Sie nicht über sich, stimmt’s?« Er brüllte beinahe. Dann warf er seine angerauchte Zigarette in seinen Kaffee. Sam öffnete die Augen und sah zu ihnen auf. Er hatte die Stirn in Falten gelegt. »Werfen Sie mir bloß keine Unaufrichtigkeiten vor, solange Sie das nicht zugeben wollen.«
»Also gut! Verdammt noch mal!« Gemma wurde ebenfalls laut. »Es geht nicht um meine Glaubwürdigkeit. Es geht nicht um den Job. Es geht darum, was zwischen uns ist ... was immer das auch sein mag ...«
Gordon packte sie grob bei den Schultern. Seine Fingerkuppen schienen sich in ihre nackte Haut einzubrennen.
In einem Augenblick erschreckender Klarheit erkannte Gemma, daß seine blonden Augenwimpern an den Wurzeln dunkler waren, daß er unter einer Augenbraue eine kleine Narbe und daß er eine scharfe Falte in der Unterlippe hatte. Sein Atem roch nach Zahnpasta, Kaffee und Nikotin, und sie atmete den strengen Geruch seiner Haut ein, der noch vom Schlafen stammte. Ihr Blick schweifte zum zerwühlten Bett, und plötzlich sah sie Annabelle dort, ihr makelloser Körper nackt, das rote Haar um sich ausgebreitet ... und dann sah sie sich selbst dort mit ihm ...
Ein Telefon meldete sich schrill irgendwo in der Nähe. Gemma fuhr zusammen, ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Sie entzog sich mit einem Ruck seinem Griff. Sie brauchte einen Moment, um zu registrieren, daß es ihr Handy in der Außentasche ihrer Handtasche war, das klingelte.
»Gehen Sie schon endlich dran, mein Gott!« Gordon atmete schwer.
»Ich ...« Gemma trat einen weiteren Schritt zurück und tastete nach ihrer Tasche. »Nein ... ich ... ich muß gehen.« Ihre Finger umschlossen den Henkel der Tasche. Sie drehte sich um und rannte die Treppe hinunter, als sei der Teufel hinter ihr her.
»Truthahn«, sagte die Köchin. »Wir braten den größten Truthahn, den du je gesehen hast... dieser Mr. Hitler soll ja nicht denken, er könnte uns unser Weihnachtsfest vermiesen«, fügte sie empört hinzu und wischte sich die rote Nasenspitze mit der Schürze ab.
»Und Mince Pie?« warf Lewis ein. Er saß am Küchentisch, hatte die Beine um die Stuhlbeine geschlungen und brütete übereinem Aufsatz für Mr. Cuddy über den Italienisch-Griechischen Krieg.
Obwohl ihn das Herrenhaus längst nicht mehr beeindruckte - er rannte sorglos die Treppen hinauf und hinab zum Schulzimmer im ersten Stock, wo er und William bei Mr. Cuddy Unterricht hatten, und klopfte ohne Zögern an die Tür von Edwinas Salon -, hatte er es sich angewöhnt, seine Hausaufgaben in der Küche zu erledigen. Hier war es immer warm, gute Düfte erfüllten die Luft, und er hatte gelernt, dem Geplauder der Köchin zu antworten, ohne ihr wirklich zuzuhören.
»Sag bloß keiner Menschenseele was von meinen Mince Pies«, warnte die Köchin. »Gerade gestern habe ich gehört, wie Mavis Cole den Kolonialwarenhändler um ein paar Sultaninen hat erpressen wollen. Wenn ’s bekannt wird, haben wir hier das halbe Dorf, das bettelt.«
Obst jeder Art... ob frisch, getrocknet oder kandiert... war Mangelware geworden. Aber die Köchin hatte noch einige Gläser eingemachte Minzpaste vom vergangenen Weihnachtsfest an einem geheimen Platz in der Speisekammer aufbewahrt und war entschlossen, das beste daraus zu machen. Lewis hatte den Verdacht, daß sie ungeachtet der Warnung bereits ein paar Anspielungen im Dorfgemacht hatte und sich schon darauf freute, von einigen Leuten um einen Teil des Vorrats angebettelt zu werden. Und wenn, wie er vermutete, die Köchin eine Schwäche für ihn hatte, so hatte er keine Skrupel, daraus Vorteile zu ziehen. »Kommt daher, weil Ihre Pasteten die besten sind«, sagte er und sah von seinem Aufsatz auf.
»Du bist ein Schmeichler, Lewis Finch! Paß nur auf«, entgegnete die Köchin und fächelte sich Kühlung zu, aber ihr Gesicht wurde noch eine Nuance röter, und Lewis wußte, daß er den richtigen Ton getroffen hatte. »Was ist jetzt mit den Zwiebeln für deine Mutter? Sollen wir sie hübsch verpacken ... zum Beispiel zusammen mit einem Kürbis-Ingwer-Mus?«
»Ja, bitte! Und vielleicht ein paar Reineclauden!« Lewis schenkte ihr sein charmantestes Lächeln.
In diesem Jahr fiel Lewis’ Weihnachtsbesuch zu Hause aus. Obwohl seit dem Überfall auf Coventry am 14. November die Anzahl der Angriffe auf London zurückgegangen war, fielen auch weiterhin Bomben. Und selbst wenn London sicher gewesen wäre, gab es das vertraute Zuhause nicht mehr. Die Schäden am Haus in der Stebondale Street waren irreparabel; seine Eltern lebten mittlerweile in einer winzigen Ein-Zimmer-Wohnung in Millwall, einige Blocks vom Mudchute Park entfernt.
Die Lebensmittelknappheit war in London noch akuter als auf dem Land, und er und die Köchin planten, ein paar Kostbarkeiten, einschließlich der Zwiebel aus dem Küchengarten des Herrenhauses, nach London zu schicken. Seine Mutter hatte geschrieben, daß sie eine einzelne Zwiebel auf einem Kissen placiert im Schaufenster des Gemüseladensgesehen habe -zum Preis von einem Sixpence -, und ihr Anblick habe ihr vor Verlangen die Tränen in die Augen getrieben.
Seine Mutter schrieb oft. In ihren Briefen berichtete sie, wie sie Brände löschten und Verschüttete retteten, denn sie betätigte sich mittlerweile als Luftschutzwart. Nach dem Chaos der ersten Bombennächte hatte sie beschlossen, sich nützlich zu machen, und ihr Ziel mit dem ihr eigenen Sinn fürs Praktische verfolgt. Außerdem, so hatte sie Lewis in einem Brief gestanden, den sie während einer späten Nachtwache geschrieben hatte, half es ihr, sich von der Sorge um seine Brüder abzulenken, die beide auf einem Zerstörer im Nordatlantik Dienst taten ... ganz zu schweigen von dem Kummer mit Cath, die angefangen hatte, ins Kino zu gehen, und die ganze Nacht in öffentlichen Unterständen verbrachte, wenn die Luftschutzsirenen heulten, während sie unterwegs war.
»Richtig. Und die Reineclauden«, wiederholte die Köchin augenzwinkernd. »Dann glauben deine Mutter und dein Vater, der Weihnachtsmann sei mit der Post gekommen.«
In diesem Moment betrat John die Küche, den Arm voller Brennholz für den Herd, und während er und die Köchin über die Ereignisse des Tages redeten, konzentrierte Lewis sich wieder auf seinen Aufsatz. Im vergangenen Jahr hatte er zu seiner Überraschung entdeckt, daß Schule eigentlich etwas Tolles war. Mr. Cuddy konnte sogar Geschichte interessant darstellen, und er war entschlossen, den Kindern Krieg in »historischen Zusammenhängen« begreiflich zu machen. Sie hatten eine riesige Karte im Schulzimmer aufgehängt und verfolgten darauf die militärischen Bewegungen in Europa und dem Mittelmeerraum mit bunten Nadeln und Farbstiften. Damit erhielten die Namen der Orte aus den Nachrichten auch für Lewis eine Bedeutung, aber gelegentlich genügte ein Blick, um ihn daran zu erinnern, wie nahe ihr kleiner Teil von England dem besetzten Frankreich war, und dann überkam ihn Angst. Er versuchte, nicht daran zu denken, was geschehen könnte, wenn Hitler beschloß, seine Armee über den Kanal zu schicken. Zumindest vorerst schien er anderweitig beschäftigt zu sein, obwohl Lewis im Traum Hitlers Gehirn als großes, rotes Auge gesehen hatte, das begehrlich in diese und jene Richtung schwenkte. Das Bild verfolgte ihn seitdem.
William stürmte durch die Tür zum Korridor und riß Lewis aus seinen Gedanken. »Ich bin fertig.« William quälte ihn mit einem Grinsen. »Wettrennen zu den Läden. Edwina will eine Zeitung vor Ladenschluß, und sie hat gesagt, ich darf mir Leim für mein Modell kaufen.«
»Gut«, sagte Lewis und ließ seinen angekauten Bleistift auf das Blatt Papier fallen. Zusammen rannten sie aus der Tür und in den Hof hinaus.
Eine blutrote Sonne ging vor einem durchscheinend blauen Himmel über den Schattenrissen der Bäume unter. Die Luft roch nach Frost, Holz und Rauch, und die letzten Blätter wirbelten über das Hofpflaster, als habe eine unsichtbare Hand sie aufgescheucht. Lewis blieb stehen. Plötzlich hatte ihn ein Gefühl erfaßt, das er nicht deuten konnte, ihn jedoch daran erinnerte, wie er sich gefühlt hatte, als er gesehen hatte, wie einer der großen Überseedampfer in die Docks zu Hause einlief.
Dann war der Moment vorüber. William rief ihm zu, er solle sich beeilen, und er sprintete die Auffahrt hinunter.
Eine Woche später überquerte Lewis den Hof, nachdem er seine Mittagspflichten im Stall erledigt hatte. Als er den Blick hob, sah er seine Mutter in der Küchentür stehen. Er blieb stehen, blinzelte, und glaubte einen Moment an eine Sehstörung. Aber es war tatsächlich seine Mutter in ihrem alten, flaschengrünen Mantel und dem pflaumenblauen Filzhut, den sie für sonntags aufbewahrte, und sie lächelte und streckte die Arme nach ihm aus.
Dann erst rannte er los, schlitterte über die vom Nieselregen glitschigen Pflastersteine, erreichte sie und wurde heftig umarmt. Zu seiner Überraschung stellte er fest, daß er genauso groß wie die Mutter, wenn nicht größer als sie geworden war.
»Lewis Finch, ich wette, du bist mindestens einen Fuß gewachsen.« Sie hielt ihn von sich weg, um ihn zu betrachten. Doch obwohl sie noch immer lächelte, kam ihm ihre Stimme merkwürdig vor. Sie klang seltsam brüchig. Aus der Nähe erkannte er, daß ihre blasse Haut den bläulichen Schimmer frischer Milch hatte, und ihre Augen leicht geschwollen waren.
»Du hast doch geschrieben, daß du nicht zu Besuch kommst«, sagte er und verdrängte die aufsteigende Angst. »Hast du mein Geschenk gekriegt? Bist du deshalb hier? Und wo ist Dad?« Dann erregte ein Geräusch aus der Küche seine Aufmerksamkeit. Er sah an seiner Mutter vorbei in den Raum. Die Köchin saß am Tisch, das Gesicht hinter der Schürze verborgen. Und plötzlich wußte er, daß sie weinte. Ihre Schultern zuckten.
Er sah seine Mutter an und trat zurück. »Was ist los? Was ist passiert?«
»Machen wir einen Spaziergang ... dabei können wir reden.« Sie hakte ihn unter, vermied es jedoch, ihn anzusehen, und aus der Küche ertönte erneut das Schluchzen der Köchin. .
Er führte sie blind durch das Gatter im Hinterhof über das schwärzliche Stoppelfeld zu der alten Steinmauer, die sich entlang des Tals zog. Unter ihnen reichten die Bäume hangab- und hangaufwärts, ihre Äste waren im Nebel grau und gespenstisch in dem See rostbrauner Blätter.
»Wir haben ein Telegramm bekommen«, begann seine Mutter behutsam mit ruhiger Stimme. »Ein Nachschubkonvoi und die Marineeskorte wurden im Nordatlantik angegriffen ...«
»Ist es Tommy? Oder Edward?« fiel Lewis ihr ins Wort. Die Ahnung dessen, was kommen mußte, schnürte ihm die Kehle zu. Er hörte ein leises Rauschen in den Ohren, und unwillkürlich kamen ihm die Namen deutscher Schlachtschiffe in den Sinn, die er in der Zeitung gelesen hatte: Scharnhorst, Gneisenau, Admiral Scheer.
Seine Mutter antwortete nicht. Als Lewis endlich wagte, sie anzusehen, starrte sie unverwandt ins Tal, das Gesicht unbeweglich, bis auf das Zucken eines Nervs am Mundwinkel.
»Nein.« Lewis versuchte, es hinauszuschreien, aber der Nebel schien seine Worte zu erfassen und zu dämpfen.
»Deine Brüder waren nur zehn Monate auseinander«, sagte seine Mutter bedächtig. »Und sie wollten von Anfang an nur zusammen sein.« Endlich wandte sie sich ihm zu und berührte seine Wange mit kalten Fingerspitzen. »Oh, Lewis, ich fürchte, das ist der einzige Trost, den wir haben.«
Anfangs, als Gemma in die Garagenwohnung der Cavendishs gezogen war, die nur eine winzige Dusche hatte, hatte Hazel ihr freimütig die Nutzung der Badewanne im Haus angeboten. Gemma hatte selten die Zeit gefunden, das Angebot wahrzunehmen, aber an diesem Abend, nachdem die Kinder gebadet und im Bett waren, war sie mit einem Handtuch, Morgenmantel und einigen CDs ins Haus hinübergegangen und hatte sich im Badezimmer eingeschlossen.
Hazel hatte einen kleinen CD-Player in einem Regal über der Badewanne und behauptete, Musik hielte nicht nur die Kinder ruhig im Bad, sondern half ihr, sich zu regenerieren, und in diesem Moment fühlte Gemma ein inständiges Bedürfnis, sich einer restaurativen Behandlung zu unterziehen. Sie ließ das Wasser ein, gab Lavendelbadeöl hinzu, zündete die Kerzen an, die Hazel aufgestellt hatte, und zögerte bei der Auswahl der Musik. Schließlich entschied sie sich für Jim Brickman, und während die Klavierklänge das Badezimmer erfüllten, zog sie sich aus und löschte das Licht.
Das Badezimmer war groß genug, um in vergangenen Zeiten als Ankleidezimmer gedient zu haben, aber Hazel war es gelungen, ihm eine heitere und gemütliche Atmosphäre zu verleihen.
Gemma ließ sich in das schäumende Wasser gleiten und zwang sich, sich auf die Musik zu konzentrieren, als wolle sie deren Reinheit und Schlichtheit in sich aufsaugen.
Unwillkürlich jedoch sah sie auf ihren Körper hinab, der halb ins Wasser eingetaucht war, und berührte ihre nackten Schultern, als könnten Gordon Finchs Fingerspitzen fühlbare Spuren auf ihrer Haut hinterlassen haben. Selbst die Erinnerung an dieses Gefühl ließ sie vor Scham erschaudern. Sie versuchte sich einzureden, daß an diesem Nachmittag eigentlich nichts zwischen ihnen vorgefallen sei, aber sie wußte, daß sie sich nahe am Abgrund der Versuchung bewegt hatte ... und wäre sie gefallen, hätte sie sowohl ihre Karriere als auch ihre Beziehung zu Duncan unwiderruflich zerstört.
So sehr sie an Gordon Finchs Unschuld glauben wollte, er war ein Verdächtiger in einem Mordfall, und ihr Benehmen war unüberlegt und gefährlich gewesen. Die Tatsache, daß sie den Verdacht hatte, daß Duncan während eines Falls, den sie im vergangenen Jahr bearbeitet hatten, etwas Ähnliches passiert war, machte das alles auch nicht besser. Außerdem war er zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit ihr zusammen gewesen.
Sie schloß die Augen und ließ sich tiefer ins Wasser gleiten. Sie wünschte, all das abwaschen zu können, was geschehen war. Aber sie wußte, daß keine Schuld oder Reue die Verbindung ändern konnte, die zwischen ihr und Gordon Finch bestand ... eine Verbindung, von der sie nie bezweifelt hatte, daß sie auf Gegenseitigkeit beruhte, eine Verbindung, so mächtig, daß sie mit dem Gedanken gespielt hatte, alles wegzuwerfen, was ihr Leben, ihre Persönlichkeit ausmachte.
Der Gedanke jagte ihr solche Angst ein, daß Tränen unter ihren geschlossenen Lidern hervorquollen. Sie kämpfte blinzelnd und wütend dagegen an. War ihre Bindung an ihren Job und an Duncan so oberflächlich, daß sie unter dem leichtesten Druck zusammenbrach?
Konnte es sein, daß sie für sich selbst eine Fremde war?