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In der Stille des Todes; vielleicht seh’ und erkenne ich, schemenhaft nur, über mich gebeugt, letztes Licht im Dunkel, noch einmal, wie einst dein Gesicht.

 

Rupert Brooke aus >Choriambi I<

 

Newnham 20. Juni 1962

  Liebste Mami,

es gibt so viel zu erzählen, daß ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. Ich habe mein Bett seit zwei Tagen nicht mehr gesehen, aber ich bin noch immer viel zu aufgeregt, um zu schlafen, und deshalb habe ich beschlossen, Dir die Woche der Maifeiern in Cambridge zu schildern, solang mir all die wunderbaren Dinge noch frisch in Erinnerung sind.

  Kaum hatte ich meine Examen geschrieben (ich war wie in Trance vor Erschöpfung), begann zum Glück der Party-Marathon, denn sonst hätte ich nur bange auf die Ergebnisse gewartet. Die Stimmung hier grenzt an Hysterie, denn alle sind erleichtert, ängstlich und völlig durchgedreht vom nächtelangen Pauken. Daphne und ich sind brav von College zu College treppauf und treppab marschiert, wild entschlossen, keine einzige Einladung auszulassen. Einige der Feste waren pompös, andere reichlich improvisiert mit Kartoffelchips und Bier, aber dafür meistens am amüsantesten.

  Sogar auf den schicken Parties ging es entspannt und locker zu. Es wurde viel getrunken, geredet und getanzt. Wenn mir etwas den Spaß verdorben hat, dann die Tatsache, daß ich einen hartnäckigen Verehrer erworben habe - und ganz unfreiwillig. Er ist ein dunkelhaariger, düster dreinschauender Waliser namens Morgan Ashby; ein Kunststudent, der mir immer und überall an den Fersen klebt. Er beobachtet mich stets mit seelenvollem Blick aus der Entfernung, was mich irritiert. Irgendwann hat er den Mut gehabt, mich zu seiner Maifeier einzuladen, aber ich habe keine Lust, die Cathy zu seinem Heathcliff zu geben und habe die Einladung ausgeschlagen. Davon abgesehen war ich schon seit Monaten bei Adam eingeladen, und ich hätte den lieben, süßen Adam um keinen Preis der Welt versetzt.

  Wir sind ein Kleeblatt, Adam und ich, Nathan und Daphne, und der Himmel hat es sich offenbar zur Aufgabe gemacht, für uns die perfekte Kulisse fürs Ende unseres ersten Jahrs und unseres ersten Maiballs in Cambridge zu schaffen: Vollmond und glitzernde Sterne in einer beinahe tropischen Nacht. Im Garten hatten sie Lichterketten in die Bäume gehängt. Es sah aus wie im Märchen. Wir haben auf dem Rasen getanzt. Daphne und ich trugen beide durchsichtiges Weiß und haben uns eingebildet, Najaden (oder heißen sie Dryaden?) zu sein und schweben zu können.

  Wir können uns nun zu den Überlebenden zählen. Wir haben die Nacht durchgemacht und sind in den frühen Morgenstunden mit einem Nachen zum Frühstück nach Grantchester gestakt. Wir waren zwar geschafft, aber noch immer in Form. In Grantchester haben wir Adams Freund Darcy Eliot und seine Freundin getroffen, eine geistlose Blondine aus Girton. Leider, muß ich sagen, denn Darcy scheint entschlossen, zu uns zu gehören. Er sieht nicht nur umwerfend gut aus, ist charmant und ein vielversprechender Poet - seine Mutter ist auch noch Margery Lester, die Romanautorin. Du weißt, wie sehr ich ihre Bücher liebe - schließlich hast Du sie mir gegeben. Und ich wage kaum zu hoffen, sie eines Tages kennenzulernen.

  Das Morgenlicht ist sanft und schattenlos geworden, und wenn ich die Augen schließe, kann ich einen Hauch von Regen riechen. Mein Ballkleid liegt auf dem Stuhl, ein bißchen verknautscht, jetzt im Tageslicht. Ich fühle mich verloren, wie Aschenputtel am Tag danach. Diese Zeit kommt nie wieder, und ich frage mich, ob ich es je ertragen kann, sie verloren zu haben.

  Meine Lider sind schwer. Aber eines, ein letztes, gibt es noch zu erzählen. Bei unserer Rückkehr nach Cambridge schließlich hingen meine Examensergebnisse am Schwarzen Brett vor dem Senate House aus. Es war gut, daß Adam mich stützen konnte. Die Knie wurden mir butterweich, und ich mußte die Augen zumachen, während er sie mir vorlas. Aber die Aufregung war umsonst. Ich habe besser abgeschnitten als erwartet, ich habe meine Sache sogar erstaunlich gut gemacht.

  Jetzt freue ich mich nur noch auf die langen Semesterferien und zu Hause.

Lydia

 

Gemma bereute ihre Entscheidung mit jeder Meile mehr, die sie zurücklegten. Nach dem vergangenen Sonntag und dem Krach wegen Kincaids Ex-Frau (den Streit hatte sie vom Zaun gebrochen, erinnerte sie sich erneut) hatten Duncan und sie sich während der Woche im Büro gemieden. Zwar waren sie es nicht gewohnt, viel Zeit miteinander zu verbringen, aber bis Freitag hatte sie ihn doch so schrecklich vermißt, daß sie als Tatsache ins Auge gefaßt hatte, sich zu entschuldigen.

  Gemma erwischte Kincaid in seinem Büro, als er gerade sein Jackett anzog. »Können wir mal miteinander reden?« fragte sie zögernd. »Wie wär’s mit einem Bier in der Kneipe - wenn du nichts Besseres vorhast.«

  Kincaid, der Akten von seinem Schreibtisch in die Aktentasche verfrachtete, hielt inne. »Beruflich oder privat?« fragte er und musterte sie aufreizend unbeteiligt.

  »Privat.«

  Er zog die Augenbrauen hoch. »Lädst du mich ein?«

  Sie lächelte. Das war ein gutes Zeichen. Er schien nicht allzu böse auf sie zu sein. »Geizknochen. Ich schätze, ein Bier kann ich dir spendieren.«

  »Abgemacht«, sagte er und schob sie zur Tür hinaus.

  Ohne weitere Diskussion steuerten sie den Pub an der Wilfred Street in der Nähe des Yard an. Seit sie Partner geworden waren, tranken sie dort gelegentlich nach Dienstschluß ein Bier. Im Lauf des Tages war unverhofft ein eisiger Wind aufgekommen. Als sie den Pub erreichten, atmeten sie dankbar die Wärme des überfüllten Schankraums ein. Gemma hielt nach einem freiwerdenden Tisch Ausschau, während Kincaid sich in das Gedränge an der Theke stürzte. »Heute abend schone ich deinen Geldbeutel noch mal«, sagte er über die Schulter, bevor er in den Nikotindunst abtauchte. »Aber das nächste Mal bist du dran.«

  Gemma ergatterte ihren Lieblingstisch in der Ecke neben dem Ofen. Das war ein gutes Omen. Das Paar, das dort gesessen hatte, stand in dem Moment auf, als Kincaid mit dem Bier kam. Sie hechtete wie ein Rugby-Stürmer darauf zu und sah mit strahlendem Lächeln von ihrem Stuhl auf, als er an den Tisch trat.

  »Gut gemacht«, lobte er sie, stellte die Gläser ab und setzte sich neben sie. Er hob sein Glas und prostete ihr zu. »War eine verdammt lange Woche.«

  Gemma erkannte ihre Chance und war wild entschlossen, sie zu nutzen. Sie trank einen Schluck Bier, um sich die Kehle zu schmieren, und legte los: »Das mit letztem Sonntag tut mir leid. Ich meine, was ich gesagt habe. Ich bin übers Ziel hinausgeschossen. Außerdem ging es mich nichts an.« Sie studierte eingehend ihren Bierfilz und hob dann den Blick zu ihm auf. »Es ist nur ... Ich weiß, es ist idiotisch ... aber die Vorstellung, daß du dich mit ihr triffst, macht mich ... beunruhigt mich.« Sie wandte erneut den Blick ab.

  Kincaid schwieg einen Moment, und Gemma kam sich wie eine Idiotin vor. Dann sagte er: »Ich weiß. Das hätte mir von Anfang an klar sein müssen.« Überrascht sah sie auf und wollte etwas sagen, doch er fuhr fort: »Aber du hast keinen Grund, beunruhigt zu sein. Oder dich bedroht zu fühlen.«

  Gemma schwieg. Sie traute ihrer Stimme noch nicht.

  Kincaid drehte sein Glas auf dem Untersetzer und fügte hinzu: »Zugegeben, es hat mich umgehauen, Vic wiederzusehen. Es ist damals eine Menge ungeklärt geblieben zwischen uns.«

  »Hast du ...« Gemma schluckte. »Ich meine, habt ihr das jetzt geklärt?« formulierte sie vorsichtig.

  »Darüber habe ich die ganze Woche nachgedacht. Dabei ist mir erstaunlicherweise klargeworden, daß ich sie sehr mag. Aber ich bin nicht mehr in sie verliebt.« Er fing ihren Blick auf. »Vic hat gesagt, sie habe das Gefühl, daß jemand auf mich wartet. Ich habe geantwortet: Ich glaube schon.«

  Beim Gedanken daran, wie sie ihn danach empfangen hatte, wurde sie rot vor Scham. »Und die Sache, die du für sie herausfinden solltest? Was hat dein Freund in Cambridge dazu gesagt?« erkundigte sie sich, um das Thema zu wechseln.

  »Er hatte mit dem Fall nichts zu tun, aber ich konnte die Akte einsehen.« Kincaid zuckte die Schultern. »Da sind tatsächlich ein paar Dinge nicht ganz schlüssig. Aber ich sehe keine Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen.«

  »Hast du’s ihr schon gesagt?«

  Er schüttelte den Kopf. »Ich wollte das nicht am Telefon tun. Außerdem möchte ich ihr die Notizen geben, die ich mir während der Aktenlektüre gemacht habe. Vielleicht kann sie damit was anfangen. Ich fahre Sonntag zu ihr.« Er sah Gemma an und lächelte sein gewinnendstes Lächeln.

  »Kommst du diesmal mit? Ich könnte moralische Unterstützung brauchen.«

  Sie schaffte ein Nicken, bevor sie einen Rückzieher machen konnte. Er nahm ihre Hand. »Hast du heute abend was vor? Du hast mir gefehlt.«

  Gemma nahm sehr bewußt die Form seiner Finger wahr, die sich über ihre Hand gelegt hatten, den Bartschatten, den ein langer Tag auf seinem Kinn zurückgelassen hatte, sein Knie, das ihr Bein unter dem Tisch berührte, das Gefühl seiner Nähe. Sie räusperte sich. »Ich habe Hazel gesagt, daß es heute spät werden könnte. Ist schließlich Freitag und so ...«

  Kincaid grinste. »Schlaues Mädchen. Dann komm mit zu mir. Wir nehmen uns auf dem Weg was zu essen mit - oder möchtest du irgendwo schick essen gehen?« Ihre Miene schien Antwort genug zu sein, denn er zog sie auf die Beine. Das Bier blieb halb getrunken zurück. »Machen wir, daß wir hier rauskommen!«

  Sie hatten sich also versöhnt, den Samstag gemeinsam verbracht und waren mit Toby in den Zoo im Regent’s Park gegangen.

  Jetzt war es unvermeidlich Sonntag, und sie fuhren auf der Autobahn in Richtung Cambridge. »Wann kaufst du dir einen neuen Wagen?« fragte Gemma, um ihre wachsende Nervosität zu überspielen. »Die Sprungfedern im Sitz bohren Löcher in meinen Hintern wie in einen Schweizer Käse.« Sie versuchte auf dem Beifahrersitz von Kincaids altem Midget eine bequemere Position zu finden. »Und durch die Ritzen kommt schon wieder das Wasser rein.« Es nieselte, so daß die Windschutzscheibe ständig vom öligen Spritzwasser der anderen Autos überzogen war, der Regen aber nicht ausreichte, um die Scheibe sauberzuwaschen.

  Gemma sah Kincaid von der Seite an. »Ich weiß, was du sagen willst, also gib dir keine Mühe. Er ist ein >Klassiker<«, äffte sie ihn nach und rollte die Augen. »Einen alten Bentley nenne ich einen Klassiker. Oder einen Rolls. Etwas mit Stil und viel Chrom. Das hier ist kein Klassiker.«

  »Damit haben du und Vic schon ein gemeinsames Thema«, sagte er mit hämischem Grinsen und seufzte. »Aber vermutlich hast du recht. Die Kiste ist schon recht altersschwach. Außerdem paßt Toby kaum noch mit rein.«

  Gemma nahm diese unerwartete Bemerkung schweigend hin. Sie hatte keine Ahnung gehabt, daß derartige Fragen ihn überhaupt beschäftigten. Dahinter stand die Absicht einer dauerhaften Verbindung zu ihr, die sie gleichzeitig freute und erschreckte.

  »Das stimmt«, erwiderte sie schließlich so neutral wie möglich. »Bei Ausflügen und so weiter.«

  »Wir könnten im Sommer ans Meer fahren, wir drei. Toby würde das doch gefallen, oder?« Er betätigte den Winker. »Hier müssen wir abbiegen.«

  »Hmm«, murmelte Gemma geistesabwesend. Hätte sie nur abgelehnt, mit ihm nach Cambridge zu fahren, wünschte sie insgeheim. Um eine passable Ausrede wäre sie nicht verlegen gewesen. Sie schluckte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Die Neugier auf Vic und ihr Wunsch, gewisse Besitzansprüche auf Kincaid zu demonstrieren, hatten sich in Luft aufgelöst. Sie wünschte sich auf den Mond.

  Ein paar Augenblicke später erkannte Gemma einige verstreut liegende Landhäuschen links und rechts der Straße, dann folgten ein paar Luxusreihenhäuser, und sie wußte, daß sie Grantchester erreicht hatten. Kincaid fuhr langsamer, bog nach rechts in die High Street ein und danach gleich nach links in die Auffahrt eines schiefergedeckten, rosarot verputzten Cottages. Selbst bei Nieselregen leuchtete die Farbe warm und einladend. Gemma schoß es durch den Kopf, daß eine Frau, die sich ein rosafarbenes Haus ausgesucht hatte, vielleicht gar nicht so übel war, wie sie angenommen hatte. Sowieso konnte sie nur so tun, als sei die Begegnung mit den Ex-Frauen ihrer Liebhaber eine Alltäglichkeit.

  Sie lehnte den Schirm ab, den Kincaid ihr anbot. Es war den Aufwand nicht wert. Um ihre Kleidung war sie kaum besorgt. Sie hatte absichtlich eine naturfarbene Jacke über einem schlicht gemusterten Baumwollrock gewählt. Das Haar hatte sie locker im Nacken mit einer Spange zusammengefaßt. Was für ihre anderen Wochenenden gut genug war, mußte auch für dieses genügen. Gemma stieg aus. Sie ging langsam auf die Veranda zu und genoß nach der überheizten Luft im Auto das kühle Gefühl des Sprühregens auf ihrer Haut. Als Kincaid geklingelt hatte, wurde sie ruhiger und wappnete sich mit einem höflichen Lächeln.

  Im nächsten Moment flog die Tür krachend auf, und Gemma sah in die zwei fragenden blauen Augen eines Jungen mit widerspenstigem weizenblondem Haar und einem Hauch von Sommersprossen auf der Nase. Er trug ein verwaschenes Rugbyhemd, das mehrere Nummern zu groß war, Jeans und Socken, deren ursprünglich weiße Farbe nur noch zu ahnen war. In der rechten Hand hielt er ein Nutella-Brot.

  »Du bist bestimmt Kit«, begann Kincaid. »Ich bin Duncan, und das ist Gemma. Wir möchten zu deiner Mutter.«

  »Oh, ja. Hallo.« Der Junge lächelte. Sein zahnlückiges Grinsen eroberte Gemma im Sturm. Dann biß er ein großes Stück von seinem Brot ab und sagte kauend: »Kommt rein.« Er drehte sich um und ging den Korridor entlang, ohne auf sie zu warten.

  Sie traten sich die Füße auf der Türmatte ab und liefen hinter ihm her, als er hinter einer Biegung des Gangs verschwand. Als sie ihn eingeholt hatten, schrie er in ohrenbetäubender Lautstärke: »Mum!« und trat in ein Zimmer zu seiner Rechten.

  Gemma erfaßte flüchtig einen kleinen, mit Büchern und Akten vollgestopften Raum. Dann hielt eine Frau ihren Blick gefangen, die an einem Computer saß. Die Fingerkuppen ihrer langen, schmalen Hände ruhten auf der Tastatur, aber als Kit eintrat, schwang sie auf ihrem Bürostuhl herum und sah sie überrascht an.

  »Duncan! Ich habe die Klingel gar nicht gehört. Sie funktioniert nicht richtig.«

  »Sie macht leise >Ping<, aber ich kann’s immer hören«, erklärte Kit und setzte sich auf die einzig freie Ecke auf dem Schreibtisch seiner Mutter.

  »Ist auch egal. Ich bin froh, daß ihr hier seid«, sagte Vic lächelnd. Sie nahm ihre Hornbrille ab und stand auf. Sie war etwas kleiner als Gemma, schmal und feingliedrig, mit schulterlangem blondem Haar und einem zarten, ungeschminkten Gesicht. Sie trug einen langen, auberginefarbenen Pullover, schwarze Leggins und - dachte Gemma - hätte auch in einem Müllsack elegant ausgesehen.

  »Sie sind vermutlich Gemma«, sagte Vic und hielt ihr die Hand hin. Er hatte also vorher angerufen und sie informiert, dachte Gemma, als sie Vics kühle, weiche Finger umfaßte. Sie warf Kincaid einen Blick zu und war nicht überrascht, als sie sein selbstgefälliges Grinsen sah. Dem gemeinen Kerl machte die Sache offenbar Vergnügen. Plötzlich wünschte sie, sie hätte sich zumindest die Haare gekämmt und ihren Lippenstift aufgefrischt.

  »Kommt ins Wohnzimmer«, schlug Vic vor. »Kit und ich haben Tee und Gebäck für euch vorbereitet. Ich muß nur noch Wasser aufstellen. Dauert keine Minute.«

  »Aber Sie hätten sich nicht soviel Mühe zu machen brauchen«, protestierte Gemma und trat zur Seite, um Vic vorbeizulassen.

  »Es hat uns Spaß gemacht - und war ein willkommener Vorwand, den Kuchen zu backen, den Kit so liebt. Wir haben nicht oft Gäste.« Vic führte sie den Weg zurück, den sie gekommen waren und durch eine Tür am anderen Ende des Korridors.

  Gemma folgte ihr und fand sich in einem gemütlichen, sehr bewohnt aussehenden Zimmer mit Polstersofa, Sesseln und Stehlampen wieder. Auf einem Beistelltisch lag neben einer Reihe Fotos in Silberrahmen ein ordentlicher Stapel Sonntagszeitungen. Am anderen Ende führte eine große Glastür in den regenfeuchten Garten.

  »Macht es euch gemütlich. Kit zündet das Kaminfeuer an. Nicht wahr, Schatz?«

  Kit zog eine angewiderte Grimasse und kniete vor dem Kamin nieder. »Wie oft soll ich noch sagen, daß du mich nicht so nennen sollst.«

  »Wups, ’tschuldigung.« Vic grinste vergnügt und sah plötzlich selbst wie eine Zehnjährige aus.

  »Kann ich helfen?« erbot sich Gemma wohlerzogen.

  »Nein danke. Wir haben alles unter Kontrolle. Kit hat versprochen, heute den Hausdiener zu spielen - als Belohnung dafür, daß ich Scones und Kuchen gebacken habe.« Vic legte eine Hand auf Kits Rücken und schob ihn sanft aus dem Zimmer.

  Kaum hatte sich die Tür hinter den beiden geschlossen, trat Gemma zu Kincaid. Er stand mit dem Rücken zum Kaminfeuer und wärmte sich die Hände.

  Gemma brach nach wenigen Augenblicken das Schweigen. »Sie ist nett.«

  Kincaid sah auf sie herab. »Was hattest du erwartet?« fragte er, unverhohlen amüsiert. »Eine Hexe auf einem Besen?«

  »Überhaupt nicht. Es ist nur ...« Gemma schaltete schnell. Bevor sie Gefahr laufen konnte, sich in Ungereimtheiten zu verstricken, wechselte sie das Thema. »Hast du Kit schon bei deinem ersten Besuch kennengelernt?«

  »Nein. Ich glaube, da war er bei seinen Großeltern.«

  »Er kommt mir irgendwie so vertraut vor ...«, bemerkte Gemma nachdenklich. »Vermutlich weil Toby in ein paar Jahren auch so aussieht.« Tobys Haar hätte dann sicher denselben weizenfarbenen Ton, und er würde sich mit derselben staksigen Eleganz bewegen. Toby begann bereits seinen Babyspeck zu verlieren. Bald würde er mager sein wie Kit, der aussah, als gehe bei ihm jede Kalorie ungebremst in kinetische Energie über.

  Die Flurtür ging auf, und Kit balancierte ein schwerbeladenes Tablett herein. Gemma räumte hastig den Tisch frei. »Jetzt verstehe ich, weshalb du so scharf darauf bist, daß deine Mutter richtigen Tee zelebriert. Ich bin froh, daß wir nichts zu Mittag gegessen haben.«

  »Sie bäckt Scones oder Kuchen gelegentlich auch nur für uns beide, aber nicht beides zusammen«, erwiderte Kit und sah zu Gemma auf. Er deckte das Geschirr vom Tablett auf den Tisch und arrangierte penibel jedes Gedeck. Eine Platte mit Scones, ein Glas Erdbeermarmelade, eine Schüssel mit Sahne, ein Teller mit Sandwiches aus Grahambrot, noch einen Teller mit dicken Scheiben Rosinenkuchen - alles mußte offenbar an exakt vorgegebenen Stellen stehen, und Gemma war klug genug, ihre Hilfe nicht anzubieten.

  Schließlich betrachtete er zufrieden sein Werk. »Mum bringt den Tee«, erklärte er.

  »Ich dachte, deine Mutter kann nicht kochen«, bemerkte Kincaid von seinem Platz am Kamin aus.

  »Kann sie eigentlich auch nicht«, gab Kit zu. »Sie hat nur ein paar Rezepte gelernt - mir zuliebe. Und Sandwiches kann doch jeder.« Er griff nach einem Stück Kuchen, sah flüchtig auf und zog dann hastig seine Hand zurück, als er ihre Blicke auffing. »Ich kann kochen«, erklärte er, um abzulenken. »Ich kann Rühreier auf Toast und Würstchen und Spaghetti.«

  »Klingt perfekt«, sagte Kincaid. Dann deutete er auf den Kuchenteller. »Komm schon, nimm dir ein Stück!«

  Kit schüttelte den Kopf. »Sie bringt mich um, wenn ich mich danebenbenehme. Ich darf nichts anrühren, bis der Tee auf dem Tisch steht.«

  »In diesem Fall würde ich das Risiko auch nicht eingehen«, riet Kincaid ihm grinsend. »Wäre die Folgen kaum wert.«

  Kit setzte sich auf die Sofalehne und betrachtete Kincaid neugierig. »Du bist Polizist, was?« fragte er nach kurzem Zögern. »Mum hat’s mir gesagt. Warum trägst du keine Uniform?«

  »Weil ich heute dienstfrei habe. Außerdem bin ich bei der Kripo, und da tragen wir normalerweise keine Uniform.«

  Kit überlegte. »Soll das heißen, daß du Leute ausfragen kannst, ohne daß die wissen, daß du ein Bulle bist? Cool!«

  »Wenn wir Leute befragen, müssen wir ihnen unseren Dienstausweis zeigen«, erwiderte Kincaid beinahe entschuldigend. »Sonst wär’s nicht fair.«

  Als er Kits Enttäuschung sah, deutete er auf Gemma: »Gemma ist auch Kriminalbeamtin.«

  Kits Augen wurden groß. »Mann, ich dachte, so was gibt’s nur in der Glotze. Der einzige Polizist, den ich kenne, ist Harry. Er ist der Dorfpolizist. Und er ist fett wie eine Sau und ...«

  »Kit!« Vic war unbemerkt hereingekommen, in der Hand ein zweites Tablett. »Wie kannst du nur so was Häßliches sagen?«

  »Es stimmt. Das weißt du doch genau.« Kit wirkte eher beleidigt als zerknirscht. »Hast du selbst gesagt.«

  »Ich habe nichts dergleichen gesagt. Harry ist sehr nett.« Vic sah ihren Sohn strafend an.

  »>Nettsein< ist die oberste Pflicht eines Dorfpolizisten«, warf Kincaid diplomatisch ein.

  Gemma trat zu Vic. »Warten Sie, ich nehme die Tassen.«

  Als der Tee eingeschenkt war, sagte Kincaid: »Ich finde, Kit hat sich lange genug kasteit.«

  Vic lachte. »Na, gut, dann greif schon zu. Aber laß noch was für uns andere übrig.«

  Kit fiel mit einem Aufschrei über den Kuchen her und legte zwei große Stücke auf seinen Teller.

  »Ich weiß nicht, wo das alles bei ihm bleibt!« seufzte Vic. »Es verschwindet einfach. Und wenn der Kuchen vertilgt ist, kommen noch Sandwiches und Scones dran.« Sie nahm ein Sandwich. »Hoffentlich mögt ihr Gurken.«

  Gemma nahm sich auch ein Sandwich, lehnte sich zurück, knabberte daran, während sie dem Geplänkel zwischen Mutter und Sohn zuhörte, und begriff immer weniger, daß die schlanke Vic mit dem sympathischen Lächeln jene gefühllose und gemeine Frau sein sollte, die Kincaid vor Jahren einfach verlassen hatte. Und sie begann sich zu fragen, ob sie nicht einige seiner Bemerkungen über Vic bewußt negativ ausgelegt hatte. Wußte sie überhaupt noch, was er wirklich über sie gesagt hatte?

  Jetzt hätte sie gern Vics Sichtweise der Dinge erfahren. Warum hast du ihn verlassen? dachte sie. Und warum hast du ihn auf diese Weise verlassen, so ganz ohne ein Wort? Das laut zu fragen war völlig ausgeschlossen. Aber während sie die beiden beobachtete, versuchte sie, sich Duncan und Vic zusammen vorzustellen, was mißlang, da sie Kincaid nur durch die eigene Brille sehen konnte.

  Vic hatte im Sessel ihr gegenüber Platz genommen, während Kit wie ein Vogel auf dessen Lehne hockte. Kincaid saß neben Gemma auf dem Sofa und balancierte seinen Teller auf dem Knie. Sie war sich seiner Wärme und Zuneigung so sehr bewußt, als berühre er sie, und sie fragte sich, was Vic wohl wichtiger gewesen sein mochte als dieses Gefühl.

  »Noch einen Scone, Gemma?« erkundigte sich Vic.

  Gemma schreckte aus ihren Gedanken auf und nahm sich vor, besser aufzupassen. »Tut mir leid, ich bringe keinen Bissen mehr runter. Danke. Es schmeckt alles köstlich.«

  Kit hatte gerade das letzte Stück Kuchen verdrückt. Gemma sah, wie Vic Kincaid ansah, und spürte ein stummes Verständnis zwischen ihnen. Dann sagte Vic: »Kit, wenn du fertig bist ...«

  »Ich weiß, daß du mich los sein willst«, erklärte er und sprang von der Armlehne. Es klang alles andere als unglücklich. »Du brauchst den Computer jetzt doch nicht, oder? Kann ich Dark Legions spielen? Bitte, bitte, Mammi?« flehte er grinsend und war schon sicher, daß er seinen Willen bekam.

  »Na gut«, gab Vic würdevoll nach. »Aber nur, wenn du zuerst meine Datei sicherst.«

  Kit beugte sich herab und gab ihr wie selbstverständlich einen Kuß auf die Wange. »Vorzüglicher Kuchen, Mum«, sagte er und lief aus dem Zimmer, bevor sie ihre Meinung ändern konnte.

  Als die Tür hinter ihm zufiel, seufzte Vic: »Ich weiß nicht, weshalb ich ihn ständig ermahne. Er kennt sich besser mit Computern aus als ich. Er ist derjenige, der mir hilft, wenn ich nicht weiterkomme.«

  »Die Illusion der Macht«, witzelte Kincaid.

  »Sie haben Glück. Er ist ein netter Junge«, warf Gemma ein und merkte, wie banal das klang. Vic lächelte trotzdem zufrieden.

  »Ich weiß. Es ist so ungerecht, was er im letzten Jahr durchmachen mußte.« Vic sah flüchtig zu Kincaid und dann wieder zu Gemma. »Hat er Ihnen von Ian erzählt?«

  Gemma nickte. »Tut mir leid für Sie.«

  »Braucht es nicht. Was mich betrifft jedenfalls. Und allmählich glaube ich, wegen Kit auch nicht. Ian war so kritisch - Kit muß das Gefühl gehabt haben, ihm nichts recht machen zu können.« Vic starrte nachdenklich in ihre Teetasse, sah dann zu Gemma auf und fügte leise hinzu: »Wissen Sie, was komisch ist? Nach so vielen gemeinsamen Jahren habe ich ihn nicht vermißt. Keinen Tag, keine Minute. Man sollte glauben, daß allein die Macht der Gewohnheit bewirkt, daß man einen Menschen vermißt. Aber ...« Sie stellte die Tasse auf den Tisch und lächelte. »Aber eigentlich wollten wir über was ganz anderes reden.«

  Kincaid griff in die Innentasche seines Sportjacketts, das er zu Jeans trug. »Ich habe dir die Notizen mitgebracht, die ich mir über die Akte Lydia Brooke gemacht habe. Ich dachte, du liest sie lieber selbst.« Er reichte ihr mehrere in der Mitte gefaltete Blätter. »Du verstehst, daß ich die Akte nicht mitnehmen konnte?«

  Vic nahm die Notizen wie ein kostbares Gut und hielt sie unter die Stehlampe, um besser lesen zu können. Sie studierte die Aufzeichnungen langsam und konzentriert, während Gemma und Kincaid schweigend warteten. Nur das Knistern des Kaminfeuers und das leise Trommeln des Regens an den Fensterscheiben waren zu hören.

  Schließlich sortierte Vic die Notizblätter in ihre ursprüngliche Reihenfolge und sah sie an. »Nathan hat sie gefunden?« fragte sie ungläubig. »Nathan hat mir nie erzählt, daß er derjenige gewesen ist.«

  Das grelle Licht der Lampe lag auf ihrem Gesicht, und Gemma entdeckte zum ersten Mal die welker werdende Haut um ihre Augen und die scharfen Falten an ihren Mundwinkeln.

  »Wieso hätte er dir das denn erzählen sollen?« erkundigte sich Kincaid.

  Vic wurde rot und sah weg. »Es ist nur ... Ich dachte ... wir wären Freunde.«

  »Vielleicht wollte er Sie schonen«, vermutete Gemma und wünschte plötzlich, sie hätte die Notizen gelesen und sich nicht mit Kincaids kurzer Zusammenfassung zufriedengegeben. »Oder es fällt ihm schwer, darüber zu sprechen.«

  »Außerdem muß es in einer der Zeitungen gestanden haben«, vermutete Kincaid.

  »Wo denn zum Beispiel? Es gab nur zwei kurze Meldungen in den Lokalblättern. In der ersten steht, daß Lydia Brooke tot in ihrem Haus in Cambridge aufgefunden wurde, und in der zweiten, daß sie an einer Überdosis ihres Herzmedikaments gestorben ist und daß der zuständige Richter auf Selbstmord entschieden hat. Das ist alles.«

  »Und an der Uni? Da ist doch sicher geklatscht worden?«

  »Dieses eine Mal erwies sich die akademische Klatschbörse als merkwürdig unergiebig«, erklärte Vic angewidert. »Es ist, als sei einfach eine Tür zugefallen, als Lydia starb. Danach gab es weder Spekulationen noch irgendwelche Nachrufe, nichts.« Vic sprang unruhig auf und ging vor dem Kamin auf und ab. »Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich bin kein Quentin Bell. Ich schreibe keine Biographie über eine Frau wie Virginia Woolf. Lydia war keine zentrale Figur der literarischen Szene ihrer Zeit. Selbst in Literaturzirkeln war sie kaum bekannt. Ich wußte also von Anfang an, daß ich nicht hoffen konnte, auf aufschlußreiche, informative Briefe in der Korrespondenz berühmter Leute zu stoßen. Trotzdem - mit dieser Gleichgültigkeit, was ihre Person betrifft, hatte ich nicht gerechnet. Niemand, der sie gekannt hat, will auch nur irgend etwas preisgeben. Ihr Ex-Mann ist beinahe auf mich losgegangen, als ich mit ihm reden wollte.

  Und das hier ...« Sie wedelte mit Kincaids Notizen in der Luft herum. »... daran stimmt überhaupt nichts.«

  »Was soll das heißen, es stimmt nicht?« fragte Kincaid. Gemma konnte sein flapsiger Ton nicht täuschen. Sie wußte, er war neugierig geworden.

  Vic setzte sich auf die Lehne ihres Sessels und beugte sich vor. »Die Sache mit Nathan, zum Beispiel. Warum hat Lydia Nathan angerufen und ihn zu sich gebeten?«

  »Schätze, sie wollte lieber von ihm als von der Putzfrau oder einem Nachbarn gefunden werden«, vermutete Kincaid.

  »Sie hätte ihm das nie zugemutet! Begreifst du das nicht? Nicht Nathan. Sie waren uralte Freunde, und er hatte wenige Monate zuvor, nach langem Kampf gegen den Krebs, seine Frau verloren. Sie hätte ihm das nie angetan.«

  »Wenn Menschen deprimiert sind, tun sie oft Dinge ...«

  Vic schüttelte energisch den Kopf. »Und was ist mit ihrer Kleidung? Lydia hatte Stil, verdammt. Die Vorstellung ist einfach absurd, daß sie ihren Selbstmord bühnenreif arrangiert haben soll, nur um sich schließlich in ihren alten Gartenklamotten umzubringen.«

  »Ich muß zugeben, daß mir das auch komisch vorkam«, gestand Kincaid vorsichtig. »Aber gelegentlich ...«

  »Und dann das Gedicht! Völliger Blödsinn!« fuhr Vic unerbittlich fort. Sie begann hastig zu blättern. »Laßt mich nur ...«

  »Warum?« Die Schärfe in seiner Stimme ließ Vic aufsehen. »Wieso ist das Blödsinn?« wiederholte er.

  »Es ist nicht von ihr«, antwortete Vic prompt. »Es ist eine Sequenz aus einem Rupert-Brooke-Gedicht mit dem Titel Choriambics.«

  »Kann ich es sehen?« bat Gemma. Sie nahm Vic das Blatt aus der Hand. Als sie die Blicke der anderen auf sich gerichtet fühlte, las sie laut vor:

  »In der Stille des Todes; vielleicht seh’ und erkenne ich schemenhaft nur, über mich gebeugt, letztes Licht im Dunkel, noch einmal, wie einst, dein Gesicht.«

  Gemma sah auf. »Scheint doch zu passen. Ganz besonders, wenn sie gerade eine große Liebe verloren hat.«

  »Wenn sie eine so fanatische Anhängerin von Rupert Brookes Kunst war, was bitte lag näher, als eines seiner Gedichte wie eine letzte Botschaft zu benutzen?« warf Kincaid ein.

  »Näher als eines ihrer eigenen Gedichte?« Vic schüttelte den Kopf und holte tief Luft. »Lydia war Lyrikerin aus Passion. Das hat aus ihr gemacht, was sie war. Deshalb wollte ich über sie schreiben. Frauen brauchen Vorbilder wie sie ... Wir anderen möchten die Geschichten von Frauen erfahren, die ihre Träume um jeden Preis ausgelebt haben. Vielleicht hilft uns das, unsere eigenen Ziele zu erreichen. Vielleicht, ohne so viel leiden zu müssen.«

  »Warum sollte sie Zeilen aus einem Brooke-Gedicht in ihre Schreibmaschine eingespannt haben, wenn diese nicht als Nachricht für die Nachwelt gedacht waren?« wollte Kincaid mit skeptisch hochgezogenen Brauen wissen.

  »Keine Ahnung. Aber ich weiß, daß sie sich niemals mit den Worten eines anderen verabschiedet hätte.« Vic rieb sich über die Stirn. »Wie soll ich euch das nur begreiflich machen? Worte waren alles für sie - Freude, Leid, Trost. Im Angesicht ihres Todes hätte sie niemals darauf verzichtet. Das wäre ihr als ungeheuerlicher Verrat erschienen.«

  Im Kamin explodierte ein Stück Harz. In die folgende Stille hinein sagte Gemma: »Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen.«

  »Sie halten mich nicht für verrückt?«

  »Nein. Ich weiß zwar nicht viel über Lyrik, aber ich verstehe gut, daß man sich selbst treu bleiben will.«

  Vic wandte sich Kincaid zu. »Und was ist mit dir? Habe ich dich überzeugt?«

  Nach langen Minuten sagte er widerwillig: »Vermutlich. Aber ich verstehe noch nicht, wie ...«

  »Inzwischen ist noch einiges dazugekommen«, fiel Vic ihm ins Wort. »Seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, meine ich. Vergangene Woche hat Nathan mir ein Buch gegeben, das er unter Lydias Sachen gefunden hatte. Edward Marshs Biographie über Rupert Brooke. Sie stammt aus dem Jahr 1919 und enthält die erste posthum erschienene Sammlung von Brookes Gedichten. Das Buch gehörte zu Lydias Schätzen - sie hatte es in einem Antiquariat in ihrem ersten Jahr in Cambridge entdeckt. Es liegt ganz oben auf dem Stapel auf meinem Nachttisch.« Sie lächelte Kincaid verstohlen zu, und Gemma fragte sich, ob Vics Gewohnheit, mit Büchern ins Bett zu gehen, ein Streitpunkt zwischen ihnen gewesen war. »Aber erst gestern abend habe ich mir Zeit genommen, es mir genauer anzusehen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als dabei die Manuskriptseiten herausfielen.« Vic lächelte verzückt.

  »Was für Manuskriptseiten?« fragte Kincaid verwirrt. »Wie war doch gleich der Name des Autors?«

  »Edward Marsh«, sagte Gemma, aber Vic schüttelte den Kopf.

  »Der tut nichts zur Sache. Es handelt sich um Gedichte - um Lydias Entwürfe. Korrigierte Rohfassungen. Ich zeige sie euch.« Sie lief aus dem Zimmer und kam kurz darauf mit einigen Blättern zurück. Sie hatte ihre Brille wieder aufgesetzt und nahm ihnen gegenüber Platz. »Lydia hat immer ihre Schreibmaschine und nie einen Computer benutzt. Sie war sehr eigenwillig ... Gelegentlich hat sie erste Entwürfe auch handschriftlich gemacht. Aber wenn sie sie getippt hat, dann nie ohne Durchschläge.«

  Gemma sah jetzt, daß die Blätter aus dünnem Durchschlagpapier waren.

  »Einige dieser Gedichte wurden in ihrem letzten Buch veröffentlicht«, erklärte Vic und faltete die Seiten wieder zusammen. »Aber da sind andere, die ich nie gesehen, geschweige denn gelesen habe.«

  »Vielleicht sind es Gedichte aus ihrer Studentenzeit, die sie nicht für gut befunden hat«, gab Kincaid zu bedenken. »Angeblich besaß sie dieses Buch doch seit ihrem ersten Collegejahr.«

  »Aber diese Gedichte hier sind besser als ihre besten - sprachlich vollkommen, reif. Außerdem passen sie thematisch genau zu den Gedichten in ihrem letzten veröffentlichten Band.« Vic hielt inne, als wöge sie ihre Worte sorgfältig ab. »Und ich bin sicher, daß sie in diese Anthologie gehören sollten.«

  Kincaid sah Gemma an: »Vielleicht hatte sie sie aussortiert. Vielleicht war sie nicht zufrieden.«

  »Ausgeschlossen. Lydia hat sich nie etwas vorgemacht. Sie erkannte, wenn etwas schlecht war, und sie wußte, wann sie gute Arbeit geleistet hatte.«

  »Was vermutest du also?«

  Vic machte eine hilflose Geste. »Ich weiß es selbst nicht.«

  »Welchen Grund könnte sie gehabt haben, diese Gedichte nicht zu veröffentlichen?« fragte Gemma.

  »Keine Ahnung«, seufzte Vic und fügte dann nachdenklich hinzu: »Eines der Dinge, die ich an Lydia am meisten bewundere, ist, daß sie immer getan hat, was sie tun mußte. Ohne Rücksicht auf die Verletzlichkeit anderer.«

  Kincaid griff nach der Teekanne. »Könnte sich denn jemand durch diese Gedichte ...« Er deutete auf die Blätter auf Vics Knien. »... verletzt gefühlt haben?«

  »Einige Männer. Sicher. Sie benutzt Sex darin häufig als Synonym für Tod. Natürlich versteckt. Aber es gibt Männer, die gewisse Vorstellungen über Geschlechterrollen sehr persönlich nehmen.«

  »Der Himmel bewahre mich davor, einer von diesen Unholden zu sein!« sagte Kincaid mit gespieltem Entsetzen.

  Vic rollte die Augen und sah Gemma an. »Ist er so emanzipiert, wie er denkt?«

  »Nicht die Bohne.« Gemma lächelte. Die beiden Frauen schienen sich wortlos zu verstehen.

  »Wenn ihr Damen euch genug auf meine Kosten amüsiert habt, könnten wir vielleicht weitermachen.« Kincaid nippte an seinem kalten Tee und zog eine Grimasse. »Vic ...«

  »Ich koche noch eine Kanne«, sagte Vic und stand auf. Kincaid sah auf die Uhr und schüttelte den Kopf.

  »Wir müssen uns langsam verabschieden. Toby hat die Geduld von Gemmas Eltern mittlerweile sicher schon genug strapaziert.«

  Vic lehnte sich in ihrem Sessel zurück und faltete die Hände im Schoß wie ein Kind, das schlechte Nachrichten erwartet.

  Kincaid räusperte sich. »Vic, ich bin deiner Meinung. Einige Umstände von Lydia Brookes Tod sind wirklich merkwürdig. Allerdings weiß ich nicht, was wir in diesem Punkt tun könnten. Wir haben nichts in der Hand, und die Polizei denkt nicht daran, den Fall ohne triftige Beweise wieder aufzurollen.«

  Als Vic schwieg, fuhr er fort: »Ich habe in meinem Beruf lernen müssen, daß wir nicht immer eine schlüssige Antwort finden - das Leben läßt sich nicht in einfache Raster zwängen. Das mag frustrierend sein. Aber wenn ein Polizist nicht weiß, wann er aufhören muß, sollte er seinen Job aufgeben.«

  »Willst du damit sagen, daß ich auch aufhören sollte?«

  Er nickte. »Schreib ein gutes Buch über Lydia und ihre Lyrik. Die Geschichte zählt, nicht das Ende.« Er zuckte entschuldigend die Schultern. »Tut mir leid. Ich enttäusche dich ungern, aber ich sehe keinen anderen Weg.«

  Vic saß reglos, ungläubig da. Schließlich straffte sie die Schultern. »Ich weiß nicht, was ich erwartet habe«, sagte sie und lächelte verkrampft. »Es war nett von dir, mir zuzuhören. Du hast getan, was du tun konntest.«

  »Vic ...«

  »Keine Sorge, Duncan. Ich weiß, du meinst es gut. Du warst wirklich eine große Hilfe. Ganz zu schweigen von der Tatsache, daß dein Besuch in der Fakultät die Gerüchteküche für Monate am Kochen halten wird. Ich bin sicher, sie haben inzwischen alle ihre Strafmandate bezahlt - für den Fall, daß du wiederkommst.«

  »Nichts für ungut«, murmelte Kincaid etwas betreten. »Ich wollte dir keine Schwierigkeiten machen.«

  »Ich bin nichts anderes gewohnt. Nicht auszudenken, daß ich mir mal eingebildet habe, in der akademischen Arbeit meinen Frieden zu finden. Darf ich deine Notizen behalten?«

  »Selbstverständlich.«

  »Kriegst du Schwierigkeiten beim Yard, wenn ich diese Informationen in meinem Buch verwende?«

  »Darüber würde ich mir keine grauen Haare wachsen lassen.« Kincaids Lächeln war frostig. »Außerdem weißt du doch - Polizisten lesen nicht.«

  »Da hast du auch wieder recht«, parierte Vic die Spitze gewollt gelassen. »Aber ihr müßt jetzt los. Ich bringe euch raus.«

  Im Flur blieb sie stehen und rief nach Kit.

  »Sekunde!« schrie er zurück. Einen Augenblick später kam er aus Vics Arbeitszimmer. »Ich mußte erst noch abspeichern«, erklärte er. »Ich hab’s bis zum siebten Level geschafft.«

  »Und was heißt das?« fragte Gemma.

  »Das heißt, daß ich schlau, böse und cool bin.« Kit warf sich in die Brust. »Ich habe meine Feinde massenweise eliminiert.«

  »Kit!« Vic zerzauste sein Haar. »Du klingst wie ein Kerl aus einem schlechten amerikanischen Film. Ich glaube, wir müssen den Videokonsum mal reduzieren.«

  Kit ignorierte die Drohung. Vermutlich erkannte er, daß nichts dahintersteckte. Er ging zu Kincaid, der an der Tür stand. »Kann ich mir deinen Wagen ansehen? Mum findet ihn schrecklich. Das kann nur heißen, daß er richtig geil sein muß.«

  »Klar. Wenn du willst, kannst du den Motor anlassen.« Sie gingen hinaus und über die Kiesauffahrt zu Duncans altem Sportwagen.

  Gemma und Vic standen vor der Tür und sahen ihnen nach. Es hatte zu regnen aufgehört, und die blauen Risse in der Wolkendecke ließen auf einen schönen Sonnenuntergang hoffen. »Und Toby ist also Ihr Sohn?« fragte Vic.

  »Er ist drei. Und er liebt Autos auch schon. Muß ihnen in den Genen liegen.«

  »Ich weiß. Wenn ich daran denke, daß ich an die Theorie geglaubt habe, man müsse Kinder nur ohne die üblichen geschlechtsspezifischen Stereotype großziehen, um ...« Sie legte die Hand leicht auf Gemmas Arm. »Ich bin froh, daß Sie mitgekommen sind.«

  Der Motor des Midget heulte auf. Kit sprang vom Fahrersitz und rannte auf sie zu. »Er ist wirklich geil, Mum. Können wir auch so einen kaufen? Unser Auto ist schrecklich langweilig.«

  Vic lachte. »Ich mag’s langweilig.«

  Kincaid war Kit gefolgt und schüttelte jetzt seine Hand. »Wenn du sechzehn bist, verkauf ich ihn dir.« Er gab Vic einen flüchtigen Kuß auf die Wange und nahm Gemmas Arm. »Wiedersehen! Und vielen Dank für den Tee.«

  Es war etwas an Vics Körperhaltung, dachte Gemma, schon im Auto, das beredter war als jedes Wort - der Ausdruck einer sich selbst genügenden Entschlossenheit. Sie mochte die Wortkombination, wiederholte sie stumm und spürte, wie sich tief in ihr etwas lange Verborgenes regte.

  Als sie die Autobahn erreichten, war die Wolkendecke noch weiter aufgerissen und gab den Blick auf einen strahlenden Sonnenuntergang frei. Für Kincaid hatten Sonnenuntergänge etwas sehr Weibliches, und dieser erschien ihm besonders üppig mit seinen rosagoldenen Wolkentürmen und Formen, die entfernt an einen Rubens-Akt erinnerten. Er lächelte unwillkürlich bei der Vorstellung und warf einen flüchtigen Blick auf Gemma. Würde sie ihn als Sexisten beschimpfen, wenn er ihr seine Gedanken verriet?

  Sie saß schweigend neben ihm, betrachtete den Himmel und beklagte sich nicht einmal über seinen Wagen. Er wollte sie fragen, woran sie dachte, aber in diesem Moment spritzte ein überholender Lastwagen öligbraune Flüssigkeit gegen die Windschutzscheibe des Midget. Kincaid hatte alle Hände voll zu tun, die Turbulenzen hinter dem Laster auszugleichen, während ihm die Sicht genommen war. Als die Windschutzscheibe wieder sauber war, legte er ein Klavierkonzert in den Kassettenrecorder und konzentrierte sich aufs Fahren.

  In Gemmas Wohnung brannten sämtliche Lichter, und auf dem Tisch stand eine Vase mit Osterglocken. Neben einem Topf mit Bohnen und einem Laib selbstgebackenen Brots lag eine Notiz von Hazel. »Guten Appetit!« stand auf dem Zettel. »Bohnen >Gourmet< auf Toast.«

  »Deine gute Fee war hier«, sagte Kincaid und tauchte einen Finger in die noch warmen Bohnen, um zu kosten. »Schade, daß sie schon vergeben ist.«

  »Du hättest sowieso keine Chance bei ihr«, entgegnete Gemma gelassen. »Du kannst froh sein, daß gelegentlich was Eßbares für dich abfällt.«

  Nachdem Toby gegessen hatte, ins Bett verfrachtet worden war und sie den letzten Toast und Tee verspeist hatten, rollte Kincaid die Hemdsärmel auf. »Ich übernehme den Abwasch«, erbot er sich. »Vorausgesetzt, ich kriege ein Glas Wein. Ich könnte in dem Tee ersaufen, den ich heute getrunken habe.«

  »Rot oder weiß?« erkundigte sich Gemma und reckte sich nach den Gläsern im obersten Regalfach.

  Kincaid betrachtete bewundernd die Linie ihres Körpers und die aufreizenden Formen, die sich unter ihrer Wolljacke abzeichneten. Er stellte sich hinter sie und legte die Hände auf ihre Hüften. »Mmmm, rot, glaube ich.«

  Gemma entwand sich seinem Griff mit einem abwesenden Lächeln. Sie goß zwei Gläser Burgunder ein und räumte den halbmondförmigen Tisch ab. Kincaid hatte inzwischen das Spülwasser eingelassen und gab Spülmittel hinein.

  »Setz dich hin!« befahl er ihr, während er abzuwaschen begann. »Für zwei ist hier kein Platz - das heißt, Platz wäre schon, aber das würde mich zu sehr ablenken.« Als diese charmante Anmache ohne Erwiderung blieb, sah er sich um. Gemma saß auf einem der Klappstühle am Tisch, die Beine weit von sich gestreckt, den Blick starr in das Weinglas gerichtet. Kincaid wollte etwas sagen, überlegte es sich dann anders und stellte den letzten Teller ins Abtropfregal, bevor er seine Hände abtrocknete.

  »Gemma, was ist los?« Er setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber und sah sie an. »Du hast kaum ein Wort gesagt, seit wir Cambridge verlassen haben.«

  »Oh!« Sie schaute auf, als hätte sie ihn völlig vergessen. »Tut mir leid. Ich habe nachgedacht.«

  »Habe ich fast vermutet. Möchtest du dich mir mitteilen?«

  Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht. Bin nicht sicher, daß ich die richtigen Worte finde.«

  »Ist es wegen Vic?« wollte er ängstlich wissen.

  Kincaid, der auf Vorwürfe gefaßt war, sah überrascht, daß Gemma lächelte. »Eigentlich hatte ich nicht damit gerechnet, aber ich mag sie. Obwohl zwischen Euch noch was ist - es stört mich nicht. Keine Ahnung, weshalb ich solche Angst vor der Begegnung mit ihr hatte. Ich dachte, sie würde mich völlig plattmachen.«

  »Plattmachen? Vic? Warum denn das?«

  Gemma zögerte, schaute zur Seite und sagte stockend: »Du weißt, ich habe mein Abitur gemacht und mich dann aber für die Polizeiakademie und gegen die Uni entschieden. Ich dachte, ich könnte gar nicht mit ihr reden - wir hätten nichts gemeinsam. Sie mit ihrer Bildung und der Karriere an der Uni ...«

  »Warum um Himmels willen sollte sie ...«

  »Nein, laß mich ausreden.« Gemma sah ihn strafend an. »So ist es dann überhaupt nicht gewesen. Was sie gesagt hat, konnte ich sehr gut nachvollziehen. Und komischerweise habe ich vermutlich einiges verstanden, was du gar nicht begriffen hast.«

  »Wovon redest du?« fragte er verwirrt.

  »Du hast gesagt, das Ende ihres Buchs über Lydia sei überhaupt nicht wichtig. Du hast nicht kapiert, daß gerade das Ende entscheidend ist. Für die Wahrhaftigkeit der Biographie.«

  Als er sie nur verständnislos ansah, schüttelte sie resigniert den Kopf. »Sieh es mal so. Vic hat recht. Frauen brauchen Geschichten über Frauen, die etwas erreicht haben. Kannst du dir vorstellen, wieviel es für mich bedeutet hätte, mich an den Erfahrungen einer anderen Frau orientieren zu können, als ich damals beim Yard angefangen habe?

  Die Frauen, die beim Yard waren, konnte ich an den Fingern einer Hand abzählen. Und alle hielten sich an die Spielregeln der Männer. Ich hatte was anderes im Sinn. Ich dachte, ich könnte ein guter, vielleicht sogar ein besserer Polizist werden, gerade weil und nicht obwohl ich eine Frau bin ... Und dann gab es Momente, da hätte ich beinahe alles hingeschmissen. Niemand hat mich ermutigt, niemand hat mir gesagt, daß ich vielleicht einen besonderen Beitrag leisten kann, daß ich nicht komplett verrückt bin, daß ich es schaffe.«

  »Das tut mir wirklich leid«, murmelte Kincaid. Ihre Heftigkeit hatte ihn erschreckt. »Ich hatte keine Ahnung, daß du dich so mies gefühlt hast. Du hast nie ein Wort gesagt.«

  »Darüber spricht man eben nicht.« Sie lächelte humorlos. »Gerade deshalb sind die Geschichten anderer Frauen um so wichtiger - die von Lydia eingeschlossen. Wenn Lydia allerdings Selbstmord begangen hat, dann ändert das alles. Ich will nicht behaupten, daß ihre Geschichte damit wertlos wird. Sie wird einfach nur völlig anders.«

  »Das verstehe ich nicht. Sie hätte doch am Ende dasselbe geleistet.«

  »Nur hätte es nicht dieselbe Bedeutung gehabt. Selbstmord ist das Eingeständnis einer Niederlage. Damit wäre klar, daß sie ihren Traum nicht hat verwirklichen können, und wenn sie’s nicht konnte, können wir es auch nicht.«

  »Soll das heißen, daß ich Vic nicht hätte auffordern sollen, die Sache auf sich beruhen zu lassen?«

  Gemma nahm endlich einen Schluck aus ihrem Weinglas. »Nicht unbedingt. Es ist egal, was du gesagt hast. Für Vic darf Lydia keinen Selbstmord begangen haben, also kann sie es nicht auf sich beruhen lassen. Das heißt es. Und das hast du nicht verstanden.«

  »Was sonst hätte ich tun können?« entgegnete er trotzig. »Du warst doch diejenige, die dagegen war, daß ich mich überhaupt mit der Sache befasse.«

  Gemma zuckte die Schultern. »Ist doch wohl noch erlaubt, seine Meinung zu ändern, oder?«

 

Newnham 30. Januar 1963

  Liebe Mami,

manchmal glaube ich, Gedichte zu schreiben ist ein Fluch, keine Gabe. Die Worte verfolgen mich im Schlaf, verfolgen mich, wenn ich studieren sollte, lauern überall wie schwarze, kalte Ungeheuer, die sich nicht von mir zähmen lassen wollen. Sechs abschlägige Bescheide in dieser Woche, ohne ein Wort der Ermutigung. Warum kann ich es nicht lassen und mich statt dessen auf mein Studium konzentrieren? Und draußen regnet es unaufhörlich.

  Ich habe einiges schleifen lassen und rudere jetzt verzweifelt, mein fehlendes Wissen aufzuholen. Aber was soll ich mit dem akademischen Titel anfangen, so ich tatsächlich einen erwerben sollte? Mädchen an einem trostlosen Gymnasium unterrichten und hoffen, daß eine von ihnen die Gabe besitzt, die ich nicht habe?

  Weißt Du, wie wenigen Frauen es gelingt, Lyrik zu veröffentlichen? Und wenn, was die Kritiker mit ihnen machen? Ich hätte vermutlich doch die Stelle in der Apotheke annehmen sollen. Dann hätte ich einen netten Kerl kennengelernt, wäre freitags mit ihm ins Kino gegangen, und wenn er hartnäckig genug gewesen wäre, hätte ich ihn zum Tee mit heimgebracht. Dann hätten Ehestand und Babys am Horizont gewinkt, und ich wäre die Gespenster los.

  Arme Mami, verzeih mir diesen elenden Erguß. Ich komme mir klein und mies vor, Dich damit zu belasten, aber ich kann ohne Hoffnung und Trost nicht weitermachen. Sag mir, daß diese Anwandlungen vorübergehen, daß es aufhört zu regnen, daß meine schlimme Erkältung vergeht, daß irgend jemand irgendwo eines meiner Gedichte veröffentlicht.

Deine Lydia