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Der Mudchute Park von heute war ursprünglich ein Stück Land, das einst von den Docks mit verwaltet wurde. Es umfaßt ein ungefähr zwölf Hektar großes, beinahe quadratisch angelegtes Gebiet, umgeben von mit Klinkersteinen befestigten Böschungen (an denen jetzt Gras und Wildblumen gedeihen). Diese Böschungen waren angelegt worden, um die Berge von Schlick zu befestigen, die in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts aus dem Millwall Dock ausgebaggert und dort aufgeschüttet worden waren.

 

  Eve Hostettler, aus: Erinnerungen an eine Kindheit auf der Isle of Dogs, 1870-1970

 

Kincaid mußte zu seinem großen Bedauern zweimal anhalten, um einen Blick in seinen Stadtplan zu werfen. Es war lange her, daß er einen Fall im East End bearbeitet hatte. Außerdem ergab sich selten ein Grund, sich weiter östlich als Wapping oder Limehouse zu begeben. Die gesamte Gegend östlich der Towerbridge nannte sich mittlerweile »Docklands«, aber nicht einmal der enorme Wiederaufbauplan des letzten Jahrzehnts hatte es vermocht, den Charakter der einzelnen Gegenden vollständig auszumerzen.

  Als er zur Canary Wharf kam, sagte ihm ein Blick auf seinen Plan, daß er sich mittlerweile auf der Halbinsel »Isle of Dogs« befand, die eigentlich eine Insel war.

  Er fuhr auf der West Ferry Road weiter in südlicher Richtung, folgte der Kette neuer Wohnprojekte und gähnender Baugruben, die wie Pilze zwischen Straße und Ufer aus dem Boden schossen. An vielen Bauzäunen prangte in auffälliger Graphik die Firmensignatur der legendären »Finch Ltd.«.

  Gelegentlich blitzte der Fluß zwischen den Bauten hindurch, und einmal erhaschte er einen flüchtigen Blick auf einen riesigen Passagierdampfer, weiß und behäbig wie ein Eisberg., Als er den unteren Rand des hufeisenförmigen Gebietes fast erreicht hatte, bog er von der East Ferry Road nach links ab und fuhr erneut in nördlicher Richtung durch das Zentrum der Insel.

  Zu seiner Linken entdeckte er eine Reihe alter, leicht erhöht gelegener Häuser aus der Vorkriegszeit; zu seiner Rechten lag eine Bauwüste. Hier mußte die Verlängerung der Docklands - Light Railway - geplant sein, von der er gelesen hatte, die unter dem Fluß hindurch nach Greenwich und weiter nach Lewisham führen sollte. Das Ausmaß von Chaos und Erdbewegungen allerdings, die das kontrovers diskutierte Projekt offenbar mit sich brachte, übertraf sein Vorstellungsvermögen.

  Die Bauplanung hatte vorgesehen, zumindest die East Ferry Road passierbar zu halten, und hinter den Bauzäunen zu seiner Rechten stieg das Land steil zum Mudchute Park an. Kincaid fuhr am ersten Eingang des Parks vorbei, einem hohen, gewölbten Tunnel gegenüber dem Millwall Dock, und erreichte bald den Eingang am ASDA-Supermarkt.

  Als er auf den Parkplatz einbog, sah er die Funkstreifenwagen mit blinkendem Blaulicht, die in einem Knäuel vor der Tankstelle des ASDA parkten. Gemmas verbeulter Escort stand etwas abseits, und zwei uniformierte Beamte hielten eine kleine Menge Schaulustiger zurück.

  Kincaid parkte zwischen Gemmas Wagen und einem roten Vauxhall, stieg aus und ging auf eine Gruppe von Leuten zu, die am Rand des Parkplatzes stand. Die Front der Personen geriet in Bewegung, und plötzlich entdeckte er Gemmas kupferrote Haarmähne und ihre grüne Bluse, als sie sich umdrehte, um ihn zu begrüßen.

  »Boß ...« Gemma nickte ihm zu. »Darf ich vorstellen? Detective Inspector Janice Coppin. Sie ist die leitende Beamtin des zuständigen Reviers.«

  Kincaid streckte der Frau im marineblauen Kostüm die Hand entgegen. Sie erwiderte die Geste äußerst zurückhaltend, und die Miene ihres groben Gesichts war kaum freundlicher als ihr Händedruck. Sogar ihr störrisches blondes Haar schien Mißfallen auszudrücken.

  »Womit haben wir’s denn zu tun, Inspector?« fragte Kincaid leichthin, während er sich an die Andeutung seines Chefs erinnerte, der' frischgebackene, weibliche Inspector sei einem Mord vermutlich nicht gewachsen. Schon aus diesem Grund konnte ihn Coppins Feindseligkeit kaum überraschen. Immerhin pfuschte Scotland Yard ihr ungefragt ins Handwerk.

  »Dort droben.« DI Coppin trat zur Seite, um den Blick auf den Eingang zum Mudchute Park freizugeben, der durch das dichte Gebüsch, das den Parkplatz säumte, kaum zu sehen war. »Eine Frauenleiche. Liegt völlig frei neben dem Weg. Wir haben schon auf Sie gewartet«, fuhr sie fort. »Die Polizeiärztin ist fertig, aber wir konnten die Leiche nicht wegschaffen, solange Sie sie nicht gesehen haben.«

  Kincaid hatte nicht die Absicht, sich für seine Verspätung zu entschuldigen. »Na, dann sehen wir uns die Bescherung mal an«, erwiderte er und ging in Richtung Parkeingang.

  Der Müll, der die Asphaltfläche des Parkplatzes bedeckte, hatte sich bis auf das nackte Erdreich dahinter ausgebreitet und säumte den Plattenweg, der zum Eingang hinaufführte. Die Unmengen an Müll ließen den pastoralen, hölzernen Laubengang über dem Schwinggatter zum Park geradezu als Hohn erscheinen und würden natürlich erfahrungsgemäß die Arbeit der Spurensicherung sehr erschweren. Es war nur ein sanfter Anstieg zu den bewaldeten Hängen des Parks, doch als Kincaid das Schwinggatter passiert hatte, stand ihm bereits der Schweiß auf der Stirn. Von ihm gabelte sich der Weg, dessen Oberfläche auch nach den Regenfällen der vergangenen Wochen noch so hart war, daß seine Gummistiefel keinen Abdruck hinterließen. Die rechte Abzweigung stieg leicht zu einer Heckenanpflanzung und zu den weiten Parkwiesen dahinter an, während sich der Pfad zu seiner Linken einen steilen Abhang entlangschlängelte. Ungefähr in zehn Meter Entfernung entdeckte Kincaid auf dem Weg eine Ansammlung von Leuten der Spurensicherung in weißen Kitteln.

  Kincaid zog einen Overall über und ging auf die Gruppe zu. Aus alter Gewohnheit verschränkte er die Hände auf dem Rücken, während er dem blau-weißen Band folgte, das den Tatort absperrte, denn auf diese Weise war die Versuchung geringer, unüberlegt etwas zu berühren.

  Die Leute von der Spurensicherung traten beiseite, um ihn durchzulassen, und dann sah er sie, halb im Schatten der Hecke liegend.

  »Sie war eine Schönheit, muß man sagen«, erklärte Willy Tucker, der Fotograf, der neben ihn getreten war.

  Sie lag auf dem Rücken zwischen Wegrand und Hecke, die den Parkweg gegen das höher gelegene Gelände abschirmte. Sein erster flüchtiger Eindruck war, daß ihre Kleidung sorgfältig arrangiert worden war.

  Der kurze Rock war auffällig glatt über ihre Oberschenkel gezogen. Das lange, schwarze Leinenjackett war züchtig hochgeschlossen bis zum letzten Zinnknopf. Nur ein cremefarbener BH-Träger aus Satin war dort sichtbar, wo ihr die Jacke leicht in Richtung Schulter verrutscht war. Eine Bluse trug sie offenbar nicht.

  Mit einem Blick auf Tucker sagte Kincaid: »Ihre Strumpfhose ... war nicht verrutscht oder ausgezogen?«

  »Nicht, soviel wir sehen konnten ... ohne sie zu bewegen.«

  Die Strümpfe waren dünn, nur ein Hauch von Schwarz über ihrer weißen Haut, und hatten Laufmaschen an beiden Beinen. Ein Fuß war nackt, der andere steckte in einem schwarzen Schuh mit breitem, hohem Absatz.

  Kincaid ging in die Hocke, ohne sich der Toten weiter zu nähern, und betrachtete ihr Gesicht. Es war ein perfektes Oval, die Haut selbst im grellen Licht faltenlos glatt. Die Nase gerade, die Lippen gut geformt. Als der Schatten weiterwanderte, entzündete die Sonne Funken auf der üppigen Mähne ihres rotgoldenen Haars. Sie sah so lebendig aus, daß - wären die Starre der Züge und die Fliegen nicht gewesen - man hätte annehmen können, sie habe sich hier nur zum Schlafen niedergelegt.

  Ein erdiger, würziger Duft stieg von der zertrampelten Vegetation zu seinen Füßen auf, der ihn unwillkürlich an Liebende denken ließ, die sich auf einem schattigen Plätzchen am Hang umfangen hielten. »Hat man den zweiten Schuh gefunden?« wollte er wissen.

  Der Fotograf schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Die Uniformierten haben eine gründliche Suche gestartet.«

  Festlich gekleidet, aber jeder Möglichkeit beraubt, je wieder eine Veranstaltung zu besuchen, schoß es Kincaid durch den Kopf, während er auf ihren leblosen Körper starrte. Er widerstand der Versuchung, die seidige Haarsträhne zurückzustreichen, die sich an ihrer Wange verfangen hatte. »Vielleicht hat sie ihn auf einem Fest beim Tanzen verloren.«

  Gemma beobachtete Kincaid, der den Weg zurück entlang der Absperrung kletterte, das Gesicht ausdruckslos wie immer unter diesen Umständen. »Die Tat eines Psychopathen? Oder was meinst du?« fragte sie, als er sie erreicht hatte. Man sagte nicht »Serienkiller«, nicht, wenn auch nur annähernd die Möglichkeit bestand, daß die Presse lange Ohren machte. Trotzdem war es immer der erste Verdacht, wenn eine junge Frau auf diese Weise ermordet wurde.

  Mit einem Blick zurück auf die Leute von der Spurensicherung, die wie seltsame weiße Insekten um die Leiche herumkrochen, schüttelte Kincaid den Kopf. »Ich glaube, der Mörder hat sie gekannt. Sieht so aus, als habe jemand ihre Kleidung züchtig arrangiert. Falls sie vergewaltigt worden sein sollte, läßt sich das auf den ersten Blick nicht erkennen. Nach der Obduktion wissen wir mehr.«

  »Ich bestelle jetzt den Leichenwagen«, sagte DI Coppin. »Ihr Einverständnis vorausgesetzt, Sir«, fügte sie unverhohlen feindselig hinzu.

  Kincaid zog leicht die Augenbrauen hoch, ließ sich jedoch auch diesmal nicht provozieren. »Nur zu, Inspector. Je schneller, desto besser ... bei dieser Hitze. Ein Glück, daß die Temperaturen vergangene Nacht gesunken sind.«

  Coppin kletterte ungeschickt den Hang hinunter. Ihr enger Kostümrock behinderte sie ganz offensichtlich. Gemma beobachtete sie, bis sie durch das Schwinggatter entschwunden war, und wandte sich dann an Kincaid. »Hör mal ...«

  Bevor sie fortfahren konnte, zog Kincaid sie in den Schatten, weit weg von den Kollegen der uniformierten Truppe. »Ist verdammt viel zu heiß, um in der Sonne rumzustehen«, sagte er, nahm ein Taschentuch aus der Tasche und trocknete sich die Stirn.

  Ein geschwungener Lattenzaun trennte die Rasenfläche neben dem Weg von der abschüssigen Böschung, die den Park umgab. Er lenkte Gemmas Blick zum Parkeingang. Das laubenartige Dach über dem Holzgatter erinnerte an einen japanischen Schrein, was die in der Sonne schimmernden Gebäude der Canary Wharf jenseits der dichten Baumkulisse wie Fremdkörper in einer Idylle erscheinen ließ.

  Der tröstlich vertraute Geruch von gebratenem Speck und Eiern stieg vom Café des ASDA-Supermarkts mit einer sich rasch verflüchtigenden Brise zu ihnen auf, und Gemmas Magen knurrte laut. Vor der ersten Klavierstunde war sie zu nervös gewesen, um zu essen, und sie hatte vorgehabt, sich später ein ausführliches Frühstück zu gönnen. Dabei hätte sie es besser wissen müssen. Ihr Handy hatte geklingelt, noch bevor Wendy Sheinart und sie ihre halbstündige Unterhaltung beendet hatten.

  »Um noch mal auf Inspector Coppin zurückzukommen«, sagte sie und warf einen Blick zu den Uniformierten hinüber, um sich zu vergewissern, daß sie außer Hörweite waren. »Ihr Chief Inspector ist das ganze Wochenende bei der Hochzeit seines Sohnes. Offenbar hat er uns eingeschaltet, ohne sie zu informieren. Sie meint natürlich, daß es eigentlich ihr Fall hätte sein müssen. Und wer will ihr das übelnehmen? Vielleicht kannst du ihr gegenüber etwas nachsichtiger ...«

  »Warum soll’s ihr bessergehen als anderen?« entgegnete Kincaid, grinste und wurde schlagartig ernst: »Ist eine harte Erfahrung für sie, aber wenn sie eine gute Kriminalbeamtin werden will, muß sie lernen, damit umzugehen.«

  Gemma konnte das nur unterstreichen. Ihr war es nicht anders ergangen. Trotzdem hatte sie Mitleid. »Und wenn schon, ich möchte nicht in ihren Schuhen stecken.«

  »Wenn du mich fragst, drücken die tierisch«, bemerkte Kincaid leise, denn Janice Coppin hatte ihren Funkspruch beendet und begann vom Eingang aus zu ihnen heraufzusteigen.

  Als DI Coppin sie schließlich erreichte, mußte sie mehrfach tief Luft holen, bevor sie ein Wort herausbrachte: »Sie sind unterwegs. Was jetzt, Sir?«

  »Erzählen Sie mir, was die Polizeiärztin bisher festgestellt hat.« Kincaid zückte sein kleines Notizbuch.

  Janice Coppin konsultierte ihre Notizen. »Sie meint, daß das Opfer im Lauf des Abends oder in den frühen Morgenstunden gestorben ist... viel länger kann sie bei diesen hohen Temperaturen nicht tot sein, anderenfalls hätte die Verwesung bereits eingesetzt. Äußere Zeichen von Vergewaltigung waren nicht festzustellen. Allerdings hat sie einen Bluterguß im Halsbereich.«

  »Irgendwelche Papiere und so weiter?«

  »Nein, Sir. Wir haben weder ihre Handtasche noch Reinigungsetiketten in ihrer Kleidung gefunden.«

  »Wer hat die Leiche entdeckt?«

  »Ein Rentner, Sir. George Brent. Lebt in der Siedlung unten am Park. Er war mit seinem Hund unterwegs, als er sie am Gebüsch entdeckt hat. Trotzdem wundert es mich, daß nicht schon früher jemand über sie gestolpert ist ... sie lag schließlich wie auf dem Präsentierteller.«

  »Hat man diesen Brent schon vernommen?«

  Coppin runzelte die Stirn. »Nein, das halte ich für zwecklos. Ich kenne ihn ... ein harmloser, alter Mann. Unwahrscheinlich, daß ihm überhaupt was Wichtiges aufgefallen ist.«

  Nach kurzem Schweigen sagte Kincaid ruhig: »Inspector, in diesem Stadium der Ermittlungen wissen wir überhaupt nicht, was relevant sein könnte. Insofern ist alles und nichts wichtig. Ich knöpfe mir Mr. Brent persönlich vor.«

  »Aber ...«

  »Inzwischen sollten wir umgehend mit den Befragungen der Anwohner beginnen und die mobile Einsatzzentrale aufbauen. Die Identifizierung der Leiche hat absolute Priorität. Und wir sollten die Medien vor unseren Karren spannen.«

 

Ein zerfetztes Stück Plastik wehte trudelnd über jenen Teil des Supermarkt-Parkplatzes, der durch die Bäume hindurch sichtbar war. Teresa Robbins stand auf ihrem Balkon und dachte an einen Film über das Igelgras in der amerikanischen Wüste, den sie gesehen hatte. Die riesigen Graskugeln waren in ähnlich wilden Wirbeln vom Wind Verblasen worden, beinahe so, als hätten sie ein Eigenleben entwickelt. Die Bewegung dieses Stücks Abfall machte sie ebenso nervös wie der heiße Wind, der sie verursachte.

  Trotzdem blieb sie gegen die Eisenbalustrade gelehnt und versuchte, durch die Bäume hindurchzusehen. Der erste Polizeiwagen war am frühen Vormittag eingetroffen, während sie Wäsche auf ihrer Hälfte des schmalen Betonbalkons aufgehängt hatte. Jetzt stand hinter der Tankstelle in einem vagen Halbkreis eine ganze Ansammlung von Autos. Nicht zu wissen, was los war, beunruhigte sie. Trotzdem konnte sie sich nicht dazu überwinden, sich zu den Schaulustigen auf dem Parkplatz zu gesellen.

  Ein lautes Plumpsen von nebenan warnte sie, daß ihr Nachbar aufgestanden und ihre beschauliche Zeit auf dem Balkon damit begrenzt war. Teresa schätzte ihre ruhigen Morgenstunden auf dem Balkon, besonders an Samstagen, wenn sie Zeit hatte, ihre Geranien und Petunien zu pflegen. Die Abende gehörten ihm. Dann frönte er seiner Vorliebe für Heavy-Metal-Musik und Bier im Sechserpack und heizte ihren stillen Grabenkampf an, indem er Zigarettenkippen in ihre Blumentöpfe warf, die sie dann am darauffolgenden Morgen aufsammeln mußte. Sie wußte, daß sie ihm hätte die Meinung sagen müssen, aber es war ihr von jeher schwergefallen, sich anderen Menschen gegenüber zu behaupten. Im Gegensatz zu Annabelle.

  Auch wenn sie sich in diesem Punkt in den fünf Jahren, die sie jetzt für Annabelle Hammond arbeitete, schon sehr gebessert hatte. Annabelle war einfach nie auf die Idee gekommen, sie könne nicht bekommen, was sie haben wollte; ob beruflich oder privat spielte dabei keine Rolle. Und Teresa hatte oft stumm und interessiert beobachtet, wie ihre Chefin in eine Besprechung mit ahnungslosen Managern gerauscht war, die nicht einsehen wollten, warum sie eine Frau ernst nehmen sollten. Bevor sie jedoch angesichts von Annabelles Schönheit aus ihrer Verzauberung aufgewacht waren, hatte diese ihre Unterschriften unter die relevanten Papiere bereits in der Tasche.

  Obwohl Teresa wußte, daß sie Annabelle in diesem Punkt nie würde das Wasser reichen können, hatte sie sich ihrem Job als Buchhalterin der Firma mit einem Eifer und einer Tüchtigkeit gewidmet, die ihr ihre Kameraden von der Gesamtschule Croyden nie zugetraut hätten ... dort war sie eine so unauffällige Schülerin gewesen, daß einer der Lehrer von ihr einmal gesagt hatte, sie sei »das Mädchen, das man immer übersieht«.

  Nach etlichen Buchhalterstellen, die sie in keiner Weise gefordert hatten, hatte sie bei Hammond ohne große Erwartungen angefangen. Zu ihrer eigenen Überraschung hatte sie die Branche fasziniert, und sie hatte alles wie ein Schwamm in sich aufgesogen, bei sich ein Organisationstalent und einen Sinn für Zahlen entdeckt, von dem sie nichts geahnt hatte. Sie hatte erfahren, daß sie ein blendendes Erinnerungsvermögen besaß, und eine Leidenschaft für Tee entwickelt, der an Annabelles Besessenheit heranreichte. Vor einem Jahr dann hatte Annabelle sie zu ihrer Finanzchefin gemacht.

  Sie waren ein gutes Team und hatten die Traditionsfirma Hammond’s Fine Teas zu einem modernen Unternehmen gemacht. Erst in den vergangenen Monaten, als Annabelle begonnen hatte, die Zukunft der Firma zu planen, hatte Teresa sie zum ersten Mal zaudernd und zweifelnd erlebt.

  Sie runzelte die Stirn bei dem Gedanken an die Verabredung zum Frühstück mit Sir Peter Mortimer im Chili’s in Canary Wharf an diesem Morgen. Annabelle war zum vereinbarten Zeitpunkt nicht erschienen, und es war unbegreiflich, daß sie eine solche Verabredung nicht eingehalten hatte. Reg und Teresa hatten Sir Peter, so gut es ging, bewirtet, aber ohne Annabelle hatten sie nicht gewagt, auf den eigentlichen Grund für die Zusammenkunft zu sprechen zu kommen. Als dann der Tag ohne ein Wort der Erklärung seitens Annabelles verging, begann Teresa sich in wachsendem Maß Sorgen zu machen.

  Nebenan folgte einem zweiten, dumpfen Plumps laute Musik ... der monotone Rhythmus von Bässen und eine kreischende menschliche Stimme, die Teresa Kopfschmerzen verursachten. Sie zog eine Grimasse, drehte sich um und sammelte ihre Wäsche vom Holzständer. Sie nahm sich vor, Annabelle erneut zu Hause anzurufen. Falls sich dort wieder niemand meldete, wollte sie ins Büro fahren ... vielleicht ließ Annabelle sich ja dort blicken.

  Als Teresa einen letzten Blick zum Parkplatz des Supermarkts hinüberwarf, bevor sie in ihrer Wohnung verschwand, fuhr ein ungekennzeichneter weißer Lieferwagen langsam über die Asphaltfläche.

 

Während sie auf den Leichenwagen warteten, lief Gemma zum Supermarkt-Cafe hinunter, um sich ein Brötchen mit Ei und Speck und eine Tasse Tee zu holen. Schließlich konnte sie nicht wissen, wann sich wieder eine Gelegenheit bieten würde, einen Happen zu essen. Der klimatisierte Supermarkt erwies sich als willkommener Zufluchtsort vor der Hitze. Gemma sah sich interessiert um, während sie ihr Brötchen aus der Zellophanhülle nahm.

  Der weitläufige Laden mit der breiten Angebotspalette war nicht die Sorte Geschäft, in die Gemma häufig kam. Allerdings bot er wohl das, was die Bewohner der schicken Wohngegend erwarteten. Erst als sie die Käuferschicht einige Minuten beobachtet hatte, fiel ihr auf, daß der überwiegende Teil aus der Arbeiterklasse stammte. Neugierig geworden, aß sie hastig ihr Sandwich und betrat den Haupttrakt des Supermarkts. Obwohl die Regale gut gefüllt waren, gab es zu ihrer Überraschung kaum Luxuslebensmittel; dafür jedoch Unmengen von Weißbrotsorten.

  Sie kaufte eine Packung Ingwer-Nuß-Kekse für den Notfall, steckte sie in die Handtasche und trat in die flirrende Hitze hinaus. Der Leichenwagen parkte unauffällig an der Rückseite des Parkplatzes. Die hintere Flügeltür stand weit auf. Gemma überquerte den heißen Asphalt, und als sie den Pfad zum Mudchute Park erreicht hatte, sah sie, daß die beiden Männer von der Gerichtsmedizin versuchten, die Bahre mit dem schwarzen Leichensack durch die schmale Öffnung der Schwingtür zu manövrieren. Sie hatten hochrote Gesichter und schwitzten, und einer fluchte unablässig und phantasievoll. Kincaid stand ein paar Meter weiter oben am Hang, die Hände in den Taschen, die Lippen ungeduldig aufeinandergepreßt.

  Die Träger stellten die Bahre ab und sahen zu ihm hoch. »Tut uns leid, aber wir müssen sie aufrecht nehmen, Boß«, sagte der mit dem reichhaltigen Vokabular.

  »Aber vorsichtig, bitte«, mahnte Kincaid, und Gemma hörte, wie er etwas von »versaut bloß nicht die wichtigsten Beweismittel« vor sich hin murmelte.

  »Wir schnallen sie fest.«

  Als die beiden Männer zum Leichenwagen zurückhasteten, nutzte Gemma die Gelegenheit, durch die Schwingtür auf Kincaids Seite zu gehen.

  »Fühlst du dich besser?« fragte er.

  »Viel besser. Wo ist Inspector Coppin?«

  »Im Revier von Limehouse. Sie organisiert alles Weitere. Unser Pech, daß sie das Revier hier auf der Insel dichtgemacht haben. Diese verdammten Sparmaßnahmen.«

  Gemma sah zu ihm auf und entdeckte eine kleine Stelle an seinem Kann, die er beim Rasieren am Morgen in ihrem winzigen Badezimmer übersehen haben mußte. Sie war ihm nahe genug, um ihre Seife auf seiner Haut riechen zu können, und der Gedanke an die gemeinsame Dusche ließ sie unwillkürlich lächeln. »Tut mir leid, daß dein Samstag verpfuscht ist«, seufzte sie. »Was ist mit Kit?«

  »Der Major ist für mich eingesprungen.«

  »Kit muß trotzdem schrecklich enttäuscht gewesen sein.«

  »Stimmt.« Kincaid sah sie nicht an.

  »Verdammtes Pech für dich.« Gemma wußte, wie sehr er es haßte, Kit zu enttäuschen, und sie vermutete, daß sein schlechtes Gewissen gegenüber Kit die Schuldgefühle noch verstärkten, die ihn seit Vics Tod plagten. Auch wenn er nie darüber sprach, spürte sie, daß all das seit Monaten an ihm nagte, und fühlte, daß es einen Keil zwischen sie und Kincaid trieb.

  »Ist für den Bengel doch noch viel schlimmer.«

  Gemma dachte an Toby, der ihre Abwesenheit durch unerwartete Diensteinsätze mit Gleichmut akzeptierte, weil er nie etwas anderes gekannt hatte. »Er wird sich daran gewöhnen. Der Job läßt dir eben keine andere Wahl.«

  »Wir haben sie hier gleich raus, Boß«, rief der geschwätzige Angestellte der Gerichtsmedizin, als er vom Wagen zurückkam.

  Kincaid warf einen Blick auf Gemma, schien etwas antworten zu wollen, zuckte dann jedoch nur die Schultern und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Toten auf der Bahre zu. »Ich frage mich nur«, überlegte er stirnrunzelnd, »falls der Mörder sie hier erst nach der Tat abgelegt hat... auf welchem Weg hat er sie in den Park geschafft? Dieses Gatter dürfte ihm Probleme gemacht haben.«

  »Mit einer Leiche auf der Schulter kommt man schon irgendwie durch ... vorausgesetzt, man ist kräftig genug. Allerdings muß man damit rechnen, jederzeit gesehen zu werden ... auch in der Nacht. Dürfte sicher noch andere Parkeingänge geben.« Gemma beobachtete, wie die Männer die Leiche festschnallten, die Bahre in eine aufrechte Position hievten und sie durch das Klappgatter manövrierten, und fügte hinzu: »Hat man irgendwelche Spuren in der Umgebung der Leiche sichergestellt?«

  »Nein. Vor allem fehlen deutlich sichtbare Schleifspuren. Aber der Untergrund hier ist steinhart. Glück für den Mörder, Pech für uns.«

  Die Träger brachten die Bahre hinter dem Gatter wieder in waagerechte Stellung und trugen sie zum Parkplatz hinunter. Gemma und Kincaid folgten ihnen. Kurz darauf schoben die beiden Männer die Bahre unter lautem Getöse in den Wagen und knallten die Türen zu.

  Gemma zuckte unwillkürlich zusammen und dachte daran, wie sorgsam die Leiche der Frau auf die Grasmatte gebettet gewesen war. »Warum jetzt plötzlich diese Hast? Ändert doch auch nichts mehr, oder?«

  Kincaid warf ihr einen überraschten Blick zu. »Du weißt, daß diese Leute völlig abgestumpft sind. Eine Leiche ist für die kein Mensch mehr.«

  Gemma schüttelte den Kopf. »Für irgendjemanden, irgendwo, ist sie das sehr wohl noch.«

  »Sie hat erstaunlich friedlich ausgesehen«, murmelte er. Es klang betroffen. Komisch, dachte Gemma, je schlimmer die Leichen zugerichtet waren, desto leichter fiel es, das Schicksal des jeweiligen Opfers nicht an sich heranzulassen. Kincaid berührte leicht ihre Schulter und fügte hinzu: »Machen wir weiter. Reden wir zuerst mit dem Rentner, der die Leiche entdeckt hat. Und auf dem Weg zu ihm möchte ich mir mal die Lage des Parks genauer ansehen.«

  Nachdem er Jackett und Stadtplan aus dem Wagen genommen hatte, stiegen sie wieder zum Mudchute Plateau hinauf. Sie gingen um den Tatort herum und in östliche Richtung weiter den Pfad entlang. Zu ihrer Linken lag eine Steilböschung und darunter die durch hohe Zäune begrenzten, rückwärtigen Gärten einer neuen Siedlung. Die dichte Vegetationsdecke aus Brombeeren und Winden, die die Böschung überwucherten, ragte teilweise bis auf den Pfad, wies jedoch keinerlei sichtbare Trittspuren auf. Gemma blieb stehen, um hinunterzusehen, und fühlte, wie die Sonne auf ihr Haar brannte, während die Luft über dem am höchsten gelegenen Teil des Parks in der Mittagshitze flimmerte.

  Kincaid pflückte eine reife Brombeere und steckte sie in den Mund. »Nach dem Plan zu urteilen, ist es möglich, daß sie in der Siedlung unten ermordet und dann in den Park heraufgebracht wurde.« Er schüttelte den Kopf. »Aber an dieser Stelle gibt es keinen Zugang ... da müßte jemand schon fliegen können.«

  Gemma betrachtete prüfend eine Brombeere. Sie hatte vom Beerenpflücken im Wald gelesen, es jedoch niemals selbst versucht ... Die Beeren in ihrer Kindheit waren in Schalen aus dem Supermarkt gekommen, und ihre Familie hatte nie Zeit für Ferien auf dem Land gehabt. Als Kincaid weiterging, pflückte sie ebenfalls eine Brombeere. Sie hinterließ klebrige, purpurrote Flecken an ihren Fingern, und als sie Kincaid hinterherlief, verschaffte ihr der herb-süße Geschmack auf der Zunge ein unerwartetes Gefühl von Freiheit.

  Vor ihnen machten sowohl Pfad als auch Steilhang eine scharfe Rechtsbiegung. Gemma dachte an die unregelmäßige Ausdehnung des Parks, die sie bei einem flüchtigen Blick auf die Karte erkennen konnte. »Ich dachte, es sei ein ganz gewöhnlicher Stadtpark, aber jetzt kommt es mir fast so vor, als habe man die hügeligen Teile von Hampstead Heath wahllos auf einer Tischplatte verteilt.«

  »Du vergleichst das Gelände mit einer Tischplatte?«

  »Schätze, schon. Ist alles irgendwie komisch hier. Der Ort... und schon der Name ...«

  »Der Mudchute Park ist durch Schlammaufschüttungen aus dem MiUwall Dock entstanden. Ich glaube, der Schlick wurde einfach über eine Rutsche hierherbefördert«, erklärte Kincaid. Als Gemma ihn überrascht ansah, fügte er lächelnd hinzu: »Ich habe Inspector Coppin eine Frage gestellt und einen umfangreichen Vortrag als Antwort bekommen. Das Grundstück gehörte zum Dock, und da das Betreten verboten war, hatte es für die Kinder der Gegend natürlich jahrelang einen großen Reiz. Erst vor zwanzig Jahren hat man einen öffentlichen Park daraus gemacht.«

  Gemma und Kincaid kamen zu einer Parkbank, die etwas abseits des Weges lag und einen natürlichen Aussichtspunkt markierte. Gemma blieb stehen und sah über die sanft gewellten Wiesen, auf denen vereinzelt Bäume standen. »Ist ja ein riesiges Gelände! Was war hier früher?«

  »Hauptsächlich Schrebergärten der Dockarbeiter. Außerdem wurde es als Holzlagerplatz genutzt.« Er deutete die an dieser Stelle nur noch sanft geneigte Böschung hinab und auf ein kleines, mit Karnickeldraht umzäuntes Gemüsebeet. »Schau mal. Da ist ja ein Garten. Ein Teil des Parks wird noch immer von den Schrebergärtnern genutzt. Aber vermutlich ist es damit zu Ende, wenn die letzten der alten Garde tot sind. Außerdem gibt es einen Musterbauernhof, der hauptsächlich für den Anschauungsunterricht in den Schulen dient.«

  »Klingt, als sei das Eis zwischen dir und Inspector Coppin geschmolzen. Wie hast du das fertiggebracht?«

  Er grinste. »Ganz einfach. Es macht ihr Spaß, mehr zu wissen als ich.«

  Vor ihnen mündete der Pfad in eine breitere Dreckspur. Eine Brise wehte den Gestank von Kuhmist zu ihnen herauf. »Soll das eine Straße sein?« fragte Gemma.

  Kincaid studierte die Karte. »Wir kommen jetzt zur Farm. Sieht so aus, als führe eine Fahrspur vom Farmgelände in unsere Richtung. Schauen wir mal, ob sie von hier aus zugänglich ist.«

  »Wenn man so weit mit dem Wagen fahren kann, ist es kein Problem, eine Leiche zu der Stelle zu tragen, an der wir sie gefunden haben.«

  Kincaid warf einen Blick zurück zum Parkweg und runzelte die Stirn. »Ist trotzdem eine hübsche Strecke, wenn man schwer zu tragen hat.« Er kniete nieder und zerrieb die trockene Erde zwischen den Fingern. »Aber so hart, wie der Untergrund hier ist, kann man möglicherweise auch einen Teil der Strecke fahren, ohne Reifenspuren zu hinterlassen.«

  Sie gingen den sanften Hang hinunter und hatten bald die Hauptgebäude der Farm erreicht. Im zentralen Hof aß eine Kindergruppe Eis, das sie am Kiosk gekauft hatten. »Ein blühendes Geschäft muß das sein«, sagte Gemma. Beim Anblick der Kinder dachte sie an Toby, den sie mangels anderer Gelegenheit in die Obhut ihrer Schwester gegeben hatte. Ein Tag bei Cynthias kleinen Rackern, und ihr Sohn war eine Woche wie aufgedreht. Aber sie hatte keine andere Wahl gehabt.

  Dort, wo die unbefestigte Fahrspur zur Farm in eine Asphaltstraße überging, befand sich ein großes Metallgatter. Es stand offen. Ein rostiges Vorhängeschloß hing an einer Kette vom Rahmen.

  »Sieht nicht so aus, als sei hier in letzter Zeit abgeschlossen gewesen.« Kincaid bohrte eine Schuhspitze in die staubige Straße. »Und keine Schleif- und Kratzspuren, soviel ich sehen kann.«

  Gemma berührte die aufgesprungene Metalloberfläche des Gatters. »Der Mörder könnte sie also mit dem Wagen in den Park gefahren haben.« Sie drehte sich um und sah zu der Siedlung hinüber, die am asphaltierten Ende der Sackgasse lag. »Aber in dieser Gegend riskiert man sogar mitten in der Nacht, gesehen zu werden. Es wimmelt nur so vor neugierigen Nachbarn.«

  »An einen fremden Wagen erinnern die sich bestimmt ... auch wenn sie die Insassen für Teenager auf der Suche nach einem abgelegenen Schmuseeckchen gehalten haben.«

  Gemma, die bei Kincaids Wortwahl unwillkürlich lächeln mußte, berührte kurz seinen Arm. Sie wandten sich in Richtung Straße. »Wie diskret von Ihnen, Superintendent. Wo finden wir also Mr. Brent?«

  Er warf erneut einen Blick auf die Karte. »Das ist die Pier Street. Von ihr müßten wir direkt in die Manchester Road kommen, wenn wir immer geradeaus gehen.«

  Die Häuser der Siedlung des sozialen Wohnungsbaus, an denen sie auf ihrem Weg vorbeikamen, waren in der für die sechziger Jahre typischen Betonfertigbauweise erstellt worden, machten jedoch einen vorwiegend guterhaltenen Eindruck. Die Eingangstüren standen in der Mittagshitze auf, und während Perlenvorhänge den Bewohnern Schutz vor neugierigen Blicken boten, drangen die Küchengerüche ungefiltert nach draußen. Gemma atmete die appetitlichen Düfte von Knoblauch und fremden Gewürzen ein.

  Einige der winzigen Vorgärten waren vollkommen mit Platten ausgelegt, in anderen standen oder hingen Topfpflanzen oder waren Blumenbeete angelegt. Der Garten des schmalen Häuschens jedoch, das ihr Ziel war, hätte ein Gartencenter vor Neid erblassen lassen. Jeder Zentimeter des höchstens zehn Quadratmeter großen Gevierts war mit blühenden Pflanzen bedeckt, und als sie näher kamen, sah Gemma, daß sie sich durch eine Gartentür zwängen mußten, die von einer Masse purpurroter Clematis aufgehalten wurde.

  Sie prüfte die Hausnummer über der Tür. »Hier müßte Mr. Brent wohnen.«

  »Janice Coppin hat was von besonders schönen Blumen erwähnt.«

  »Ist noch gelinde ausgedrückt.« Der Eingang wurde nicht von einem Perlenvorhang verdeckt, und als sie den schmalen Gartenweg entlanggingen, stieg ihnen der Duft von gebratenem Fleisch, gemischt mit dem schweren Duft von Blumen in die Nase. Drinnen im Haus plärrte der Fernseher, und es ertönte die Erkennungsmelodie einer beliebten Familienserie.

  Kincaid klopfte an den Türrahmen, wartete einen Moment und rief dann: »Hallo?«

  »Komme schon«, antwortete eine Frauenstimme. Die Frau kam aus den rückwärtigen Räumen des Hauses und wischte die Hände an einer geblümten Kittelschürze ab. »Was kann ich für Sie tun?«

  »Wir möchten gern Mr. Brent sprechen.«

  Die Frau zog eine Grimasse. »Warten Sie einen Moment. Ich drehe erst mal die Flimmerkiste leiser.«

  Sie verschwand hinter der Wohnzimmertür. Sie sahen kurz den Bildschirm eines Fernsehers flimmern, dann war es still.

  Sie kehrte zu ihnen zurück und nickte. »So ist es besser. Das verdammte Ding macht mich verrückt. Also, was wollen Sie?«

  »Wir möchten zu Mr. Brent«, antwortete Gemma. »Wir sind von der Polizei. Es ist wegen heute morgen.«

  Das Gesicht der Frau verdüsterte sich besorgt. »Schreckliche Geschichte. Dad war ziemlich aufgebracht. Hat mich den ganzen Vormittag gekostet, ihn zu beruhigen. Mußte ihm versprechen, ihm Braten und Kartoffeln zu machen ... ausgerechnet bei dieser Hitze. Und jetzt bringen Sie ihn wieder völlig durcheinander.« Sie war klein und drahtig, mit kurzem, schwarzgefärbtem Haar. Unter der geblümten Schürze trug sie Leggings und T-Shirt.

  Kincaid lächelte. »Tut mir leid, Mrs. ...«

  Sie berührte ihr Haar und reichte Kincaid die Hand. »Hubbard. Brenda Hubbard. Geborene Brent. Ich will nur ...«

  »Bren!« riefeine Männerstimme von der Rückseite des Hauses her. »Wer ist da, Bren?«

  Brenda zögerte einen Moment. Dann zuckte sie die Schultern. »Die Polizei ist da, Dad. Sie möchten mit dir reden.« Damit trat sie zurück und gab den Weg ins Wohnzimmer frei.

  Gemma machte sich instinktiv ganz dünn, als sie den kleinen Raum betrat, der mit Möbeln und Nippes verstellt war, zwischen denen man sich hindurchschlängeln mußte. Hier konkurrierten Lampenschirme mit Fransenrand mit dem Mohnblütenmuster der Tapete, während sich letztere schrill vom gewagten, floralen Design des Teppichs abhob. Souvenirs aller Art und Familienfotos belegten jeden freien Platz, und breiteten sich über die Wände aus. Brenda Hubbard sah sich nach Gemma um und deutete auf die Fotos. »Ich sage Dad immer, daß kein Platz dafür mehr ist, aber er kann sich von keinem trennen.«

  Gemma blieb stehen und betrachtete eine Gruppe von Fotos in besonders kitschigen Bilderrahmen auf einem Bücherregal. »Seine Schulklasse?« fragte sie und deutete auf das größte Bild.

  Brenda lächelte. »Familie. Wir waren vierzehn. Dreizehn Mädchen und ein Junge ... der jüngste. Was Mum sich in den Kopf gesetzt hat, mußte sein, da war nichts zu machen.« Sie berührte flüchtig die Fotografie einer verbrauchten Frau mit freundlichem Gesicht inmitten einer Kinderschar, und ging weiter.

  Der blaue Plüschsessel vor dem Fernseher war der einzig ungemusterte, ruhende Pol im Raum. Er war unbesetzt. Die Glastür zur kleinen Betonterrasse war geöffnet, und im Schatten des Sonnenschirms saß ein älterer Mann in einem weißen Plastikgartenstuhl. Neben ihm hob ein Terrier seinen schmalen Kopf von den Pfoten, als sie ins Freie traten.

  »Mr. Brent.« Kincaid zückte auf der Terrasse seinen Dienstausweis. Mit einem Blick auf den Hund, der an seinen Hosenaufschlägen schnupperte, fügte er hinzu: »Ich bin Superintendent Kincaid. Das ist Ser...«

  »Sitz, Sheba.« George Brent schimpfte sanft mit dem Hund und betrachtete sie dann prüfend aus seinen wachen blauen Augen. »Janice Coppin hat Sie geschickt, was? Soviel Grips hätte ich ihr gar nicht zugetraut.«

  Brenda Hubbard schüttelte ärgerlich den Kopf. »Dad, das ist nicht nett von dir. Das weißt du.« Mit einem Blick auf Gemma und Kincaid fügte sie entschuldigend hinzu: »Janice ist mit unserem Georgie zur Schule gegangen. Und Dad kann sie wegen irgendeinem dummen Kinderkram nicht leiden, den alle längst vergessen haben.«

  »Deine Mum hat’s nie vergessen. Und für unseren Georgie war das alles andere als dummer Kinderkram ... sie hat ihn vor dem Abschlußball sitzenlassen.« Nachdem er seiner Tochter seinen Standpunkt klargemacht hatte, hielt George Brent Kincaid die Hand hin. Sein Griff war kräftig, und die Arme und Schultern, die seine Baumwollweste unbedeckt ließen, waren immer noch muskulös.

  Kincaid zog zwei weitere Plastikstühle heran. »Dürfen wir uns setzen, Mr. Brent?«

  »Oh, Verzeihung! Wie unhöflich von mir.« Brenda Hubbard klang fast wie ein aufgescheuchtes Huhn, als sie ihnen half, die Stühle um den Tisch zu stellen. »Darf ich Ihnen was anbieten? Tee? Oder Orangensaft?«

  »Saft wäre himmlisch«, sagte Gemma. Sie war nicht nur durstig, sie wollte Mr. Brents Hickhack mit seiner Tochter beenden, da das nur vom Wesentlichen ablenkte.

  Als Brenda in der Küche verschwunden war, begann Kincaid erneut: »Ohne Sie unnötig aufregen zu wollen, Mr. Brent, müssen wir Sie doch bitten, uns zu erzählen, was heute morgen passiert ist.«

  »Wer sagt, daß ich mich aufrege?« Brent schickte einen düsteren Blick in Richtung Haus. »Alles Blödsinn!« fügte er leise hinzu. Dann versenkte er seine Finger im rauhen Fell seines Hundes.

  »Man findet nicht jeden Tag eine Leiche, Mr. Brent«, bemerkte Gemma. »Da würde sich jeder aufregen.«

  Brent wandte den Blick ab. Gemma sah, wie sein Adamsapfel auf und ab hüpfte, als er schwer schluckte, und wie verkrampft die Hand das Fell des Hundes packte. »Sie war so schön ... so verdammt schön. Ich dachte, sie schläft... wie eine Märchenprinzessin.«

  Brenda kam mit den Getränken, stellte die Gläser wortlos ab, zog einen weiteren Plastikstuhl in den Schatten und setzte sich.

  »Erzählen Sie einfach der Reihe nach«, schlug Kincaid vor. »Sie haben also Ihren Hund in den Park geführt, oder?«

  »Zuerst hast du gefrühstückt, stimmt’s, Dad?« plapperte Brenda dazwischen. »Du gehst immer nach dem Frühstück mit Sheba Gassi.«

  »Ganz recht. Einmal um den Park gehen wir jeden Morgen und jeden Abend. Hält uns fit, was, altes Mädchen?« Er streichelte den Kopf der Hündin. Das Tier klopfte mit dem Schwanz auf den Boden.

  »Um wieviel Uhr war das, Mr. Brent?«

  »Bißchen später als sonst... weil ich Mrs. Singh von nebenan mit ihrem Fernseher geholfen habe. Ungefähr halb neun, schätze ich. Und es war schon heiß wie im Backofen.«

  Gemma nippte an ihrem Saft. »Sind Sie den üblichen Weg gegangen?«

  »Wir gehen immer denselben Weg, was, mein Mädchen?« sagte Brent, und Shebas Schwanz klopfte erneut zustimmend auf Beton. »Die Stebondale Road runter, am Rope Walk in den Park, einmal quer durch, die andere Seite rauf.« Er schüttelte den Kopf. »Die verdammten Baufirmen vermiesen einem alles. Kannst dein eigenes Wort kaum noch verstehen.«

  »Sie meinen an der East Ferry Road, oder?« fragte Kincaid.

  »Farm Road haben wir sie genannt. Als ich noch ein Junge war, waren da lauter Bauernhöfe ... Kann man sich heutzutage gar nicht mehr vorstellen. Als wir noch in der Glengall Road gewohnt haben, vor der Bombardierung ...«

  »Mr. Brent«, unterbrach Kincaid ihn sanft. »Erzählen Sie uns, was dann passiert ist.«

  George Brent zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich damit über seine glänzende Glatze. Dabei beobachtete er Sheba, die glücklich in einem Blumenbeet an der Terrasse ein Loch buddelte. »Du bist wirklich eine Teufelin, was, mein Mädchen!« murmelte er und fing dann Kincaids Blick auf. »Meistens mache ich am ASDA-Supermarkt halt und trinke eine Tasse Tee, treffe alte Kumpels, obwohl Harry Thurgat allmählich nicht mehr ganz auf dem Damm ... aber heute morgen war ich zu spät dran. Deshalb bin ich gleich oben über die Anhöhe weitergegangen.«

  Sein Blick schweifte erneut zu der Hündin ab. »Ich habe sie von der Leine gelassen ... Sie ist immer hinter den Karnickeln her ... oder das, was sie für Karnickel hält. Dann habe ich sie jaulen hören. Und als ich sie eingeholt habe ...«

  Beim Wort »Karnickel« setzte sich Sheba auf die Hinterläufe, neigte den Kopf erwartungsvoll zur Seite und trabte zu ihrem Herrn. Ihr langgezogenes, elegantes Profil erinnerte Gemma an ägyptische Wandzeichnungen von Hunden. Hatten die Ägypter nicht geglaubt, daß Hunde ihren Herren ins Jenseits folgen?

  »Haben Sie die Tote berührt, Mr. Brent?« fragte sie.

  »Nein, ich ... Also, vielleicht hab ich’s getan. Nur ein bißchen, um zu fühlen, ob sie ...«

  »Aber Sie haben ihre Lage nicht verändert?«

  Brent schüttelte den Kopf. »Ich hatte nur den einen Gedanken ... Hilfe zu holen. Keine Ahnung, warum. Bin zum Supermarkt gerannt, ich Idiot! Zu alt, um noch laufen zu können wie früher. Habe von dort den Notruf gewählt.«

  »Und haben auf die Polizei gewartet?« fragte Kincaid.

  »Konnte ja nicht wissen, daß sie Janice Coppin schicken würden, oder?« Brents Miene wurde düster, und Sheba reagierte mit leisem Knurren, das aus der Tiefe ihrer Kehle kam. »Hat mich wie ein Kind oder einen Idioten behandelt. Sie ist keine Leuchte, diese Frau. Und ihr Mann, diese Pfeife ...«

  »Dad, das reicht«, mahnte Brenda. »Außerdem ist sie von Bill geschieden, wie du weißt.« Sie sah Kincaid und Gemma an. »Wenn das alles ist...«

  »Nur noch ein paar Fragen, Mrs. Hubbard.« Kincaid wandte sich wieder dem Vater zu. »Hatten Sie die Frau ... das Opfer ... schon mal irgendwo gesehen, Mr. Brent?«

  »Ich ... ich bin nicht sicher.« George Brent wischte sich erneut mit dem Taschentuch über den Schädel. Er wirkte plötzlich alt, so als laste die eigene Unsicherheit schwer auf ihm.

  »Uns genügt eine Vermutung.« Gemma lächelte, um ihm Zuversicht zu geben. »Erzählen Sie uns einfach, wo Sie sie vielleicht gesehen haben könnten.«

  »Im Geschäftsviertel der Gegend ...«, antwortete Brent zögernd. »Dieses Haar ... so schönes Haar ... aber ihr Gesicht hatte ich nie richtig wahrgenommen.«

  »War das in der letzten Zeit?«

  Gemma hörte den Anflug von Spannung in Kincaids betont ruhigem Ton.

  Brent schüttelte den Kopf. »Nein, ich ... mein Gedächtnis ist wirklich nicht mehr das, was es war. Glaube, es war irgendwann im Frühjahr ... Vielleicht so um Ostern rum. Tut mir leid«, fügte er hinzu, als habe er die Enttäuschung in ihren Gesichtern gesehen. Aber Gemma hatte das unbestimmte Gefühl, daß der alte Mann ihnen nicht alles gesagt hatte, was er wußte.

  Kincaid stand auf. »Sie waren eine große Hilfe, Mr. Brent. Wir lassen Sie jetzt in Ruhe. Nur noch eines: Sie hatten gesagt, daß Sie auch jeden Abend mit Sheba Gassi gehen ... machen Sie da dieselbe Runde?«

  »Da müßte ich sie schon an die Leine legen, um sie davon abzuhalten, wissen Sie? Arbeitet sich wie ein Uhrwerk durch den Park, der Hund.« Brent grinste bei seinem Witz.

  »Um wieviel Uhr war das?«

  »Die Neun-Uhr-Nachrichten sollten gerade anfangen. Versäume die Nachrichten nur ungern, aber hinterher ist es zu dunkel.«

  »Und Sie sind sicher, daß die Leiche da noch nicht an der Stelle gelegen hatte?«

  Brent straffte empört die Schultern. »Hätte sie doch sehen müssen, oder? Auch im Dunkeln. Bin doch nicht blind.«

  »Selbstverständlich nicht, Mr. Brent«, versicherte Kincaid ihm, als Gemma aufstand. »Und wir sind dankbar, daß Sie uns soviel Zeit gewidmet haben.«

  Als sie sich zum Gehen wandten, rief George Brent ihnen hinterher: »Sagen Sie dieser Janice, daß sie eine blöde Kuh ist. Unser Georgie hätte sie nie mit einem Haufen schrecklicher Kinder sitzenlassen.«

 

Reg Mortimer trank selten Alkohol. Gelegentlich mal ein Glas Bier der Gesellschaft wegen, oder ein oder zwei Gläser Wein zum Essen. Aber Offerten, die dieses Limit überstiegen, wehrte er mit einem Lächeln und dem Hinweis auf seine körperliche Fitneß ab. Reg konnte es nie über sich bringen, die Wahrheit zu gestehen ... daß Alkohol ihn krank machte, daß ihm davon wie einem Pennäler kotzübel wurde.

  Seine Hand zitterte, als er das Glas an die Lippen hob ... Jack Daniel’s, weil sein Magen die Weichheit des Bourbon besser vertrug als die Schärfe eines Scotch. Konnte man das einen medizinischen Drink nennen? Das halbe Glas, das er getrunken hatte, hatte nichts bewirkt, um die panische Angst zu lindern, die sich ihm auf die Brust gelegt hatte, noch hatte der Whiskey ihm geholfen, zu entscheiden, was er tun sollte.

  Er drehte sich um und sah auf das Telefon in der Ecke, dann erneut auf die schwindende Anzahl der Gäste an der Bar. Zur Mittagszeit kamen die Leute ins Henry Addington in Canary Wharf, um zu sehen und gesehen zu werden. Aber heute war Samstag, und die Männer hatten ihre Geschäftsanzüge mit sorgfältig gebügelten Levis oder Khakihosen vertauscht, und die Frauen trugen Shorts und farbenfrohe Sommerkleider. Draußen vor den Fenstern, die in der ornamentalen Marmorfassade des Restaurants eingelassen waren, brannte die Sonne vom Himmel, machte einen flirrenden Lichtfänger aus der Wasserfläche, und dämpfte selbst die Rot- und Purpurtöne der Gebäude am Heron Quay auf der anderen Seite des Docks.

  Die Mittagszeit ging bereits in den frühen Nachmittag über, und Annabelle war noch immer nicht aufgetaucht. Es war eine winzige Chance gewesen, daß sie hierherkommen würde, wo sie sich so oft samstags trafen, aber er hatte bei ihr angerufen, bis ihm der Hörer heiß am Ohr klebte. Schließlich war er zu ihrer Wohnung gegangen und hatte an die Tür gehämmert. Auch im alten Speicher war sie nicht gewesen.

  Nicht daß Annabelle es sich je zur Gewohnheit gemacht hätte, immer verfügbar zu sein ... Manchmal dachte er, daß es ihr Spaß machte, ihn hinzuhalten, ihn zu quälen. Trotzdem erwiderte sie normalerweise seine Anrufe, und obwohl er den Verdacht hatte, daß sie noch böse mit ihm war, konnte er sich nicht vorstellen, daß Annabelle eine so wichtige Besprechung wie die von heute morgen aus persönlichen Gründen nicht einhalten würde.

  Natürlich hatte er am Vorabend die Beherrschung verloren - er war der erste, der das zugeben würde, sobald sie ihm die Chance dazu ließ -, aber die Tatsache, daß die Party bei Jo zu einem Fiasko geworden war, war nicht seine Schuld.

  Trotz der Hitze fröstelte Reg unwillkürlich. Er dachte an das, was er Annabelle am Vorabend eröffnet hatte, halb von Sinnen vor Eifersucht, und was er vor ihr verheimlicht hatte. Er hatte sie von sich gestoßen und konnte jetzt den Gedanken nicht ertragen, sie zu verlieren. Nicht in dieser Situation, da soviel auf dem Spiel stand. Aber wie konnte er den Schaden wiedergutmachen, den er angerichtet hatte?

  Und warum war Annabelle an diesem Morgen nicht gekommen? So sehr Teresa und er sich beim Frühstück bemüht hatten, alles zu überspielen, sein Vater hatte sich keine Sekunde täuschen lassen. Sir Peters Unterstützung war lebenswichtig ... das wußten sie alle ..., aber was Annabelle und Teresa nicht wußten, war, wie verzweifelt Reg es nötig hatte, daß sich die Dinge nach Plan entwickelten.

  Er mußte Annabelle erneut anrufen. Sicher war sie diesmal zu Hause ... Seit seinem letzten Anruf war eine Stunde vergangen. Damit hatte sie genug Zeit gehabt, nach Hause zu kommen. Vielleicht hatte sie sogar versucht, ihn anzurufen. Und doch überlief ihn beim Aufstehen eine Woge der Angst. Und dann kam die Übelkeit, so sicher wie das Amen in der Kirche.

 

»Hat keinen Sinn, jemanden durch die Geschäfte an der Manchester Road zu schicken, solange wir kein Foto haben.« Kincaid lehnte sich gegen die Korridorwand vor dem Büro im Polizeirevier von Limehouse und trank lauwarmen Tee aus einer Plastiktasse.

  »Ich habe einen der Jungs geschickt, die Abzüge vom Polizeifotografen zu holen«, sagte Gemma und fügte hinzu: »Hoffentlich ist ein Foto dabei, das wir der Öffentlichkeit zumuten können.« Kincaid wußte nicht, ob ihre Grimasse auf hysterische Anwohner oder auf die scheußliche Flüssigkeit in ihrem Plastikbecher bezogen war.

  Er nickte zustimmend. »Die Fotos dürften in Ordnung sein. Ihr Gesicht war erstaunlich friedlich.« Der Nachmittag hatte keine weiteren Aufschlüsse über die Identität der Frau gebracht, so daß die Verteilung der Fotos durch das Ermittlungsteam der nächste logische Schritt war.

  Gemmas leerer Plastikbecher quietschte, als sie ihn zusammendrückte. »Willst du eine Zeichnung an die Medien rausgeben.«

  Im Verlauf des Nachmittags hatten sie die Routine der Ermittlungen in Gang gesetzt; die erste Runde der Befragung der einzelnen Haushalte konzentrierte sich auf den Supermarkt und die Straßen in unmittelbarer Nachbarschaft des Parks. Gleichzeitig ging die intensive Suche nach Indizien am Tatort weiter, was immer ein Wettrennen mit der Zeit war, da Spuren im Freien schnell verwischt waren. Außerdem wurde die Beschreibung des Opfers in die Vermißtenkartei des Polizeicomputers eingefüttert. Kincaid hatte sich bisher noch gescheut, sich um Hilfe an die Presse zu wenden, bevor er nicht eine offizielle Stellungnahme vorbereitet hatte, die eine Beschreibung des Opfers und den Aufruf an die Bevölkerung umfaßte, bei der Identifizierung zu helfen oder verdächtige Vorgänge im betreffenden Bezirk zu melden. »Nein, noch nicht. Wir versuchen es erst mit der Beschreibung. Und wenn das nichts bringt, soll der Polizeizeichner eine Zeichnung anfertigen.« Kincaid trank seinen Tee, warf den Becher in den Mülleimer und stieß sich von der Wand ab. »Schätze, ich begebe mich erst mal in die Höhle des Löwen.« Er rückte die Krawatte zurecht, die er aus seinem Kofferraum gefischt hatte, und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

  Gemma lächelte. »Du bist durchaus präsentabel. Sie warten im Vor...«

  Die Bürotür flog auf, und Janice Coppin kam heraus. Obwohl die vergangenen Stunden sowohl an 'Haarsprayfrisur als auch am Kostüm ihre Spuren hinterlassen hatten, war die Widerborstigkeit des weiblichen Inspectors unversehrt geblieben, wobei Kincaid sie gegenüber ihrem Team durchaus als kompetent und geduldig erlebt hatte. »Da sind Sie ja«, begann sie beim Anblick von Gemma und Kincaid. »Gerade kam ein Anruf aus dem Bereitschaftsraum. Unten am Empfang ist ein Typ, der einen Riesenaufstand macht, weil die Kollegen sich weigern, vor Ablauf der üblichen vierundzwanzig Stunden eine Vermißtenanzeige aufzunehmen.«

  Kincaid hörte, wie Gemma scharf die Luft einsog, und sagte: »Könnte das was für uns sein?«

  Coppin zuckte die Schultern. »Seine Freundin ist gestern nacht nicht nach Hause gekommen. Sie heißt Annabelle Hammond und wohnt am Ende von Island Gardens. Er sagt, sie habe langes, rotes Haar.«