* 11

 

Wollte, wollte Gott, du fändest Trost.

 

Rupert Brooke aus einem Fragment

 

Adam entdeckte Nathan, in der Sonne sitzend, im Garten, mit einer Decke über den Knien, wie ein Greis.

  Er überquerte den Rasen. Seine Schuhe hinterließen im silbernen Tau eine dunkle Spur im Gras. Er kauerte sich neben Nathans Stuhl. Nathan war bleich, aber die Blässe war längst nicht mehr so ungesund wie am Tag zuvor. Nur die Augen waren noch glanzlos wie Kiesel im getrockneten Flußbett.

  »Wie geht es dir?« fragte er liebevoll.

  »Wenn du meinst, ob ich nüchtern bin, lautet die Antwort ja«, erwiderte Nathan, seufzte und wandte den Blick ab. »Ich muß mich bei dir entschuldigen, Adam. Setz dich doch.« Er deutete auf den anderen Liegestuhl. »Wenn du die Wahrheit wissen willst ... Ich fühle mich wie von einer riesigen Welle ausgekotzt. Noch bin ich wie betäubt. Ich wünschte, der Zustand würde andauern. Aber ich glaube nicht daran.«

  »Nein«, sagte Adam und sank in den Liegestuhl. »Das glaube ich auch nicht. Aber das Schlimmste ist vorbei.«

  »Wirklich? Kann ich mir nicht vorstellen.« Nathan fröstelte und zog die Decke höher. »Denn inzwischen hat der verdammte Selbsterhaltungstrieb wieder seine häßliche Fratze gezeigt. Das Vergessen hätte ich ihm bei weitem vorgezogen. Schade, daß du deinen Pfarrer Denny geschickt hast, damit er mein Gewehr einkassiert.«

  Adam hatte den Pfarrer von Grantchester in seiner panischen Angst angerufen und um Hilfe gebeten, bis er seine Gemeindearbeit soweit delegiert hatte, daß er sich selbst um Nathan kümmern konnte.

  »Ich möchte deine Töchter anrufen, Nathan«, bat Adam wie schon am Vortag. »Würde dir guttun, sie bei dir zu haben.«

  »Nein.« Nathan schüttelte den Kopf. »Ich ertrage sie jetzt nicht. Außerdem können die beiden sich sowieso nicht vorstellen, daß ein Mann über Dreißig empfinden kann ... was Vic und ich ...«

  »Leidenschaft«, sagte Adam. »Die Jugend glaubt sie für sich gepachtet zu haben. Nur die Erfahrung wird sie eines Besseren belehren. Wir sind doch genauso gewesen.«

  »Wirklich?« Nathan musterte Adam. »Du hast Leidenschaft für Lydia empfunden, stimmt’s?«

  »Ja. Aber das Alter hat sie gedämpft. Man lernt, sich auf andere Dinge zu konzentrieren, sogar Freude daran zu haben. Und trotzdem wünschte ich, sie hätte an jenem letzten Tag mich angerufen. Hat lange gedauert, bis ich dir das verzeihen konnte.« Adam sah, wie Nathans Augen groß vor Erstaunen wurden. Adam war selbst am meisten überrascht. Er hatte nie die Absicht gehabt, Nathan das zu sagen, niemals; und besonders nicht jetzt.

  »Ich hatte keine Ahnung.«

  »Spielt jetzt keine Rolle mehr. Habe mir nur immer eingebildet, ich hätte sie vielleicht umstimmen oder sie irgendwie trösten können ...«

  »Du glaubst, sie hätte dir gesagt, was sie vorhatte? Oder denkst du, du hättest was gespürt, das mir nicht aufgefallen ist?« fragte Nathan leicht gereizt.

  »Ist dir denn jetzt rückblickend nicht klar, daß sie längst alles geplant hatte?« entgegnete Adam.

  »Nein, ist es mir verdammt noch mal nicht!« Nathan stieß die karierte Decke von sich. »Vic hat mich dasselbe gefragt. Aber Lydia klang vollkommen normal an jenem Tag, vielleicht ein bißchen aufgeregt, insistierend. Mein Gott, wenn ich daran denke, wie froh ich war, daß es dir erspart geblieben ist ...« Nathan verstummte.

  In der folgenden Stille hörte Adam plötzlich die Spatzen in der Hecke zwitschern und fühlte die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht. Dann sagte er: »Trotzdem. Es hätte mir wenigstens das Gefühl gegeben ... ihr nah zu sein. Ich kann gut verstehen, wie dir zumute war, als du ... Vic nicht mehr sehen konntest.«

  »Vic und Lydia«, sagte Nathan etwas atemlos. »Lydia und Vic. Manchmal kann ich sie schon nicht mehr auseinanderhalten, nicht trennen, was mit ihnen geschehen ist.«

  »Hm ... Ist doch komisch, daß Vic auch Herzprobleme gehabt haben soll ...« Adam dachte an Vics Besuch im Pfarrhaus und ihr Gespräch. »Diese vielen Fragen, die Vic wegen Lydias Selbstmord gestellt hat - sie hat nicht daran geglaubt, oder?«

 

»Bilden Sie sich bloß nichts ein. Ich weiß, was Sie Vorhaben«, verkündete Chief Superintendent Denis Childs. »Sobald auch nur die kleinste Beschwerde von der Kripo in Cambridge bei mir landet, pfeife ich Sie gnadenlos zurück.« Sein Stuhl knarrte, als er sich zurücklehnte. »Seien Sie kein Idiot, Mann. Ich kenne Alec Byrne. Er ist ein guter Polizist. Was man von seinem Vorgänger nicht unbedingt behaupten kann. Lassen Sie ihn seine Arbeit tun.«

  »Ich habe nicht die Absicht, ihn davon abzuhalten«, bekannte Kincaid, dankte seinem Chef und verließ dessen Büro. Und das ist nicht mal gelogen, dachte er, als er die M9 nach Cambridge nahm. Gleichzeitig wußte er jedoch, daß Alec Byrne nur mit halbem Herzen bei der Sache war.

  Die Ledertasche mit Vics Unterlagen und ihrem Manuskript lag neben ihm auf dem Beifahrersitz des Midget. Eine exakte Kopie des Materials lag in seiner Wohnung. Es stand einer Rückgabe an Byrne also nichts mehr im Wege. Eine ganze Nacht hatte er gebraucht, um sich mit Vics Arbeit vertraut zu machen.

  Lydia Brookes unfertige Biographie las sich so flüssig und spannend wie ein Roman. Kincaid war ihrer Geschichte bis zu dem Zeitpunkt gefolgt, als sie die leidenschaftliche Verbindung mit Morgan Ashby einging. Und Ashby sollte auch sein erster Anlaufpunkt in Cambridge sein.

  Er mußte herausfinden, weshalb Lydias Ex-Mann sich geweigert hatte, mit Vic zu sprechen. Anschließend war Vics Freund und Nachbar, Nathan Winter, dran. Vor allen anderen jedoch stand ihm Alec Byrne bevor.

  »Ich hätte den Obduktionsbericht gern gelesen, Alec«, sagte er, als er Byrne in dessen Büro gegenübersaß. »Ich bin ein braver Junge gewesen - also spricht doch eigentlich nichts dagegen.«

  »Das sehe ich etwas anders. Du hast meine Freundschaft und Solidarität ganz schön strapaziert. Du hast dich in meinen Fall gemischt, am Tatort eigenmächtig gehandelt und bist dann auch noch unverschämt geworden. Für eine offizielle Beschwerde gegen dich ist das mehr als genug.«

  Diesmal hatte Kincaid nicht die Absicht, sich provozieren zu lassen. Wenn er auf Byrnes Anschnauzer einging, bekam er nicht, was er wollte. Er versuchte es mit Zuckerbrot und Peitsche. »Du hast ja recht, Alec. Tut mir leid. Aber vielleicht wär’s dir in meiner Lage ähnlich ergangen. Vic ist tot. Vielleicht verständlich, wenn mir da die guten Manieren ausgegangen sind. Aber was kann es schaden, mir den Obduktionsbericht zu überlassen? Möglich, daß ich euch unterstützen kann.«

  Byrne zögerte. »Also gut. Ich sage dir, was drinsteht«, antwortete er schließlich. »Damit mußt du dich zufriedengeben. Dr. McClellan ist an der Überdosis einer Form von Digitalis gestorben, wie du weißt. Wann das Gift verabreicht wurde, steht nicht fest. Digitalis gibt es in Form von Digoxin oder Digitoxin. Wann ihre Wirkung einsetzt, ist unterschiedlich. Bei Digitoxin geht es sehr schnell, wogegen Digoxin mehrere Stunden braucht. Die meisten Fälle einer Digitalisvergiftung sind auf die versehentliche Einnahme einer Überdosis zurückzuführen, es steckt also keine Tötungsabsicht dahinter. Wir haben inzwischen Dr. McClellans Hausarzt ausfindig gemacht. Er hat bestätigt, daß sie keine Herzprobleme hatte und in letzter Zeit keinerlei Medikamente genommen hat.«

  »Und Lydia? Welches Medikament hat sie genommen?' fragte Kincaid. Er hatte die Details aus Lydia Brookes nicht mehr im Kopf.

  Byrne zog einen Aktenordner aus seiner Schreibtischschublade. Kincaid registrierte erfreut, daß er zumindest Lydias Akte in Reichweite aufbewahrt hatte. »Mal sehen«, murmelte er und blätterte. »Lydia hat Digoxin gegen leichte Herzrhythmusstörungen genommen. Allerdings besagt eine Randbemerkung des Pathologen, daß Digoxin bei dieser Indikation normalerweise nicht verschrieben wird, weil die therapeutische Dosis fast mit der toxischen übereinstimmt. Hätte Lydia nicht schon mehrere Selbstmordversuche hinter sich gehabt, hätte er unfreiwilligen Medikamentenmißbrauch dafür verantwortlich gemacht.«

  »Aber der Pathologe kann nicht sagen, ob Vic dasselbe Mittel verabreicht worden ist?«

  Byrne legte die Fingerspitzen gegeneinander. »Nein. Wir können übrigens auch nicht sicher sein, daß Lydia Brooke tatsächlich an einer Überdosis ihres Medikaments gestorben ist. Obwohl man eine hohe Konzentration Digoxin bei ihr festgestellt hat. Ich bin zwar kein Chemiker, aber wenn ich den Bericht richtig verstanden habe, ist Digoxin ein Stoffwechselnebenprodukt von Digitoxin.« Er warf einen Blick in den Bericht.

  »Das heißt also, es läuft letztendlich alles auf dasselbe hinaus«, bemerkte Kincaid. »Gibt es sonst noch was?«

  Byrne tauschte die Akten. »Dr. McClellan hatte auch eine Spur Alkohol im Blut. Das ist alles.«

  »Sie könnte also Wein oder Bier zum Mittagessen getrunken haben?« fragte Kincaid. Er hatte kaum erlebt, daß Vic früher tagsüber Alkohol getrunken hätte. Aber vielleicht hatte sich das geändert.

  »Ihr Magen war leer. Aber das will nichts heißen. Zum Zeitpunkt des Todes hätte sie das Mittagessen sowieso verdaut gehabt. Allerdings wissen wir noch nicht, wo und mit wem sie zu Mittag gegessen hat.«

  Kincaid verkniff sich die Bemerkung, daß sie dafür mittlerweile achtundvierzig Stunden Zeit gehabt hatten. Was zum Teufel hatten sie eigentlich getrieben? Laut fragte er jedoch: »Habt ihr im Garten was gefunden?«

  Byrne verzog angewidert das Gesicht. »Auf der Flußseite der Gartenpforte sah es aus, als habe man dort eine Kuhherde vorbeigetrieben. Wir haben ein paar Abdrücke genommen, aber ich erwarte mir nicht viel davon.«

  Kincaid hatte es kommen sehen. Fälle wie dieser zogen die Schaulustigen an wie der Leim die Fliegen. »Hm«, murmelte er nichtssagend. »Und im Haus?«

  »Nichts von Interesse - bis jetzt. Sieht so aus, als sei Dr. McClellan im Begriff gewesen, sich eine Tasse Tee zu kochen, als sie ... ohnmächtig geworden ist. Der Doktor meint, sie habe vielleicht leichte Kopfschmerzen verspürt, oder Übelkeit. Wäre sie nicht allein gewesen, hätte man sie vermutlich retten können.«

  Kincaid schloß für einen Moment die Augen. Großer Gott, laßt das bloß Kit nicht hören. Das Kind trug schon genug Schuldgefühle mit sich herum. »Was ist mit der Todeszeit?« wollte er wissen. »Kann die Pathologie da Genaueres sagen?«

  Byrne lächelte. »Da legt sich die Pathologie nur ungern fest. Vic McClellans Sohn hat behauptet, sie habe vermutlich noch geatmet, als er sie um fünf Uhr gefunden hat. Ich schätze, das müssen wir vorerst so hinnehmen.« Er steckte die Berichte wieder in die entsprechenden Aktenordner. »Heute morgen hat die erste Verhandlung zur Untersuchung der Todesursache stattgefunden. Und die Familie hat den Pfarrer gebeten, einen Trauergottesdienst abzuhalten, da noch nicht abzusehen ist, wann die Leiche freigegeben werden kann. Die Großeltern meinen, es sei für den Jungen das beste, wenn ein Schlußstrich gezogen wird.«

  Diesmal mußte Kincaid seinen ehemaligen Schwiegereltern recht geben. »Weißt du, wann die Trauerfeier stattfinden soll?«

  »Freitag, ein Uhr. In der Kirche in Grantchester.«

  »Morgen? Die haben’s aber eilig, was?« Kincaid wurde plötzlich klar, daß er seine Eltern noch gar nicht verständigt hatte. Besonders seine Mutter hatte Vic sehr gern gehabt. Sie hatte das Scheitern der Ehe bedauert, sich jedoch nie über einen von ihnen kritisch geäußert.

  »Und wie geht es jetzt weiter, Alec?« wollte er so beiläufig wie möglich wissen.

  »Die übliche Routine. Wir haben angefangen, die Bewohner im Dorf zu befragen. Für den Fall, daß jemandem an besagtem Nachmittag was Ungewöhnliches aufgefallen ist. Und wir sprechen natürlich mit ihren Arbeitskollegen.«

  Mit anderen Worten >Scheiß drauf<, dachte Kincaid und sagte laut: »Natürlich.«

  Byrne beugte sich plötzlich vor, die Hände flach auf dem Tisch. »Ich brauche deine Hilfe nicht, Duncan. Ich wäre dir dankbar, wenn du dich da raushieltest.«

  »Alec, ich bitte dich. Sei vernünftig«, entgegnete Kincaid sanft und eindringlich. »Du kannst mich nicht davon abhalten, mit den Leuten zu reden. Antworten kann ich schließlich nicht erzwingen. Dazu fehlt mir die Handhabe. Also, warum juckt’s dich? Und falls ich tatsächlich was rausfinde, erfährst du es. Da kannst du sicher sein. Ist doch alles nur zu deinem Vorteil. Schon irgendwas Neues vom Ehemann?«

  Die Frage nahm Byrne den Wind aus den Segeln. »Er hat eine Adresse im College hinterlassen. Aber da ist er nicht mehr«, ergänzte er widerwillig. »Wir prüfen gerade, ob er vielleicht inzwischen wieder nach England gereist ist.«

  »Hatte er nicht eine seiner Studentinnen mitgenommen? Vielleicht weiß ihre Familie, wo sie sich aufhalten.« An Byrnes Miene war deutlich abzulesen, daß er von diesem pikanten Detail keine Ahnung gehabt hatte. »Sicher kennt jemand von der Fakultät den Namen des Mädchens - und wenn du Druck machst, sicher auch noch ein paar Einzelheiten.« Grinsend fügte er hinzu: »Keine Sorge, Alec. Ich erwarte keine Dankbarkeitsbezeugungen von dir, nicht mal inoffiziell.«

  Byrne lehnte sich mit leicht resignierter Miene zurück. »Ich will nur keine Beschwerden hören, daß du Leute belästigst oder dich mit falschen offiziellen Federn schmückst«, bemerkte er. Auf dieser freundlichen Basis verabschiedeten sie sich.

  Kincaid verschlang ein hastiges, mittelmäßiges Mittagessen in Grantchester. Danach wartete er, bis der Mann hinter der Theke eine freie Minute hatte. »Wissen Sie zufällig, wo Nathan Winter wohnt?« erkundigte er sich.

  Das runde, freundliche Gesicht des Mannes verdüsterte sich besorgt. »Nur zwei Cottages weiter die Straße rauf«, erwiderte er und deutete in Richtung Cambridge. »Das weiße mit dem schwarzen Fachwerk und dem Reetdach. Haufenweise Blumen im Vorgarten.« Er musterte Kincaid unverhohlen neugierig. »Dann wissen Sie das mit Dr. McClellan?« Er schüttelte den Kopf. »Wer hätte das gedacht? Eine schöne junge Frau stirbt einfach so weg. Und wer hätte gedacht, daß Nathan völlig durchdreht, als er von ihrem Tod erfährt? Hat versucht, ihre Haustür einzuschlagen. Die Nachbarn mußten ihn gewaltsam davon abhalten. Sie haben Dr. Warren geholt, damit er seine Hand verbindet.«

  »Was Sie nicht sagen?« Kincaid zeigte das angemessene Erstaunen. »Kennen Sie Mr. Winter schon lange?«

  »Seit unserer Schulzeit. Er lebt jetzt im Haus seiner Eltern. Sie sind vor ein paar Jahren gestorben. Nathan ist aus Cambridge zurückgekehrt und hat’s renoviert. Seine Frau war gestorben. Schätze, es hat ihn abgelenkt.«

  Typisch Dörfler, dachte Kincaid. Er bezeichnete eine weniger als drei Kilometer entfernt liegende Stadt als einen Ort, aus dem man >zurückkehren< konnte.

  »Armer Mann«, fügte der Barkeeper mitfühlend hinzu. »Hatte genug Kummer im Leben. Und wir dachten, daß er und Dr. McClellan nur entfernte Bekannte waren. Da sieht man wieder, wie wenig man die Leute kennt, was?«

  Kincaid bedankte sich und ging, bevor er selbst zum Ziel der dörflichen Neugier werden konnte. Neugierige Nachbarn waren ein großer Segen, dachte er, als er in die Sonne hinaustrat. Das Schwätzchen war das Hühnchen mit Pommes frites wert gewesen.

  Kincaid ließ den Wagen auf dem Parkplatz des Gasthofs stehen und ging, in Gedanken versunken, die Straße hinauf. War Vic in Nathan Winter verliebt gewesen? Und wenn, was war so überraschend daran, daß sie es ihm nicht gesagt hatte? Er hatte keinen Anspruch mehr auf ihr Privatleben gehabt, und zu diesem Stich von Eifersucht, der ihn durchfuhr, hatte er wahrhaftig keinen Grund. Doch was immer daran wahr war, es bedeutete, daß Vics Beziehung zu Winter wesentlich komplizierter gewesen war, als er geahnt hatte.

  Er fand das Cottage ohne Probleme. Mit seinem gepflegten Äußeren war es nicht zu übersehen, ebensowenig wie der meisterhaft angelegte Garten. Zu beiden Seiten der Eingangstür blühten Tulpen in den Beeten ... hoch, elegant und blaßrosa vor den weißen Hauswänden, davor kürzere, peonienblütige in dunklerem Rosarot und dazwischen das tiefe Blau von Vergißmeinnicht. Kincaid bückte sich, pflückte eine der blauen Blüten, steckte sie in die Tasche und klingelte.

  Der Mann, der die Tür öffnete, trug den steifen weißen Kragen des Geistlichen und hielt einen Strauß Kräuter in der Hand. Er war groß und hager, hatte lockiges graumeliertes Haar und trug eine Brille, die ihm auf die Nasenspitze gerutscht war. Er lächelte Kincaid freundlich an. »Hallo? Was kann ich für Sie tun?«

  Kincaid verbarg seine Überraschung. »Hm, ich wollte eigentlich zu Nathan Winter.«

  »Ich glaube, Nathan kann jetzt keine Besucher empfangen. Darf ich ihm was ...«

  »Wer zum Teufel ist da, Adam?« drang eine sonore Stimme aus der Tiefe des Hauses zu ihnen.

  »Ich bin Duncan Kincaid. Vic McClellans Ex-Mann.«

  Die Augen seines Gegenübers wurden groß. »Oh! Dann kommen Sie lieber rein.« Er trat zurück. »Ich bin übrigens Adam Lamb.«

  Das also ist Adam, dachte Kincaid. Er war froh, daß er wenigstens einen Teil von Vics Manuskript gelesen hatte.

  Adam führte ihn den Korridor entlang. »Nathan ist in keiner guten Verfassung«, erklärte der Geistliche ruhig. »Sie wissen nicht ...« Er hielt mit einem Seitenblick auf Kincaid inne. »Ich nehme an, für Sie ist das auch nicht einfach.«

  Sie erreichten eine Tür. Adam ging voraus in einen großen Raum auf der Rückseite des Hauses. »Wir sind heute morgen im Garten gewesen«, bemerkte er. »Wir wollten gerade was essen.«

  Kincaid erkannte flüchtig ein Wohnzimmer zu seiner Rechten, das in maskulinen, gemütlichen Rottönen gehalten war. Dahinter führte eine Glastür in den Garten. Dann sah er den Mann, der links an einem Tisch in einer Küchenecke saß. Sein schlohweißes Haar stand in erstaunlichem Kontrast zu seiner glatten, gebräunten Haut und den dunklen Augen. Als er aufstand, wirkte er muskulös und durchtrainiert. In gesundem Zustand, überlegte Kincaid, mußte er eine sehr männliche Vitalität ausstrahlen. Kein Wunder, daß Vic sich angezogen gefühlt hatte.

  »Nathan«, sagte Adam in diesem Moment. »Das ist Duncan Kincaid. Vics Ex-Mann.«

  Kincaid sah bei seinem Namen Erkennen in Nathans Augen aufblitzen. Vic hatte also von ihm gesprochen. Der Gedanke war ihm eine kleine Genugtuung.

  Sie starrten sich einen Augenblick an, bevor Nathan mit ausgestreckter Hand auf ihn zukam. Im letzten Moment schien er sich zu erinnern, daß seine Rechte bandagiert war, und er schüttelte Kincaid mit seiner Linken die Hand. »Kommen Sie, setzen Sie sich zu uns«, lud er ihn ein und deutete auf den kleinen Tisch.

  »Es gibt Eier und Tomatenbrot«, erklärte Adam und legte seinen Kräuterstrauß auf die Küchentheke. »Das entspricht vielleicht nicht Nathans kulinarischem Standard, aber es schmeckt.«

  »Danke, ich habe gerade gegessen«, wehrte Kincaid ab und setzte sich. Vom Herd her stieg ein verführerischer Duft auf, und sein fettes Mittagessen lag ihm plötzlich doppelt so schwer im Magen.

  »Aber eine Tasse Tee trinken Sie doch.« Adam griff nach dem Teekessel. »Ich setze Wasser auf.«

  Kincaid beobachtete interessiert, wie Nathan protestierend aufstehen wollte, dann auf den Stuhl zurücksank. Nathan betrachtete Adam leicht konsterniert, als sei er es nicht gewohnt, so bedient zu werden. Adam allerdings bewegte sich in der Küche des Freundes, als sei er dort zu Hause. Er hackte die Kräuter und gab sie in den Topf. »Ich habe Nathan fürs Abendessen einen Gemüseeintopf gemacht«, rief Adam ihnen zu. »Er duftet großartig, oder? Leider kann ich nur vegetarisch kochen. Der arme Kerl muß es erdulden.«

  Während Adam mit den Töpfen klapperte, sagte Nathan: »Vic hat oft von Ihnen gesprochen. Ich glaube, sie mochte Sie gern.«

  »Tatsächlich?« erwiderte Kincaid hilflos. »Wir hatten uns jahrelang nicht gesehen - bis vor kurzem. Ich hatte den Eindruck, daß sie sich sehr verändert hatte. Aber ich bin mir nicht mehr so sicher, ob ich sie überhaupt je richtig gekannt habe.«

  Nathan rieb sich geistesabwesend den Verband an der Hand. »Ich auch nicht«, murmelte er und fing Kincaids Blick auf. »Jetzt ist das nicht mehr zu ändern.«

  Adam kam mit dem Teegeschirr zurück. »Wie ich gehört habe, hat die Polizei Sie angerufen.«

  »Der zuständige Polizeibeamte wußte von meiner ... Verbindung zu Vic«, erklärte Kincaid und ließ sich von Adam eine Tasse Tee einschenken. »Und das war gut so. Man hatte Kit mit einer Polizeibeamtin allein gelassen.«

  »Wissen Sie, wo Kit jetzt ist? Ich habe mir schon Sorgen gemacht.« Nathan streckte eine unstete Hand nach seiner Teetasse aus, und Kincaid beobachtete, daß Adam die Tasse nicht losließ, bis sie sicher vor Nathan auf dem Tisch stand.

  »Er ist bei seinen Großeltern - Vics Eltern. Und ich weiß, daß sie sich mit dem Pfarrer in Grantchester in Verbindung gesetzt haben. Er kann Ihnen vielleicht sagen, wie es Kit geht.«

  »Der Pfarrer?« wiederholte Nathan, als begreife er nicht ganz.

  »Wegen der Beerdigung«, sagte Adam mit einem fragenden Blick auf Kincaid.

  »Es soll eine Trauerfeier geben. Morgen um ein Uhr.«

  »So bald schon? Aber sie haben noch niemandem Bescheid gesagt ...«

  »Ich bin sicher, daß Pfarrer Denny heute nachmittag vorbeikommen wird, Nathan«, unterbrach Adam ihn beruhigend.

  »Aber es müssen doch nicht nur die Nachbarn informiert werden. Auch alle vom College, aus ihrer Fakultät. Ich muß sie anrufen ...« Er wollte aufstehen.

  Adam hielt ihn am Arm zurück. »Alles in Ordnung, Nathan. Das mache ich schon. Du kannst mir eine Liste schreiben.«

  »Was ist mit ihrem Mann?« fragte Kincaid. »Wissen Sie vielleicht, wo er zu erreichen ist?«

  »Ian?« sagte Nathan. »Keinen Schimmer. Hat sich denn jemand mit ihm in Verbindung gesetzt?«

  »Soviel ich weiß, nein. Er hat seine Spuren sehr erfolgreich verwischt, wie mir scheint.« Kincaid sah, wie Nathan angewidert das Gesicht verzog. »Wie ist er überhaupt, dieser bemerkenswerte Ian McClellan?«

  »Was seine fachliche Kompetenz angeht, in Ordnung, soviel ich weiß«, erwiderte Nathan neutral.

  »Aber?« drängte Kincaid. »Keine falsche Rücksichtnahme, bitte.«

  Nathan lächelte. »Also gut. Ian McClellan gehört zu dieser ermüdenden Spezies Mensch, die glaubt, alles und jeden zu kennen. Der glatte >Keine-Sorge-ich-kenne-da-den-Richtigen-für-dich'-Typ ... Sie kennen die Show.«

  »Ein Karrierist? Und warum sollte jemand wie er alles hinwerfen, um mit einem jungen Mädchen durchzubrennen?«

  »Ehrgeizig nur im Kleinen, schätze ich«, antwortete Nathan. Er dachte kurz nach. »Ich habe den Mann nicht gut gekannt. Aber ich schätze, daß er das Alter der nagenden Selbstzweifel erreicht hatte und ein unkritischeres Publikum brauchte, um sich aufzuwerten.«

  Nach dem, was Vic ihm erzählt hatte, klang das durchaus plausibel. Kincaid trank seinen Tee. Als er aufsah, merkte er, daß Nathan ihn beobachtete.

  »Warum sind Sie hier?« fragte Nathan. »Wenn ich fragen darf? Hat Vic mit Ihnen über mich gesprochen?«

  »Vic hat nur gesagt, daß Sie ein Freund sind. Aber sie hat mir etliches über ihre Biographie von Lydia Brooke erzählt. Ich habe den Polizeibericht über Lydias Tod eingesehen. Daher weiß ich, daß Sie die tote Lydia entdeckt haben.«

  »Ah«, murmelte Nathan. »Ich hatte mich schon gefragt, woher Vic Details aus dem Polizeibericht kannte. Sie hat es mir nicht verraten.«

  »Hat sie Ihnen gesagt, daß sie Zweifel an Lydias Selbstmord hatte?« fragte Kincaid.

  »Nein ... nein. Aber ich habe so etwas vermutet«, erwiderte Nathan vorsichtig.

  »Glauben Sie, es gab Grund zur Skepsis? Sie sind schließlich derjenige, der Lydia gefunden hat.«

  »Ich ... ich weiß nicht«, seufzte Nathan. Kincaid sah die Unsicherheit in seinen dunklen Augen. »Damals hatte ich einfach angenommen, daß die Polizei alles genau überprüft hat.«

  »Und wenn nicht?« erkundigte sich Kincaid beinahe wie zu sich selbst. Dann sagte er abrupt: »Warum hat Lydia ihr ganzes Vermögen ihrem Ex-Mann hinterlassen?«

  Adam war der Unterhaltung aufmerksam, aber unauffällig gefolgt. Er war ein guter Zuhörer. War das angeboren oder erlernt? »Was meinen Sie, Adam?« wandte Kincaid sich an ihn. »Sie standen Lydia näher als irgendein anderer.«

  »Ich fürchte, Sie irren, Mr. Kincaid«, widersprach Adam mit einem flüchtigen Lächeln. »Obwohl ich wünschte, es wäre so gewesen. Diese Zeiten gehörten zum Zeitpunkt von Lydias Tod längst der Vergangenheit an.«

  »Und Ihnen ist nie die Idee gekommen, daß an Lydias Tod etwas faul sein könnte?«

  Adam schien nachzudenken. »Nein«, sagte er schließlich. »Das kann ich guten Gewissens nicht behaupten.«

  »Sind Sie Vic je begegnet?« wollte Kincaid wissen. Vic hatte so überzeugend über Adam geschrieben, daß er fast das Gefühl hatte, den Mann zu kennen - zumindest so, wie er in jenen frühen Jahren mit Lydia gewesen war. Eine Lüge traute er ihm nicht zu. Aber die Wahrheit?

  »Ich bin ihr leider nur einmal begegnet«, antwortete Adam mit aufrichtigem Bedauern. »Als sie wegen ihres Buchs zu mir kam.«

  »Und konnten Sie ihr helfen?«

  Adam zuckte die Schultern. »Wie soll ich das wissen? Sie hat gefragt, wie Lydia wirklich gewesen sei, und ich habe nach bestem Wissen und Gewissen geantwortet. Aber allgemein verbindlich konnte meine Aussage nicht sein. So was ist immer rein subjektiv. Die objektive Wahrheit gibt es nicht.«

  Kincaid nickte nachdenklich.

  »Das hat Vic gewußt«, warf Nathan ein. »Die Wahrheit ist immer relativ. Und trotzdem hat selbst das vom Biographen gefärbte Portrait eines Menschen seinen Wert.«

  Vic. Er hörte sie förmlich aus Nathans Worten sprechen, hörte ihre Eindringlichkeit, ihre Begeisterung. Die Trauer, die ihn plötzlich erfaßte, kam ganz unerwartet.

  »Die Wahrheit ist nicht immer relativ«, erklärte er nachdrücklich. »Die Wahrheit, die ich jetzt meine, ist unumstößlich.« Nathan und Adam starrten ihn erwartungsvoll an. »Vic ist an Herzversagen gestorben. Aber nicht wegen einer Insuffizienz ihres Herzens. Sie ist vergiftet worden.«

  Kincaid beobachtete die beiden Männer aufmerksam, sah ihnen in die Augen, wartete auf ein kurzes Aufflackern, das ihm sagte, daß sie es gewußt hatten. Aber alles, was er sah, waren Schock und Verständnislosigkeit.

  »Das ist doch nicht Ihr Ernst«, brachte Nathan schließlich heraus. »Das ist nicht mö...«

  »Ich finde, Nathan hat genug durchgemacht - auch ohne diese ... diese Anspielungen«, unterbrach Adam ihn. Seine Hand legte sich beschützend auf Adams Arm.

  »Tut mir leid«, seufzte Kincaid. »Ich wünschte, es wäre nicht wahr. Aber ich komme gerade aus dem Polizeipräsidium. Die Obduktion hat eine tödliche Konzentration Digitalis in ihrem Blut ergeben.«

  Nathan sprang auf. Er stieß gegen den Tisch, und das Teegeschirr klirrte gefährlich. Er ging schwankend zur Glastür und starrte hinaus. Im Gegensatz zur farbenfrohen Blumenpracht an der Front des Hauses bestand der Garten hier aus harmonischen Grün- und Grautönen. Dicht am Haus entdeckte Kincaid ein Beet in Form eines verschlungenen Knotens.

  Als sich Nathan für einen Moment zu ihnen umdrehte, war sein Gesicht aschfahl. »Könnte sie das Zeug aus Versehen selbst eingenommen haben?«

  Kincaid schüttelte den Kopf. »Kaum wahrscheinlich. Sie hat nie Digitalis verschrieben bekommen. Auch in ihrer Hausapotheke fand sich kein Mittel mit diesem Bestandteil.«

  »Aber warum? Warum sollte jemand so etwas tun?«

  »Keine Ahnung«, sagte Kincaid. »Aber ich finde es heraus. Und mein logischer Ansatzpunkt ist Morgan Ashby.«

  »Morgan?« Adam runzelte die Stirn. »Warum Morgan?«

  »Warum hat Lydia ihr Vermögen einem Mann hinterlassen, von dem sie seit über zwanzig Jahren geschieden war?« konterte Kincaid.

  »Woher soll ich das wissen?« stöhnte Nathan. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und ging im Zimmer auf und ab. »Vielleicht hatte sie das Gefühl, es ihm schuldig zu sein. Sie hatten das Haus immerhin gemeinsam gekauft. Vielleicht gab es sonst niemanden, dem sie es hätte vererben können.«

  »Oder ... sie hat ihn noch immer geliebt«, warf Adam leise ein. »Die Scheidung damals war ein schwerer Schlag für sie gewesen. Sie hat versucht, sich umzubringen.«

  »Was spielt das denn schon für eine Rolle?« Nathan wurde heftig. »Was zum Teufel hat das mit Vic zu tun?«

  Kincaid schob seinen Stuhl zurück, um Nathan nicht aus den Augen zu verlieren. »Vic hat mir erzählt, daß sie versucht hat, mit Morgan zu reden, und er hat sich geweigert ... ist beinahe handgreiflich geworden.«

  »Ja, und?« fragte Adam. »Morgan ist von jeher ein Rüpel gewesen. Und uns hat er ganz besonders gehaßt.«

  »Warum?« fragte Kincaid.

  »Natürlich war er eifersüchtig.«

  »Eifersüchtig auf euch alle?« fragte Kincaid überrascht. »Nicht nur auf Sie, Adam?«

  Adam warf Nathan einen kurzen Blick zu, bevor er antwortete. »Also, natürlich bin vor allem ich gemeint gewesen. Aber er mochte Lydias Freunde von ... von früher alle nicht. Mr. Kincaid, das ist alles ein bißchen viel auf einmal.« Er deutete auf Nathan, der wieder in den Garten starrte. »Macht es Ihnen was aus ...«

  »Natürlich, ich verstehe.« Kincaid stand auf. »Bevor ich gehe ... Können Sie mir sagen, wo ich Morgan Ashby finden kann?«

  »Er und seine Frau betreiben einen Künsderhof westlich von Cambridge«, antwortete Nathan, ohne sich umzusehen. »Hinter Barton an der Comberton Road. Sie können das Anwesen nicht verfehlen. Es besteht aus einem Bauernhaus mit einem großen Scheunen- und Stallkomplex - gelb angestrichen.«

  »Für jemanden, der mit Morgan Ashby nichts zu tun haben will, sind Sie gut informiert.«

  »Ich habe nicht behauptet, je dort gewesen zu sein.«

  Nathan wirbelte herum. »Ich weiß nur vom Hörensagen davon. Außerdem ist der Hof von der Straße aus nicht zu übersehen. Ich bin schon öfter daran vorbeigefahren.«

  »Himmel, mein Eintopf!« Adam sprang auf. »Den habe ich völlig vergessen.«

  »Ich halte Sie nicht länger auf«, seufzte Kincaid. »Danke für den Tee.«

  »Ich bringe Sie raus.« Adam ging zur Tür.

  »Schon gut, Adam. Ich mache das schon«, wehrte Nathan ab. »Kümmere du dich ums Essen.«

  Adam schüttelte Kincaid zum Abschied die Hand. »Falls ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, Mr. Kincaid - Sie erreichen mich in der St.-Michaels-Kirche, Cambridge.«

  Nathan führte Kincaid zur Haustür. »Wer hätte gedacht, daß Adam so gut kochen kann? Gemüseeintöpfe, ausgerechnet!« Dann blieb er an der Tür stehen und sah Kincaid an. »Wenn es stimmt, was Sie behaupten, ist Vic kaltblütig ermordet worden. Aber das ist unmöglich. Ich glaube es nicht.«

  »Kann ich mir vorstellen«, sagte Kincaid. »Aber daran ist nicht zu rütteln.«

  Nathan machte die Tür auf. Bevor Kincaid sich abwenden konnte, sagte er: »Morgen ... kommen Sie?«

  »Ja.« Kincaid drückte Nathan die Hand und ging. Als er sich umsah, war die Tür geschlossen.

  Kincaid vertraute auf seinen Instinkt. Er war sicher, daß die beiden Männer keine Ahnung gehabt hatten, daß Vic vergiftet worden war. Ihre Betroffenheit war ehrlich gewesen. Warum, so fragte er sich, hatte er dann das Gefühl, daß sie mehr wußten, als sie sagten?

  Er griff nach seinen Schlüsseln in der Tasche. Seine Finger berührten die welken Blätter des Vergißmeinnichts.

 

Cambridge 21. April 1964

  Liebste Mami,

ich weiß, es ist gemein, sich über den Tod eines Menschen zu freuen, aber Morgans Großvater ist gestern nacht gestorben, und ich bin so aufgeregt, daß ich kaum noch stillsitzen kann.

  So, nachdem ich zugegeben habe, wie geschmacklos ich bin, will ich Dir die nötige Erklärung geben: Morgans Großvater mütterlicherseits war ein wohlhabender Unternehmer aus Cardiff. Er hatte schon lange Krebs, und sein Tod war eine Erleichterung für alle. Jetzt heißt es, daß er seinen sämtlichen Enkeln zu gleichen Teilen eine gewisse Geldsumme hinterlassen habe. Die Testamentseröffnung findet allerdings erst in einigen Tagen statt.

  Sollte stimmen, was die Familie sagt, dann erbt Morgan zwar kein Vermögen, aber immerhin genug, um ein eigenes Atelier zu gründen und die Anzahlung für unser Haus zu leisten. Du kannst dir vorstellen, was das für mich bedeutet. Unsere kleine Wohnung war für uns beide gut genug, aber jetzt, da das Baby unterwegs ist, habe ich mir schon große Sorgen gemacht, wie es weitergehen soll. Wenn wir eine richtige Familie sein wollen, brauchen wir ein Haus mit einem Kinderzimmer.

  Ich schreibe wenig. Sobald ich mich an meinen Schreibtisch setze, werde ich müde wie eine zufriedene Kuh. Man hat mir gesagt, daß diese Lethargie vorübergeht und ich plötzlich vor Energie übersprühen werde. Dann will ich alles nachholen.

  Ich habe gestern Daphne bei Browns zum Frühstück getroffen. Sie schwitzt über ihrem letzten Examen und ist gelb vor Neid angesichts meines gesegneten Zustandes. Ich muß zugeben, daß ich das Universitätslebengelegentlich vermisse. Aber diese Momente sind selten. Ich mache mir lieber meinen eigenen Stundenplan. Zwei Gedichte hat The New Spectator angenommen. Eigentlich sollte das meine große Neuigkeit sein, aber dann hat mich die bourgeoise Geldgier übermannt, und ich hätte es fast vergessen.

Lydia