* 11

 

Die großen Schiffe wurden zur Insel geschleppt, wo sie Hinterhöfe und Gärten überragten, und die fremden Matrosen strömten in die staubigen Straßen, wo die Kinder spielten.

 

  Eve Hostettler, aus: Erinnerungen an eine Kindheit

 

Kit hatte seit dem Mittagessen fleißig an seinem Hindernisparcours gearbeitet. Der rückwärtige Garten der Millers bot eine ebene und schattige Rasenfläche für seine Bemühungen, und es war ihm gelungen, Laura und Colin zu überreden, ihn allein zu lassen und nach Cambridge zum Einkaufen zu fahren.

  Es war die Hundesendung im Fernsehen vom Vorabend gewesen, die ihn auf die Idee gebracht hatte, in der es die üblichen Schönheitskonkurrenzen der einzelnen Rassen gegeben hatte, die er aufmerksam auf der Suche nach Hunden verfolgte, die Tess ähnlich waren. Als er die Norfolk-Terrier mit ihrem struppigen, braunen Fell und den klaren, schwarzen Augen gesehen hatte, war er sicher gewesen, daß einer von ihnen irgendwo in Tess’ Ahnenreihe zu finden sein würde.

  Darüber hinaus hatte es Wettbewerbe in Geschicklichkeit und Gehorsamsübungen gegeben, an denen alle Hunde, ob mit oder ohne Stammbaum, teilnehmen konnten. Fasziniert hatten ihn vor allem die Hindernisparcours. Und die Idee, daß Tess den fehlenden Stammbaum in diesen Wettbewerben ausgleichen konnte, hatte in ihm einen geradezu missionarischen Eifer entfacht. Tess war so klug wie jeder andere Hund - wenn nicht klüger -, und damit hatte sich ihm eine Möglichkeit eröffnet zu beweisen, über welch besondere Fähigkeiten sie verfügte.

  Die Hindernisse, die übersprungen werden mußten, hatte er aus den Feuerholzresten des vergangenen Jahres in der für Tess angemessenen Höhe konstruiert. Dann hatte er aus einem Stück Sperrholz und Milchkisten aus der Garage eine Rampe gebaut. Auch alte Reifenfelgen fanden bei ihm neue Verwendung. Das einzige, nicht gelöste Problem war der Tennisball-spender am Ende des Parcours. Die Idee war, daß Tess den Parcours durchlaufen, den Ball aus dem Spender nehmen und dann zu ihm an den Start zurückbringen sollte.

  Zuerst war Tess aufgeregt hinter ihm her gesprungen und hatte nach dem Ende der Leine geschnappt, die aus seiner Hosentasche hing. Als sie jedoch realisiert hatte, daß er weder einen Spaziergang noch ein Spiel im Sinn hatte, hatte sie sich auf ein schattiges Plätzchen unter der Eiche zurückgezogen. Dort lag sie mit dem Kopf auf den Vorderpfoten und wedelte gelegentlich mit dem Schwanz, während sie mit den Augen jede seiner Bewegungen verfolgte.

  Kit rekapitulierte in leisem Singsang jede seiner Aufgaben, während er arbeitete. Obwohl diese Monologe an Tess gerichtet waren, halfen sie ihm, ihn vom Nachdenken abzuhalten, und nachzudenken war etwas, das er die vergangenen Tage so gut es ging vermieden hatte.

  Seit er sich am Vortag geweigert hatte, mit Duncan am Telefon zu sprechen, hatte Laura ihn mit offensichtlicher Sorge beobachtet, jedoch keine Fragen gestellt. Er hatte selbst Colin bei diesem komischen, besorgten Blick ertappt. Außerdem war er netter zu ihm als sonst, was noch schlimmer war. Er wollte auch mit Colin nicht sprechen ... wollte mit niemandem darüber reden, was passiert war, und ganz besonders nicht mit Duncan.

  Trotzdem hatte er häufig das Foto mit den Eselsohren von Duncan in Pfadfinderuniform aus der Tasche gezogen. Es war etwas, das er nicht verhindern konnte, und selbst als er letzte Hand an den Knüppelsprung legte, glitten seine Finger gerade weit genug in die Tasche, daß er die Kante des Fotos fühlen und sich vergewissern konnte, es nicht verloren zu haben. Das Bild hatte sich ihm so deutlich eingeprägt, daß er es eigentlich gar nicht mehr betrachten mußte. Es löste ein merkwürdiges Gefühl bei ihm aus, so als sähe er in einen etwas stumpfen Spiegel, der sein Haar eine Nuance dunkler, die Augen etwas grauer und die Nase ein wenig runder erscheinen ließ.

  Doch das war nicht das Bild, das er sehen wollte. Am Vorabend, nachdem Cohn eingeschlafen war, hatte er sich ins Badezimmer eingeschlossen, hatte sein Gesicht prüfend im Spiegel betrachtet und versucht, darin die Ähnlichkeit mit seiner Mutter zu entdecken, von der die Leute dauernd redeten.

  Er schüttelte plötzlich heftig den Kopf, verdrängte die Gedanken und kniete neben Tess nieder. »Komm schon, Mädchen«, sagte er, zog die Hundeleine aus der Tasche und klickte den Karabiner ins Halsband'. »Versuchen wir’s mal.« Er überprüfte seine Vorräte an Hundeleckereien, gab ihr einen Keks für gutes Betragen, trottete mit ihr zum Start des Parcours und schnalzte aufmunternd mit der Zunge. Als sie sich dem ersten Sprung näherten, lief er schneller und drängte: »Komm schon, Mädchen. Du kannst es. Spring!«

  Tess ließ sich vor dem Hindernis abrupt auf ihrem Hinterteil nieder, neigte den Kopf zur Seite und starrte ihn an, als sei er komplett verrückt geworden. Der Ausdruck in ihrem Gesicht war so komisch, daß er unwillkürlich lachen mußte. Trotzdem war er entschlossen weiterzumachen. Er stellte sich auf die andere Seite der Holzstange und verkürzte die Leine so weit, daß sie nicht um das Hindernis herumlaufen konnte. Dann hielt er einen Hundekuchen hoch. »Okay, mein Mädchen. Wenn du den Keks willst, dann komm und hol ihn dir. Los, spring!« Er lockte sie mit einem Pfiff, und nach ein paar vergeblichen Versuchen, das Hindernis einfach zu umgehen, sprang Tess mühelos über die Stange.

  Kit heulte auf vor Freude, verfütterte ihr den Hundekuchen und ließ sich rücklings ins Gras fallen, während Tess versuchte, sein Gesicht zu lecken. Das war eines ihrer Lieblingsspiele.

  Plötzlich hatte Kit das Gefühl, beobachtet zu werden. Er setzte sich auf, hielt den sich windenden Hund am Halsband fest und sah sich im Garten um. Es dauerte einen Moment, bis er den Mann entdeckte, der am Gartentor im tiefen Schatten der Eibenhecke stand. Sein Herz klopfte ängstlich, und dann erkannte er, daß ihm die Gestalt irgendwie vertraut war.

  Der Mann hob den Riegel hoch und kam durch die Gartentür. Als er ins Sonnenlicht trat, sah Kit deutlich sein Gesicht. Er schluckte, als ihm die Kehle eng zu werden drohte, und sagte versuchshalber: »Dad?«

 

»Ist nicht unbedingt geschmackvoll, was?« sagte Kincaid zu Gemma und sah zu Reg Mortimers Wohnhaus auf.

  Das Gespräch mit Chief Superintendent Childs war alles andere als erfreulich verlaufen. Childs hatte gerade einen Anruf von Sir Peter Mortimer abschmettern müssen, in dem dieser wissen wollte, warum die Polizei seinen Sohn belästigte, statt Fortschritte bei der Suche nach Annabelle Hammonds Mörder zu machen. Und Childs hatte seinen Frust an Kincaid ausgelassen und ihm befohlen, endlich Resultate zu erzielen, und zwar schnell, und Mortimer mit Samthandschuhen anzufassen.

  Als Kincaid angedeutet hatte, daß diese beiden Dinge angesichts der Tatsache, daß Mortimer ihn offenbar von Anfang an belogen habe, sich möglicherweise nicht vereinbaren ließen, hatte Childs ihn davor gewarnt, Schlüsse zu ziehen, die er nicht beweisen konnte.

  Gemma hob gegen die grelle Sonne die Hand über die Augen, während ihr Blick über die runden Balkone und Bullaugenfenster des Gebäudes schweifte. Kaminartige Schlote ragten vom Dach auf, während eine Seite des Gebäudes stufenweise in Penthouseterrassen abfiel. »Ich finde es irgendwie witzig. Die kindliche Vorstellung vom Leben auf einem Luxusliner, anstatt im Baumhaus. Wirkt allerdings ziemlich schickimicki.«

  Während er sie betrachtete, fiel ihm auf, daß sie dafür, daß sie schon den ganzen Tag in der Hitze herumgelaufen war, erstaunlich frisch wirkte. Sie hatte im Limehouse-Revier auf ihn gewartet und ihm berichtet, was inzwischen geschehen war.

  Nach ihrem Besuch bei Jo Lowells Nachbarin hatte sie Martin Lowells Bank angerufen und erfahren, daß er den ganzen Nachmittag auswärts eine Besprechung hatte. Zumindest hatte sie jetzt seine Privatadresse.

  Sie hatten daraufhin beschlossen, es dort zu versuchen, auch wenn er nicht ans Telefon gegangen war. Damit konnten sie die Zeit überbrücken, bis Lowell nach Hause kam.

  Nur flüchtig und wie nebenbei hatte Gemma Kincaid gegenüber erwähnt, daß sie Gordon Finch erneut getroffen und daß Finch behauptet hatte, nichts von der Verbindung seiner Familie mit der von Annabelle oder von der Affäre seines Vaters mit ihr gewußt zu haben.

  Die Frage, warum sie Finch nicht härter angefaßt hatte, hatte ihm auf der Zunge gelegen, doch er hatte sich seinen Kommentar verkniffen. Er traute seinen eigenen Beweggründen nicht ganz.

  Als er ihr jetzt um das Gebäude herum zum Eingang folgte, fragte er sich, ob die Schwierigkeit bei ihm oder bei ihr lag. Normalerweise war er völlig zufrieden mit Gemmas Vernehmungskünsten. Weshalb also brachte ihn die Sache mit Gordon Finch derart aus der Fassung?

  Als sie den Haupteingang erreichten, blickte Gemma zurück, lächelte ihm zu, und er war froh, daß er dem Versuch, mit einer schnippischen Bemerkung zu antworten, widerstanden hatte. »Lust auf eine Kreuzfahrt, Kumpel?«

  »Solange das Schiff auf trockenem Boden bleibt«, erwiderte er und hielt ihr die Tür auf.

  Drinnen im Gebäude brachte sie ein Hochgeschwindigkeitsaufzug in Sekundenschnelle in die luftige Höhe von Reg Mortimers Apartment. Kincaid klopfte an seine Tür. Sie warteten im stillen Korridor. Gemma stand Zentimeter von ihm entfernt, und er atmete den betörenden, besonderen Duft ihrer Haut ein. Nach einigen Augenblicken klopfte er erneut und sah sie achselzuckend an. »Wo, glaubst du ...«

  Er hielt inne, als hinter der Tür deutlich ein Sicherheitsriegel klickte. »Scheint so, als haben wir doch noch Glück.«

  Die Tür schwang auf. Reg Mortimer hatte die Krawatte abgelegt, sein rosafarbenes Hemd war zerknittert und hing ihm halb aus der Hose. Er schob sich die braune Haarsträhne aus der Stirn, die ihm über die Augen fiel, und stöhnte. »Was ist denn jetzt schon wieder los?« wollte er wissen.

  Kincaid lächelte. »Warum sind wir nur so beliebt bei den Leuten? Nur der Zahnarzt dürfte uns auf der Hitliste schlagen.«

  »Zumindest belästigt einen der Zahnarzt nicht zu Hause«, konterte Reg. Dann trat er widerwillig einen Schritt zur Seite. »Kommen Sie rein.«

  Direkt hinter der Tür öffnete sich ein großer Wohnraum. Kincaid sah sich interessiert um. Das Zimmer vermittelte einen Hauch von Tropenatmosphäre. Zwei weiße Sofas mit Baumwollbezügen standen einander auf einem runden Sisalteppich gegenüber. Tisch und Bücherregal waren aus heller Eiche in schlichtem Design, und vor den Fenstern hingen zur Hälfte hochgezogene, weiße Stoffrollos. Licht durchflutete den Raum. Die einzigen Farbtupfer waren die limonen- und mandarinenfarbenen Kissen auf den Sofas und die zeitgenössischen Gemälde an den Wänden. Alleinige Anzeichen einer Nutzung waren eine Vase mit welken Taglilien auf dem Couchtisch und ein Stapel Papiere auf einem zur Hälfte ausgeklappten Tisch an der Wand.

  »Hübsche Wohnung«, bemerkte Kincaid bewundernd und setzte sich auf eines der weißen Sofas. »Sie drücken sich vor dem Büro, was?«

  Reg ließ sich auf die Kante der Couch gegenüber nieder. »Ich habe mir die ganze Zeit gedacht, Annabelle sei nur für eine Weile verreist ... auf Einkaufstour, vielleicht, habe erwartet, daß sie jederzeit wieder vor der Tür stehen würde. Das ganze kommt mir so unwirklich vor.« Er sah Gemma an, die sich hinter ihn gestellt hatte. Sie hatte die Arme auf dem Rücken verschränkt und betrachtete die Bilder an der Wand. »Ist das normal?« fuhr er fort. »Ich meine, Sie haben doch ständig mit solchen Situationen zu tun ... Ich dagegen war noch nie ...«

  »Es gibt sehr unterschiedliche Methoden, sich mit dem gewaltsamen Tod auseinanderzusetzen. Vielleicht kommt es daher, daß Sie bisher nicht ehrlich mit uns gewesen sind, Mr. Mortimer.«

  »Was ... was soll das heißen?« Mortimers Augen wurden groß. Kincaid sah im hellen Licht, wie sich seine Pupillen weiteten. Der Mann hatte zweifellos Angst.

  »Haben Sie wirklich angenommen, Jo Lowell erzählt uns nicht, was sich bei der Dinnerparty wirklich abgespielt hat?« fragte Kincaid, um ihm eine letzte Chance zu geben.

  »Aber ich habe Ihnen doch gesagt ...«

  »Sie mußten doch damit rechnen, daß wir Ihre Geschichte überprüfen würden.«

  »Sie haben angenommen, daß Jo ihre Schwester nicht bloßstellen würde, stimmt’s?« warf Gemma ein und zog sich den Stuhl vom Klapptisch heran. »Das ist vermutlich immer so gewesen. Jo hat Annabelle stets gedeckt, oder?«

  »Ja ... nein ... Ich meine ... ich kann nicht mehr klar denken.«

  »Darf ich Ihnen auf die Sprünge helfen?« sagte Kincaid. »Sie hatten keine Ahnung von Annabelles Affäre mit Martin Lowell ... bis Harry an jenem Abend aus der Schule geplaudert hat. Aber die Affäre war vor Ihrer Verlobung mit Annabelle zu Ende. Warum also waren Sie derartig wütend? Hatten Sie den Verdacht, daß Annabelle sich trotzdem weiterhin mit Lowell getroffen hat? Auch während Ihrer Verlobungszeit mit ihr? Oder waren Sie sauer, weil Annabelle Ihnen nicht die Wahrheit gesagt hatte?«

  »Sie meinte, es ginge niemanden etwas an ...« Mortimer, der umgehend merkte, daß er damit alles zugegeben hatte, verstummte und sah von Kincaid zu Gemma.

  »Nachdem Sie Jos Haus verlassen hatten, sind die Fetzen geflogen, stimmt’s?« fragte Gemma. »Sie müssen sich doch zwangsläufig gefragt haben, was sie Ihnen noch alles verschwiegen hatte.«

  Einen Moment war Mortimers Miene eine undurchdringliche Maske, und Kincaid befürchtete, er würde alles leugnen. Dann sackten seine Schultern vornüber. »Wie konnte Annabelle Jo und die Kinder so gemein hintergehen? Und wenn sie Jo das antun konnte ...«

  »Dann auch anderen«, ergänzte Gemma. »Sogar Ihnen.«

  »Es war unglaublich erniedrigend für mich ... Ich habe es kaum ertragen. Wie hätte ich mit Ihnen darüber sprechen können? Außerdem gab es keinen Grund, weshalb das Bedeutung haben sollte für ...«

  »Das zu beurteilen, lassen Sie unsere Sorge sein«, warf Kincaid schneidend ein. »Unsere Ermittlungen fügen sich letztendlich wie bei einem Puzzle zusammen. Wie wichtig Ihr Beitrag ist, können Sie gar nicht ermessen.« Er musterte Mortimer ärgerlich. »Aber kommen wir wieder auf Ihre Auseinandersetzung mit Annabelle zurück. Ich vermute mal, Annabelle hat die Sache auf die Spitze getrieben. Sie waren so wütend auf sie wie nie zuvor. Sie haben sie beschuldigt, Sie mit einem anderen Mann zu betrügen ...« Ein Blick in Mortimers verzweifeltes Gesicht sagte Kincaid, daß er ins Schwarze getroffen hatte. »Sie wollten den Namen wissen. Und den hat sie Ihnen gesagt. Stimmt’s, Reg?«

  Durch die geöffneten Fenster der Wohnung drang die Schiffssirene eines Schleppers. Dann trug der Schall die vielfach verstärkte Stimme eines Reiseleiters auf der Themse-Ferry herüber, der die architektonischen Besonderheiten der Uferbebauung mit übertriebenem Cockney-Akzent erklärte.

  Reg Mortimer starrte Kincaid an wie das Kaninchen die Schlange, die Augen weit, der Atem flach. Dann schlug er die Hand vor den Mund und stürzte aus dem Zimmer.

  Einen Moment später hörten sie, wie er sich im Badezimmer übergab. Kincaid verzog angewidert das Gesicht.

  »Eine Reaktion hast du provoziert, soviel ist sicher«, murmelte Gemma. »Der Chef wird dich dafür lieben.« Sie deutete auf die Wände. »Sieh dir die mal an, solange wir noch allein sind.«

  Die Toilettenspülung ertönte, dann lief Wasser. Kincaid stand auf und betrachtete die Gemälde, die er nur aus der Entfernung wahrgenommen hatte. Zwei davon spiegelten die Limonen- und Mandarinentöne der Kissen in gedämpfteren Nuancen wider. Die Bilder waren abstrakt und beunruhigend disharmonisch, und trotzdem faszinierend. Im dritten Bild, eine abstrakte Studie amöbenähnlicher Formen, dominierten Silber- und Goldtöne. Als Kincaids Blick auf die Signatur fiel, wurden seine Augen schmal. Er trat einige Schritte zurück und betrachtete die beiden ersten Gemälde genauer. Auch hier war ihm der Name der Künstler bekannt. Falls diese Bilder Originale sind, überlegte er, dann müssen sie eine Stange Geld gekostet haben.

  Gerade als er an den Klapptisch trat, hörte er, daß das Wasser im Badezimmer abgedreht wurde. Er konnte nur noch einen hastigen Blick auf die auf der Tischplatte ausgebreiteten Papiere werfen, bevor Mortimer ins Zimmer zurückkam.

  »Entschuldigung«, begann Mortimer. Sein Gesicht glänzte schweißnaß. »Ich glaube, ich bin krank. Seit Annabelle ... Ich kann offenbar nichts mehr bei mir behalten.«

  »Es ist sehr nervenaufreibend, Dinge für sich zu behalten, Reg«, bemerkte Gemma leise. »Warum erzählen Sie uns nicht, was Annabelle an jenem Abend gesagt hat?«

  Reg setzte sich und hielt sich schützend den Bauch. Dann richtete er sich auf und verschränkte die Hände zwischen den Knien. »Also gut. Sie hat behauptet, sie habe es mir schon seit Monaten sagen wollen, daß sie in einen anderen verliebt sei. Seit sie ihn kenne, wisse sie erst, was es bedeute, jemanden zu lieben ... und sie habe erkannt, daß, selbst wenn er sie nicht haben wolle, sie sich nie mit weniger zufriedengeben könne.

  Und dann ist sie im Tunnel mit einem so erstaunten Ausdruck im Gesicht stehengeblieben ... man hätte denken können, sie habe eine Erscheinung. Sie hat mich gebeten, zu gehen, aber ich habe mich geweigert, wollte mich mit ihr aussprechen. Daraufhin hat sie versprochen, sich eine halbe Stunde später im Ferry House mit mir zu treffen ... vorausgesetzt, ich ließe sie eine Weile allein. Also bin ich weitergegangen - wie ich bereits ausgesagt habe -, und als ich zurückgeschaut habe, habe ich gesehen, wie sie auf den Musikanten eingeredet hat. Aber ich hatte keine Ahnung, daß sie ihn kannte, geschweige denn ... Ist er derjenige gewesen? Gordon Finch?«

  »Wir sind nicht sicher, aber Finch behauptet, die Beziehung schon vor etlichen Monaten abgebrochen zu haben, aber daß sie ihn an jenem Abend im Tunnel angefleht habe, noch einmal mit ihr neu anzufangen. Er hat das angeblich abgelehnt.«

  »Abgelehnt? Aber warum?«

  Gemma beantwortete seine Frage nicht. »Hat Annabelle Ihnen gesagt, daß sie die Verlobung lösen wolle?«

  »Nicht direkt, nein. Aber ich schätze, so war’s gemeint. Ich dachte, wenn ich ihr Zeit ließe, sich zu beruhigen, würde sie ihre Meinung ändern.«

  »Haben Sie auf sie gewartet?«

  »Nein, ich bin spazierengegangen. Und je mehr ich nachgedacht habe, desto mehr hatte ich den Eindruck, sie könne das alles gar nicht ehrlich gemeint haben. Als ich in das Lokal kam, dachte ich, sie würde dort bereits warten und mir sagen, es sei alles ein Irrtum.«

  »Und als sie nicht gekommen ist?«

  »Habe ich doch schon gesagt.« Mortimer holte Luft. »Ich habe sie angerufen und bin zu ihrer Wohnung gegangen. Aber sie war nicht da.«

  Kincaid musterte ihn gereizt. Sie wußten, daß Mortimer im Lokal gewesen war und Annabelle von dort aus tatsächlich angerufen hatte. Die Gerichtsmedizinerin hatte noch keinen Hinweis darauf gefunden, daß Annabelles Leiche in ihrem eigenen Wagen befördert worden war. Reg hatte kein Auto, und Kincaid hatte keine plausible Erklärung dafür, weshalb Reg Annabelle überredet haben könnte, freiwillig mit ihm in den Park zu gehen, damit er sie dort umbringen konnte.

  »Reg«, meldete sich Gemma nachdenklich zu Wort. »Sie kannten Annabelle besser als alle anderen ... vielleicht mit Ausnahme der Familie. Sie waren seit Ihrer Kindheit miteinander befreundet. Sie war sehr aufgebracht... vielleicht sogar am Boden zerstört. Was, glauben Sie, könnte sie gemacht haben, nachdem sie den Tunnel verlassen hatte?«

  »Meinen Sie, das habe ich mich nicht auch schon tausendmal gefragt?« erwiderte Mortimer. Dann runzelte er die Stirn. »Aber ... wenn sie einen Zufluchtsort brauchte, ist sie meistens in den alten Speicher gegangen.«

 

»Warte mal kurz!« Gemma umklammerte Kincaids Ellbogen, um sich abzustützen, während sie aus ihrer Sandale schlüpfte und sich die Ferse rieb.

  »Blase?«

  Sie zog eine Grimasse. »Von dem verdammten Tunnel, glaube ich. Ein Königreich für ein Pflaster!« Nach dem Besuch bei Reg Mortimer waren sie erneut durch Island Gardens und den Fußgängertunnel nach Greenwich gelaufen, um der Rushhour im Autotunnel zu entgehen. Jetzt bereute Gemma zutiefst, neue Schuhe angezogen zu haben.

  »Ist nicht mehr weit«, tröstete Kincaid sie. Sie hatten den Eingang zu Martin Lowells Wohnblock erreicht, der unweit des Zentrums von Greenwich am Flußufer lag. Die Blocks hier waren aus Backstein, dunkelrot wie getrocknetes Blut, und zeigten erste Anzeichen von Vernachlässigung. Müll hatte sich in den Ecken des Innenhofs gesammelt, und die wenigen Büsche wirkten kümmerlich und ungepflegt. »Gleich auf der anderen Seite des Hofs scheint es zu sein. Die Nummer stimmt. Es liegen Welten zwischen dem hier und dem Emerald Cres-cent, würde ich sagen.«

  Gemma schlüpfte wieder in ihren Schuh und richtete sich auf. »Also gut. Sehen wir mal nach Prince Charming.«

  Martin Lowell riß die Tür auf, bevor Gemma überhaupt hatte klingeln können. »Was, zum ...«

  »Wir möchten gern noch mal mit Ihnen sprechen, Mr. Lowell«, begann Kincaid.

  »Ich dachte, wir sind durch. Hören Sie, ich habe eine Verabredung ...«

  »Offensichtlich haben Sie bei unserem gestrigen Gespräch ein paar Details ausgelassen. Gehen wir doch rein. Oder möchten Sie, daß Ihre Nachbarn alles über Ihre Affäre mit Ihrer Schwägerin erfahren?«

  Zwei Wohnungen weiter hatte sich eine Tür geöffnet, und eine Frau mit Lockenwicklern beobachtete sie unverhohlen neugierig.

  Ohne den Blick von Kincaid zu wenden, murmelte Lowell: »Neugierige Schlampe!« Dann trat er zurück, ließ sie ein und rief dabei: »Alles in Ordnung, Mrs. Mulrooney. Kein Grund zur Beunruhigung!«

  Gemma sah sich um. Sie fühlte sich an das eine Mal erinnert, als sie die Wohnung ihres Exmannes nach der Scheidung besucht hatte. Offensichtlich gab es Männer, die kein Talent hatten, sich irgendwie wohnlich einzurichten. Rob gehörte zu dieser Kategorie, und augenscheinlich auch Martin Lowell. Die Wohnung wirkte zumindest sauber, was man von Robs Behausung nicht behaupten konnte, aber das war auch der einzige Pluspunkt. Die Wände waren kittfarben und schmucklos, Sofa und passende Sessel hatten schlichte, braune Kordbezüge.

  Der offensichtliche Mittelpunkt war ein neuer Fernsehapparat auf einem einbeinigen Plastiktischchen. Der Rest war nicht der Rede wert, von dem ordentlichen Stapel Wirtschaftsmagazine neben der Fernbedienung auf dem Couchtisch abgesehen. Die schweren, senffarbenen Vorhänge waren gegen die Nachmittagssonne zur Hälfte zugezogen.

  »Warum haben Sie uns nicht gesagt, daß Ihre Ehe wegen Ihrer Affäre mit Annabelle gescheitert ist?« fragte Kincaid und ging im Zimmer umher. Er berührte die Zeitschriften, betrachtete prüfend den Fernsehapparat. Neben dem Sofa blieb er einen Augenblick stehen, als spiele er mit dem Gedanken, sich zu setzen, ging dann jedoch weiter.

  Martin beobachtete ihn verunsichert, bot seinen Besuchern jedoch keine Sitzgelegenheit an. »Dazu gab es keine Veranlassung. Schließlich hatte ich Annabelle seit Jahren nicht mehr gesehen.«

  »Nicht, seit sie sich von Ihnen getrennt hatte, oder?« Kincaid hielt inne und spähte in eine winzige Küche.

  »Das ist richtig. Hat Jo Ihnen das erzählt?«

  »Spielt das eine Rolle?« wollte Gemma wissen. »Hatten Sie erwartet, daß sie Sie deckt?«

  Er lächelte bitter. »Wie ich sehe, haben Sie den Hammond-Schwestern ihre Märchen kritiklos abgekauft, und jetzt bin ich der Bösewicht vom Dienst.«

  »Dann stimmt es also nicht?«

  »Daß ich mit Annabelle geschlafen habe? Oh, das ist wahr. Aber es wäre alles in Ordnung gewesen, wenn Annabelle es nicht Jo gesagt hätte.«

  Gemma starrte ihn fasziniert und angewidert zugleich an. Sie fragte sich, unter welchen Umständen die Affäre mit der eigenen Schwägerin wohl je »in Ordnung« gewesen sein könnte.

  »Ich schätze, Jo hat Ihnen gesagt, Annabelle habe nur versucht, etwas wiedergutzumachen? Sich für einen Fehler zu entschuldigen? Selbstgerechter Blödsinn«, fuhr Martin fort. »In Wahrheit hat Annabelle gern intrigiert, sich in anderer Leute Angelegenheiten gemischt. Sie hat Männer abgelegt wie alte Klamotten. Und wenn sie keine Verwendung mehr für einen hatte, hat sie sein Leben genußvoll in Stücke gerissen.«

  »Soll das heißen, daß Annabelle mit Ihnen Schluß gemacht hat, bevor sie es Jo erzählt hat?«

  »Sie hatte ein Auge auf Peter Mortimers Sohn geworfen ... war, vom gesellschaftlichen Standpunkt aus gesehen, für ein unternehmungslustiges Mädchen wesentlich vorteilhafter. Schätze, sie dachte, die Verbindung würde ihr in ihrer neuen Position als Geschäftsführerin der Firma gut zu Gesicht stehen.«

  »Vielleicht mochte sie ihn wirklich«, warf Gemma ein. »Oder fühlte sich in seiner Gesellschaft wohl. Schließlich waren die beiden seit ihrer Kindheit befreundet.«

  »Falls Sie denken, Annabelle habe irgend etwas ohne egoistischen Grund getan, sind Sie genauso dämlich wie die anderen armen Schweine, die sie für ihre Zwecke benutzt hat«, sagte Martin verächtlich. »Reg Mortimer tut mir sogar ein bißchen leid ... aber nicht leid genug.«

  »Wie können Sie nur so verdammt dickfellig sein?« Gemma fühlte, wie ihr verräterische Röte ins Gesicht stieg, doch es war ihr gleichgültig. »Sie haben mit dieser Frau geschlafen. Sie war die Schwester Ihrer Frau. Sie hat Ihre Kinder geliebt. Empfinden Sie denn gar nichts für sie?«

  Einen Moment sah es so aus, als würde er heftig kontern, doch dann sagte er unerwartet sanft: »Sie haben keine Ahnung, wie es war, sie zu lieben ... nur um dann ohne die Spur von Bedauern weggeworfen zu werden wie ein alter Schuh. Und dann steht man da und hat sein Zuhause und seine Kinder verloren.« Er zeigte mit dem Finger auf sie. »Ich an Ihrer Stelle, Sergeant, würde mir Leute genau ansehen, die Kontakt zu Annabelle hatten. Da gibt’s viele wie mich, das garantiere ich. Viele, deren Leben sie, ohne mit der Wimper zu zucken, zerstört hat. Glauben Sie, Mortimer hat sie getötet?«

  »Mich interessiert mehr, wo Sie am vergangenen Freitag abend gewesen sind, Mr. Lowell«, entgegnete Gemma mühsam beherrscht. »Annabelle hätte guten Grund gehabt, Ihnen einen Besuch abzustatten. Sie hatte nämlich erfahren, welches Gift Sie Ihrem Sohn eingeimpft haben. Ist sie zu einer Aussprache hiergewesen?«

  »Ich habe doch schon gesagt, daß ich sie Jahre nicht gesehen habe. Es gab eine Zeit - unmittelbar nach dem Bruch -, aber sie wollte mich nicht sehen, und hat meine Anrufe ignoriert.«

  »Dann ist da noch die Kleinigkeit wegen der Firmenanteile«, warf Kincaid ein. »Annabelle muß ihr Testament vor der Affäre mit Ihnen gemacht haben. Hat sie Ihnen vielleicht gesagt, daß sie es nie geändert hat, aber jetzt darüber nachdenke? Das Geld kommt Ihnen doch nicht ungelegen, oder?« Er machte eine Geste, die die Wohnung einschloß. »Muß hart sein, Unterhalt für die Kinder und so weiter ... und das alles nur wegen Annabelle. Die Versuchung wäre riesengroß.«

  Lowell starrte Kincaid ausdruckslos an. »Blödsinn. Ich hatte keine Ahnung von diesem Testament. Das habe ich Ihnen bereits gesagt. Im übrigen habe ich Annabelle am Freitag abend nicht gesehen.«

  »In diesem Fall macht es Ihnen sicher nichts aus, uns zu erzählen, wie Sie den Abend verbracht haben.«

  »Kein Problem«, erwiderte Lowell sichtlich erleichtert. »Ich war den ganzen Freitag abend mit einer Frau zusammen. Die Nacht habe ich in ihrer Wohnung verbracht.«

  »Und sie kann das bestätigen ... diese Freundin, meine ich?« Kincaid zog die Augenbrauen hoch. »Ist sie verheiratet?«

  »Selbstverständlich kann sie das bestätigen. Sie wohnt gleich um die Ecke. Und sie ist nicht verheiratet, sonst hätte ich kaum die Nacht bei ihr verbracht, oder?« entgegnete Lowell herablassend.

  In diesem Moment ertönte ein leises Klopfen an der Tür. Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet, und wie auf Kommando rief eine Frauenstimme: »Marty?«

  »Ist doch nicht zufällig Ihr Alibi?« fragte Kincaid prompt.

  »Sie können ja gleich mit ihr reden«, sagte Martin achselzuckend. Die Frau stieß die Tür weiter auf und betrat das Wohnzimmer. »Das ist Brandy«, stellte Lowell die Dame vor.

  Martins Besucherin konnte kaum älter als neunzehn sein. Ihr üppiges, blond gebleichtes Haar umgab ihr Gesicht wie eine krause Löwenmähne. Sie trug einen so knappen Minirock, daß Gemma fürchtete, ihren Slip zu sehen, sobald sie sich bückte. Ihr Trägeroberteil ließ einen gepiercten Nabel frei.

  »Marty?« wiederholte das Mädchen und musterte sie neugierig. »Habe mir schon Sorgen gemacht, als du um sechs nicht gekommen bist. Du hattest mir doch versprochen, die Höhensonne zu montieren.«

  Kincaids Mundwinkel zuckten, als er Gemma ansah. »Manche Kerle haben das Glück gepachtet«, murmelte er.

 

»Janice schickt einen Beamten vorbei, der die Aussage von Martin Lowells Freundin ganz offiziell aufnimmt«, bemerkte Kincaid, als er vom Telefon zurückkam. Er sank dankbar in einen Stuhl auf Hazels Terrasse. »Verdammtes Pech, daß wir nicht genug Beweise haben, um seine Wohnung durchsuchen zu lassen ... oder die von Reg Mortimer«, fügte er hinzu und griff nach seinem Bierglas auf dem Plattenboden.

  Gemma saß neben ihm, die Beine ausgestreckt, eine Flasche kalten Apfelwein in der Hand. Sie hatte ihren Hosenanzug mit Shorts und einem ärmellosen Oberteil vertauscht und das Haar mit einer Spange hochgesteckt.

  Hazel hatte sie zu Tabouli und grünem Salat überredet. Für eine warme Mahlzeit, vor allem, wenn sie in Gemmas winziger Küche hätte zubereitet werden müssen, sei es schlicht zu heiß, hatte sie erklärt. Dann hatte sie Gemma und Kincaid mit kühlen Getränken auf die Terrasse verbannt, während sie letzte Vorbereitungen traf.

  Die Kinder tollten auf dem Rasen herum. Die Hitze konnte ihnen offenbar nichts anhaben. Ihre nackten Körper glänzten in den Strahlen, die die schrägstehende Sonne durch das Blätterdach der Bäume warf.

  Gemma nippte an ihrem Cidre. »Großzügig von dir, Brandy den Status einer Freundin zuzusprechen. Martin Lowell sollte sich schämen, und das gilt auch für dich, so wie du sie angeglotzt hast.«

  »Ich habe nicht geglotzt!«

  »Doch, hast du. Aber vielleicht ist das entschuldbar. Schließlich hat die Tussi ihre Reize sehr freizügig zur Schau gestellt.«

  »Nach Jo und Annabelle hätte man von Martin Lowell mehr Geschmack erwarten können«, bemerkte Kincaid in der Hoffnung, sich damit wegen Brandy zu rehabilitieren. »Frage mich nur, wie es ein über dreißigjähriger Banker schafft, sich halbnackte Teenager zu angeln ... von der Geschmacksfrage mal abgesehen.«

  »Eigentlich wollte ich nicht glauben, daß Martin Lowell so mies ist, wie Jo ihn dargestellt hatte, aber der Typ ist wirklich ein Weiberheld, wie er im Buch steht«, erklärte Gemma mit Nachdruck.

  Kincaid musterte sie amüsiert. »Hatte eigentlich nicht den Eindruck, daß du auf ihn stehst.«

  »Das ist dir aufgefallen?« Sie lächelte und rutschte tiefer in den Stuhl. »Komischerweise verstehe ich allerdings, daß die beiden ihm auf den Leim gegangen sind ... ich meine Jo und Annabelle, und sogar Brandy.«

  »Der Heathcliff-im-Nadelstreifen-Typ?«

  »Rattenfänger trifft es eher. Der Mann hat eine Art... wenn man nicht wüßte, was für ein mieser Typ er ist ...« Sie trank nachdenklich einen Schluck Cidre. »Oder vielleicht wirkt er gerade deshalb so auf Frauen.«

  »Auch auf eine Frau wie Annabelle?« fragte Kincaid. Die Sonne versank hinter dem Dach des Nachbarhauses, und im Garten wurde es augenblicklich kühler.

  »Mrs. Pargeter, Jos Nachbarin, ist der Meinung, daß der Tod der Mutter Annabelle in eine tiefe Krise gestürzt habe. In dieser Situation habe sie nach jedem Strohhalm gegriffen ... was die Liebe betraf. Allerdings muß sie wohl ziemlich schnell begriffen haben, wie Martin Lowell wirklich war.« Gemma runzelte die Stirn. »Was ich nicht verstehe, ist, weshalb sie esjo gesagt hat. Annabelle scheint mir weder Frau Saubermann noch jemand gewesen zu sein, die absichtlich jemand verletzen wollte. Egal, was Lowell sagt.«

  »Lowell wollte vermutlich auf nichts verzichten. Jo hätte es also nie erfahren müssen ...«

  »Aber er konnte Annabelle damit erpressen, ihr drohen, Jo alles zu sagen ... für den Fall, daß sie Schluß machen wollte. Ich glaube nicht, daß er sie so ohne weiteres hätte gehen lassen. Und deshalb hat Annabelle vielleicht ihre einzige Chance darin gesehen, es Jo selbst zu erzählen.«

  Kincaid hatte den Eindruck, daß Gemma übereifrig bemüht war, Annabelle Hammond einen Persilschein auszustellen. »Was ist mit ihren Affären mit Gordon und Lewis Finch? Sie muß doch gewußt haben, wie verletzt Mortimer sein würde, wenn er davon erfuhr.«

  »Schätze, sie war auf der Suche nach etwas, das Reg Mortimer ihr nicht geben konnte. Außerdem hat sie diese Beziehungen geheimgehalten. Bis zu einem gewissen Grad jedenfalls. Erst unter großem Druck hat sie Mortimer gestanden, daß es einen anderen Mann gibt.«

  »Immer vorausgesetzt, Mortimer sagt die Wahrheit«, betonte Kincaid skeptisch. »Ich bin überzeugt, daß er uns etwas verschweigt. Konntest du einen Blick auf seine Papiere werfen?«

  Gemma nickte, streckte die Beine von sich und wackelte mit den Zehen. Sie trug keine Schuhe. »Sah mir nach Rechnungen und Bankauszügen aus. Einzelheiten konnte ich nicht erkennen. Sind diese Gemälde so wertvoll, wie ich dachte?«

  »Wenn ich mich recht an das erinnere, was ich kürzlich in der Times gelesen habe, dann ist jedes Bild gut seine zwanzigtausend Pfund wert.«

  Gemma pfiff durch die Zähne. »Bingo! Wie konnte er sich die denn leisten?«

  »Geld von der Familie?« Kincaid leerte die Bierflasche, indem er sie steil ansetzte, um auch an die letzten Tropfen zu gelangen. »Sein Vater sitzt im Aufsichtsrat der Firma Hammond’s. Aber wie ich sehe, hat keiner der Hammonds soviel Kies.«

  »Schicke Wohnung, teure Möbel, wertvolle Gemälde, exklusive Kleidung ... und einen Stapel Rechnungen und Briefe von der Bank.« Gemma rümpfte die Nase. »Hat er sich vielleicht finanziell übernommen? Trotzdem kann ich darin kein Motiv für den Mord an Annabelle erkennen. Er hatte alles zu verlieren und nichts zu gewinnen.«

  »Könnte doch sein, daß er angenommen hat, Annabelles Firmenanteil zu erben ... oder zumindest in ihre Fußstapfen als Geschäftsführerin zu treten.«

  »In jedem Fall war ein hohes Risiko dabei. Trotzdem sollten wir uns näher mit seinen Finanzen befassen ... ohne Sir Peter auf die Zehen zu treten, versteht sich«, fügte Gemma hinzu.

  »Mit den Finchs bin ich auch nicht besonders glücklich ... ob Junior oder Senior«, gestand Kincaid und sah Gemma an. »Es fällt mir verdammt schwer zu glauben, daß keiner vom anderen gewußt haben soll.«

  »Reg Mortimers Geschichte scheint zu bestätigen, was Gordon uns gesagt hat - nämlich daß er mit Annabelle Schluß gemacht hat, und nicht umgekehrt. Was, wenn der Grund dafür das Wissen um Annabelles Affäre mit dem Vater war?«

  »Damit hätte er ein verdammt gutes Mordmotiv ...«

  »Schon, aber eher zu dem Zeitpunkt, als er davon erfahren hat - und das ist drei, vier Monate her. Warum sollte er bis jetzt warten? Und sie dann umbringen, als sie alles wieder kitten wollte?«

  »In diesem Punkt haben wir nur seine Aussage«, sagte Kincaid. Es ärgerte ihn, daß Gemma Finch so bedingungslos verteidigte. »Vielleicht hat sie ihm statt dessen gesagt, daß sie seinen Vater liebt. Daraufhin hat er durchgedreht und sie umgebracht.«

  Gemma starrte ihn wütend an. »Nach Mortimers Aussage hat Annabelle erklärt, daß, selbst wenn der Mann, den sie liebt, nichts mit ihr zu tun haben wolle, sie sich nicht mit weniger zufriedengebe. Du bist so dickköpfig, daß du gar nicht registrierst, daß Mortimer Gordon Finchs Behauptung indirekt bestätigt.«

  »Da wir gerade von dickköpfig reden. Wie würdest du deine Beweggründe dafür bezeichnen, daß du deine Sicherheit aufs Spiel gesetzt hast und gestern allein in Gordon Finchs Wohnung gegangen bist?« konterte er verletzt.

  »Warum hackst du immer noch darauf rum? Du kannst mir ruhig ein bißchen Menschenkenntnis Zutrauen, ja? Ich hätte das nie gemacht, wenn ich mich nicht absolut sicher gefühlt hätte. Außerdem hat es immerhin einiges gebracht, oder?«

  »Ja, aber ...«

  »Ich lasse mir von niemandem sagen, wie ich meinen Job zu erledigen habe.«

  Kincaid merkte, daß der Disput in einen handfesten Krach auszuarten drohte. »Gemma, es tut mir leid. Ich wollte nicht ...«

  »Pssst!« flüsterte sie plötzlich und hob die Hand. »Hör doch!«

  Er brauchte einen Moment, bis er begriff, daß sie die Stille meinte. Er richtete sich auf und sah sich um. Die Kinder hatten dicht beieinander gehockt und gekichert, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Jetzt waren sie spurlos verschwunden.

  »Toby?« rief Gemma, stellte ihre Cidre-Flasche auf den Tisch und machte Anstalten aufzustehen.

  Kincaid war bereits auf den Beinen. »Ich sehe mal nach, was die kleinen Racker anstellen.« Er ergriff erleichtert die Gelegenheit zu einer Atempause.

  Den Kindern war es verboten, den Garten ohne Begleitung zu verlassen - vom Gartentor bis zu Gemmas Garagenwohnung waren es nur wenige Schritte. Aber die Straße war belebt, und die Gefahr für Kinder groß. Kincaids Herz begann bei dem Gedanken schneller zu schlagen, und er mußte sich zur Ruhe zwingen, als er den Rasen überquerte und in die dunkleren Schatten spähte. Sie verstecken sich nur, sagte er sich. Und als er sich der Gartenpforte näherte, bemerkte er aus den Augenwinkeln, daß sich hinter der Hecke aus falschem Jasmin etwas bewegte.

  Leise pfeifend ging er daran vorbei, und wurde mit unterdrücktem Kichern belohnt. Er machte einen Schritt rückwärts und sah sich gespielt verwirrt um. Dann wirbelte er herum, griff durch eine Öffnung in der Hecke. »Hab dich!« Seine Hände umschlossen feuchte Haut, und die Kinder kreischten vor Vergnügen. Sanft zog er sie aus dem Gebüsch und klemmte sich Toby unter den einen und Holly unter den anderen Arm. Ihre Körper waren klebrig vom Fruchteis, das Hazel ihnen nach dem Kaffeetrinken spendiert hatte. »Also gut, ihr zwei. Ihr bleibt jetzt dort, wo ich euch sehen kann. Wenn nicht, geht’s gleich ins Bad und dann ins Bett.«

  »Bitte, spielen wir noch einmal Verstecken, Duncan! Bitte, bitte!« jammerte Holly, während Toby sich unter seinem Griff wand und mit den Beinen strampelte.

  »Du kriegst mich nicht! Du kriegst mich nicht!« rief der Junge.

  Kincaid packte ihn fester. »Ich habe dich doch schon, du Wurm. Hört mal! Wenn ihr beide jetzt sehr, sehr brav seid, dann lese ich euch nach dem Baden eine Geschichte vor.«

  »In meinem Zimmer oder in Tobys?« wollte Holly es wie immer ganz genau wissen.

  Kincaid blieb stehen und tat so, als müsse er nachdenken. Die Kinder hingen schlaff in seinen Armen. »Wenn ihr versprecht, kleine Engel zu sein, dann lese ich in Tobys Zimmer vor. Und danach trage ich dich nach Hause, Holly. Na, was sagt ihr dazu?«

  »Auf der Schulter?« Holly liebte es, auf seinen Schultern auf und ab zu hüpfen.

  »Wenn du willst.« Kincaid setzte die beiden vor Gemma auf die Wiese, und sie rannten davon wie die Karnickel vor dem Hund.

  Seine Arme fühlten sich plötzlich federleicht an, und die Silhouetten der Kinder blieben noch eine Weile wie ein Abdruck auf seiner Netzhaut zurück. Plötzlich fühlte er eine brennende Sehnsucht nach Kit, die ihn überraschte. Er setzte sich ungelenk auf seinen Stuhl. Die Knie waren ihm weich geworden.

  »Die beiden hätten eine Abreibung verdient«, sagte Gemma ärgerlich.

  »Gemma ...«

  »Was ist?« Sie drehte sich zu ihm um, als habe etwas in seiner Stimme ihre Aufmerksamkeit erregt.

  »Ich ...«, begann er, doch er konnte den Verlust, den er empfand, nicht in Worte fassen. Statt dessen fuhr er fort: »Schätze, die Sache mit Kit ist mir ziemlich an die Nieren gegangen. Wenn er am Telefon nicht mit mir reden will, fahre ich nach Cambridge.« Er merkte, daß er die Entscheidung in diesem Moment getroffen hatte.

  »Ich dachte, er will dich nicht sehen.«

  »Hazel sagt, ich muß ihm zeigen, daß sich meine Gefühle für ihn nicht geändert haben, gleichgültig, wie er sich mir gegenüber benimmt. Wie soll ich das machen, ohne mit ihm zu reden?« fragte er frustriert.

  Gemma richtete sich im Liegestuhl auf und runzelte die Stirn. »Das war, bevor Ian die Dinge noch komplizierter gemacht und wieder in sein Leben geplatzt ist. Vielleicht wäre es einfacher für Kit, wenn du alles Ian überläßt.«

  »Ich soll kneifen? Und mich auf Ian verlassen, nach allem, was wir durchgemacht haben? Wer garantiert mir, daß er Kit nicht wieder ins Cottage in Grantchester holt, nur um in einem oder zwei Monaten erneut seine Meinung zu ändern?«

  Gemma schüttelte den Kopf. »Was willst du tun? Du hast keine Handhabe gegen ihn.«

  »Ich kann Kit jederzeit besuchen«, entgegnete Kincaid eigensinnig. Es wunderte ihn, daß Gemma plötzlich nur noch gereizt und ärgerlich auf ihn reagierte.

  »Na, gut.« Gemma seufzte und lehnte sich im Stuhl zurück.

  »Dann fahr morgen. Ich erledige das hier schon. Du mußt nur den Chef beruhigen. Und wenn die Hölle losbricht, während du fort bist« - sie lächelte verschmitzt -, »dann habe ich bei dir was gut.«

  Sie aßen im Garten beim Schein der Zitronenkerzen, die die Schnaken abhalten sollten. In Hazels Tabouli verband sich der volle Geschmack von Fetakäse, provenzalischen Oliven und reifen Tomaten mit der Frische von Zitronen und Minze. Tim hatte eine eisgekühlte Flasche Pinot Grigio geöffnet. Die Kinder saßen auf dem Terrassenboden und amüsierten sich mit einem uralten Kartenspiel, das sie in einer Küchenschublade voller Krimskrams entdeckt hatten, und ließen die Erwachsenen in Ruhe essen.

  Als Kincaid Gemma über den Tisch hinweg ansah, drehte sie sich um und lachte über eine Bemerkung von Tim. Im Kerzenschein wirkte sie entspannt und glücklich, und plötzlich drängte sich der Gedanke an Annabelle Hammond zwischen sie. Hatte Annabelle Hammond ihre letzte Mahlzeit ebenso genossen wie sie dieses Abendessen?

  Sie war unter Freunden gewesen ... oder hatte es zumindest angenommen ... bei ihrer Schwester, ihrem Verlobten, den Freunden der Schwester und ihrem geliebten Neffen und der Nichte. Und dann war der angenehme Abend in einen Alptraum ausgeartet. Zuerst Harry Lowell, dann Reg und schließlich Gordon Finch ... alles Männer, und alle, so schien es, hatten sich auf die eine oder andere Weise gegen sie gestellt. Hatte sich Annabelle bei jemandem Trost geholt ... vielleicht bei einer Frau?

  Teresa Robbins fiel ihm ein. Sie hatten sie bisher so genommen, wie sie sich darstellte: als die loyale und verzweifelt trauernde Angestellte, unscheinbar, farblos. Und doch schien sie kompetent und tatkräftig Annabelles Stellung in der Firma eingenommen zu haben. Was, wenn Annabelle zu ihr gegangen war, ihr etwas anvertraut hatte, das Teresa jetzt verschwieg? Möglicherweise schützte sie Annabelles Andenken ... oder deckte Reg Mortimer.

  Vielleicht waren Spekulationen wie diese nur der Ausdruck seines Schuldbewußtseins darüber, daß er mitten in einem Mordfall einen Tag Urlaub machte. Er nahm sich vor, Gemma am Morgen zu bitten, sich noch einmal mit Teresa zu unterhalten.

  Nach dem Essen erbot er sich, den Abwasch zu übernehmen, während Gemma die Kinder badete. Hazel und Tim nutzten die Gelegenheit zu einem Spaziergang in der Abendkühle, so daß er die Küche für sich allein hatte. Eine Spülmaschine gab es nicht... eine Modernisierung der Küche war ein Luxus, auf den Hazel und Tim verzichtet hatten, als Hazel ihre Praxis aufgegeben hatte, um die kleine Tochter zu betreuen. Aber Kincaid hatte gelernt, die Prozedur des Geschirrspülens als Entspannung zu empfinden.

  Während er Wasser einließ und ein frisches Geschirrhandtuch aus der Schublade nahm, fiel ihm plötzlich auf, daß es genau diese Art von Leben war, das er sich mit Gemma wünschte und es bereits für selbstverständlich hielt. In letzter Zeit jedoch schien Gemma ihn auf Distanz zu halten, und er wußte nicht, wie er die Kluft, die sich aufgetan hatte, wieder schließen sollte.

  Dann flog die Küchentür mit einem Knall auf, und die Kinder stürmten im Schlafanzug herein und schrien: »Bettgeschichte! Bettgeschichte!« Hinter ihnen tauchte Gemma auf. Feuchte Strähnen, die sich aus ihrer Pferdeschwanzfrisur gelöst hatten, kringelten sich um ihr ovales Gesicht.

  Nachdem er sein Versprechen erfüllt und den Kindern eine Geschichte vorgelesen hatte, schenkte Gemma zwei Gläser Wein ein. Sie nahmen ihre Getränke mit hinaus und saßen ein paar Augenblicke auf den Stufen, die von ihrer Wohnung in den Garten der Cavendishs führten.

  Er massierte ihren Rücken dort, wo er wußte, daß sie es am liebsten hatte, nämlich zwischen den Schulterblättern, und als sie sich gegen ihn lehnte, schlang er einen Arm um sie und liebkoste mit den Lippen ihren Nacken. Einen Moment fühlte er, wie sie reagierte, sich an ihn schmiegte. Dann entzog sie sich ihm.

  »Toby hat die letzten Nächte sehr unruhig geschlafen«, bemerkte sie, stand auf und trank ihr Glas aus. »Das müssen noch die Nachwehen seiner Grippe sein. Und ich habe auch eine schlechte Nacht hinter mir.«

  »Ich habe den Wink schon verstanden«, sagte er leichthin, erhob sich und küßte sie keusch auf die Wange. »Wir sehen uns morgen früh auf dem Revier in Limehouse.«

  Zu Hause in seinem Bett wälzte er sich rastlos hin und her und konnte erst recht keine Ruhe mehr finden, nachdem sich Sid schwer über seine Füße gelegt hatte. Schließlich versetzte er dem Kater einen sanften Schubs und versuchte bewußt, all die fruchtlosen Grübeleien aus seinem Bewußtsein zu verbannen. Beim Einschlafen tauchte vor seinen Augen mit der Klarheit eines Traums ein Bild auf.

  Gemma stand in einem sonnenbeschienenen Gerstenfeld, und das Licht reflektierte in ihrem Haar, als sie lachte. Mit einem Mal jedoch verwandelte sich Gemma unter seinen Augen in Annabelle Hammond.

 

An einem winzigen Tisch in der hintersten Ecke des Lokals saß Teresa Reg Mortimer gegenüber.

  Nachdem sie nach getaner Arbeit im alten Lagerhaus endlich nach Hause gekommen war, hatte sie eine Nachricht von ihm auf ihrem Anrufbeantworter vorgefunden. Er hatte sie gebeten, sich mit ihm im The Grapes in Limehouse in der Narrow Street zu treffen. Es war das erste Mal, seit sie die Anwaltskanzlei nach dem Mittagessen verlassen hatten, daß sie von ihm gehört hatte, und seine Stimme hatte seltsam, ja beinahe flehentlich geklungen. Nachdem sich der Anrufbeantworter ausgeschaltet hatte, war sie sich automatisch durchs Haar gefahren und hatte ihre Bluse geglättet. Erst dann überlegte sie: Reg Mortimer hatte keinen Grund, sich aus anderen Motiven als geschäftlichen mit ihr zu verabreden.

  Trotzdem hatte sie ihr Haar mit besonderer Sorgfalt gekämmt und Make-up aufgelegt, bevor sie aus dem Haus gerannt war, um die Dockland Railway in Crossharbour zu erwischen.

  Sie verließ den Zug, der voller Pendler war, an der Station West Ferry, und stieg die Betontreppe vom Bahnsteig hinunter. Sie blinzelte in die tiefstehende Abendsonne, wandte sich nach rechts in den Limehouse Causeway, und ging die Narrow Street bis zum alten Pub entlang. Das Lokal war eines der historischen Fixpunkte von Limehouse und mittlerweile Treffpunkt der jungen Aufsteiger. Teresa kannte es nur vom Hörensagen. Es gehörte zu den Lokalen, in das man allein gehen konnte, um Schäferpastete oder Fisch und Chips zu essen.

  Sie betrat das Etablissement zögernd, zwängte sich zwischen den Gästen in Anzug und Krawatte und Kostümen hindurch, die wie die Sardinen gedrängt um die Theke standen, bis sie Reg in der hintersten Ecke entdeckte. Er winkte ihr zu, und als sie seinen Tisch erreichte, stand er auf und gab ihr völlig unerwartet einen Kuß auf die Wange. Er wirkte leicht erhitzt. Sein Haar fiel ihm unordentlich in die Stirn, und er sah noch attraktiver aus als sonst.

  »Tausend Dank, daß du gekommen bist«, sagte er, nachdem er ihr einen Stuhl zurechtgerückt hatte. »Bist du schon mal hier gewesen? Bald wird’s hier leerer. Und das Essen ist ausgezeichnet. Dachte, du könntest eine anständige Mahlzeit vertragen. Aber zuerst hole ich dir was zu trinken, ja? Hier gibt’s ein gutes, leichtes Sommerbier. Schmeckt ein bißchen nach Zitrone.«

  »Wunderbar«, brachte Teresa heraus. Als er sich abwandte und zur Bar ging, schnupperte sie mißtrauisch an seinem Glas. Es enthielt reine Limonade, soweit sie das beurteilen konnte. Aber das sollte sie eigentlich nicht überraschen. Er trank normalerweise keinen Alkohol. Trotzdem hatte sie den Eindruck gehabt, daß er leicht beschwipst war. Nachdenklich beobachtete sie, wie er mit derselben übertriebenen Fröhlichkeit mit dem Barkeeper plauderte.

  Schließlich kam er mit ihrem Getränk und der Speisekarte zurück. Als er sich setzte, berührten sich ihre Knie unweigerlich unter dem schmalen Tisch. »Ich empfehle die Fischbuletten«, sagte er und schlug eine Speisekarte für sie auf. »Ich weiß, das klingt langweilig und gewöhnlich, aber sie sind himmlisch. Und ich bin sicher, es gibt irgendeine historische Vorspeise ... irgendwas ä la Dickens, schätze ich. Weißt du eigentlich, daß dieses Lokal das Six Jolly Fellowship Porters aus Dickens’ Unser gemeinsamer Freund sein soll? Er hat die Kneipe als >nicht größer als eine Pferdedroschke< beschrieben. Und das trifft eigentlich noch immer zu. Damals schon hatte sie eine Veranda mit Blick auf den Fluß. Heutzutage ist sie natürlich etwas solider, aber die Holzleiter, die zu den Schiffen hinunterführte, damit die Matrosen direkt vom Fluß aus die Bar erreichen konnten, existiert schon lange nicht mehr. Wir gehen nachher raus und trinken noch was, wenn du Lust hast. Bis dahin darfst du dir einfach vorstellen, wie der Bugspriet von einem vor Anker liegenden Segelschoner durchs Fenster ragt und die einfachen Kerle ihre Pints leeren.« Er deutete auf das Fenster über ihrem Kopf und hob sein Glas. »Auf die Gespenster der Vergangenheit.«

  Ihre Blicke trafen sich, als ihm klarwurde, was er da gerade gesagt hatte. Es folgte verlegenes Schweigen, und keiner von beiden sprach den Namen aus, der unausgesprochen zwischen ihnen stand. Reg, der normalerweise sehr geschickt darin war, peinliche Situationen mit Worten zu retten und aufzulockern, war die letzte Person, von der Teresa eine solche Bemerkung erwartet hatte. Und doch machte er an diesem Abend den Eindruck, als triebe ihn der Mut der Verzweiflung.

  Auf der Suche nach einem rettenden Ausweg klappte sie die Speisekarte zu und sagte: »Was ist mit dir, Reg? Ißt du gar nichts?«

  »Nur ein bißchen Suppe, um dir Gesellschaft zu leisten. Nimmst du die Fischfrikadellen?«

  Als sie nickte, stand er wieder auf und gab an der Theke ihre Bestellung ab. »Oben im ersten Stock ist ein richtiges Restaurant«, erklärte er bei seiner Rückkehr. »Trotzdem bin ich froh, daß sie die Kneipe haben Kneipe sein lassen. Es sollte wenigstens ein paar beständige Dinge im Leben geben, findest du nicht?«

  »Reg, ich ...«

  »Tut mir leid, daß ich heute mittag nach dem Gespräch mit der Anwältin die Flucht ergriffen habe. Ich hätte dich nicht allein lassen dürfen.«

  »Ach wo!« Sie schüttelte den Kopf. »Das war schon in Ordnung. Ich habe mir nur Sorgen gemacht - als du nicht mehr ins Büro gekommen bist, meine ich.«

  »Als ob du nicht schon genug am Hals hättest.« Er sah sie an. Zum ersten Mal war sein Gesicht entspannt. Und kurz darauf fügte er hinzu: »Ich war ein ziemlicher Ausfall die letzten Tage, was? Scheint so, als käme ich einfach nicht damit klar.«

  Teresa blinzelte. Das persönliche Geständnis überraschte sie. Im Büro war er tatsächlich völlig unbrauchbar und nicht einmal in der Lage gewesen, Aufgaben zu bewältigen, die er normalerweise nebenbei erledigt hatte. Allerdings hatte sie keine Ahnung, wie sie in seiner Lage damit fertig geworden wäre. Sie wußte, daß jeder in seiner Trauer anders reagierte. Sie, zum Beispiel, hatte sich in Arbeit vergraben, denn nur die Konzentration auf ihren Job hielt sie aufrecht.

  Schließlich sagte sie, ohne sein Versagen zu leugnen: »Reg, wenn ich dir irgendwie helfen kann ...«

  »Du warst ein Schatz.« Er berührte ihre Wange mit den Fingerspitzen. Teresa war sich plötzlich der Berührung seiner Knie bewußt, wurde rot vor Verlegenheit, entzog ihm ihre Knie jedoch nicht. Es war idiotisch von ihr, auch nur zu hoffen, daß er sie attraktiv finden könnte, merkte jedoch, daß das Unrechtsbewußtsein nichts an ihren Gefühlen änderte.

  Die Kellnerin kam mit ihrem Essen und ersparte Teresa eine Antwort auf seine Bemerkung. Zu ihrer Überraschung merkte sie, daß sie trotz allem einen rasenden Hunger hatte. Die Fischfrikadellen waren so gut, wie Reg versprochen hatte, und sie aß sie mit großem Appetit.

  Er beobachtete sie lächelnd, rührte in seiner Suppe, und als sie fertig war, sagte er: »Braves Mädchen. Konnte nicht zulassen, daß du verhungerst. Was würde die Firma Hammond’s ohne dich machen?«

  Die Ängste, die sie in den vergangenen Tagen hatte unterdrücken können, nagten plötzlich wieder an ihr. »Reg, was sollen wir nur tun? Es tauchen bereits Sachen auf, mit denen ich nicht umzugehen weiß. Ich kann nicht erraten, was Annabelle getan hätte ...«

  »Nutz dein eigenes Urteilsvermögen. Annabelle hat dir vertraut ... es ist Zeit, daß du dir endlich auch was zutraust.«

  »Aber ich besitze nicht die Autorität«, protestierte sie. »Und die Geschäftslage war auch schon kritisch genug, als Annabelle noch das Sagen hatte.«

  »Du weißt, was wir tun müssen ...«

  »Das können wir nicht. Nicht jetzt ...«

  »Dann sollten wir, verdammt noch mal, einen Weg finden.«

  Schockiert über die Heftigkeit seiner Entgegnung, starrte sie ihn an, bis er die Hand hob und erneut ihre Wange berührte. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht so anfahren. Reden wir heute abend nicht davon. Ich möchte, daß du dich mal richtig entspannst.«

  »Reg ... da stimmt doch einiges nicht, oder? Es ist nicht nur Annabelles Tod, obwohl’s schlimmer kaum hätte kommen können ... richtig?«

  »Wie sollte es was Schlimmeres geben?« Er stand abrupt auf. »Gehen wir raus. Ich hole uns noch was zu trinken.«

  Sie stand auf und folgte ihm auf die Veranda hinaus. Das letzte rosarote Licht des Sonnenuntergangs färbte den Himmel, und am Südufer des Flusses blinkten Lichter in den renovierten Lagerhäusern von Rotherhithe.

  Sie traten an die Brüstung, und als sie in Richtung Osten blickte, sah sie das blinkende Warnlicht auf dem Canada Tower. Sie wandte sich ab und drehte dem Fluß den Rücken zu. Sie wollte verzweifelt das »Island« vergessen, und sei es nur für kurze Zeit, und sich ein völlig anderes Leben vorstellen. Auf einer Bank auf der Seite der Veranda saß engumschlungen ein Paar, die Frau halb auf dem Schoß des Mannes, die Gesichter nur Millimeter voneinander entfernt. Teresa durchfuhren Neidgefühle wie ein scharfes Messer. Warum sollte sie nicht auch einmal Verlangen bei jemandem wecken? Warum sollte sie immer abseits stehen?

  »Entschuldige«, sagte Reg an ihrer Seite, »ich will heute abend einfach nicht nachdenken. Klingt es sehr herzlos, wenn ich wünschte, für ein oder zwei Stunden ein anderer zu sein?«

  »Nein. Ich dachte gerade dasselbe. Habe mich nur geschämt, es zuzugeben.«

  »Wirklich?« Sein Arm rieb leicht gegen ihren Arm, als er näher trat. Sie fühlte die Wärme seines Körpers, der sie vor der kleinen Brise abschirmte, die vom Fluß herüberwehte. Sie dachte daran, wie er sie in seinen Armen gehalten, wie sich seine Hand an ihrem Rücken angefühlt hatte, und fröstelte unwillkürlich.

  »Ist dir kalt?« Er legte den Arm um ihre Schultern und zog sie enger an sich. »Wer möchtest du denn sein, Teresa? Für eine oder zwei Stunden? Was möchtest du tun?«

  Sie sah zu ihm auf und schüttelte stumm den Kopf. Sie konnte es nicht einmal denken, wie sollte sie es da aussprechen?

  »Sag’s mir«, drängte er, und sie fühlte seinen Atem an ihrer Wange. Sie schloß die Augen.

  »Mit dir zusammen ... Ich möchte mit dir Zusammensein.« Sie hatte das Gefühl, in den Boden versinken zu müssen.

  Er neigte den Kopf und streifte mit seinen Lippen ihre Kehle. »So?«

  »Ich ... Reg ...« Er hatte die Hand unter ihrer kurzen Leinenbluse auf ihren Rücken gelegt, und jeder Protest erstarb auf ihren Lippen. Er bewegte seine Hand, streichelte die zarte Haut, dann glitten seine Finger unter den Rand ihres BHs.

  Sie zuckte heftig zurück. »Wir können doch nicht ... nicht hier ... man sieht uns ...«

  »Dann gehen wir. Rühr dich nicht vom Fleck. Ich rufe uns ein Taxi.«

  Wenige Minuten später hielten sie sich in der vibrierenden Dunkelheit im Innern eines Taxis eng umschlungen. Dann sprangen sie vor ihrem Apartmenthaus aus dem Wagen. Ihr war schwindelig, obwohl sie ihr zweites Glas Bier kaum angerührt hatte. Arm in Arm gingen sie zum Lift und den Korridor entlang zu ihrer Wohnung, wo sie zitternd den Schlüssel ins Schloß steckte.

  Er hatte ihr auf dem Weg durchs Wohnzimmer die Bluse ausgezogen, und sie dachte flüchtig an ihren expansionswütigen Balkonnachbarn und die geöffneten Jalousien, bevor sie das Schlafzimmer erreichten und auf ihr Bett sanken.

  Letztendlich war es enttäuschend, denn seine Erektion erschiaffte im entscheidenden Augenblick. Mit einem Stöhnen rollte er zur Seite. »Tut mir so leid, Liebes. >Tut mir leid< scheint alles zu sein, was ich zur Zeit sagen kann.«

  »Ist schon gut«, murmelte sie.

  »Nein, ist es nicht.« Er drehte sich zu ihr um, stützte sich auf einen Ellbogen und nahm ihre Brust in die Hand. »Du bist nicht schuld, Liebes, das mußt du wissen. Ich wollte ...«

  »Ich weiß, was du wolltest. Ist schon gut.« Sie zog seinen Kopf an ihre Brust und hielt ihn, streichelte seinen Rücken und war plötzlich von einer wilden und unerwarteten Zärtlichkeit erfüllt. Als er eingeschlafen war, zog sie ihre gefühllos gewordene Schulter unter ihm weg, lag wach neben ihm, bis der Morgen vor den Fenstern dämmerte, fragte sich, was sie fühlte und wie sie rechtfertigen sollte, was sie getan hatte.

 

Während des langen Sommers des Jahres 1940 lernten Lewis und William, Flugzeuge zu identifizieren. Edwina war es gelungen, Karten mit den Schattenrissen der Flugzeugtypen von einem Freund beim Königlichen Aufklärungs-Corps zu bekommen, und jeden freien Nachmittagfuhren sie mit den Fahrrädern zu den Hügeln und suchten sich eine Stelle, von wo aus sie den Himmel beobachten konnten. Die Karten immer in der Hand.

  Das näher kommende Dröhnen von Flugzeugmotoren beschleunigte Puls und Herzschlag, und bald konnten sie einige Flugzeugtypen allein durch ihr Geräusch unterscheiden. Junkers 88, Heinkels, Messerschmitts, Wellingtons, Bienheims, Lancs ... sie setzten auf ihre Favoriten. Zuerst erschienen die deutschen Flugzeuge nur sporadisch und vereinzelt am Himmel, so daß die Jungen gar nicht auf die Idee kamen, Angst zu haben.

  Für sie war der Krieg ein fernes, fiktives Spiel. Sie spielten »Engländer und Deutsche« mit anderen Kindern auf den Dorfstraßen, und an den dunklen Abenden saßen sie mit John und der Köchin um das Küchenradio und hörten Tommy Handleys ITMA und »Appointment with Fear«, das ihnen mehr angst machte als die Nachrichten, und Lewis lernte Lord Haw-Haw so gut zu imitieren, daß sich die Köchin beinahe totlachte.

  Im Lauf derfolgenden Wochen jedoch überflogen immer mehr Flugzeuge die Gegend, und die Radiomeldungen wurden ernster. Frankreichs Widerstand brach zusammen, und Italien trat in den Krieg ein. John Pebbles meldete sich zur Heimatwehr und führte mit einem alten Schrotgewehr aus der Halle in den Hügeln Schießübungen durch. Dann kapitulierten Holland und Belgien, und die Leute begannen zu behaupten, in stillen Nächten könnte man als fernes Grollen den Schlachtenlärm aus Frankreich hören. Lewis stand mehrfach in den frühen Morgenstunden auf und ging in den Hof hinaus, um zu horchen, doch alles, was er je hörte, waren die Rufe der Eule, die sich im Stall eingenistet hatte, und das Scharren der Pferdehufe.

  Im Juni, als der Transport der englisch-französischen Armee aus Dünkirchen begann, hielt Winston Churchill, der mittlerweile Premierminister war, eine Radioansprache: »Wir werden an den Küsten kämpfen, wir kämpfen an den Stränden, wir kämpfen auf den Feldern und den Straßen, wir kämpfen in den Hügeln, wir werden uns nie ergeben«, und Lewis versuchte sich vorzustellen, wie die Menschen, und irgendwo unter ihnen auch seine Brüder, kämpften. Beseelt durch Mr. Churchills aufrüttelnde Worte, hatten er und William lange Streitgespräche, wie sie im Fall einer Invasion Widerstand leisten sollten. Sie bauten sogar in der Waldlichtung einen provisorischen Unterstand aus Mr. Cuddys altem Zelt und lagerten dort Konserven, die sie von der Köchin erbettelt hatten.

  Dann, eines Nachts im Juli, wachte Lewis von einer Detonation auf. Hastig sprang er im Dunkeln in seine Kleider, rannte die Treppen hinunter und auf den Hof vor dem Stall hinaus. Funken sprühten über die Baumwipfel aus der Richtung des Dorfes und verglühten, noch während er zusah. Dann gab es erneut ein Krachen, und eine Stichflamme loderte hoch über den Bäumen auf, und Lewis hörte lautes Schreien.

  »Was war das? Hast du’s gesehen?« William stürzte aus der Küchentür ins Freie und stopfte sich dabei das Hemd in die Hose. Hinter ihm tauchte Edwina auf. Dann kam Mr. Cuddy, der einen Morgenmantel über Hose und Hosenträger gezogen hatte und dessen Haar wirr vom Kopf abstand. John tauchte als letzter auf - kam im Dauerlauf den Hügel von seinem Cottage heruntergelaufen, das Schrotgewehr in der Hand.

  »Ich habe Motorengeräusche vor der Detonation gehört«, klärte John sie auf. »Da ist ein Flugzeug abgestürzt. Je schneller wir dort sind, desto besser. Im Dorf gibt es Leute, die was verdammt Dummes tun könnten.«

  John und Edwina tauschten einen bedeutungsvollen Blick.

  »Terence Pawley?« fragte sie.

  John nickte. »Unter anderem.«

  Lewis wußte, daß Mr. Pawleys Sohn Neville seit vergangener Woche in Frankreich vermißt wurde und daß Mr. Pawley wilde Drohungen gegen jeden Deutschen ausgestoßen hatte, den er je in die Finger kriegen sollte.

  »Also gut«, seufzte Edwina. »Kommt, ihr beiden. Ihr seid alt genug, um euch nützlich zu machen.«

  »Ich hol den Wagen ... danngeht’'s schneller«, sagte John und rannte zur Garage.

  Mr. Cuddy band den Gürtel seines Morgenmantels zu. »Ich komme mit euch.«

  Edwina wandte sich zu ihm um. »Nein, Sie bleiben lieber hier, Warren. Ich möchte, daß Sie Unterstützung organisieren, falls es nötig werden sollte. Die Jungen können als Meldeboten dienen.«

  Dann fuhr John den Bentley vor, sie stiegen zu dritt ein und fuhren im nächsten Moment die Auffahrt hinunter. Der Himmel über dem Dorf glühte schwach rot und sein Schein erhellte den Weg. Lewis dachte plötzlich daran, wie lange ihm die Fahrt vom Dorf bis zum Herrenhaus an jenem ersten Abend nach seiner Ankunft erschienen war, als alles noch so ungewohnt gewesen war. Sein Magen krampfte sich bei dem Gedanken daran, was sie erwartete, ängstlich zusammen. Er wußte, daß Edwina gegenüber Mr. Cuddy sowohl realistisch als auch taktvoll gewesen war. Die Dorfbewohner hatten herausbekommen, daß Mr. Cuddy Deutsch sprach. Und in der angespannten Lage war davon die Rede gewesen, er könne ein Spion sein.

  John fuhr so schnell es die Verdunklung erlaubte, und als sie um die letzte Kurve schleuderten, schossen Flammen aus einem Krater, der sich neben dem Dorfplatz aufgetan hatte. Aus den Flammen ragte eine verlogene, schwarze Silhouette: der Schwanz eines Flugzeugs ... nein, von zwei Flugzeugen, verkohlt und wie in einer obszönen Umarmung ineinander verkeilt.

  Sie sprangen aus dem Wagen und rannten zu den Schaulustigen, und Lewis würgte, als beißender Gestank seine Atemwege versengte und sich der heiße Öldunst des brennenden Flugzeugbenzins mit der widerlichen Süße verbrannten Fleischs mischte.

  »Was ist passiert?« hörte er Edwina fragen.

  »Ein Wellington-Bomber«, antwortete ein Mann, und als er sich zu ihnen umdrehte, war sein Gesicht von Ruß und Schweiß verschmiert. »Muß mit einem deutschen Flieger kollidiert sein. War keiner mehr zu retten.«

  »Die sind gegrillt«, sagte Terence Pawley neben ihm, und es klang beinahe schadenfroh. »Alle zusammen. Geschieht ihnen recht, den verdammten Hunnen.«

  »Halt die Klappe, Terence!« Der Mann mit dem rußgeschwärzten Gesicht drehte sich wütend zu ihm um. »Da drinnen sind auch unsere fungs verbrannt.«

  Lewis glaubte ein schwaches Geräusch zu hören, es klang wie der Widerhall eines Schreis, und der Gestank drohte ihn zu ersticken. Er schaffte es gerade noch bis zum Rand des Dorfplatzes, bevor er sein Abendessen erbrach. Dann merkte er, daß er weinte und daß William leichenblaß vor Entsetzen neben ihm stand.

  »Sie müssen gewußt haben, daß sie sterben ... saßen ja wie Tiere in der Falle«, bemerkte William, aber Lewis richtete sich nur stumm auf und wischte sich mit zitternder Hand über den Mund.

  Sie beobachteten das Feuer aus sicherer Entfernung, bis die Flammen erloschen und das Wrack im Morgengrauen allmählich Konturen annahm. Das deutsche Flugzeug war eine Junkers 88. Die Einzelteile beider Maschinen lagen über das ganze Dorf verstreut. »Ein Wunder«, murmelten alle, »daß keines der Häuser getroffen worden ist.« Als der Tag anbrach, wurde deutlich, daß die Katastrophe nicht nur materiellen Schaden angerichtet hatte ... die Posthalterinfiel in Ohnmacht, als sie ein einzelnes, abgetrenntes Bein in ihrem Garten fand, und weitere grausige Überreste menschlichen Lebens wurden noch Tage später entdeckt. Die kleineren Kindergingen mit Begeisterung auf Souvenirjagd, doch für Lewis und William war Krieg plötzlich kein Spiel mehr.

  Während der heißen Tage im August wurden die Angriffe auf London immer zahlreicher. Und obwohl das Leben im großen und ganzen weiterging wie bisher, wachte Lewis oft aus schrecklichen Angstträumen von den brennenden Wracks auf.

  Am Samstag, den 7. September, wenige Minuten vor vier Uhr nachmittags, fuhren die Jungen mit den Fahrrädern den Hombury Hill hinauf, als sie über sich das Dröhnen von Flugzeugen hörten. Beide hielten an und sahen in den Himmel - prüften beinahe automatisch, ob es Jagdflugzeuge oder Bomber waren - und entdeckten, daß es über ihnen vor deutschen Flugzeugen nur so wimmelte. Sie kamen zu Hunderten. Schwer beladene Bomber in Begleitung von Jagdgeschwadern schwirrten in majestätisch exakten Formationen auf London zu.

  Als die letzte Maschine in der Ferne verschwunden war, machten sie kehrt und radelten zum Herrenhaus zurück, als sei der Teufel hinter ihnen her. Sie fanden alle, sogar Edwina, vor dem Radio in der Küche versammelt, wo sie auf Nachrichten warteten. Die Berichte waren chaotisch und widersprüchlich, doch während die Stunden vergingen, wurde Lewis’ Angst zur schrecklichen Gewißheit.

  Gegen Abend goß die Köchin frischen Tee auf, schmierte ein paar belegte Brote und bestand darauf, daß sie etwas aßen. Während der Woche war die Katze irgendwie an die Butterration gelangt, so daß Bratenfett als Brotaufstrich herhalten mußte, und was als Trost gemeint war, weckte in Lewis nur die schmerzliche Erinnerung an zu Hause. Er schob den Teller von sich und rannte blindlings aus der Küche.

  Lewis suchte Zuflucht im Stall. Im Lauf der Monate hatte er häufig Trost in den Gerüchen und Geräuschen der Tiere gesucht. So ließ er sich auch jetzt auf den Strohballen neben Zeus’ Box nieder und fiel in einen erschöpften Schlaf.

  Er erwachte in der Dunkelheit, wußte im ersten Moment nicht, wo er war, hörte Williams Stimme und fühlte seine Hand, die ihn wachrüttelte.

  »Lewis, wach auf! Es ist das East End! Sie haben’s im Radio gebracht. Die Deutschen haben die Docks bombardiert.«

  »Was?« Lewis richtete sich auf. Sein Mund war wie ausgetrocknet.

  »John war auf dem Leith Hill. Man konnte es von dort sehen, jetzt ist alles dunkel.«

  »Was sehen?« wiederholte Lewis begriffsstutzig. Sein Gehirn wollte den Sinn der Worte nicht begreifen.

  »Das Feuer. Das East End brennt, Lewis. London brennt.«