Die Isle of Dogs, der spätere Standort der West India Docks, war damals ein feuchtes, ödes Brachland, das man lediglich als Kuhweide nutzte. Angeblich hatte die Insel nur zwei Bewohner: den Kuhhirten, der das Vieh von den Marschwiesen trieb, und den Fährmann, der die Fähre nach Greenwich betrieb.
Theo Barker, aus: Docklands, ein illustrierter historischer Überblick
Als Kincaids Wecker schrillte, hatte er das Kissen über den Kopf gelegt. Um sechs Uhr morgens war es bereits hell, und die Luft, die durch das offene Fenster drang, roch frisch und rein. Das erleichterte ihm das Aufstehen zu dieser nachtschlafenen Zeit an einem Sonntag morgen. Die Obduktion von Annabelle Hammond war auf acht Uhr angesetzt, und er hatte mit Gemma verabredet, sich mit ihr im Yard zu treffen und gemeinsam mit ihr zum Leichenschauhaus zu fahren.
Obwohl er sich hastig und leise duschte und rasierte, begann Kit sich zu regen und schlug schließlich die Augen auf, als er auf Zehenspitzen durchs Wohnzimmer zur Tür schlich.
»Wieviel Uhr ist es?« fragte Kit schläfrig und stützte sich auf einen Ellbogen auf. »Bist du gerade nach Hause gekommen?«
»Es ist halb sieben Uhr morgens. Und ich bin schon seit gestern abend zu Hause, aber ich muß wieder weg.« Kincaid bückte sich, um Sid zu streicheln, der Kit verlassen hatte und aufdringlich um seine Beine strich und schnurrte. »Ich wollte dir eine Nachricht hinterlassen.«
Kit warf die Decke zurück und setzte sich auf. »Kann ich mitkommen?«
»Tut mir leid, Kumpel. Ist nur Arbeit.«
»Aber es ist Sonntag.«
Kincaid seufzte. »Ich weiß. Aber das spielt keine Rolle, wenn ein Fall erst mal ins Rollen gekommen ist.«
»Geht um Mord, stimmt’s?« Kit starrte ihn an. Er war jetzt hellwach.
Kincaid schob Sid sanft aus dem Weg und setzte sich auf die Kante des Couchtischs.
Bevor er antworten konnte, fuhr Kit fort: »Du könntest mich mitnehmen. Ich warte im Wagen. Mache bestimmt keine Schwierigkeiten.«
Kincaid dachte an die Leiche auf dem rostfreien Stahl des Obduktionstischs ... und was mit ihr geschehen würde. »Kit, das geht nicht. Ist einfach nicht drin. Und ich habe keine Ahnung, wie lange ich unterwegs bin.«
»Aber ich muß heute abend mit dem Zug nach Cambridge zurück.« Kits blaue Augen wurden groß vor Angst. »Ich habe morgen Schule. Ist Prüfungswoche. Und da ist Tess ...«
»Ich bring dich zum Zug. Keine Sorge. Und in der Zwischenzeit ... warum nimmst du nicht das Angebot des Majors an? Ich glaube, Kew Gardens gefällt dir.« Kincaid warf einen Blick auf die Uhr. »Tut mir wirklich leid, Kumpel, aber ich muß gehen ...«
»Ist gar nichts zum Frühstück da.« Kits Mund verzog sich eigensinnig. Kincaid hatte gelernt, daß das seine Methode war, Enttäuschungen zu verarbeiten.
»Ich weiß«, sagte Kincaid mit traurigem Lächeln. »Ich hatte vorgehabt, zusammen mit dir einzukaufen.« Er dachte einen Moment nach. »Ich habe eine Idee.« Er zückte seine Brieftasche und zog ein paar Scheine heraus. »Gleich um die Ecke am Rosslyn Hill ist ein gutes Café. Du könntest den Major zu einem anständigen Frühstück einladen. Der Rest ist für die S-Bahn und den Eintritt in den Botanischen Garten.« Er steckte seine Brieftasche wieder ein und zögerte. Wie sollte er Kit begreiflich machen, daß er ihn nicht aus freien Stücken allein ließ?
»Wir sehen uns heute abend«, erklärte Kincaid schließlich. Als er aus der Wohnung ging, fiel ihm ein, daß seine Rechtfertigung doch nicht ganz hieb- und stichfest war. Schließlich hatte er sich seinen Job freiwillig ausgesucht.
»Das Leichenschauhaus um acht Uhr an einem Sonntag morgen«, murmelte Gemma, als sie in den Keller des Krankenhauses hinuntergingen. »Mein absoluter Wunschtraum.« Sie haßte den Geruch von Desinfektionsmitteln und den allgegenwärtigen, widerlichen Geruch von Krankheit.
Um sich abzulenken, dachte sie an die Musikalienhandlung, die sie auf dem Weg zur S-Bahnstation Angel an diesem Morgen gesehen hatte. Sie hatte natürlich geschlossen gehabt, aber sie hatte trotzdem die Pentonville Road überquert und in die Schaufenster geschaut. Vielleicht hatte sie am nächsten Tag Gelegenheit, die Musikbücher zu kaufen, die Wendy empfohlen hatte, und bei der nächsten Stunde am Samstag - immer vorausgesetzt, die laufenden Ermittlungen ließen ihr Zeit, sie wahrzunehmen - sollte sie wirklich mit dem Klavierspiel beginnen.
Am Vorabend, nachdem sie Toby ins Bett gebracht hatte, hatte sie das Licht gedimmt und sich aus der angebrochenen Flasche im Kühlschrank ein Glas Wein eingeschenkt. Dann hatte sie zögernd in den Garten im Zwielicht hinausgesehen. So sehr sie ihre wenigen Stunden des Alleinseins zu schätzen wußte, war sie unruhig und rastlos gewesen und hatte sich gefragt, ob ein kurzes Gespräch mit Hazel helfen konnte, Annabelle Hammonds Bild aus ihren Gedanken zu verbannen.
Als sie lautlos die Garagenwohnung verlassen hatte und quer durch den Garten gegangen war, dankte sie erneut dem Schicksal, das sie zu den Cavendishs geführt hatte. Hazel hatte nicht nur angeboten, sich um Toby und ihre eigene Tochter zu kümmern, während Gemma arbeitete, sondern war auch eine wertvolle Freundin geworden. In vielerlei Hinsicht fühlte sich Gemma Hazel enger verbunden als ihrer Schwester, denn sie hatte gelernt, daß Blutsverwandtschaft keine Garantie für Sympathie oder gemeinsame Interessen ist.
Sie hatte Hazel und Tim bei einer Tasse Kakao und einem ruhigen Gespräch am Küchentisch vorgefunden. »Ich störe«, sagte sie, eine Hand noch an der Türklinke. »Wollte einfach nur gute Nacht sagen.«
»Blödsinn! Komm, setz dich«, sagte Hazel und klopfte auf den Stuhl neben sich. »Ich würde dir Kakao anbieten, aber wie ich sehe, bist du bei Alkohol«, fügte sie mit einem Blick auf Gemmas Weinglas hinzu. »Harten Tag gehabt?«
»War der absolute Hammer.« Gemma schlenderte zum Tisch, setzte sich jedoch nicht. »Und du kannst dir vorstellen, wie Toby nach einem Tag bei Cyn gewesen ist. Er hat sich vehement geweigert, ins Bett zu gehen, nur um dann von einer Sekunde zur anderen wie ohnmächtig einzuschlafen.« Sie berührte die weiche Strickwolle in Hazels Handarbeitskorb. »Was dagegen, wenn ich kurz ins Wohnzimmer gehe?«
Tim sah von seiner Zeitung auf und lächelte. »Überhaupt nicht.«
Sie schlenderte ins Wohnzimmer, wie magnetisch angezogen vom Klavier. Sie schlug den Deckel zurück, ließ die Finger leicht über die Tasten gleiten, nur um ein Gefühl dafür zu bekommen, spielte wahllos ein paar Noten und hörte auf die Töne, die erklangen und erstarben. Sie konnte sich nicht vorstellen, je in der Lage zu sein, die Töne so zu spielen, daß sie eine Melodie ergaben ... Seit ihrem Gespräch mit Wendy Sheinart hatte sie versucht herauszufinden, warum sie diesen unbändigen Wunsch verspürte, Klavierspielen zu können.
Im vergangenen Herbst hatten sie einen Fall bearbeitet, der ihr ganz unerwartet die Welt der Oper erschlossen hatte, und sie hatte eine unglaubliche Faszination verspürt... und seit sie in die Garagenwohnung gezogen war, hatte Hazels umfangreiche CD-Sammlung es ihr ermöglicht, alles zu hören - vom Klavierkonzert bis zu Modern Jazz -, und im Frühjahr war der Straßenmusikant mit der Klarinette aufgetaucht, der sie in seinen Bann gezogen hatte, wann immer sie Sainsbury’s auf dem Heimweg passiert hatte. Ein seltsamer Zufall, dachte sie flüchtig, daß Reg Mortimer einen Musiker mit Klarinette beschrieben hatte, aber sicher steckte nichts dahinter. Als Wendy Sheinart sie gefragt hatte, weshalb sie Klavier spielen wolle, hatte diese schließlich ihren stotternden Versuch einer Erklärung mit einem Lächeln akzeptiert. »Sie müssen es nicht verstehen«, hatte sie gesagt. »Ich glaube, das Bedürfnis, Musik zu machen, ist einigen von uns angeboren. Äußere Umstände oder Erfahrung haben damit nichts zu tun. Und es ist auch gleichgültig. Ich wollte nur sicher sein, daß Sie das für sich allein tun.«
»Wir sind da.« Kincaid berührte ihren Arm, und Gemma stellte entsetzt fest, daß sie am Eingang des Leichenschauhauses vorbeigegangen wäre. Er warf ihr einen fragenden Blick zu. »Weshalb habe ich nur das Gefühl, daß du heute morgen Lichtjahre weit weg bist?«
Gemma lächelte und drückte auf den Klingelknopf, »’tschul-digung. War in Gedanken versunken.«
»Dann bin ich neidisch auf die Gedanken.«
Die Tür klappte zurück, und sie wiesen sich gegenüber der jungen Frau mit Pferdeschwanz aus.
»Dr. Ling erwartet Sie schon«, sagte sie und scheuchte sie hastig weiter.
Kincaid runzelte die Stirn. »Dr. Ling? Meinen Sie zufällig Kate Ling?«
»Höchstpersönlich«, sagte eine Frau im weißen Arztkittel, die aus dem Obduktionssaal trat. Dunkles, glattes Haar rahmte ihr blasses, ovales Gesicht ein und reichte knapp bis auf die Schultern. Die schwarzen Augen der Pathologin glitzerten mit jenem spitzbübischen Humor, an den Gemma sich so gut erinnerte. Sie hatten im vergangenen Herbst in Surrey mit ihr zusammengearbeitet. Damals war es um den Tod eines Freundes von Gemma und die fast tödliche Verletzung eines anderen gegangen. Die Erinnerung daran überkam Gemma mit schmerzlicher Heftigkeit und machte sie vorübergehend sprachlos. Kincaid sprang in die Bresche.
»Was machen Sie in London?« fragte er und schüttelte Kate Ling herzlich die Hand.
»Ist eine Art Beförderung«, antwortete Kate. »Im Innenministerium wurde eine Stelle frei, die besetzt werden mußte, und ich habe den kürzeren gezogen. Kann allerdings nicht behaupten, daß es mich stört, so im Rampenlicht zu stehen. Außerdem ist meine Klientel hübsch abwechslungsreich.« Sie nickte in Richtung der Tür in ihrem Rücken. »Hübsches Frischfleisch, da drinnen. Kam gerade aus dem Eis. Dürfte nicht zu abschreckend für euch sein. Seid ihr bereit?«
Sie folgten ihr in den Obduktionssaal. Auf dem Weg zogen sie sich OP-Kleidung und Mundschutz an. Kate legte ebenfalls ihren Mundschutz an und schob den Instrumentenwagen zum Obduktionstisch. Konnte man Tote überhaupt beneiden, schoß es Gemma durch den Kopf, als sie auf Annabelle Hammond herabsah. Die Brüste waren perfekt, weder zu groß, noch zu klein; der Hals schlank, die Schultern schön geformt; die Taille schmal, der Bauch flach; die Oberschenkel glatt und schlank. Selbst Füße und Fußgelenke waren zierlich und elegant, und Gemma hatte selten Zehen gesehen, die der Beachtung wert gewesen waren. Hilft ihr jetzt allerdings nicht die Bohne, ihre ganze Schönheit ... wenn sie ihr nicht sogar zum Verhängnis geworden ist, überlegte Gemma. Leidenschaft war vermutlich noch das geringste der Gefühle, die dieser Körper geweckt haben mochte.
»Haben Sie gestern die erste Untersuchung am Tatort durchgeführt?« wollte Kincaid von Kate Ling wissen. »Tut mir leid, daß ich Sie verpaßt habe. War ein ziemliches Chaos dort im Park.«
»Ging alles drunter und drüber, wie immer«, stimmte Kate ihm zu und streifte ein Paar sterile Gummihandschuhe über, die sie aus einem Spender genommen hatte. »Schätze aber, das können wir jetzt wiedergutmachen.«
Sie streckte den Arm aus, um das Mikrofon über dem Obduktionstisch einzuschalten, und Kincaid sagte: »Wann ist der Tod Ihrer Meinung nach eingetreten? Ganz inoffiziell. Bleibt unter uns.«
Kates Mundwinkel zuckten, als sie hinter dem Mundschutz lächelte. »Ich tippe auf halb ein Uhr morgens.« Sie lachte laut, als sie Kincaids skeptischen Ausdruck sah. »Sie haben mich ganz privat um meine Meinung gefragt, und jetzt glauben Sie mir nicht? Aber ganz im Ernst. Ich gehe nicht davon aus, daß sie vor Mitternacht gestorben ist. Allerdings ist die Körpertemperatur kein absolut verläßlicher Hinweis, da die Lufttemperatur nach Sonnenaufgang rasch gestiegen ist. Die Totenflecken waren da, aber die Hornhaut hatte sich gerade erst getrübt, und die Totenstarre war noch nicht ganz eingetreten.«
Gemma sah von ihrem Notizbuch auf, den Stift über der Seite. »Dann war sie acht Stunden tot... oder weniger?«
Kate zuckte die Achseln. »Es gibt immer nicht vorhersehbare Faktoren. Vielleicht helfen Ihnen der toxikologische Befund und die Analyse des Mageninhalts.«
»Gut gesprochen, Frau Doktor der Pathologie«, bemerkte Kincaid und grinste. Gemma kam plötzlich der Gedanke, daß er Kate Ling attraktiv finden könnte. Er flirtete nicht offensichtlich, aber in seinen Antworten lag eine ungewöhnliche Konzentration auf ihre Person. Und Kincaids Interesse konnte gefährlich werden, wie sie nur zu gut wußte.
»Wurde sie am Fundort umgebracht?« fragte Gemma, um Kincaids Interesse von Kate weg und auf den Fall zu lenken.
»Spricht einiges dafür ... es sei denn, man hat sie unmittelbar nach ihrem Tod weggebracht. Die Totenflecken entsprechen der Lage der Leiche.«
»Wagen Sie eine Vermutung, wodurch sie gestorben sein könnte?« fragte Kincaid.
»Also, das wäre im Augenblick reine Spekulation.« Kate knipste endlich das Mikrofon an, und erklärte, daß sie jetzt die äußerliche Untersuchung von Annabelle Hammond fortführen werde. Sie bog den Kopf des Opfers zurück, um den Hals genau sehen zu können. »Ob der Kehlkopf gequetscht ist, wissen wir erst, wenn wir das Gewebe freilegen. Der Bluterguß an der Kehle ist minimal, genau wie die Verkrampfung der Gesichtsmuskeln.«
»Sonst noch was, was ins Auge sticht?«
Kate hob zuerst die eine, dann die andere Hand von Annabelle, prüfte die langen, schmalen Finger. »Keine mit bloßem Auge sichtbaren Haut- oder Blutpartikel unter den Nägeln, aber wir schicken für alle Fälle Proben ins Labor.«
Nach der sorgfältigen Reinigung der Nägel klingelte Kate nach ihrem Assistenten. »Gerald, wir wollen uns jetzt den Rücken ansehen.«
Gerald drehte den schmalen Körper mit der Leichtigkeit eines erfahrenen Pflegers auf den Bauch, und Kate begann mit ihrer Untersuchung an Annabelles Hinterkopf, indem sie vorsichtig die Massen rotblonden Haars mit ihren Fingern teilte, die trotz der Gummihandschuhe schnell und geschickt arbeiteten. »Hier ist was«, sagte sie nach wenigen Minuten und sah auf. Sie benutzte ein Vergrößerungsglas, um sich die Stelle genauer zu betrachten. »Könnte sein, daß wir es mit einem Schädeltrauma aufgrund brutaler Gewalteinwirkung zu tun haben. Da ist eine Stelle mit losem Haar und Hautabschürfungen, vielleicht auch eine Schwellung. Sicher wissen wir das erst, wenn wir die Kopfhaut entfernt haben.«
Gemma schluckte und konzentrierte sich wild entschlossen auf ihr Notizbuch. Das war der Teil, den sie am meisten haßte; noch mehr als den ersten Schnitt und die Entfernung der inneren Organe. Sie hatte immer angenommen, daß dieser Bereich ihres Jobs leichter zu ertragen sein würde, je weiter die Obduktion fortgeschritten war, aber das hatte sich als Irrtum erwiesen. Seltsamerweise war es immer besonders schlimm, wenn der Körper so unversehrt war wie dieser.
»Was ist mit Fremdflüssigkeiten?« hörte sie Kincaid fragen, während sie auf ihre Notizen starrte.
»Die Abstriche haben nichts ergeben, und ich habe - oberflächlich betrachtet - nichts entdecken können. Das gilt auch für Spuren von Geschlechtsverkehr.«
»Keine Hinweise also, daß es sich um ein Sexualverbrechen handeln könnte?«
»Es sei denn, es war ein Verrückter, der nur was brauchte, um hinterher seine Phantasie zu beflügeln«, antwortete Kate abwiegelnd. »Aber selbst so einer läßt meistens was zurück.«
Als Kate mit Annabelles Rückseite fertig war, und Gerald die Tote erneut umgedreht hatte, sagte sie: »Falls ihr nichts wißt, wonach ich im besonderen suchen soll, fange ich jetzt mit den inneren Organen an.«
Kincaid schüttelte den Kopf und fing Gemmas Blick auf. Er wußte, daß sie um Beherrschung rang, wollte sie jedoch nicht mit einer Bemerkung in Verlegenheit bringen. Seiner Miene war anzusehen, daß ihn das, was kommen mußte, ebenfalls nicht begeisterte.
Kate wählte ein Skalpell aus dem Sortiment auf dem Instrumententablett und sagte ins Mikro: »Also gut. Fangen wir mit einem Y-Schnitt an.«
Gemma konzentrierte sich darauf, ruhig durch die Nase zu atmen und Kates Kommentare in ihr Notizbuch einzutragen. Weiblich und gesund. Vermutlich Gelegenheitsraucherin. Keine Anzeichen einer Schwangerschaft oder früherer Schwangerschaften.
Nachdem sie die inneren Organe entfernt und gewogen hatte, sagte Kate: »Wir schicken den Mageninhalt ins Labor ... Das Ergebnis dürfte nicht lange auf sich warten lassen. Sehen wir uns jetzt mal den Hals an.«
Gemma sah gerade lange genug auf, um festzustellen, daß das Skalpell an Annabelles weiße Kehle angesetzt wurde. Dann zwang sie den Blick zurück auf ihre Notizen.
»Seht euch das an.« Kate klang, als habe sie in einem Silvesterknallbonbon was Hübsches gefunden. »Da sind Blutergüsse auf dem Gewebe, die auf der Haut nicht zu sehen waren. Seltsam, aber es kommt vor. Und der Kehlkopf ist intakt.«
»Was heißt das? Ist sie nicht erwürgt worden?« fragte Kincaid stirnrunzelnd.
»So kann man das nicht sagen. Es ist nur nicht offensichtlich. Und es besteht immer die Möglichkeit, daß durch eine Vagusreizung ein Herzstillstand eingetreten ist. Aber sehen wir uns erst die Kopfverletzung an.«
Gemma holte tief Luft und hielt den Blick stur auf Annabelle Hammonds Zehen gerichtet.
Trotz Einnahme eines Beruhigungsmittels hatte Reg Mortimer schlecht geschlafen. Er hatte von Annabelle geträumt, unzusammenhängende Sequenzen, in denen sie ihn entweder fortgeschickt oder wütend wegen etwas attackiert hatte, an das er sich nicht erinnern konnte. Im letzten Traum waren sie wieder Kinder gewesen, und er hatte hilflos zugesehen, wie sie in eine steile Schlucht stürzte ... und plötzlich war er derjenige gewesen, der sich im freien Fall befand, bis er mit trockenem Mund und Herzklopfen aufgewacht war.
Er zwang sich, ein Bad zu nehmen und sich anzuziehen, eine Schüssel Cornflakes zu essen und eine Tasse Tee zu trinken, wobei das merkwürdige Gefühl anhielt, daß nichts wirklich war und er jeden Moment aufwachen und feststellen würde, daß alles - sogar das Ankleiden - nur ein Traum gewesen war.
Gegen halb neun Uhr hatte er es in seiner Wohnung nicht mehr ausgehalten, und nicht einmal die geliebte Aussicht auf die Themse von seinem Wohnzimmerfenster aus hatte ihn ablenken können. Er hatte die verspielte Illusion geliebt, die das Haus wie das architektonische Mimikry eines großen Passagierdampfers erscheinen ließ. Jetzt plötzlich plagte ihn die Vorstellung, das Gebäude habe Schlagseite, könne kentern und alles mit sich in die Tiefe reißen.
Reg blinzelte gegen das Schwindelgefühl an, und nahm seine Schlüssel vom leeren Tisch. Der Lift trug ihn in die Halle hinunter und in einen herrlichen Morgen hinaus. Er wandte sich unwillkürlich Richtung Süden und ging auf dem Uferpfad und am gleißenden Band der Themse entlang in die West Ferry Road und von dort um die Ecke in die Ferry Street.
Der Anblick des blauweißen Absperrungsbandes, das vor der Tür zu Annabelles Wohnung flatterte, ließ ihn abrupt stehenbleiben. Ein Polizist in Uniform stand neben einem Lieferwagen und sprach mit einem Mann im weißen Overall. Reg beobachtete die beiden einen Moment und zwang sich dann, an ihnen vorbeizugehen. Welcher Impuls ihn auch getrieben haben mochte, er hatte sich in Luft aufgelöst. Trotzdem wußte er jetzt, wohin er sich wenden mußte.
Nachdem er unter dem Fluß hindurch zum anderen Ufer gelaufen und halbwegs die Anhöhe in Greenwich hinaufgestiegen war, war er in Schweiß gebadet. Er bog in den Emerald Cres-cent am unteren Ende ein, und seine Schritte verlangsamten sich, je stärker das Gefühl der Unwirklichkeit in ihm wurde. Über der Gasse lag die typische Stille eines Sonntag morgens, wenn die Familien ausschliefen oder sich beim Frühstück und der Morgenzeitung Zeit ließen. Vogelgezwitscher drang aus den Hecken, und jeder Gedanke an den Tod erschien grotesk.
Als er sich dem oberen Ende der Gasse näherte, stieg das Land zu seiner Linken steil an. Zwischen den dicken Stämmen der Bäume am Abhang hindurch schimmerte William Hammonds blaßblaue Haustür. Vor ihm, dort, wo die Straße eine scharfe Biegung nach rechts machte, lag Jos quadratisches Haus am Fuß des Hanges an der Straße. Die rückwärtigen Gärten der beiden Grundstücke grenzten aneinander, waren jedoch nicht durch eine Tür miteinander verbunden.
Jo und Martin Lowell hatten das Haus gekauft, als Isabel Hammond schwer krank geworden war. Während es für Reg undenkbar schien, neben seinem Vater zu wohnen, konnte er Jos Wunsch verstehen, sich in der Nähe der Eltern anzusiedeln. Seine Familie hatte in einem georgianischen Stadthaus in Knightsbridge gewohnt, und als er als Kind hierhergekommen war, war er sowohl von der idyllischen Atmosphäre der schmalen Straße als auch vom Haus der Hammonds fasziniert gewesen. Geduckt am Hang liegend, von Bäumen geschützt, war es ihm geradezu märchenhaft erschienen.
An diesem Morgen jedoch wollte er nicht zu Jo ... er konnte und wollte noch nicht darüber nachdenken, was dort am Freitag abend geschehen war. Plötzlich fiel ihm ein, daß Jo bei William sein könnte, und er zögerte einen Moment. Dann zuckte er die Schultern und begann den Treppenweg über den mit Efeu überwucherten Hang hinaufzusteigen. Er mußte nichts befürchten. Jo würde vor ihrem Vater nichts sagen.
Ein Geräusch ließ ihn herumwirbeln, und er hätte beinahe auf der steilen Treppe seine Balance verloren. Er hätte schwören können, ein helles, leises Lachen zu hören, aber er konnte niemanden sehen. Dann, als er sich wieder dem Aufstieg zuwandte, flackerte am Rand seines Blickfeldes ein Bild auf... von einem Mädchen, das vor ihm davon- und die Treppen hinaufrannte. Sie hatte nackte Beine, und ihr rotes zu einem langen Zopf geflochtenes Haar hüpfte auf ihrem Rücken auf und ab.
Blinzelnd schnappte er nach Luft. Da war niemand. Er schüttelte sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kam, und stieg langsam weiter hinauf. Schlafmangel, keine regelmäßigen Mahlzeiten und zu viele rückwärtsgewandte Gedanken, dachte er.
Als er Williams Haustür erreicht hatte, hatte er sein inneres Gleichgewicht wiedergefunden.
William Hammond öffnete selbst. Reg sah ihn an und erkannte, daß er bis zu diesem Zeitpunkt William Hammond nie für einen alten Mann gehalten hatte. Als Kind hatte er ihn so sehr bewundert, daß er sich dieses Bild von ihm bewahrt hatte. An diesem Morgen jedoch schien William in sich zusammengesunken, wirkte in seinem schwarzen Anzug gebrechlicher, als er war, und seine Haut war plötzlich welk.
Reg schluckte. »Mr. Hammond«, begann er. »Mein herzliches Beileid. Kann ich irgend etwas tun?«
William lächelte und streckte seine Hand aus, die zitterte, als habe er Schüttellähmung. »Reginald, mein Junge. Wie lieb von dir, daß du vorbeischaust. Komm rein. Trink eine Tasse Tee mit mir.«
Reg folgte ihm durchs Haus und in die Küche. William stellte den Wasserkessel auf und bedeutete Reg, sich zu setzen. »Jo wollte Kekse rüberbringen, aber bisher hat sie’s wohl noch nicht geschafft.«
»Macht nichts, Mr. Hammond. Schätze, Jo hat heute morgen genug um die Ohren.«
»Ja, ja. Sie hat alles in die Hand genommen. Die ganze Te-lefoniererei und so. Sie und Annabelle sind Organisationstalente ... wie ihre Mutter.« William stellte kobaltblaue und rostrote Teetassen aus hauchdünnem Porzellan auf ein Tablett und griff nach einem hell gemusterten Paket Ceylon-Tee mit dem Warenzeichen der Firma Hammond’s. Annabelle hatte die Mischung selbst zusammengestellt, und es war ihr Lieblingstee gewesen.
Reg unterdrückte den Impuls, aufzuspringen und William das Paket aus der Hand zu reißen. »Haben Sie was dagegen, wenn wir lieber den Assam nehmen? Irgendwie kann ich nicht...«
William schien erst jetzt zu merken, was er in der Hand hielt. »O natürlich! Ganz richtig ...« Er stand einen Moment da, als habe er durch die Unterbrechung die Orientierung verloren. Dann tauschte er die Teepakete aus und fuhr methodisch mit seinen Vorbereitungen fort. Nachdem er die Kanne mit heißem Wasser vorgewärmt hatte, goß er Tee auf und trug das Tablett zum Tisch. Reg bemerkte, daß seine Hände nicht mehr zitterten.
Tatenlos warteten sie zwischen dem Ticken der Eieruhr und dem Schlagen der Standuhr in der Diele darauf, daß der Tee zog. Reg, den die Stille keineswegs verlegen machte, sah sich in der ihm so vertrauten Küche um. Hier hing seit seiner Kindheit Williams Sammlung von gerahmten Werbezeichnungen der Firma Hammond’s. Die ältesten Exemplare stammten aus dem Jahr 1880, als ein junger Mann namens John Hammond seinem Chef aus der Mincing Lane gekündigt und sich als erster Teehändler auf der Isle of Dogs niedergelassen hatte. Er war Williams Urgroßvater gewesen.
»Die habe ich immer geliebt.« Reg deutete auf die Schwarzweißzeichnungen. »Besonders die aus der London Illustrated News.«
»Ja. Das hier war Annabelles Lieblingszeichnung. Ich meine die mit den kleinen Chinesen.« Während eine hübsche Frau in der Kleidung der Viktorianischen Zeit in einem Liegestuhl döste, versuchte ein ganzer Schwarm winziger Chinesen eine Blechbüchse Tee an die Tischkante zu schieben, wo eine Kanne und eine Tasse warteten. »Jetzt würde man sie vermutlich für rassistisch halten. Für mich hatte das Plakat immer was sehr Charmantes. Und Annabelle hat ständig Geschichten über die Chinesen erfunden ... ihnen sogar Namen gegeben ... wenn ich mich recht erinnere. Ihre Gesichter sind so individuell verschieden.« William starrte lange auf die Skizze. Dann sagte er leise. »Ich fürchte, ich habe es noch gar nicht begriffen. Nicht wirklich, jedenfalls.«
»Haben Sie schon mit der Polizei gesprochen?«
»Der Polizei? Nein. Aber Jo hat das getan. Sie sagt, wir können sie nicht beerdigen ... kein offizielles Begräbnis organisieren, weil ...« Die Eieruhr klingelte, und William griff offensichtlich erleichtert nach der Teekanne. Er schob seine Brille hoch und goß vorsichtig etwas Milch in seine Tasse, bevor er Tee hineingab. Zuerst die Milch, nachdem man die Teeblätter mindestens fünf Minuten in einer vorgewärmten Kanne hat ziehen lassen. Das hatte Annabelle Reg beigebracht, als sie noch Kinder gewesen waren. Und sie wiederum hatte es von ihrem Vater gelernt.
Und wie ihr Vater hatte sie stets auf echtem Porzellan beharrt mit dem Argument, daß die Entwicklung englischen Porzellans und die Kultur des Teetrinkens untrennbar miteinander verbunden seien. Dabei war es für sie auch eine Frage der Ästhetik gewesen. Sie hatte nicht nur behauptet, das Porzellan beeinflusse den Geschmack des Tees, sondern die Vollkommenheit des Teerituals war ihr ebenso wichtig gewesen wie die Qualität des Tees selbst.
Reg zwang sich zurück in die Gegenwart. »Kann mir nicht vorstellen, daß die Polizei gefühllos sein will«, bemerkte er, wenn er auch den Gedanken an die Gründe der Polizei, Annabelles Leiche nicht freizugeben, verdrängte. »Man versteht ja, daß sie gründlich sein müssen.« Er griff nach seiner Tasse und gab einen Löffel Zucker in den Tee. Annabelle hatte ihn solange gequält, bis er seinen Zuckerkonsum pro Tasse von zwei auf einen Löffel reduziert hatte. Sie hatte darauf beharrt, daß zuviel Zucker den Geschmack des Tees verderbe. Er fügte einen zweiten Löffel Zucker hinzu und rührte um.
»Ich begreife nicht, wie so etwas passieren konnte«, sagte William stockend. »Sie haben gesagt, daß sie im Park war ... Aber was hatte sie nachts allein im Mudchute zu suchen? Annabelle wäre doch nie so dumm gewesen ...«
Sicher nicht, dachte Reg, aber hatte auch nur einer von ihnen Annabelle wirklich gekannt? Und wie hatte ihr Tod zufällig sein können? Ein grotesker Zufall, unabhängig von den Ereignissen der vergangenen Tage? Doch darüber nachzudenken, sträubte sich alles in ihm, und er weigerte sich, die Kette der Möglichkeiten bis zu einer wahrscheinlichen Erklärung weiter zu verfolgen.
William sah auf, und ihre Blicke kreuzten sich. Er zog eine Grimasse. »Es tut mir so unendlich leid, mein lieber Junge. Ich wollte damit nicht sagen, daß du in irgendeiner Form nachlässig gewesen bist. Muß schon schwierig genug für dich sein. Alle deine Pläne ...«
Wie hätte er William sagen sollen, daß es Monate her war, seit Annabelle gewillt gewesen war, über ihre Hochzeit zu sprechen? Daß, als er sie unverblümt gebeten hatte, ein Datum festzusetzen, sie ihm das verweigert hatte? Er hob seine Tasse mit beiden Händen und nippte am Tee. Er war noch zu heiß, aber die Mischung von Schmerz und Wohlbefinden auf den empfindlichen Geschmacksnerven war ihm willkommen. Alles war besser als diese Taubheit. »Sie und ich wissen, wie eigensinnig Annabelle sein konnte«, begann er vorsichtig. »Und wir haben beide gelernt, daß es meistens leichter war, ihr ihren Willen zu lassen, als zu kämpfen und die Schlacht zu verlieren. Aber diesmal habe ich sie zu weit gehen lassen ...« Tränen traten in seine Augen.
William streckte verlegen die Hand aus, tätschelte seine Schulter. »Du darfst dir keine Vorwürfe machen. Du hast recht. Annabelle hat immer nur das gemacht, was sie wollte. Aber sie war trotzdem ein liebes Mädchen, war alles, was ein Vater sich hat wünschen können.« Seine Gesichtsmuskeln zuckten, als die Gefühle ihn zu überwältigen drohten, und er wandte den Blick ab, starrte auf das Küchenfenster und in die Blätterkulisse hinaus.
Reg ließ ihm Zeit. Ohne zu fragen, schenkte er etwas Milch in Williams Tasse nach, füllte sie mit frischem Tee aus der Kanne, stand auf und nahm den noch immer kochenden Wasserkessel vom Herd. Nachdem er heißes Wasser in die Kanne nachgegossen hatte, wandte er sich erneut dem Herd zu und starrte wie William aus dem Fenster. Er fühlte, wie sich die Luft um sein Gesicht bewegte, schwer wie eine Hand, wärmer als seine Haut; sie schien keinerlei Kraft zu haben, den Schweiß zu trocknen, der in seinen Hemdkragen rann.
Jos Kinder spielten im Garten nebenan. Er hörte den an-und abschwellenden Klang ihrer Stimmen wie eine Radiosendung aus einem fernen Land. Es hätte seine Stimme sein können, die er wahrnahm, vermischt mit Jos und Annabelles, als sie Vor Jahren in diesem Garten gespielt hatten ... War er in ihrer Kindheit auch schon so grün gewesen? Vielleicht, denn er erinnerte sich plötzlich, daß Annabelle gern so getan hatte, als sei er der Dschungel von Sri Lanka, und die Rhododendronhecke ihrer Mutter eine Teeplantage. Er überlegte, ob es wohl eine genetisch bedingte Veranlagung für Leidenschaften gab, denn in Annabelle hatte sich Williams Begeisterung für Tee unvermindert und in Reinform fortgesetzt, während das Thema bei Jo nie mehr als höfliches Interesse wecken konnte.
Als sie noch zu klein gewesen war, um die komplizierteren Texte in den Büchern des Vaters zu verstehen, hatte Annabelle gefordert, die Bilder erklärt zu bekommen. Sie hatten ihre Phantasie beflügelt. An einem regnerischen Frühjahrstag im Garten hatte sie beschlossen, Teepflücken zu spielen. Es solle der feinste Tee, königlicher Tee sein, hatte sie erklärt, als sie Reg und Jo mit Körben ausgerüstet und instruiert hatte, nur den Trieb und das oberste Blatt von jedem Zweig zu brechen.
Man hatte sie erst entdeckt, als die armen Rhododendronbüsche fast kahl gewesen waren. Und als sie von der wütenden und verblüfften Mutter zur Rede gestellt wurden, hatte Annabelle nur gebrüllt, sie hätte ihre Arbeit eben gründlich erledigt. Danach hatte sie eine Woche Zimmerarrest gehabt.
»Erinnern Sie sich noch daran, wie Annabelle die Rhododendronbüsche abgepflückt hat?« fragte er.
William lächelte. »Und als ihre Mutter sie schließlich wieder aus dem Zimmer gelassen hat, hat sie beim Versuch, die Blätter zu trocknen, fast den Gartenschuppen niedergebrannt.«
Reg ging um den Tisch herum und setzte sich langsam. Er legte die Hände um die Wedgwoodtasse und starrte auf den dünnen Film, der sich über dem Tee bildete, ihn trübte, so wie die Zeit ihre Erinnerung trüben würde, und Annabelles klare Konturen unter dem Schleier liebenswerter Selbsttäuschung verschwimmen würden. Sie würde zu dem »lieben Mädchen« werden, das William in ihr sah, und die Illusionen des Vaters würden von der mehr als in nur einem Punkt fehlerhaften Person unbeeinträchtigt bleiben, die Annabelle verkörpert hatte.
Reg sah auf, begegnete Williams Blick. »Nichts war Annabelle wichtiger als die Firma, das weiß ich jetzt.« Reg hörte erstaunt die Kälte in seiner Stimme und fuhr trotzdem fort: »Wir müssen so weitermachen, wie sie es gewollt hätte. Soviel sind wir ihr schuldig.«
Janice Coppin nahm einen letzten Biß von ihrem Doughnut und wischte die Zuckerkristalle von ihrem Schreibtisch. Sie trank einen Schluck Kaffee, um die Süße hinunterzuspülen, ordnete die Papiere neu und runzelte die Stirn. Nur zähneknirschend war sie der Anweisung von Mister Scotland Yard gefolgt, der sie zu Reg Mortimers Wohnung geschickt hatte. Sie hatte Mortimer zwar für einen Blender gehalten und war kaum beglückt gewesen, Zusehen zu müssen, wie ihm angesichts der Hiobsbotschaft, bleich und grün im Gesicht, auch der letzte Rest von Charme abhandengekommen war.
Aber vielleicht tat sie dem Superintendent unrecht. Es gab schlimmere Pflichten, einschließlich der Aufgabe, die Kincaid am vergangenen Abend auf sich genommen hatte ... nämlich die Schwester der Toten zu informieren und sie zum Leichenschauhaus zu begleiten. Außerdem hatte er sie tatsächlich gefragt, ob sie der Obduktion an diesem Morgen beiwohnen wolle - und sie hatte es nicht über sich gebracht zuzugeben, daß ihr dazu der Mumm fehlte, und sie es nicht ertragen hätte, sich vor ihm zu blamieren.
Es war sogar entfernt möglich, nahm sie an, daß, als Kincaid ihr am Vorabend gesagt hatte, sie solle nach Hause gehen und nach ihrer Familie sehen, dies nicht als gönnerhafte Geste einer Frau gegenüber gemeint gewesen war. Sein weiblicher Sergeant hatte erwähnt, ebenfalls einen kleinen Jungen zu haben. Schon aus diesem Grund mußte er mit den Schwierigkeiten alleinerziehender Mütter vertraut sein.
Janice fragte sich, ob die beiden ein Verhältnis hatten. Sie spürte eine stumme Vertrautheit zwischen ihnen, die weit über die Erfordernisse des Jobs hinausging. Natürlich war ihr das gleichgültig ... wenn Sergeant Gemma dumm genug war, sich mit einem Vorgesetzten einzulassen, war das ihr Problem.
Falls sie Kincaid jedoch tatsächlich etwas Sensibilität Zutrauen durfte, sollte sie seinen Ratschlag vielleicht doch überdenken. So etwas wie einen unwichtigen Zeugen gäbe es in einem Mordfall nicht, hatte er gesagt.
Das war ihr Bezirk, ihre Gegend. Sie kannte Vergangenheit und Gegenwart der Leute, alles Dinge, von denen Außenseiter keine Ahnung hatten. Es wurde Zeit, daß sie dieses Wissen zu ihrem Vorteil nutzte. Sie wollte noch einmal mit dem alten George reden, auch wenn es sie die Entschuldigung für einen längst verjährten Fehltritt kostete.
Eins nach dem anderen, dachte sie. Sie stand auf, warf die Tüte, die den Doughnut enthalten hatte, in den Papierkorb und schnippte Krümel von ihrem Jackett. Reg Mortimers Beschreibung des Straßenmusikanten im Tunnel hatte sie augenblicklich an den abtrünnigen Sohn von Lewis Finch denken lassen, jenem lokalen Bauunternehmer, der sich mit dem Wiederaufbau der Docklands einen Namen und ein Vermögen gemacht hatte. Sie konnte sich nicht denken, welche Verbindung Gordon Finch zu der verstorbenen Annabelle Hammond gehabt haben sollte, hatte jedoch eine recht gute Vorstellung davon, wo sie ihn finden würde.
Die drei Apartmenthäuser am Ende der Ferry Street waren Ende der siebziger Jahre in der letzten Phase des hochfliegenden Wohnungsbauplans am Fluß entstanden, der aufgrund der Rezession auf dem Olmarkt gescheitert war. Nur kühn aufragende Dachsilhouetten waren hinter der Backsteinmauer und den gut eingewachsenen Privatgärten sichtbar, die zwischen den Häusern und der Straße lagen. Allerdings waren schon diese Details spektakulär genug, um in Kincaid den Wunsch zu wecken, die Häuser vom Fluß aus sehen zu können.
Janice Coppin hatte ihn in bezug auf die Gegend aufgeklärt ... als sie vergangenen Abend die Adresse gehört hatte, hatte sie die Nase gerümpft und erklärt, die Häuser sähen wie vom Einsturz bedrohte Kartenhäuser aus: Jetzt mußte Kincaid angesichts der treffenden Beschreibung unwillkürlich lächeln. Trotzdem gefiel ihm das Spielerische an dem geometrischen Konzept, und er wünschte, ein besseres wirtschaftliches Klima hätte die Fertigstellung des Projekts erlaubt.
Nach Janice’ Aussage war die wirtschaftliche Situation in den folgenden Jahren einem ständigen Auf und Ab unterworfen gewesen. Erst vor kurzem war ein altes Gebäude, das zwischen den Privatgärten und der Ferry Street stand, zu Apartments umgebaut worden, und genau dort hatte Annabelle Hammond gewohnt.
Die Tür zu Annabelles Apartment lag an einer Seitenstraße, einem kurzen gepflasterten Streifen, der direkt zum Fluß hinunterführte. Eine Bronzetafel im Betonsockel des Hauses informierte Kincaid darüber, daß es sich hier um das Johnsons Drawdock handelte und die Anlegestelle der alten Fähre nach Greenwich gewesen war. Er drehte sich um und sah über die Ferry Street hinweg. Dabei stachen ihm die grellroten und blau gemusterten Waggons der Docklands Light Railway auf der anderen Straßenseite ins Auge, die über das alte Millwall Viadukt und in die Haltestelle Island Gardens donnerten.
Das Absperrband von Scotland Yard flatterte quer vor dem in einer Mauernische liegenden Eingang. Dort stand Gemma und unterhielt sich mit einem uniformierten Polizeibeamten, der offenbar als Wache vor der Wohnung des Opfers abgestellt worden war. »Die Jungs waren einen Tick zu ungeduldig mit dem Schloß«, erklärte der Constable gerade, als Kincaid zu den beiden trat. »Ich soll hierbleiben, bis wir’s repariert haben.«
»Machen Sie eine Teepause«, sagte Gemma. »Vielleicht kriegen Sie auch irgendwo was zu essen«, fügte sie mit einem fragenden Blick auf Kincaid hinzu.
Kincaid nickte. »Schätze, wir brauchen hier ’ne Weile. Zeit genug für eine kleine Pause, wenn Sie wollen.«
»Klar doch, Sir. Heißen Dank.« Er winkte ihnen zu und ging über die Straße in Richtung Park.
Kincaid zog die Augenbrauen hoch, als er die Reste von Annabelle Hammonds Türschloß begutachtete. »Da scheint jemand mit dem Brecheisen hantiert zu haben.«
»Wie nachlässig von ihr, uns keinen Schlüssel hinterlassen zu haben«, bemerkte Gemma, als sie die Tür weit aufstieß. Kincaid folgte ihr.
Er musterte Gemma besorgt. Zu sarkastischen Bemerkungen neigte sie meist nur, wenn sie etwas bedrückte. Dann fiel die Tür hinter ihm zu, und plötzlich schienen sie sich in der Diele wie in einem geräuschlosen Vakuum zu befinden. Die Stille begann in Kincaids Ohren zu dröhnen. »Gute Schalldämpfung«, bemerkte er, knipste das Licht an und hob die Post auf, die auf dem Fußboden verstreut lag. Nachdem er die Briefe hastig durchgeblättert hatte, legte er sie auf einen Tisch an der Wand.
»Nichts Aufschlußreiches? Keine Briefe, die sie an sich selbst adressiert hatte?«
»Nichts dergleichen. Nur Rechnungen, wie mir scheint.« Er sah von Gemma zu den geschlossenen Türen entlang des T-förmigen Korridors. »Ene mene ming mang ...?«
Gemma überlegte und deutete dann auf die Tür am anderen Ende des kurzen Balkens des Ts. »Die da!«
»In Ordnung.« Der sandfarbene Berberteppich fühlte sich weich unter seinen Sohlen an, als er den Gang entlangging. »Keine Unkosten gescheut, was den Teppich betrifft«, murmelte er.
»Nirgends Unkosten gescheut, würde ich meinen«, sagte Gemma dicht hinter ihm. »Eine Wohnung in diesem Haus muß eine Stange Geld gekostet haben.«
Er öffnete die Tür und fand sich im Wohnzimmer wieder. Sie standen auf der Schwelle und staunten. Vor ihnen lag ein großer, schlicht eingerichteter Raum mit spärlicher Möblierung in neutralen Sand- und Weizentönen. An der gegenüberliegenden Seite führte eine hohe Glastür in einen Garten auf der Rückseite des Gebäudes hinaus, und es war das Grün, das die Glasfenster einfingen und das den zentralen Blickfang des Raumes bildete.
»Phantastisch«, murmelte Gemma und trat näher. »Wie idyllisch. Sie muß den Garten geliebt haben.«
Von einem kleinen, mit Platten ausgelegten, quadratischen Terrassenplatz führten einige Stufen in die Oase zwischen hohen Mauern. Ein weißer Holztisch und Stühle standen unter den Bäumen am hinteren Ende. Einige Töpfe mit Blüten-pflanzen waren die einzigen Farbtupfer, und auf der teppichartigen, sattgrünen Rasenfläche lag verlassen ein Croquetset, als sei jemand mitten im Spiel abberufen worden.
Dieser Garten, der nur auf seine Besitzerin zu warten schien, vermittelte Kincaid ein viel stärkeres Gefühl vom Verlust eines Lebens, als er das beim Anblick von Annabelle Hammonds Leiche im Leichenschauhaus empfunden hatte.
Er wandte sich ab und sah sich neugierig im Zimmer um. Die Spurensicherung war hier offenbar gefühlvoller vorgegangen und hatte, abgesehen von Resten des Puders zur Sicherung von Fingerabdrücken, kaum Spuren ihrer Arbeit hinterlassen. In der linken Wand befand sich ein offener Kamin mit Glaseinsatz, der von maßgefertigten Bücherregalen eingefaßt wurde. Die Lektüre anderer Menschen faszinierte Kincaid immer wieder aufs neue. Er ging sofort darauf zu, um sich die Titel genauer anzusehen.
In den Regalen standen zahlreiche Bestseller und eine Handvoll Romane, in deren Titel er die Lebensbeschreibungen erfolgreicher, vielen Widrigkeiten trotzender Frauen erkannte. Kein Buch stand für einen besonders abenteuerlustigen oder besinnlichen Geist, alle waren ordentlich zwischen Buchstützen aus Messing oder Alabaster aufgestellt, und die Buchrücken eher nach Größe und nicht nach Autor oder Inhalt sortiert. Es schien, als sei Annabelle Hammond in ihren Lesegewohnheiten ebenso ordentlich gewesen wie in ihrer Haushaltsführung und als habe sie ihre Leidenschaft auf andere Dinge als auf Bücher konzentriert.
»Irgendwas Interessantes?« wollte Gemma wissen, die neben ihn trat.
»Interessant ist nur das, was nicht da ist. Und alles kommt mir geradezu krankhaft ordentlich vor.«
»Ist mir auch schon aufgefallen.« Gemma deutete auf den Couchtisch, wo penibel gestapelt etliche teure Hochglanz-Ein-richtungsmagazine lagen. »Nichts deutet auf eine letzte Tätigkeit oder Beschäftigung hin ... nirgends liegen halb gelesene Bücher oder Magazine, aufgeschlagene Zeitungen, ein Korb mit Strickzeug oder andere Handarbeit herum.« Sie wandte sich wieder der Regalwand zu und berührte die CDs, die hinter der Stereoanlage gestapelt waren. »Sie mochte offenbar Musik ... Auf diesem Gebiet hatte sie einen etwas intellektuelleren Geschmack. Da ist Jazz, Klassik und Pop.«
Die Hände in den Hosentaschen, nahm Kincaid seine Wanderung durch das Zimmer wieder auf und blieb stehen, um in die kleine Küchennische an der Rückseite zu sehen. Dort herrschte die gleiche peinliche, sterile Ordnung vor wie im Wohnzimmer. Die Küche enthielt einige wenige, teure Geräte, die einen völlig unbenutzten Eindruck machten. Im Kühlschrank standen ein Karton Milch, Orangensaft, Butter, eine Flasche Wein, Oliven. Die Auswahl erinnerte Kincaid fatal an die eigenen Küchenvorräte.
»Sie muß immer auswärts gegessen oder bei einem Essensservice bestellt haben«, überlegte er laut. Gemma antwortete nicht, und als er ins Wohnzimmer zurückkam, sah er, daß sie noch immer vor dem Bücherregal stand und auf ein Foto starrte, das in einem Goldrahmen steckte.
Das Foto zeigte Annabelle allein. Sie stand in einem weizenfarbenen Kleid auf einer Wiese, lachte in die Kamera, und ihr Haar schimmerte wie geschmolzenes Rotgold in der Sonne.
»Weißt du«, begann Gemma bedächtig, »idyllisch oder friedlich ist eigentlich nichts in diesem Raum. Ich glaube, es ist alles darauf abgestimmt, nicht mit Annabelle in Konkurrenz zu treten.« Sie drehte sich zu ihm um. »Es ist eine Kulisse. Kannst du dir vorstellen, wie spektakulär sie hier vor diesem neutralen Hintergrund ausgesehen haben muß? Du hättest dich keinen Moment von ihrem Anblick losreißen können ... obwohl das schon unter normalen Umständen vermutlich nicht leicht gewesen sein muß.«
Man- konnte die wesentlichen Strukturen eines toten Gesichts erkennen, aber keine Spur eines Lächelns oder das Leuchten der Augen. Erst das Foto verlieh dem Gesicht Leben, das sie zwar als schön, jedoch ohne lebendige Persönlichkeit auf dem Obduktionstisch erkannt hatten. Kincaid nahm das Foto, um es genauer zu betrachten. »Sie war tatsächlich sehr schön. Und vermutlich hast du recht.«
»Frage mich, wer das Bild gemacht hat«, murmelte Gemma, als sie es ins Regal zurückstellte. »Tippe darauf, daß ihr die Person hinter der Kamera einiges bedeutet hat. Andernfalls muß sie es glänzend verstanden haben, sich zu verstellen.«
»Auf diesem Foto hat sie was Übermütiges, wenn nicht Verwegenes an sich ... etwas, das hier in ihrer Wohnung überhaupt nicht zum Ausdruck kommt.« Kincaid machte eine Geste, die den Raum einschloß. »Glaube nicht, daß sie hier zu Hause war ... emotional gesehen, meine ich.«
»Wo hat sich Annabelle Hammond dann verwirklicht?« überlegte Gemma. »Sehen wir uns den Rest der Wohnung an.«
Im Schlafzimmer hatte Annabelle in die übliche sandfarbene Kulisse noch sanftes Meeresblau integriert, doch es war ebenso penibel sauber und aufgeräumt wie das Wohnzimmer. Kein einziges Kleidungsstück war über einen Stuhl geworfen oder lag auf dem Boden, doch ein Blick in den Schrank entlockte Gemma einen leisen Pfiff durch die Zähne. »Jedenfalls ist mir jetzt klar, was sie mit einem Großteil ihres Geldes gemacht haben muß«, erklärte sie und rieb die Stoffe zwischen den Fingern.
Kincaid warf einen Blick in das angrenzende Badezimmer. Die Handtücher hingen über der Heizung, ein seidener Morgenmantel baumelte an einem Haken an der Tür. »Man hat fast das Gefühl, als habe sie ständig hinter sich aufgeräumt. Keine Spur von normalem Leben.«
Als nächstes öffneten sie die mittlere Tür im Flur. Dahinter lag ein kleines Büro mit einem eingebauten Schreibtisch, Aktenschränken und einem Arbeitsbereich. Auf dem Schreibtisch stand ein Drucker, daneben befand sich eine Telefonleitung und ein Modem. »Offenbar hat sie ihren Computer im Büro gelassen«, sagte Kincaid und öffnete auf der Suche nach irgend etwas Aufschlußreicherem sämtliche Schubladen.
»Schau dir das mal an.« Gemma stand vor dem Pinboard aus Kork an der Wand. »Sieht fast so aus, als habe Annabelle doch ein Privatleben gehabt.« Vorsichtig zog sie Zettel beiseite und tauschte Pins aus.
Darunter kamen Fotos zum Vorschein, auf denen Kincaid vorrangig Jo Lowell und deren Kinder erkannte. Auf einem Bild saß Annabelle in einem Garten, ein rothaariges Kleinkind auf dem Schoß. Ein älteres Paar stand neben ihr. Der Mann war groß und hatte silbergraues Haar, die Frau war eine verblichene Schönheit, die einst Annabelle ebenbürtig gewesen sein mochte. »Ihre Eltern?« vermutete Kincaid und berührte leicht das Foto. »Mit ihrem Neffen Harry?«
»Die Taufeinladung hängt auch hier«, sagte Gemma. »Aber da ist was Komisches. Sieh dir das doch an. Es gibt einige Bilder von der kleinen Sarah als Baby, dann nichts mehr. Sieht so aus, als sei Annabelle eine liebende Tante gewesen. Trotzdem existieren keine Fotos neueren Datums von den Kindern.«
Kincaid prüfte vorsichtig den Inhalt der Pinwand. Er entdeckte Glückwunschkarten und Speisekarten von Restaurants, Geschenkbänder, eine getrocknete Rose, die Postkarte mit einem Rossetti-Engel, der eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Annabelle aufwies, und das Programm von einer Musikveranstaltung in Island Gardens. Er sah flüchtig ein rothaariges Kind, doch bei näherer Prüfung zeigte das Foto Alterungserscheinungen. Das Rind war Annabelle selbst, da war er sicher, eine sonnengebräunte kleine Göre mit einer rotgoldenen Haarmähne und einem herzerweichenden Lächeln. Zu ihrer Rechten stand ein hagerer Junge mit dem unverkennbar treuherzigen Lächeln von Reg Mortimer; auf der Linken blickte Jo Lowell düster in die Kamera. »Die drei Musketiere, so scheint es«, bemerkte er leise. Aber Gemma hatte recht. In den letzten Jahren schienen die Nichte und der Neffe in Annabelles Leben keinen Platz mehr gehabt zu haben.
»Sieh dir das an.« Gemma reichte ihm ein seitenfüllendes Foto aus dem Tatler. Es zeigte Reg und Annabelle in spektakulärer Abendkleidung. Untergehakt lächelten beide in die Kamera. »Das Bilderbuchpaar der Society.«
Er sah Gemma an. »He, was ist, Liebling? Du bist doch wohl nicht neidisch, oder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie kommt mir nur so lebendig ... und vor allem ... sogar charmant vor. Wie hat es nur jemand fertiggebracht, diese Schönheit einfach auszulöschen?«
»Vielleicht wurde sie getötet, weil sie so schön war und nicht >obwohl<«, vermutete Kincaid. »Solche Schönheit kann gefährliche Eifersucht wecken.«
»Reg Mortimer scheint mir nicht der Typ für haltlose Eifersuchtsanfälle zu sein. Aber möglich ist alles.« Gemma trat an den Tisch und streckte die Hand nach dem Anrufbeantworter neben dem Telefon aus. »Mal sehen, ob Mortimer wirklich so oft angerufen hat, wie er behauptet hat.« Sie drückte auf den Play-Knopf, und nach einem Moment hörten sie Mortimers Stimme.
»Annabelle, ich bin’s, Reg. Ich bin im Ferry House.« Es folgte eine Pause, dann fügte er hinzu: »Komm doch ... bitte!« Ein Piepton beendete die Nachricht. Ihm folgte ein weiterer Piepton zu Beginn der nächsten Meldung: »Also gut. Ich habe Strafe verdient. Aber jetzt habe ich genug gelitten, findest du nicht? Ich entschuldige mich auf Knien.«
Danach kamen noch zwei weitere Anrufe ohne hinterlassene Nachrichten. »Wieder Mortimer?« überlegte Kincaid, doch bevor Gemma antworten konnte, begann die nächste Nachricht.
»Annabelle? Wo bist du? Ruf mich zu Hause an!« Es war eine Männerstimme, die tiefer und autoritärer klang als die von Mortimer. Es folgte der nächste Piepton und dieselbe Stimme sagte: »Annabelle, wo, zum Teufel, bist du? Hier spricht Lewis. Ruf mich zurück.«
Es folgten weitere Anrufe, ohne daß eine Nachricht auf Band gesprochen wurde, dann ertönte eine Frauenstimme: »Annabelle, es ist jetzt halb zehn. Ich weiß, du kannst es nicht vergessen haben ... wir warten auf dich.« Und wieder: »Annabelle, wo bist du? Wir sind mit dem Frühstück fertig. Wir können Sir Peter nicht länger hinhalten. Bitte ruf mich zu Hause an.«
In der letzten Anruferin erkannte Kincaid Jo Lowell, die entspannt und leicht vergnügt schien: »Annabelle, Reg sagt, du hast ihn verlassen und er hat sich deshalb in was reingesteigert. Erlöse ihn von seinen Qualen. Ruf mich an, sobald du zu Hause bist.« Kincaid sah Gemma an und zog die Augenbrauen hoch. »Das klingt, als hätten Annabelle und Reg Streit gehabt.«
»Ja, aber es bestätigt seine Behauptung, er habe im Restaurant auf sie gewartet.«
»Möglich«, erwiderte Kincaid skeptisch. »Könnte mit Sir Peter Reg Mortimers Vater gemeint sein, was meinst du? Und wer ist Lewis?«
Sein Handy klingelte. Während er es mit einer Hand aus der Tasche zog, strich er mit dem Rücken der anderen flüchtig über Gemmas Wange und fühlte plötzlich bei ihrem entrückten Anblick Verlangen in sich aufsteigen. Er berührte ihre Lippen mit den Fingerkuppen, hörte, wie sie schnell die Luft einzog. Die Wohnung war schließlich völlig leer ...
»Kincaid!« meldete er sich unwirsch am Telefon.
»Janice Coppin, hier, Sir. Ich glaube, ich habe unseren Straßenmusikanten gefunden.«
Janice fing sie ab, als sie vom Parkplatz in das Limehouse-Polizeirevier kamen. Als sie Gemma zunickte, blitzte in ihren Augen kaum merklich der Schalk. »Ich habe ihn ins Vernehmungszimmer gebracht, damit er Dampf ablassen kann. Ist nicht gerade begeistert, daß er uns bei unseren Ermittlungen helfen darf.«
»Haben Sie ihm was gesagt?« fragte Kincaid.
»Nein, ich habe mir nur bestätigen lassen, wo er vorgestern abend gewesen ist... Gern hat er’s allerdings nicht zugegeben. Habe ihm gesagt, daß wir ein Dutzend Zeugen haben, die beschwören können, daß er unten im Tunnel gewesen ist.«
»Haben Sie ihn dort gefunden? Unten im Tunnel?«
»Im Park. Island Gardens. Nach der Beschreibung wußte ich ungefähr, wer er ist. Außerdem hat er ein paar Stammplätze auf der Insel. Ist einer unserer Aktivisten in der Bürgerinitiative ... trägt seinen Teil dazu bei, die Yuppies in Schach zu halten.« Ihr langer Seitenblick auf Kincaid ließ vermuten, daß sie es in ihrer Selbstzufriedenheit sogar riskierte, ihn zu reizen. »Und, Ironie des Schicksals... er ist ausgerechnet Lewis Finchs Sohn.«
»Lewis Finch?« wiederholte Kincaid, und Gemma dachte an die Nachricht auf Annabelle Hammonds Anrufbeantworter. »Wer ist das, wenn ich fragen darf?«
»Unser legendärer Lewis, der Heilige von East End ... wenn man ein paar Leuten glauben darf. Ihm ist es angeblich zu verdanken, daß viele der alten Speicher und Fabriken renoviert und einer neuen Bestimmung zugeführt wurden.«
Gemma hörte die Skepsis in Janice’ Stimme. »Ist das keine gute Sache?«
Janice zuckte die Schultern. »Ich kann die Argumente seiner Gegner verstehen. Sobald die meisten dieser Immobilien renoviert worden sind, kann es sich von uns - ich meine von denen, die auf der Insel großgeworden sind - keiner mehr leisten, drin zu wohnen.« Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Vernehmungszimmer. »Nicht zu übersehen, von wem der Sohn sein Aussehen, wenn auch nicht seine Ansichten hat. Man munkelt, Lewis sei ein Frauenheld.«
Sollte Annabelle Hammond eine seiner Eroberungen gewesen sein? fragte sich Gemma und folgte den beiden anderen ins Vernehmungszimmer.
»Fangen Sie ruhig mit den Fragen an, Janice«, sagte Kincaid drinnen, und Gemma blieb auf der Schwelle wie angewurzelt stehen.
Der Mann stand ihnen zugewandt in der Mitte des Raumes, die Hände tief in den Taschen seiner Drillichhose im Militarylook vergraben. Aus der Tarnanzugjacke waren die Ärmel herausgetrennt, so daß seine muskulösen, sonnengebräunten Arme nackt waren. Seit Gemma ihn zum letzten Mal gesehen hatte, war sein blondes, kurzgeschorenes Haar nachgewachsen, und er trug jetzt einen goldenen Ring im linken Ohr.
»Sie haben kein Recht, mich einfach hier festzuhalten«, begann er, und sie erinnerte sich, wie sehr sie seine gebildete Stimme und Ausdrucksweise damals überrascht hatte. »Sie lassen mich jetzt entweder gehen, oder ich rufe meinen An...« Er sah sie und verstummte.
Seine Überraschung, überlegte Gemma, muß noch größer sein als meine, denn jetzt wurde ihr klar, daß sie bereits unbewußt diesen Mann mit Reg Mortimers Beschreibung in Verbindung gebracht hatte.
Einige Monate lang hatte er vor dem Sainsbury-Kaufhaus an der Liverpool Road Klarinette gespielt, bis er zu einem ständigen, wenn auch rätselhaften Teil ihres Lebens geworden war. Obwohl er selten etwas gesagt oder gelächelt hatte, hatte sie sich auf unerklärliche Weise zu ihm hingezogen gefühlt. Als sie es schließlich gewagt hatte, ihn anzusprechen, war seine Antwort so brüsk ausgefallen, daß sie sich wie eine Idiotin vorgekommen war. Und kurze Zeit später war er aus der Gegend verschwunden. Seither hatte sie ihn nicht mehr gesehen.
Janice Coppin setzte sich, schaltete das Tonbandgerät ein, sprach das Datum aufs Band und wandte sich an den Straßenmusikanten: »Ihr Name bitte. Ist fürs Protokoll.«
Ohne den Blick von Gemma zu wenden, sagte er: »Finch. Gordon Finch.«