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1797 liefen jährlich über 10000 Küstenfrachter und fast 3500 auf internationalen Schiffahrtslinien verkehrende Überseefrachter London an. Die Überseefrachter von den Westindischen Inseln leisteten ... im September ... einen besonders hohen Beitrag zum Verkehrsstau auf der Themse; 1793 hielten die Händler der Westindies eine Versammlung ab, um eine Lösung dieses Problems zu finden, was schließlich zum Bau des ersten Handelsdocks von London führen sollte.

 

  Theo Barker, aus: Docklands, ein illustrierter historischer Überblick

 

»Blöder Wichtigtuer«, murmelte Janice Coppin und drehte den Kopf in Richtung des Vernehmungszimmers, in das sie den Mann verfrachtet hatte, der eine Vermißtenanzeige erstatten wollte. »Man sollte ihm sein Handy ins Ohr implantieren.«

  Gemma wußte nur zu gut, was sie meinte. Diese Typen zelebrierten die ausgiebige Benutzung ihrer Handys in den Restaurants und Cafés. Unter Mißachtung jeglicher Manieren, stellten sie das Gerät als Statussymbol zur Schau. »Glauben Sie, es handelt sich um eine ernstzunehmende Sache?« fragte sie.

  »Für einen Witzbold halte ich ihn nicht«, antwortete Janice zögernd. »Und seine Verzweiflung scheint echt zu sein. Findet sich leider nur ein bißchen zu gut... für meinen Geschmack.« Mit einem düsteren Blick auf Kincaid, der' gerade durch die Tür am Ende des Korridors trat, fügte sie dicht an Gemmas Ohr hinzu: »Dürfte Ihnen bekannt Vorkommen.«

  Bevor Gemma noch etwas antworten konnte, war Kincaid bei ihnen. »Ich habe die Medien noch etwas hinhalten können. Wollen erst mal sehen, was der Bursche zu sagen hat. Haben Sie ihm gegenüber schon Andeutungen gemacht?«

  Janice schüttelte den Kopf. »Er weiß nur, daß jemand mit ihm reden wird. Außerdem habe ich einen der Kollegen mit einer Tasse Tee reingeschickt.«

  »Gut. Bauschen wir die Sache nicht allzusehr auf. Halten wir das Polizeiaufgebot gering. Wie wär’s, wenn Sie die persönlichen Daten des Mannes inzwischen überprüfen, Inspector? Wie war doch gleich sein Name?«

  »Reginald Mortimer.« Janice artikulierte jede Silbe besonders deutlich und rümpfte dabei die Nase.

  »Gut, jagen Sie eine Anfrage durch den Computer, Inspector. Gemma und ich unterhalten uns inzwischen mit ihm.«

  »Sir ...«

  Kincaid blieb, eine Hand auf der Türklinke, stehen. Janice zögerte, dann zuckte sie die Schultern. »Egal.« Als sie sich umdrehte, sah Gemma, wie sie auf die Uhr blickte.

  Es war die Tageszeit, da familiäre Arrangements neu getroffen werden mußten, wenn man nicht rechtzeitig nach Hause kommen konnte, und während Gemma Kincaid in das Vernehmungszimmer folgte, fragte sie sich, wann sie wohl Gelegenheit bekam, sich nach Toby zu erkundigen. Sie sagte sich wie so oft, daß ihre häufige Abwesenheit ihren Sohn nur stärker und unabhängiger machen würde, aber das Argument überzeugte nicht besonders.

  Das Vernehmungszimmer war geräumiger als die meisten. Trotz der Milchglasfenster zum Korridor, hing noch die abgestandene Luft der Hitze des Tages zwischen den Wänden. Es enthielt den üblichen Resopaltisch in unattraktivem Orangerot und ein halbes Dutzend Stühle unterschiedlichster Stilrichtungen von dubioser Herkunft.

  Der Mann, der am anderen Tischende saß, sah zu ihnen auf und machte Anstalten, aufzustehen, seine Miene ängstlich angespannt. Als Kincaid vortrat und sich vorstellte, betrachtete Gemma Reginald Mortimer eingehend. Janice hatte recht. Mortimer trug eine Khakihose mit scharfen Bügelfalten und das Polohemd mit dem entsprechenden Designerlogo des Yuppies. Über der Stuhllehne hing ein Jackett aus grobem Leinen. Das teuerste aller Mobiltelefone ragte aus der Brustinnentasche.

  Mortimer war groß und schlank, hatte schöne graublaue Augen und glänzendes, braunes Haar, das ihm leicht gewellt in die Stirn und über die rechte Augenbraue fiel. Sie fragte sich, ob Kincaid auffiel, wie ähnlich sich die Männer vom Typ her waren.

  Reg Mortimer schüttelte Kincaid lächelnd die Hand, und die Ähnlichkeit relativierte sich sofort. Seine Züge waren zu wenig ausgeprägt, und er sah wesentlich jünger aus. Er roch leicht nach Alkohol und Nervosität.

  »Sicher ist das alles ein Irrtum. Sie halten mich bestimmt für einen Idioten«, begann er. Seine Stimme klang in Gemmas Ohren unangenehm schrill, und zweifellos war es sein saftiger Upper-Class-Akzent, der Janice sofort gegen ihn eingenommen hatte.

  »Sergeant James«, stellte Gemma sich vor, drückte seine feuchte Hand und setzte sich auf den Stuhl neben Kincaid. Dann zückte sie Notizbuch und Bleistift. »Möchten Sie noch etwas Tee?«

  »Nein, alles bestens. Danke.« Reg Mortimer schüttelte den Kopf. Dabei zuckte sein Blick zum Tonband. »Ich wollte kein solches Aufheben machen. Habe mich da wohl ziemlich hineingesteigert. Und als dieser Sergeant an der Aufnahme dann so störrisch und uneinsichtig ...«

  Falls er Alkohol getrunken hatte, um seine Nerven zu beruhigen, schien er jedenfalls nicht betrunken zu sein. Er artikulierte klar und deutlich, und seine Augen fixierten sie ruhig und unverwandt.

  »Lassen Sie sich von den Aufnahmegeräten nicht aus der Ruhe bringen, Mr. Mortimer.« Kincaid machte eine Bewegung in Richtung Tonbandapparat, als er sich setzte. »Unser Gespräch hat nichts Offizielles... wir wollten uns nur ganz ungestört mit Ihnen unterhalten.« Er lächelte und zog den Stuhl näher zum Tisch, als wolle er damit eine entspannte Atmosphäre heraufbeschwören.

  »Ich bin noch nie auf einem Polizeirevier gewesen.« Mortimers Versuch, Sorglosigkeit zu demonstrieren, wirkte leicht verunglückt.

  »Polizeireviere stehen normalerweise nicht gerade ganz oben auf der Hitliste für angenehme Arbeitsbedingungen. Also, Mr. Mortimer«, fuhr Kincaid fort, und Gemma fühlte, wie die Spannung im Raum stieg, als er einen anderen Ton anschlug, »etwas muß Sie doch sehr besorgt gemacht haben, sonst wären Sie nicht hier. Erzählen Sie uns einfach, wie es dazu gekommen ist.«

  Reg Mortimers Blick schweifte von Gemma zu Kincaid. Dann begann er zögernd: »Meine Verlobte, Annabelle - Annabelle Hammond -, sie ist heute nacht nicht nach Hause gekommen.«

  »Sie und Miß Hammond haben eine gemeinsame Wohnung?« fragte Kincaid.

  »Nein, nein. Nein, haben wir nicht.« Reg Mortimers Antwort kam zögerlich. »Annabelle hat eine Wohnung gleich gegenüber der Island Gardens DLR Station. In der Ferry Street.«

  Kincaid legte den Fußknöchel übers Knie und glättete den Hosenaufschlag. »Sie wissen also nicht sicher, daß sie nicht zu Hause gewesen ist?«

  »Eigentlich ... nicht. Nicht hundertprozentig. Aber ich habe es ziemlich gründlich überprüft.«

  »Könnte Miß Hammond beschlossen haben, übers Wochenende wegzufahren ... ohne Ihnen Bescheid zu sagen?«

  Mortimer schüttelte den Kopf. Die Haarsträhne, die ihm über ein Auge fiel, bebte. »So war das nicht. Wir sind gestern abend zusammen gewesen. Wir waren bei einer Dinnerparty in Greenwich eingeladen. Bei Annabelles Schwester Jo. Aber Annabelle wollte plötzlich nach Hause ...«

  »Um wieviel Uhr ist das gewesen, Mr. Mortimer?«

  »So ungefähr um halb zehn. Aber ...«

  »Bißchen früh, um eine Dinnerparty zu verlassen, finden Sie nicht?« Kincaid zog skeptisch die Augenbrauen hoch.

  »Annabelle ... hat sich ... nicht gut gefühlt«, antwortete Mortimer und griff nach seinem Becher mit Tee. Der muß doch jetzt kalt sein und ziemlich eklig schmecken, dachte Gemma. Der Griff zur Tasse konnte demnach nur als Ablenkung gedacht sein.

  »Mr. Mortimer.« Sie wählte ihre Worte sorgfältig. »Könnte es nicht sein, daß Annabelle eine Ausrede erfunden hat, weil sie anderweitige Pläne hatte?«

  »Nein, da bin ich sicher.« Er fing ihren Blick auf. »Anschließend wollten wir noch auf einen Drink in ein Lokal gehen. Wir waren auf dem Rückweg durch den Fußgängertunnel als ... also, das war ziemlich seltsam ...« Er verstummte.

  Mit einem Blick auf Kincaid, führte Gemma das Gespräch fort: »Was war seltsam, Mr. Mortimer?«

  Mortimer runzelte die Stirn und rieb sich mit den Handflächen die Knie. »Die Aufzüge waren geschlossen, also haben wir die Treppe zum Tunnel runter genommen. Da war mit ihr noch alles in Ordnung. Erst als wir unten waren, ist sie ziemlich still geworden ... Sind Sie je im Tunnel gewesen?« Er sah Gemma an, die den Kopf schüttelte. »Ist schon ein bißchen Unheimlich«, fuhr er fort. »Kalt... und jedes Geräusch hallt vielfach von den Wänden wider. Aber bisher hatte Annabelle das nie was ausgemacht. Nicht offensichtlich, jedenfalls. Aber gestern wurden ihre Schritte immer langsamer, bis sie stehenblieb und mich bat, allein weiterzugehen, um im Ferry House auf mich zu warten, wo wir noch einkehren wollten.«

  »Sie haben sie dort unten also allein gelassen?« fragte Kincaid. »Am Anfang des Tunnels?«

  Mortimer wurde rot. »Hat noch nie Sinn gehabt, mit Annabelle zu diskutieren, wenn sie sich was in den Kopf gesetzt hat. Aber ich hab’s versucht. Sie hat behauptet, es gehe ihr bestens, sie wolle nur ein paar Minuten allein sein. Daraufhin bin ich weitergegangen. Das komische ist nur ... als ich schon halb auf der anderen Seite am Ausgang war ... habe ich mich umgesehen. Und ich könnte schwören, daß Annabelle dort hinten mit dem Straßenmusikanten geredet hat.«

  »Es war ein Straßenmusikant im Fußgängertunnel?« Gemma war überrascht. Wer sollte schon an einem so seltsamen Ort spielen? Allerdings traf man die Straßenmusiker jetzt auch immer häufiger sogar in den U-Bahnschächten.

  »Ja, da ist normalerweise immer einer. Auf dem kurzen, flachen Stück. Aber ich kann mich nicht erinnern, den Kerl dort schon mal gesehen zu haben.«

  Kincaid schlug die Beine übereinander und beugte sich leicht vor; für Gemma das Zeichen, daß Mortimer jetzt seine volle Aufmerksamkeit genoß. »Und? Sind Sie noch mal zurückgegangen?«

  Mortimer legte die Hände um seinen kalten Becher Tee wie um einen Rettungsring und schüttelte den Kopf. »Jetzt wünschte ich, ich hätt’s getan.«

  »Haben Sie sie danach noch einmal gesehen?«

  »Ich habe über eine Stunde im Pub und danach vor ihrer Wohnung gewartet.«

  »Sie haben keinen Schlüssel?« Kincaid klang erstaunt.

  »Nein. Annabelle hat ihre Intimsphäre von jeher eisern verteidigt«, erwiderte Mortimer gelassen. »Ich bin später zum Tunnel zurückgelaufen, aber dort waren weder Annabelle noch der Musikant zu sehen. Anschließend hab ich’s erneut bei ihrer Wohnung versucht und sie von meinem Handy aus angerufen. Vergeblich.«

  »Und dann?«

  »Bin ich nach Hause gegangen. Gleich am Morgen habe ich als erstes wieder anzurufen versucht, bin bei ihrer Wohnung und im Büro gewesen ... wir arbeiten zusammen ..., und das in regelmäßigen Abständen den ganzen Tag lang. Heute nachmittag habe ich mit ihrer Schwester telefoniert, aber die hatte auch nichts von ihr gehört.«

  »Zieht sich Miß Hammond häufiger auf diese Weise zurück?« wollte Kincaid wissen.

  »Ist mir jedenfalls bisher nicht aufgefallen«, erwiderte Mortimer humorlos. »Sie vermuten natürlich, sie hätte sich mit irgendeinem Kerl übers Wochenende vergnügt, und ich sei nur eifersüchtig, was?« Seine Stimme wurde schrill.

  »Keinesfalls«, wehrte Kincaid ab. »Das, was Sie uns erzählt haben, interessiert uns offengestanden sehr.«

  Reg Mortimers Augen wurden groß. Er schnappte kurz nach Luft, bevor er sagte: »Aus welchem Grund? Was ist passiert?«

  »Haben Sie noch ein bißchen Geduld mit uns, Mr. Mortimer«, erwiderte Gemma freundlich, um ihn nicht völlig zu verschrecken. »Wir wissen natürlich nicht, ob Ihrer Verlobten etwas zugestoßen ist. Trotzdem wäre es ganz gut, wenn Sie uns etwas mehr über Miß Hammond erzählen könnten.«

  Nach kurzem Zögern antwortete Mortimer: »Annabelle ist einunddreißig. Sie ist im Januar einunddreißig geworden. Sie ist Geschäftsführerin von Hammond’s Teas. Die Firma gehört ihrer Familie ... Annabelle hat sie von ihrem Vater vor fünf Jahren übernommen. Ich bin der Marketingchef. Der alte Speicher, der Firmensitz, liegt genau am Ende von Saunders Ness Road.«

  Gemma hatte keine Ahnung, wo das war, aber sie schrieb die Adresse in ihr Notizbuch. »Und wie sieht Annabelle aus?« Sie sah, wie sich die Sehnen von Mortimers Händen spannten, als er den Becher noch fester umfaßte. »Größe?« gab sie das Stichwort, um ihm nicht länger Zeit zu lassen, über die Bedeutung ihrer Frage nachzudenken.

  »Ungefähr so groß wie Sie. Und sie ist schlank. Hat rotes Haar.« Er sah Gemma prüfend an. »Aber nicht so wie bei Ihnen ... heller, fast golden. Und vor allem länger.«

  »Augenfarbe?«

  »Blau.«

  »Können Sie uns sagen, was sie gestern abend getragen hat?« Gemma hatte den Blick auf den Stift geheftet, den sie ruhig über dem Notizbuch hielt.

  Sie fühlte seine Augen auf sich ruhen, bevor er leise antwortete: »Ein schwarzes Jackett, lang, mit Silberknöpfen, und einen kurzen schwarzen Rock.«

  Gemma, die bewußt vermied, Kincaid anzusehen, trug alles sorgfältig in ihr Notizbuch ein. Angesichts dieser beinahe sicheren Identifizierung der Leiche, blieb das erwartete Triumphgefühl aus. Bis zu diesem Augenblick war die unbekannte Frau nur ein offenes Rätsel gewesen; jetzt war sie eine konkrete Person, jemand mit einem Namen, einem Job, einer Familie, einem Liebhaber geworden.

  Kincaid legte die Fingerspitzen auf die Tischkante. »Danke, Mr. Mortimer. Das war sehr hilfreich.«

  Gemma sah auf und fing zögernd Reg Mortimers Blick auf. Sie wollte seine Reaktion auf Kincaids folgende Worte genau beobachten.

  »Mr. Mortimer, ich muß Ihnen leider sagen, daß die Beschreibung, die Sie uns von Annabelle Hammond gegeben haben, auf eine junge Frau zutrifft, die heute morgen im Mudchute Park gefunden worden ist.«

  Mortimers Gesicht blieb unbewegt und ausdruckslos. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Tot?«

  »Tut mir leid ... ja.«

  Reg Mortimer starrte sie einen Moment an, dann wich alle Farbe aus seinem Gesicht. Plötzlich brach der Henkel des Teebechers ab, den er noch immer in den Händen hielt. Er sah auf das demolierte, billige Porzellan in seiner Hand, als wisse er nicht recht, was er damit anfangen solle.

  »Wenn Sie eine offizielle Aussage machen könnten ...«

  »Seit wann?« wollte Mortimer wissen.

  »Irgendwann vergangene Nacht. Tut mir leid, aber Genaueres können wir noch nicht sagen, ohne ...«

  »Wie?«

  »Mr. Mortimer, auch da sind wir nicht sicher. Bitte nennen Sie uns den Namen ihrer Schwester und ...«

  »Ich möchte sie sehen.«

  »Tut mir leid, aber die Identifizierung muß ein Familienangehöriger vornehmen«, warf Gemma leise ein. »Wenn Sie uns nur ...«

  »Sie wollen doch wohl nicht, daß Joe ...« Die Stimme versagte ihm.

  »Das ist Vorschrift. Mr. Mortimer, ich bin ...«

  »Das halte ich nicht aus... Ich möchte Gewißheit haben ...«

  Obwohl Gemma seine Bitte nur zu gut verstand, schüttelte sie den Kopf. »Tut mir aufrichtig leid«, wiederholte sie.

  Mortimer kam unsicher auf die Beine. »Dann möchte ich jetzt lieber nach Hause.«

  Kincaid schob seinen Stuhl zurück. »Ich lasse Sie nach Hause bringen. Aber falls dieser Straßenmusiker der letzte gewesen ist, der Annabelle lebend gesehen hat, müssen wir uns mit ihm unterhalten. Hatten Sie ihn schon mal gesehen? Können Sie ihn beschreiben?«

  Einen Moment glaubte Gemma, er habe nicht zugehört, aber dann wischte er sich mit zitternder Hand über den Mund und versuchte sichtlich, Haltung zu bewahren. »Der Straßenmusikant? Nein, der war mir völlig unbekannt. Ich habe ihn mir nicht mal genauer angesehen, als ich im Tunnel an ihm vorbeigegangen bin. Aber, als ich zurückgeschaut habe ...« Er runzelte die Stirn und schloß die Augen. Dann umfaßte er die Stuhllehne. Er schwankte. »Er war groß - ich erinnere mich, daß Annabelle zu ihm aufsehen mußte. Kurzes Haar ... blond, Militärklamotten.«

  »Welches Instrument hat er gespielt?«

  Reg Mortimer schlug die Augen auf. »Ich erinnere mich, daß es mir ziemlich ungewöhnlich vorkam: Klarinette.«

 

Kit stand in der Mitte von Kincaids Wohnzimmer und beobachtete die Millionen schimmernder Staubteilchen, die im gleißenden Schein der späten Nachmittagssonne tanzten, die durch die offene Balkontür fiel. Nachdem er seine Reisetasche neben dem Sofa plaziert hatte, hatte er sie geöffnet und eines seiner naturkundlichen Bücher herausgenommen, es sorgfältig auf den Couchtisch gelegt, um das Gefühl zu haben, ein bißchen zu Hause zu sein. Nur ein einziges Mal hatte er zuvor eine Nacht in dieser Wohnung verbracht... normalerweise besuchte Duncan ihn in Cambridge und machte mit ihm einen Ausflug, oder er übernachtete bei den Cavendishs im großen Haus, während Duncan bei Gemma wohnte ... Auf dieses Wochenende hatte er sich schon deshalb ganz besonders gefreut, weil er Duncan für sich allein haben sollte.

  Sid, Kincaids schwarzer Kater, lag zusammengerollt auf einem Sonnenfleck auf dem Teppich, die Augen vor Zufriedenheit zu Schlitzen verengt. Kit kniete nieder, fuhr mit den Fingern durch das seidige Fell des Katers und kraulte ihn hinter den Ohren. Die Katze schnurrte so, daß sich die Vibrationen durch seine Finger und den Arm hinauf fortsetzten, bis er den Eindruck hatte, als versetzten sie auch seinen Kopf in Schwingungen. Die Nähe des Katers machte Kit die Trennung von seiner Hündin Tess schmerzlich bewußt.

  Katzen waren in Ordnung. Er hatte nie eine Katze gehabt... wie im übrigen auch keinen Hund, bis ihm Tess zugelaufen war, aber nichts konnte die Einsamkeit besser lindern als ein Hund.

  An diesem Morgen, als Duncan ihm gesagt hatte, daß er arbeiten müsse, hatte er nahe am Wasser gebaut gehabt ... und allein der Gedanke daran, wie ihm die Tränen in die Augen geschossen waren und seine Stimme gezittert hatte, trieb ihm die Schamröte ins Gesicht. Allerdings war der Tag dann doch nicht so trosdos geworden, wie er angenommen hatte. Der Major war ihm überraschend sympathisch gewesen. Der alte Mann hatte kein Aufhebens um ihn gemacht... ihn weder getätschelt oder »armer Junge« zu ihm gesagt, noch ihn in der typisch mitleidigen Art der Erwachsenen angesehen. Der Major hatte das Unternehmen zum »Abenteuer« deklariert und war mit ihm mit der S-Bahn nach Wimbledon gefahren. Und Kit hatte sich redlich bemüht, seine Enttäuschung zu verbergen. Und obwohl sie ein grandioses Tennisspiel gesehen hatten, war es eben ohne Duncan nicht dasselbe gewesen. Es war so verdammt unfair!

  Seit der Major ihn allein gelassen hatte und in seine Wohnung hinuntergegangen war, hatte sich Kit die Zeit damit vertrieben, sich in der Wohnung umzusehen, hatte die Bücher, CDs und die Bilder an der Wand begutachtet. Er hatte die Fernbedienung des Fernsehers ausprobiert, durch die Sender gezappt, aber kein Sky-TV gefunden, und das Gerät voller Verachtung wieder abgeschaltet. Eine Weile hatte er auf dem Balkon gestanden und auf den blühenden Garten des Majors hinuntergesehen. Dann war er wieder in die Wohnung gegangen, als ihn eine seltsame Leere zu überwältigen drohte.

  Die Haut in seinem Gesicht spannte und brannte von der Sonne, und plötzlich merkte er, wie durstig er war. Er schlenderte in die Küche, öffnete den Kühlschrank und starrte auf den Inhalt. Eine Flasche Orangensaft, eine Literpackung Milch mit abgelaufenem Datum, eine Coca-Cola und zwei Büchsen Bier. Einen Moment war Kit versucht - er war immerhin fast zwölf und die Gelegenheit war günstig -, sich wie ein Erwachsener zu gebärden, aber da waren nur zwei Dosen Bier, und Duncan würde sicher merken, wenn eine fehlte. Mit einem Schulterzucken wählte er daher die Cola, öffnete sie und warf den Metallring in den Mülleimer. Dann sah er wahllos in Küchenschränke und -Schubladen, trank seine Cola und nahm sie für den Fall, daß er eine Zigarette entdecken sollte, vor, diese statt des Biers auszuprobieren. Dann fiel ihm ein, daß er Duncan nie rauchen gesehen hatte.

  Warum hatte Duncan ihn nicht wie versprochen angerufen? Wo war er überhaupt? Handelte es sich um einen Mordfall? Immerhin war das sein Job, auch wenn er nicht gern darüber sprach. Kit versuchte, sich eine von Kugeln durchsiebte Leiche vorzustellen, wie er sie aus seinen bevorzugten Videofilmen kannte, konnte sich jedoch nicht ganz des Bildes erwehren, an das er sich am wenigsten erinnern wollte: wie seine Mutter leblos auf dem Küchenboden ihres Cottages gelegen hatte.

  Er warf die leere Cola-Dose in den Müll und sah auf die Uhr: fast sieben. Er hatte die Einladung des Majors abgelehnt, mit ihm in seiner Parterrewohnung gebackene Bohnen auf Toast zu essen und Karten zu spielen. Aber man konnte ja seine Meinung ändern. Alles war besser, als hier allein zu bleiben.

 

Die Busse, die die Kinder zum Bahnhof befördern sollten, parkten vor der Cubitt Town School am Straßenrand. Eltern standen in Gruppen darum herum und versuchten, einen letzten Blick auf ihre Söhne und Töchter zu erhaschen, während die Kinder von den Lehrern in unordentlichen Reihen aufgestellt wurden. Viele der Mütter weinten, und der Anblick des tränennassen Gesichts seiner Mutter machte Lewisfast ebenso verlegen wie das Namensschild aus Papier, das er an seinen Pullover gesteckt trug. Er kam sich wie ein dämliches Postpaket vor. Und das schlimmste war, er fühlte sich wie ein Paket ohne Adresse, denn das Ziel der Reise hatte man ihnen verschwiegen. Viele Kinder trugen Wintermäntel, so daß der strenge Geruch von Schweiß und feuchter Wolle in der Luft hing, in den sich der Gestank von Erbrochenem mischte, da sich einige der kleineren Kinder vor Hitze und Aufregung übergeben mußten.

  Dann begann sich die Schlange vorwärts zu bewegen, als die ersten Kinder ihren Bus bestiegen, und ein Stöhnen ging durch die Reihen der Eltern. Die Mutter des kleinen Simon Goss brach in lautes Schluchzen aus, reckte die Arme und flehte, ihr ihr Baby nicht wegzunehmen. Als Lewis sich krank vor Angst abwandte, entdeckte er plötzlich am Rand der Menge seinen Vater. Ihre Blicke trafen sich, und er sah die Tränen in seinen Augen.

  Lewis schluckte schwer, hob die Hand und winkte; dann zerrte ihn die Schlange der Kinder mit und stieß und schob ihn die Treppen in den Bus hinauf. Er kletterte über andere Kinder hinweg, bis er einen Sitz am Fenster ergattert hatte, und von dort beobachtete er, wie der Rest der Kinder auf die Plätze verteilt wurde. Schließlich war es soweit. Er winkte seinen Eltern noch einmal zu, als der Bus anfuhr.

  Dann ging die Reise los, und er wurde plötzlich aufgeregt... trotz aller Ungewißheit, trotz der Tatsache, daß in seinem Koffer viele Dinge fehlten, die auf der Liste gefordert worden waren, trotz des erniedrigenden Namensschildes und der Gasmaske im Pappkarton vor seiner Brust. Als der Bus jedoch mit leichtem Schlingern in die Manchester Road einbog, drehte er sich so weit wie möglich auf seinem Sitz herum, um einen letzten Blick auf das Leben zu werfen, das er hinter sich ließ.

  Zuerst, als der Bus holpernd und schwankend die Commercial Road hinunter und über die Tower Bridge fuhr, nahm er an, daß der Bahnhof Waterloo ihr erstes Ziel sei. Zu Hause besaß er einen abgegriffenen und eifersüchtig gehüteten Stadtplan von London, und wenn er die Augen schloß, konnte er die Lage der großen Bahnhöfe so gut erkennen, als hielte er die Karte vor sich: Paddington, King’s Cross, Euston, Marylebone, Victoria, St. Pancras, Waterloo. Die Züge verließen jeden Bahnhof in eine andere Richtung. Wenn er also wußte, wo sie abfahren sollten, konnte er das ungefähre Endziel der Reise erraten.

  Doch während sie in südlicher Richtung und nach Lambeth weiterfuhren, war ihm klar, daß sie Waterloo hinter sich gelassen hatten. Kurz darauf überquerten sie an der Lambeth Bridge erneut die Themse. Victoria. Sie fuhren zur Victoria Station. Und von dort... ging es nur in Richtung Süden ...

  Es machte ihn schwindelig, zu der hohen gewölbten Decke hinaufzusehen, während er durch die Halle geschleust wurde, um sich den Schlangen merkwürdig stiller Kinder anzuschließen, die sich längs der Bahnsteige drängten. Dampf zischte und wirbelte um die Züge; die einzigen Geräusche waren die Schreie der Gepäckträger und Schaffner und das Echo der Pfiffe in den gewölbeartigen Hallen.

  Trotz aller Bemühungen der Lehrer um Ordnung, fand das Einsteigen in den Zug erneut nur unter Stoßen und Drängen statt, während die Kinder um Sitze am Fenster und bei Freunden kämpften. Lewis’ Waggon war mit mehreren Klassen vollgestopft. Trotzdem gelang es ihm, sich einen Fensterplatz zu sichern. Und da er Mitleid mit dem kleinen Simon Goss hatte, quetschte er diesen neben sich. Es gab noch eine Verzögerung, dann ertönte ein Aufschrei der Kinder, als der Schaffner die grüne Flagge schwenkte und sich der Zug in Bewegung setzte.

  Als sie in den Sonnenschein hinausratterten, wurden belegte Brote aus Papiertüten gezogen und Schokoladenriegel ausgepackt. Die ängstliche Stille, die über der Kindermenge gelegen hatte, machte fröhlichem Feriengeplapper Platz. Lewis aß abwesend sein Brot mit Bratenfett, das ihm seine Mutter mitgegeben hatte, das Gesicht gegen das Fenster gepreßt. Die Vororte schienen sich ewig hinzuziehen ... Clapham ... Wandsworth ... Balham ... Grüne Flecken begannen zwischen den Häuseransammlungen aufzutauchen. Dann breiteten sich diese Flecken so weit aus, bis die Ansammlungen der Häuser, die sich wie dunkle Flecken gegen das Grün der sanften Hügellandschaft abhoben, in der Minderzahl waren.

  Die Kinder wurden erneut still, nahmen die Fremdheit der Landschaft in sich auf, während die Temperaturen stiegen. Als der Zug unter lautem Getöse anhielt, ging ein erregtes Stöhnen durch den Waggon, und Übelkeit erfaßte Lewis. Sie warteten flüsternd, doch bald setzte sich der Zug erneut in Bewegung.

  Während die Hitze weiter zunahm und die Kinder immer ängstlicher wurden, kamen unvermeidlich die besonderen Köstlichkeiten wiederhoch, die viele gegessen hatten. Und zu allem Übel stellte man bald fest, daß der Zug keine Toilette hatte. Lewis versuchte, sich gegen den Gestank die Nase zuzuhalten, aber das machte seinen Durst noch schlimmer. Simon Goss war an Lewis’ Schulter eingeschlafen. Die jüngeren Kinder, die nicht schliefen, jammerten nach der Mutter - eine ständige Geräuschkulisse der Verzweiflung.

  Dann verlangsamte der Zug erneut die Fahrt. Lewis schlug die Augen auf, die er gegen die Sonne geschlossen hatte. Seine Liderfühlten sich klebrig an. Er fuhr sich mit der Zunge über die aufgesprungenen Lippen und starrte blinzelnd auf das Stationsschild, als der Zug quietschend und rumpelnd zum Stehen kam. Dorking. Wo immer das auch sein mochte. Er machte die Augen wieder zu, lehnte den Kopf gegen das Fenster, und fragte sich, ob er geschlafen und geträumt hatte, daß sie dazu verdammt waren, für immer in diesem Zug zu bleiben.

  Motorengeräusch weckte ihn erneut. Er sah blinzelnd hinaus. Ein grüner Bus hielt vor dem Bahnhof. Ihm folgten ein zweiter und dann noch einer. Männer schrien Kommandos, und die Busse wurden rangiert, bis sie neben dem Bahnsteig standen. Lewis’ Herz klopfte bis zum Hals, als die Kinder aufwachten und Bewegung in den Waggon kam.

  Das Umsteigen in die Busse verlief problemlos, da die meisten Kinder zu hungrig und erschöpft waren, um sich zu wehren. Lewis’ Klasse blieb zusammen, und als ihr Bus den Bahnhof verließ, hielten die Kinder ihr Gepäck umklammert und starrten auf die roten Backsteingebäude der Hauptstraße. Bald jedoch hatten sie die Stadt hinter sich gelassen, und die Straße tauchte in eine sanft modellierte Hügellandschaft unter der Nachmittagssonne ein.

  Lewis hatte sich im vorderen Teil des Busses wiedergefunden, und um die panische Angst zu unterdrücken, die ihn angesichts all dieser Weite erfaßte, sagte er zum Fahrer: »Wo sind wir hier, Mister?«

  Der Fahrer, ein hagerer Mann mit ledernem Gesicht und widerspenstigem Haar, sah sich nach ihm um und antwortete lächelnd: »In Surrey, Junge.«

  Das sagte Lewis gar nichts. Er versuchte es erneut. »Wie weit ist das? Wohin fahren wir, Mister?«

  Ein neuer flüchtiger Blick des Fahrers traf ihn im Rückspiegel, und er antwortete: »Ungefähr zehn Meilen. Nicht weit. Wirst schon sehen.«

  Lewis sank auf seinen Sitz zurück und fand, daß der Mann einen komischen Akzent hatte. Die Worte klangen gedehnt, die Silben unartikuliert. Das einzig Gute war, daß sie nicht allzu lange in diesem Bus ausharren mußten. Das kurvenreiche, ständige Auf und Ab der Straße verursachte ihm ein seltsames Gefühl in der Magengegend, und er kämpfte mit dem Fensterverschluß, bis es ihm schließlich gelang, mehr Luft zu bekommen.

  Er versuchte die Augen zu schließen, aber das machte alles nur noch schlimmer, und er sah auf die riesige Weite des Landes hinaus, die sich zu seiner Rechten erstreckte.

  Der Fahrer, der Lewis’ Blick im Rückspiegel gefolgt war, sagte: »Das sind die Nord Surrey Downs, Junge. Alte Erde ist das. Diesen Weg sind Menschen seit dem finstersten Mittelalter gegangen.«

  Lewis empfand den Gedanken nicht als tröstlich.

  Kurz darauf bogen sie nach links in eine Straße ab, die kaum breiter war als der Bus selbst. Diese führte leicht bergab, zwischen dichten Hecken hindurch, schlängelte und wand sich weiter, und bei jeder Biegung hielt Lewis in panischer Angst die Luft an und kniff die Augen zu. Er war sicher, daß der Bus entweder in die Hecke rasen oder mit einem entgegenkommenden Fahrzeug kollidieren würde, doch der Fahrer schien völlig sorglos, so daß sich Lewis schließlich etwas entspannte.

  Dann verschwanden die Hecken, und ein dreieckiges Stück Wiese tauchte vor ihnen auf. Einige wenige Häuser drängten sich an ihrem Rand, und etwas weiter oben am Hang auf der gegenüberliegenden Seite erhob sich ein Kirchturm. Der Bus fuhr an der Dorfwiese vorbei und in eine andere schmale Straße, die allerdings rechts und links von Häusern gesäumt war und schließlich vor einem langgestreckten, niedrigen Gebäude endete, auf dem in großen Lettern INSTITUT FÜR FRAUEN stand.

  Sie waren am Ziel.

 

»Kit müßte inzwischen wieder in der Wohnung sein.« Kincaid nahm das Handy aus der Halterung, während sie in den Blackwell-Tunnel einfuhren.

  Er hatte das Verdeck des Midget offen gelassen, und Gemma hielt sich mit einer Hand die Haarsträhnen aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Haarband gelöst hatten, und blätterte mit der anderen den Stadtplan um. »Mit Kit ist alles in Ordnung«, versicherte sie ihm, ohne aufzuschauen. »Der Major hat ein Auge auf ihn.« Sie folgte mit dem Finger einer Linie auf dem Stadtplan. »Ich glaube, ich habe die Straße gefunden. Sieht allerdings auf der Karte winzig aus. Verläuft direkt über der Altstadt von Greenwich.«

  »Gut. So weit komme ich.«

  Sie waren auf dem Weg zu Annabelle Hammonds Schwester. Reg Mortimer hatte ihnen die Adresse gegeben.

  »Bist du bei Mortimer fündig geworden?« fragte Gemma.

  Sie tauchten aus dem Tunnel auf und erneut in gleißende Sonne. Sie hatte einen Wagen organisiert, der Mortimer nach Hause bringen sollte, während Kincaid mit Janice Coppin gesprochen hatte.

  »Absolute Fehlanzeige. Jedenfalls, was unsere Akten betrifft. Nicht mal eine Verkehrsverwarnung, denn offenbar fährt unser Mr. Mortimer nicht Auto.« Er blinzelte ins Gegenlicht und bog in westlicher Richtung zur Trafalgar Road ab. Die tiefstehende Sonne blendete ihn. »Was hältst du von seiner Story?«

  »Löchrig wie ein Schweizer Käse«, antwortete Gemma. »Annabelle Hammond soll die Party ihrer Schwester verlassen haben, weil es ihr nicht gutging ... und dann läßt er sie im Tunnel einfach allein? Unwahrscheinlich.«

  »Und weshalb ist er nicht zurückgegangen, als er sie im Gespräch mit dem Musikanten gesehen hat? Es sei denn ... er hat den Musiker erfunden, um nicht derjenige zu sein, der sie als letzter lebend gesehen hat«, überlegte Kincaid laut.

  »In diesem Fall frage ich mich, weshalb er überhaupt auf sich aufmerksam gemacht hat. Ich meine, er wollte immerhin unbedingt eine Vermißtenanzeige aufgeben.«

  Kincaid zuckte die Achseln. »Wir wissen nicht sicher, daß sie tatsächlich unser Opfer ist. Eigentlich ziemlich voreilig von uns, davon auszugehen.« Er warf einen Seitenblick nach links, sah den Anfang von Greenwich Park, dessen gepflegte Rasenfläche den sanften Hang hinaufführte, auf dem das alte Königliche Observatorium stand. Er erinnerte sich noch, wie niederschmetternd er die Nachricht empfunden hatte, daß die mittlere Greenwich-Normalzeit jetzt in Deptford gemessen wurde. Etwas von der Romantik seiner Kindheit war in diesem Moment gestorben. »Wir müssen mal mit den Jungs hierherkommen«, sagte er und streckte die Hand aus. »Die Cutty Sark besichtigen, das Observatorium besuchen. Kit müßte das doch interessieren, was meinst du? Außerdem gibt’s einen Imbißpavillon.«

  »Für die nimmersatten Mäuler«, bemerkte Gemma mit einem Lächeln. »Du biegst am besten dort vorn nach links, fährst am Polizeirevier vorbei und biegst auf der Circus Street rechts und auf der Prior wieder links ab.«

  Er folgte ihren Anweisungen, und sie schlängelten sich auf diese Weise bergauf, bis sie in eine kleine, unasphaltierte Gasse mit dem reichlich übertriebenen Namen Emerald Crescent kamen. Die schmale, verwinkelte, von Hecken, Hintergärten und einigen alten Häusern gesäumte Straße hatte eher die Form eines Z als eines Halbmonds. Gleich hinter der letzten, spitzen Kurve des Z und zu ihrer Linken entdeckten sie die Adresse, die man ihnen von Jo Lowell, Annabelles Schwester, genannt hatte.

  Quadratisch und symmetrisch, aus grauem Backstein mit weißen Fenstern und Läden, wurde das Haus von der Straße nur durch einen Eisenzaun getrennt, der den Kellereingang flankierte. Durch das Fenster zur Linken der Eingangstür konnten sie eine Vase mit Sonnenblumen auf einem Tisch erkennen.

  Kincaid fuhr um die letzte Kurve zurück, bis er einen Parkplatz für den Wagen gefunden hatte. Er machte den Motor des Midget aus, stieg aus und horchte einen Moment auf die abendlichen Geräusche der Gasse. Ein Kind schrie, ein Hund bellte, und irgendwo klapperte Geschirr. »Ein friedlicher Abend«, murmelte er leise, als sie zum Haus gingen.

  »Bis jetzt.« Gemma drängte sich etwas dichter an ihn, ihre Schulter rieb gegen seine Schulter. »Kann man leider nichts machen.«

  Er sah auf sie herab und war ihr für die tröstlich gemeinten Worte dankbar. Sie wußte, wie sehr er diesen Teil seines Berufs haßte. Einen kurzen Moment, als sie die Tür erreichten, ruhte seine Handfläche auf ihrem Rücken. Dann drückte er auf den Klingelknopf.

  Die Klingel hallte laut durchs Haus, und als eine Stimme rief: »Komme schon!«, schwang auch schon die Tür auf. Die Frau, die ihnen gegenüberstand, sah ihnen mit der neutralen Miene entgegen, die sie für unerwartete Besucher reserviert hatte. Dann lächelte sie zögernd. »Was kann ich für Sie tun?«

  Kincaid erwiderte ihr Lächeln. »Sind Sie Josephine Lowell?«

  Sie runzelte die Stirn. »Ja, ich bin Jo. Aber falls Sie etwas verkaufen ...«

  »Wir sind von der Polizei, Mrs. Lowell.« Kincaid stellte sich vor und zückte seinen Dienstausweis. Jo Lowells Augen weiteten sich. »Was ...« Sie sah ins Haus zurück, wo streitende Kinderstimmen deutlich zu hören waren.

  »Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen, Mrs. Lowell. Dürfen wir reinkommen?«

  »Oh ... natürlich.« Sie trat einen Schritt zurück. »Macht es was aus, wenn wir uns in der Küche unterhalten? Ich koche gerade Abendessen ... schätze, da läuft mittlerweile einiges aus dem Ruder.«

  Sie folgten ihr durch ein gelbgestrichenes Eßzimmer mit dem Strauß Sonnenblumen, den sie durchs Fenster gesehen hatten, in eine geräumige, gemütliche Küche, deren Fenster zum rückwärtigen Garten führten. Ein kleines Mädchen stand auf einem Hocker vor dem Herd und rührte in einem Topf, und ein älterer Junge war offenbar bemüht, ihr den Kochlöffel zu entreißen. Es roch nach Zwiebeln, Knoblauch und Gewürzen, die sich in den vorherrschenden Duft gekochter Tomaten mengten. Spaghettisauce, riet Kincaid stumm.

  »Gib endlich her, Sarah! Du hast schon Sauce über den ganzen Herd gespritzt.« Der Junge griff erneut energisch nach dem Kochlöffel, doch das Mädchen riß ihn mit lautem Kreischen an sich.

  »Mami! Ich will rühren!« Tomatensauce tropfte vom Löffel auf den Fußboden und verteilte sich dort wie frisches Blut.

  »Okay, ihr beiden, das reicht.« Jo Lowell entwand ihrer Tochter den Kochlöffel und hob sie vom Hocker. Dann wischte sie den Boden mit einem Küchentuch auf.

  Der Junge wurde rot bis unter die Wurzeln seines roten Haars. »Wollte nur helfen. Für die Sauerei kann ich nichts. Du denkst immer ...«

  »Harry, bitte!« Jo Lowells resignierter Ton machte klar, daß dies eine alltägliche Szene war. »Gehst du bitte ein paar Minuten mit Sarah in den Garten?«

  Etwas am Ton der Mutter schien ihn aufmerksam gemacht zu haben, denn der Junge drehte sich um und sah sie zum ersten Mal an. »Aber ...«

  »Harry.« Jos Ton war streng.

  Mit einem letzten Blick auf die Besucher kapitulierte er. »Schon gut, schon gut.« Damit nahm er seine Schwester bei der Hand und führte sie zur Tür hinaus. »Komm jetzt, Sarah. Du darfst den Ball schlagen.«

  Die Tür klappte hinter ihnen zu, und Gemma lächelte. »Da bringt er aber ein großes Opfer ... ich meine, der kleinen Schwester den Ball zuzuwerfen ...«

  Jo schüttelte den Kopf. »Harrys Leben scheint im Augenblick voller Schwierigkeiten zu sein. Aber das interessiert Sie bestimmt nicht. Bitte, setzen Sie sich doch.« Sie deutete auf die Frühstücksnische links neben der Tür zum Garten. Dann drehte sie sich zum Herd um. Dampf stieg von einem großen Topf hinter der Stielpfanne auf. »Ich will nur das Spaghettiwasser vom Herd nehmen.« Dann wandte sie sich wieder um und lehnte sich gegen den Herd. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Kann ich Ihnen was anbieten?«

  »Nein danke«, wehrte Kincaid ab und musterte Jo Lowell prüfend, nachdem er Gemma einen Stuhl zurechtgerückt hatte. Ein Fleck Tomatensauce prangte auf ihrem T-Shirt, und ihre Jeans war farbverschmiert. Ihr kastanienbraunes Haar hatte sie mit einem Tuch zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie war ungeschminkt und hatte blasse Sommersprossen. Für seinen Geschmack war sie etwas zu schlank, und sie hatte Schatten unter den Augen, als habe sie nicht gut geschlafen. Jo Lowell war eine attraktive Frau, hatte jedoch keinerlei Ähnlichkeit mit der Toten vom Mudchute Park. Der einzige Anhaltspunkt war die Haarfarbe des Jungen namens Harry ... Er setzte sich so, daß er durch das große Fenster in den Garten hinaussehen konnte. »Wir möchten Ihnen nur ein paar Fragen stellen. Es geht um Ihre Schwester.«

  »Um meine Schwester?« Ihre Überraschung wirkte so echt, daß er sich automatisch fragte, was sie wohl erwartet hatte.

  »Ihr Verlobter, Reginald Mortimer, hat sie als vermißt gemeldet. Er soll Sie angerufen haben. Stimmt das?«

  Jo machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ja, hat er. Aber ich nehme an, Annabelle ist noch wütend auf ihn und hat sich daher vorübergehend rar gemacht.«

  »Dann ist das also schon öfter vorgekommen?«

  »Nein, nein. Aber gestern abend ...«

  Bevor Jos Zögern zu echter Vorsicht werden konnte, fiel Gemma ihr ins Wort: »Was war gestern abend?«

  »Sie sind hier gewesen ... Reg muß Ihnen das doch erzählt haben ..., und ich glaube, sie hatten Streit. Ist Annabelles Methode, wenn sie wütend ist... dann hält sie einen auf Distanz.«

  »Haben die beiden deshalb die Party verlassen? Weil sie Streit hatten?«

  »Warum interessiert Sie das?« fragte Jo Lowell. »Ich finde, Sie sollten mir lieber sagen, was los ...«

  »Haben Sie eine Ahnung, worum es bei dem Streit gegangen ist?« Kincaid war nicht bereit, sich ablenken zu lassen.

  »Nein, tut mir leid. Habe ich nicht.« Jo veränderte ihre Position vor dem Herd und verschränkte die Hände ineinander.

  »Hier bei Ihnen hat doch ein Abendessen für mehrere Personen stattgefunden, oder?« drängte Gemma. »Sollte was Bestimmtes gefeiert werden?«

  Durch die Tür hörten sie Harrys ständiges Maulen und Sarahs hohe durchdringende Stimme, die gelegentlich antwortete. Jo sah aus dem Fenster über dem Spülbecken. »Nein. Aber mein Mann und ich haben uns scheiden lassen, und es war mein erster Versuch als alleinstehende Gastgeberin ...«

  »Muß Ihren gesellschaftlichen Bemühungen einen ziemlichen Dämpfer gegeben haben, als Ihre Schwester und ihr Verlobter einen Streit vom Zaun gebrochen haben«, bemerkte Gemma mitfühlend.

  »Ein bißchen peinlich war es schon«, gab Jo stirnrunzelnd zu.

  »Soviel ich verstanden habe, arbeiten die beiden zusammen. Muß im Beruf noch viel peinlicher sein, wenn sie sich nicht verstehen.«

  Jo zuckte die Achseln. »Ich finde, sie kommen besser miteinander aus als die meisten ... Hatten auch genug Zeit, ihre Differenzen auszufechten.«

  »Dann kennen sich die beiden schon lange?« fragte Kincaid.

  »Seit ihrer Kindheit. Unsere Eltern waren befreundet. Und eigentlich war es Vater, der Annabelle ermuntert hat, sich für Reg zu entscheiden.«

  »Sie meinen beruflich? Nicht privat?«

  »Vater hatte von jeher ehrgeizige, dynastische Pläne mit Annabelle, und Reg paßt in jeder Hinsicht prächtig ins Bild. Eine Verbindung der Hammonds mit den Mortimers würde ihn sogar fast dafür entschädigen, keinen Sohn in der Firma zu haben.«

  »Was ist denn so Besonderes an den Mortimers?« erkundigte sich Gemma.

  »Sir Peter ... Regs Vater ... ist ein ziemlich großes Tier im Gastronomiegewerbe. Ich mag ihn eigentlich sehr. Was den Schwiegervater betrifft, hat Annabelle es gut getroffen.« Und nachdenklich fügte sie hinzu: »Was soll das alles? Sie nehmen diese Vermißtenanzeige doch wohl nicht ernst, oder?«

  »Mrs. Lowell, haben Sie Ihre Schwester gesehen oder von ihr gehört, seit sie vergangenen Abend Ihr Haus verlassen hat?« Kincaid wußte, daß er in die üblichen Polizeiplatitüden verfiel, aber ähnlich der Floskeln anläßlich von Geburten und Todesfällen hatten sie durchaus ihre Berechtigung.

  Jo starrte ihn an. »Nein, aber daran ist nichts Ungewöhnliches. Manchmal sprechen wir uns wochenlang nicht. Was ...«

  »Mrs. Lowell, ich glaube, Sie sollten sich setzen.«

  Jo kam langsam und unwillig zum Tisch und ließ sich auf einem Stuhl nieder, ohne den Blick von ihnen zu wenden. Ihre Miene wurde ängstlich. »Was ist passiert? Ist mit Annabelle alles in Ordnung?«

  Kincaid sah zum Fenster hinaus und auf die Szene, die die beiden Kinder auf dem Rasen boten. Sarah Lowell stand mit dem Rücken zum Haus, den Baseballschläger erhoben, und als der Bruder ihr den Ball zuwarf, schimmerte die Sonne in seinem Haar.

  Falls sie sich geirrt hatten, mußte Jo Lowell die Fahrt zum Leichenschauhaus umsonst auf sich nehmen. Wenn sie recht hatten, wünschte er, er könne ihr gerade diesen Moment bewahren, ungetrübt von Trauer, erfüllt vom Kinderlachen in der Abendluft.

 

Kincaid hatte Gemma nach der Rückkehr vom Leichenschauhaus nach Hause geschickt. An diesem Abend kamen sie in ihrem Mordfall sowieso nicht mehr weiter. Kincaid wollte lediglich den anstehenden Papierkram im Limehouse-Polizeirevier erledigen. Darauf hatte er bestanden. In Wirklichkeit jedoch brauchte er etwas Zeit für sich allein, um die Eindrücke des Tages zu verarbeiten.

  Jo Lowells ruhige Identifizierung der Leiche ihrer Schwester hatte ihm mehr zu schaffen gemacht als Tränen. Seine Beileidsbekundung hatte selbst in seinen Ohren steif und plump geklungen. Anschließend hatte er sie nach Hause gefahren, ohne den Versuch zu machen, sie weiter zur Sache zu befragen.

  Jetzt, da das Opfer einen Namen hatte, würde man bei den Ermitdungen dazu übergehen, die Beweise zu sichten und jeder Verbindung zu Annabelle Hammond nachzugehen. Der Constable, den man zum Greenwich-Fußgängertunnel geschickt hatte, hatte keine Spur von einem Straßenmusikanten entdecken können, auf den Reg Mortimers Beschreibung gepaßt hätte. Aber Kincaid hatte von Anfang an seine Zweifel bezüglich des Wahrheitsgehalts der Geschichte gehabt. Sie kam einfach viel zu gelegen für Reg Mortimer, und Kincaid hatte den Verdacht, daß der Verlobte des Opfers über einigen Erfindungsreichtum verfügte.

  Nachdem er die Papiere auf seinem provisorischen Schreibtisch im Limehouse-Revier aufgearbeitet hatte, verabschiedete er sich von den diensthabenden Beamten im Bereitschaftsraum und verließ das Gebäude durch einen Seiteneingang. Als er den Midget vom Parkplatz fuhr, hörte er Musik und Lachen aus der Kneipe gegenüber. Die Vorstellung, daß Kit jetzt allein in seiner Wohnung wartete, erstickte die Versuchung, auf ein Glas Bier einzukehren, bereits im Keim. Während er sich vornahm, den Midget gleich am folgenden Morgen gegen einen Rover-Funkwagen aus dem Fuhrpark von Scotland Yard einzutauschen, genoß er an diesem Abend noch einmal das Gefühl, mit offenem Verdeck durch die milde Abendluft zu fahren.

  Er liebte London bei Nacht, wenn die Straßen leer waren und sich die Unmenge der Lichter zu einem Kaleidoskop verdichtete. Als er auf die West India Dock Road hinausfuhr, sah er zu seiner Linken das blinkende Warnlicht auf dem Canada Tower der Canary Wharf. Er fragte sich, ob Annabelle Hammond es wohl vergangene Nacht gesehen haben mochte, als sie aus dem Greenwich-Tunnel gekommen war, und ob sie allein gewesen war ...

  Natürlich war die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß Annabelle von einem Fremden - vielleicht nach mißlungener Vergewaltigung - ermordet worden war. Vielleicht hatte sie sich nur zur falschen Zeit am falschen Ort aufgehalten. Sein Gefühl allerdings sagte ihm, daß mehr dahintersteckte. Er vermutete, daß Annabelle Hammond eine Frau gewesen war, die in ihrer Umgebung starke emotionale Reaktionen hervorgerufen hatte, und daß es diese Veranlagung gewesen war, die sie das Leben gekostet hatte.

  Die Fahrt von Limehouse nach Hampstead dauerte nur halb so lang wie bei Tag, und als er die Carlingford Road erreichte, fand er einen Parkplatz in der Nähe seiner Wohnung, was zu dieser späten Stunde ein unverhoffter Glücksfall war. Die Fenster der Parterrewohnung des Majors waren bereits dunkel. Er betrat das Gebäude und ging die Stufen zu seinem Apartment hinauf.

  Leise steckte er den Schlüssel ins Schloß und öffnete die Tür. Sein Wohnzimmer lag im Halbdunkel, nur von der kleinen Lampe in der Küchennische und dem Flackern des Fernsehbildschirms ohne Ton erhellt. Kit lag in Jeans und T-Shirt auf dem Sofa, hatte einen Arm ausgestreckt und schlief fest. Sid hatte sich vor seiner Brust zusammengerollt. Der Kater machte die grünen Augen auf und sah Kincaid blinzelnd an. Der Junge rührte sich nicht.

  Während Kincaid so dastand und ihn beobachtete, stellte sich dasselbe alte Gefühl ein wie damals beim Anblick des schlafenden Kit, als er den Jungen in seinem Versteck im Landhaus in Grantchester nach dem Tod der Mutter gefunden hatte.

  Er wandte sich ab und entdeckte in der Küchennische einen abgedeckten Teller mit Sandwiches, ein Glas Milch und eine Nachricht in Kits kleiner, sauberer Handschrift:

  Lieber Duncan,

wir haben dir ein paar Brote vom Picknick aufgehoben. Den Kuchen allerdings haben wir (oder eigentlich ich) aufgegessen. Der Major will morgen mit mir nach Kew Gardens ... wenn du arbeiten mußt.

  P.S. Habe Sidgefüttert. Er liebt Schinkenbröte.

  P.S. Tennis war toll! Nur schade, daß du nicht dabei warst.

  Die Nachricht war mit einem großen geschwungenen K signiert, das Kit reich verziert hatte.

  Kincaid fand eine leichte Decke im Wäscheschrank und legte sie über Kit, nicht jedoch über die Katze. Dann stellte er Sandwiches und Milch in den Kühlschrank, schenkte sich einen Finger hoch fünfundzwanzig Jahre gereiften Macallan Whisky ein und trug Zettel und Drink quer durchs Wohnzimmer zum Sessel. Dort saß er lange und bewegungslos, hob nur gelegentlich sein Glas an die Lippen und bewachte Kits gleichmäßige Atemzüge.

 

Nachdem sie die Kinder ins Bett gebracht hatte, lief Jo zum Nachbarhaus und schloß mit ihrem Schlüssel die Haustür ihres Vaters auf. Er hatte Sir Peter und Helena ins Savoy zum Essen eingeladen, sollte jedoch in Kürze nach Hause zurückkehren, und sie hatte beschlossen, ihm die Nachricht noch an diesem Abend zu überbringen.

  Es den Kindern zu sagen, hatte sie nicht über sich gebracht; noch nicht ... obwohl ihr klar war, daß sie das nur bis zum kommenden Morgen würde aufschieben können. Die beiden waren ohne Widerrede ins Bett gegangen, ein Zeichen, daß sie spürten, daß etwas nicht stimmte, aber sie hatten keine Fragen gestellt. Auch ihre unerklärte Abwesenheit hatten sie nicht hinterfragt, als sie mit den Polizeibeamten zum Leichenschauhaus gefahren war. Nur Harry hatte gemeckert, als sie für ein paar Stunden zu den Nachbarn geschickt wurden.

  Jetzt stand sie in der Diele und horchte auf die Geräusche des leeren Hauses. Die alte Standuhr tickte; die Fußbodenbohlen knarrten; aus der Küche drang das tiefe Brummen des Kühlschranks, begleitet vom Tropfen des Wasserhahns. Sie war in diesem Haus aufgewachsen, und für sie war es eine lebendige, atmende Einheit, so vertraut wie der eigene Körper. Es hatte einen eigenen, einzigartigen Geruch, und sie schloß die Augen, als sie die einzelnen Komponenten zu definieren versuchte. Hing da nicht auch noch vier Jahre nach dem Tod der Mutter ein Hauch von Teerosenduft in der Luft? Es war das Lieblingsparfüm der Mutter, und das Haus war von Frühjahr bis zum ersten Frost mit Gartenrosen gefüllt gewesen. Blieben Düfte wie Gespenster latent vorhanden, unsichtbar und doch präsent für diejenigen, die fähig waren, sie wahrzunehmen?

  Sie sah zum Portrait der Mutter im Treppenaufgang hinauf. Spitzenschal und Hut, die Isabel Hammond auf dem Bild trug, verbargen zum großen Teil ihr rotgoldenes Haar, doch die Augen, die auf sie herabblickten, waren Annabelles Augen.

  Das einzig Gute, das Jo im Tod der Schwester erkennen konnte, war, daß ihre Mutter ihn nicht hatte erleben müssen. Obwohl die Mutter Annabelle objektiver gesehen hatte als die meisten, hatte sie sie nichtsdestotrotz sehr geliebt. So wie Jo die eigenen Kinder liebte - trotz ihrer Fehler -, und ihr wurde klar, daß sie sich mit ihrem Tod, in welchem Alter auch immer, nie würde abfinden können.

  Als sie das Wohnzimmer betrat, schlug ihr der Geruch des Vaters entgegen, das herbe Aromaseiner Rasierseife, überlagert von dem scharfen Geruch von Leim und dem leicht würzigen Duft von Balsaholz. Er war schon immer sehr geschickt mit seinen Händen gewesen, und als zuerst die Krankheit der Mutter, dann die eigene, ihn gezwungen hatte, das Tagesgeschäft in der Firma Annabelle zu überlassen, hatte er angefangen, Modelle von alten Teefrachtseglern zu bauen. Seit seiner Kindheit hatte ihn die komplizierte Präzision der Konstruktion von Schiffen fasziniert, die als erste Tee nach Großbritannien gebracht hatten.

  Der Eßtisch diente ihm als Werkbank, und er hatte das Speisezimmer nicht nur zweckentfremdet, sondern auch selbstgebaute, beleuchtete Vitrinen für seine Modelle aufgestellt.

  Jo hob ein halbfertiges Modell hoch, strich mit den Fingern über die geschwungene Linie des Rumpfs und suchte nach kleinen Fehlern. Waren diese Holzmodelle Ersatz genug für den Verlust einer Tochter, die ihm alles bedeutet hatte?

  Er lebte noch immer von seinen Firmenanteilen ... wie auch, bis zu einem gewissen Grad, sie selbst. Jedenfalls hielt das Einkommen aus der Firma auch ihr kleines Unternehmen in Schwung, erlaubte es ihr, zu Hause zu arbeiten und gleichzeitig für die Kinder dazusein. Würde Hammond’s ihnen weiterhin diese finanzielle Sicherheit bieten können ... ohne Annabelle?

  Jo schüttelte den Kopf und ging zum Getränkeschrank. Es hatte keinen Sinn, so weit vorauszudenken. Erst war dieser Abend zu überstehen; morgen würde sie an den nächsten Schritt denken. Eines nach dem anderen zu nehmen, das hatte sie nach dem Tod der Mutter gelernt. Sie schenkte sich den geliebten Courvoisier des Vaters in einen Kognakschwenker, ging damit ins Wohnzimmer und sank in den Sessel am Kamin. Die Fenster standen weit offen, und die Vorhänge bauschten sich von Zeit zu Zeit im Abendwind.

  Grüner Samt. Die Wahl der Mutter. Wenn Jo neben ihnen stand, glaubte sie den Pfeifentabak zu riechen, den ihr Vater geraucht hatte, als sie Kinder gewesen waren. Annabelle war diejenige gewesen, die nicht geruht hatte, bis er das Rauchen aufgegeben hatte. Sie hatte behauptet, ihr würde davon schlecht, sie könne es nicht ertragen, mit ihm in einem Zimmer zu sein, wenn er rauche; den Gnadenstoß hatte sie ihm gegeben, indem sie sich wochenlang geweigert hatte, ihm einen Gutenachtkuß zu geben. Als Machtprobe war dieser Trick brillant und das erste Anzeichen dessen gewesen, was sie noch von Annabelle zu erwarten hatten.

  Jos Hand zuckte beim Geräusch eines näher kommenden Wagens, und Kognak schwappte über den Glasrand. Sie hielt die Luft an. Wie sollte sie es nur anstellen? Was hatte sie mit ihren vierunddreißig Jahren darauf vorbereitet, ihrem Vater diese schreckliche Nachricht überbringen zu müssen? Einen kurzen Augenblick lang hoffte sie, daß Reg Mortimer seine Eltern bereits angerufen und Peter und Helena es ihm gesagt haben könnten; dann schimpfte sie sich einen Feigling. Kies knirschte, als der Wagen in die Einfahrt einbog. Sie hörte, wie die Schaltung knackte, als das Auto bergauf fuhr.

  Vorsichtig stellte sie das Glas auf den Beistelltisch und stand auf. Ihre Glieder fühlten sich komisch an, unkoordiniert wie die eines Kleinkindes, und sobald sie sich aus dem Sessel gestemmt hatte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Die Autotür schlug zu, und kurz darauf hörte sie den Schlüssel des Vaters in der Tür, die sie unverschlossen gelassen hatte.

  Die Tür schwang auf. »Jo?«

  Sie fand ihre Stimme wieder. »Ich bin hier, Dad.«

  »Gut. Ich hätte schwören können, daß ich die Tür abgeschlossen habe. Hasse die Vorstellung, langsam zum alten vergeßlichen Trottel zu werden.« Er trat ins Wohnzimmer und hielt ihr die Wange zum Kuß hin. Er trug einen leichten grauen Sommeranzug, der sein silbergraues Haar betonte. William Hammond war Ende Sechzig und noch immer ein gutaussehender Mann. Seit Isabels Tod hatte er sich heftig gegen Übergriffe des »Witwenclubs«, wie Annabelle die Damenfront nannte, erwehren müssen.

  Genannt hatte, erinnerte Jo sich. Sie schluckte. »Dad ...«

  »Peter und Helen lassen grüßen. Wie ich sehe, hast du dir schon was zu trinken eingeschenkt. Schätze, ich leiste dir mit einem Gutenachttrunk Gesellschaft. Wollte nicht zuviel trinken und dann Auto fahren. Du weißt, wie scharf die Polizei heutzutage ...«

  »Dad.« Jo berührte seinen Arm. Ihre Hand zitterte. »Ich möchte, daß du dich setzt.«

  William betrachtete prüfend ihr Gesicht. »Ist mit dir alles in Ordnung, Jo?«

  »Dad, bitte.« Sie sah, wie sich sein leicht besorgter Ausdruck in Angst verwandelte.

  »Was gibt’s, Jo? Ist was mit den Kindern?«

  »Denen geht’s gut. Es ist...«

  »Ist es wegen Martin?«

  »Dad, bitte.« Sie preßte die Hand gegen seine Brust und zwang ihn, einen Schritt zurückzutreten. Als seine Waden gegen die Sofakante stießen, mußte er sich unfreiwillig setzen. Jo ging vor ihm in die Knie. »Dad, es ist wegen Annabelle. Sie ist tot.«

  »Was?« Er starrte sie verständnislos an.

  »Annabelle ist tot.« Annabelle ist tot. Der Satz hallte in Jo wider wie ein Kinderreim.

  William zog die Augenbrauen hoch. »Rede keinen Blödsinn, Jo. Was ist denn nur los mit dir?«

  Jo ergriff die Hände des Vaters. Die Haut auf den Knöcheln fühlte sich wie Seide unter ihren Fingern an. »Die Polizei ist bei mir gewesen. Reg hatte sie als vermißt gemeldet, weil sie gestern nacht nicht nach Hause gekommen ist.«

  »Die beiden hatten bestimmt nur einen harmlosen Streit...«

  »Das habe ich auch gedacht, als er mich heute nachmittag anrief. Aber die Polizei hat sie gefunden. Tot. Ich weiß es. Ich habe sie gesehen.«

  »Nein ...« Williams Gesichtsmuskeln erschlafften schlagartig wie Modelliermasse, die zu nah an eine Flamme gekommen war. Er schüttelte heftig den Kopf. »Das muß ein Irrtum sein, Jo. Annabelle kann nicht tot sein. Nicht Annabelle ...«

  Nicht Annabelle. Niemals deine kostbare Annabelle.

  »Daddy, es tut mir so leid.« Als sie die Hände des Vaters drückte, fühlte sie, wie die Ungeheuerlichkeit des Geschehens sie plötzlich zu überwältigen drohte. Annabelle war immer dagewesen, um geliebt oder gehaßt zu werden. Wie sollte sie nur ohne sie auskommen?