* 8

 

Die Bevölkerungsdichte des »Island« erreichte um die Jahrhundertwende mit 21000 Personen ihren Höchststand ... Die grünen Felder hatten Docks, Lagerhäusern, Fabriken, Wohnhäusern und Straßen Platz gemacht. In den vorwiegend der Arbeiterklasse vorbehaltenen Siedlungenfanden junge Leute einen Arbeitsplatz, heirateten und schufen sich so unweit ihrer Eltern ein Zuhause.

 

  Eve Hostettler, aus: Erinnerungen an eine Kindheit

  

Mitte der achtziger Jahre hatte Lewis Finch dem Blick auf das Millwall Dock vor der Aussicht auf den Fluß den Vorrang gegeben, und tatsächlich war sein Wohnkomplex einer der ersten bei der Neuerschließung der Docklands gewesen, ein Projekt mit mäßigen Mietsteigerungen und moderaten Mieten. Obwohl er seither zahlreiche Kaufangebote erhalten hatte und er jederzeit in eines seiner moderneren und spektakuläreren Objekte am Flußufer hätte ziehen können, liebte er die Kleinräumigkeit der Anlage und die Nähe zu den Nachbarn, die er alle mit Namen kannte. Davon abgesehen war ihm klargeworden, daß er Veränderungen dieser Art haßte.

  Gleichermaßen unbeliebt war bei ihm das Reisen. Daher genoß er nach seiner Rückkehr am späten Vorabend von einer Wochenendkonferenz den montäglichen Alltagstrott um so mehr.

  Dusche, Rasur, Anziehen ... und anschließend machte er es sich bei einer Kanne Kaffee, einem Berg Toast und mit einem Stapel Zeitungen auf seinem winzigen Balkon gegenüber dem Dock gemütlich.

  Während er einen Toast mit Butter bestrich, blickte er auf die in der Morgensonne schimmernden, morgendlichen Dunstschwaden über dem Wasser. Im Norden, hinter dem Outer Dock, konnte er die Glengall Bridge sehen; im Nordwesten verschwammen die Türme der Canary Wharfim Dunst; im Osten lagen die Terrassen der Vorortbahn »Dockland Light Railway«, kurz DLR genannt, und die Anhöhe des Mudchute Park.

  Das alles war sein kleines Königreich ... die Insel, The Island ..., und wenn es ihm auch nicht ganz gelungen war, die Vergangenheit wieder lebendig werden zu lassen, so war er doch im Lauf der Jahre zumindest mit seinen Mißerfolgen und mit sich selbst ins reine gekommen.

  Das hatte er sich eingebildet - bis Freitag nacht.

  Die Sache mit Annabelle hatte längst verheilt geglaubte Wunden wieder aufgerissen, und seine Reaktion darauf hatte ihn derart erschüttert, daß er das ganze Wochenende gebraucht hatte, um sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden.

  Heute wollte er versuchen, den Schaden wiedergutzumachen oder zumindest zu begrenzen. Um Annabelle im Büro anzurufen, war es noch zu früh. Er wollte erst die Zeitungen lesen, seinen Kaffee trinken und versuchen, nicht an die Möglichkeit eines Lebens ohne Annabelle zu denken.

  Er begann wie immer mit der Financial Times. Dann kam der Telegraph und als letztes die Daily Post... mit ihnen wähnte er seinen Finger täglich am Puls der Welt.

  Die Schlagzeile sprang ihm schon von der ersten Seite des Skandalblatts ins Auge: Mordopfer aus dem Mudchute Park identifiziert. Er las weiter; zuerst mit jener nervösen Neugier, die Gewaltverbrechen vor der eigenen Haustür meistens aus-lösen, dann mit fassungslosem Entsetzen.

  Das war unmöglich! Er las den Artikel noch einmal, folgte mit dem Finger jedem Wort wie ein Kind, wünschte verzweifelt, sich verlesen, sich getäuscht zu haben.

  Schließlich ließ er die Zeitung mit zitternden Händen sinken. Alles verschwamm vor seinen Augen.

  Jahre voller Haß hatten sich in einem Augenblick der Unbeherrschtheit entladen ... dann hatte er sie gehen lassen, rasend in seiner Wut. Und er hatte die Befürchtung, daß sie geradewegs zu seinem Sohn gegangen war.

 

Als Gemma durch die offene Tür injanice Coppins spärlich erleuchtetes Büro sah, entdeckte sie auf einem Rollwagen in der Ecke einen Fernsehapparat, der bläuliches Licht verbreitete. »Sie wollten mich sprechen?«

  Janice saß auf der Kante ihres Schreibtischs und sichtete einen Stapel Videobänder. »Hat der Chef Sie erreicht?« fragte sie und sah auf. Im Zimmer hing abgestandener Nikotindunst, und Gemma sah, daß der Aschenbecher auf dem Schreibtisch vor Kippen fast überquoll. Seltsamerweise erinnerte sie sich nicht, Janice je mit einer Zigarette gesehen zu haben.

  »Übers Handy«, antwortete Gemma. Beim Aufstehen war Toby quengelig gewesen, und seine Stirn hatte sich leicht fiebrig angefühlt, was für einen Montag nichts Gutes verhieß. Als Gemma ihn endlich vor dem Fernseher bei Hazel ruhiggestellt hatte, war es schon spät gewesen. Kincaid hatte sie angerufen und sich erboten, das verabredete Gespräch mit Annabelle Hammonds Anwalt allein zu führen. Dabei hatte sie nicht einmal Gelegenheit gehabt, ihn zu fragen, warum er am Vorabend nicht geblieben sei, hatte keine Erklärung geliefert.

  Gemma trat weiter in den Raum und starrte mit wachsendem Interesse auf die Schwarz-Weiß-Szene, die jetzt über den Bildschirm flimmerte. »Was haben Sie entdeckt?«

  »Das Video von den Überwachungskameras aus dem Fußgängertunnel. Ich habe den Morgen damit verbracht, kilometerweise Filme zu sichten, die die Kameras in den Stunden vor der voraussichtlichen Mordzeit aufgenommen hatten. Nachdem wir die entscheidende Sequenz gefunden hatten, hat die Bahnaufsicht mir eine Kopie davon gemacht.«

  Gemma fiel auf, daß Janice’ Bluse zerknautscht und ihre Frisur aus ihrer üblichen Haarsprayform geraten war. »Um wieviel Uhr haben Sie denn hier angefangen?«

  »Irgendwann im Morgengrauen. Jedenfalls fühle ich mich jetzt wie hundert. Allerdings war’s die Mühe wert.« Janice legte die Videokassetten beiseite und griff nach der Fernbedienung. »Sehen Sie sich das mal an.«

  Die Perspektive war seltsam. Während sich die Fußgänger im Vordergrund in beide Richtungen bewegten, verschwand der Tunnel klein und unscheinbar im Hintergrund. Plötzlich entdeckte Gemma in der Menge eine Person, die für einen kurzen Moment verdeckt gewesen war: Gordon Finch, der an der Tunnelmauer unter der gewölbten Decke lehnte, den Klarinettenkasten und den Hund zu seinen Füßen. Im nächsten Moment sprang die Aufnahme zur nächsten Filmsequenz über, und Gemma fühlte sich automatisch an die ruckartigen Bewegungen alter Stummfilme erinnert.

  Jetzt stand eine Frau vor Gordon. Sie hatte der Kamera den Rücken zugewandt, doch Gemma erkannte das schmale, schwarze Jackett und den kurzen Rock und das, selbst auf dem Schwarzweißfilm unverkennbare Haar. Es war Annabelle Hammond.

  Offenbar redete sie auf Gordon ein. Ihre Körperhaltung war eindeutig. Gordon blieb stumm. Dann streckte Annabelle eine Hand aus, berührte wie flehentlich seinen Arm. Gordon sah sie zum ersten Mal an und schüttelte den Kopf. Einen Augenblick verharrte Annabelle unbeweglich, die Hand auf seinem Arm. Dann drängte sie sich an ihm vorbei und lief durch den Tunnel davon, blinde Wut in jedem Schritt.

  Dann sprang der Film ruckartig zu den Aufnahmen einer anderen Kamera über. Die Szene zeigte Gordon Finch, wie er bedächtig seine Klarinette zerlegte, niederkniete und die Einzelteile sorgsam in den Instrumentenkasten packte. Auf dem Fußboden kauernd, lehnte er sich schließlich gegen die weißgekachelte Tunnelwand und schloß die Augen. Eine Hand hatte er auf den Kopf seines Hundes gelegt.

  Anschließend erfolgte die Umschaltung auf die nächste Kamera. Diese zeigte schließlich nur Szenen mit unbekannten Fußgängern. Die Stelle an der weiß gekachelten Wand, wo Gordon Finch gestanden hatte, war jetzt leer. Janice hielt das Band an.

  Gemma merkte erst jetzt, daß sie automatisch die Luft angehalten hatte. »Ist das alles?« fragte sie atemlos.

  »Ja. Bei keiner späteren Kameraeinstellung tauchen die beiden noch mal auf«, sagte Janice und spulte das Video zurück. »Für mich ist die Frau Annabelle Hammond. Oder was meinen Sie?«

  »Er hat also gelogen.«

  »Ist kaum zu übersehen, daß er sie gekannt haben muß.« Janice glitt vom Schreibtisch und knipste die Deckenbeleuchtung an. Dann ging sie zu ihrem Stuhl, setzte sich und schnippte einen Fussel von ihrer Hose.

  Daß Gordon Annabelle gekannt hatte, kam für Gemma nicht überraschend. Trotzdem war sie weder auf die Heftigkeit der Emotionen, die die gespenstische Stummfilmszene vermittelte, noch auf das merkwürdige Gefühl vorbereitet gewesen, das die lebendige Annabelle bei ihr auslöste. »Ist er ihr gefolgt?« fragte sie.

  »Sieht kaum danach aus, als hätten die beiden ein Treffen vereinbart«, urteilte Janice. »Ich habe eher den Eindruck, daß sie etwas von ihm wollte, das er rundweg abgelehnt hat.«

  Gemma ließ sich auf den Besucherstuhl sinken und zog den Rock unter ihren Schenkeln glatt. Sie hatte das luftigste Kleidungsstück angezogen, das sie in ihrem Schrank hatte finden können: ein kurzes, indisches Baumwollkleid. »Vielleicht hat sie ihn um eine Unterredung gebeten, und er hat zuerst abgelehnt, sich jedoch später anders entschieden.«

  »Aber wütend ist sie, nicht er gewesen. Weshalb also hätte er sie umbringen sollen?«

  »Wir wissen ja nicht, worum der Streit ging. Oder wie er letztendlich darauf reagiert hat«, gab Gemma zu bedenken.

  »Trotzdem ... selbst wenn er sie später noch getroffen hat, muß er nicht der Mörder sein. Und was ist mit Mortimer? Er behauptet, die beiden zusammen gesehen zu haben ... Woher wollen wir wissen, daß er ihr nicht aufgelauert hat?« fragte Janice trotzig mit düsterem Blick.

  Gemma betrachtete sie aufmerksam. »Sie verteidigen ihn, was? Gordon Finch, meine ich. Warum?«

  »Tue ich nicht«, widersprach Janice hitzig. Dann zuckte sie die Schultern. Sie wirkte plötzlich verlegen. »Ist nur ... Ich bewundere, wofür er sich einsetzt. Sie wissen schon, die übliche Robin-Hood-Story: Sohn von reichem Mann kehrt zu seinen Wurzeln zurück und kämpft für die Unterprivilegierten. Ist vielleicht alles Humbug. Außerdem hat gerade sein Vater verdammt viel für die Insel getan. Und weil wir gerade vom Vater reden ...«, fügte Janice hinzu, »ich bin da auf was gestoßen.«

  Gemma spürte das Zögern der Kollegin. »Na, was ist? Hat er seinen Strafzettel für falsches Parken nicht bezahlt?« fragte sie amüsiert. Janice verzog keine Miene. Gemma seufzte. »Also, spannen Sie mich nicht länger auf die Folter.«

  »Sie hatten recht ... was George Brent betrifft. Bin gestern abend noch mal bei ihm gewesen. War nicht schwierig, seinem Erinnerungsvermögen etwas auf die Sprünge zu helfen. Plötzlich ist ihm wieder eingefallen, wo er Annabelle Hammond gesehen hatte.«

  »Mit Lewis Finch?«

  »Ja, und mehr als nur einmal. Irgendwann im Herbst vor einem Restaurant, und dann vor kurzem wieder. Sind seiner Ansicht nach sehr >vertraut< miteinander gewesen.«

  »Dann war es doch Lewis Finch, der auf Annabelles Anrufbeantworter gesprochen hat«, überlegte Gemma laut. »Und seinen Sohn kannte sie ebenfalls. Dafür haben wir Beweise.« Sie deutete auf die Videokassette.

  »Schätze, Annabelle Hammond konnte jeden Mann haben, den sie haben wollte ... Trotzdem komisch, daß sie ausgerechnet auf die beiden Finchs verfallen ist, oder?«

  »Zufall?« gab Gemma zu bedenken, glaubte jedoch selbst nicht recht daran. »Ob sie mit einem von den beiden Sex hatte, wissen wir noch nicht. Vielleicht war die Beziehung zu Lewis Finch rein geschäftlich. Und bei Gordon ...«

  »... nahm sie Musikunterricht?« Janice warf Gemma einen verächtlichen Blick zu. »Nehmen wir mal an, sie hat mit beiden geschlafen. Warum hätte sie die Verlobung mit Mortimer aufrechterhalten sollen, wenn sie so geil auf andere Männer war?«

  »Wieso? Wenn sie ein Mann gewesen wäre, hätte sich niemand diese Frage gestellt. Da ist so was selbstverständlich. Sollte Mortimer davon gewußt haben, hätte er allerdings das perfekte Motiv für den Mord.« Gemma dachte kurz nach. »Aber lassen wir die Spekulationen. Halten wir uns erst mal an die Fakten«, entschied sie energisch. »Der Chef will mit Lewis Finch sprechen, sobald er vom Anwalt zurück ist.«

  »Dann sollten wir in der Zwischenzeit noch mal Gordon vorladen.« Janice zog eine Grimasse und griff nach dem Telefon.

  »Warten Sie!« Das kam so unerwartet, daß Janice’ verdutzte Miene Gemma zwang, sich zu erklären. »Ich weiß, es ist nicht ganz nach Vorschrift. Aber auf Autorität und Uniformen reagiert Finch junior offenbar allergisch. Er würde doch nur nach seinem Anwalt schreien. Ich gehe lieber persönlich zu ihm und rede mit ihm.« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Ist erst halb zehn. Glaube kaum, daß Straßenmusiker schon so früh zur Arbeit gehen.«

  Janice starrte sie an, die Hand noch am Telefon. Dann lehnte sie sich mit einem Seufzer im Stuhl zurück. »Das müssen Sie aber auf Ihre Kappe nehmen.«

 

Lewis Finch lernte Edwina Burne-Jones an seinem ersten Tag im Herrenhaus nicht kennen. Nachdem er sein Frühstück beendet hatte - bei dem der Vorrat an knusprigen Speckscheiben nicht zu enden schien - hatte John ihn wieder in den Stall geführt, wo er helfen durfte, die Autos auf Hochglanz zu polieren. Lewis hatte das mit großer Hingabe und Eifer getan, hatte auch nur den kleinsten Fleck auf dem Bentley bearbeitet, bis der schwarze Lack glänzte wie Kristall. Für den Rest seines Lebens sollte er den Geruch von Autowachs mit purem Wohlbefinden verbinden. Die arbeitsintensiven Stunden mit John, in denen er dessen Geschichten anhörte und gelegentlich Lob einheimste, waren das beste Mittel, um Heimweh erst gar nicht aufkommen zu lassen.

  Am Nachmittag stellte John ihm ganz offiziell die Pferde vor, zeigte ihm, wie man ihre Wasser- und Futtertröge füllte und wie die Boxen ausgemistet wurden. Außerdem versprach John, daß, sobald Lewis etwas besser mit allem vertraut sei, er ihm auch beibringen wolle, wie man mit dem Striegel und der Bürste umging.

  Der elegante William blieb den ganzen Tag über unsichtbar, und als Lewis nach dem Abendessen ins Bett fiel, hatte er ihn schon fast vergessen.

  Sonntag, der 3. September, begann warm und klar. Lewis wachte von lautem Vogelgezwitscher auf, das durch sein offenes Fenster drang. Um seine Mutter nicht durch vermeintliches Fraternisieren mit Methodisten zu verärgern, hatte er Johns Angebot, ihn mit in die Kirche zu nehmen, abgelehnt. So kam es, daß er nach dem Frühstück praktisch nichts zu tun hatte.

  Die Köchin, die untätige Hände nicht sehen konnte, spannte ihn in der Küche ein, wo er Karotten und Kartoffeln fürs Sonntagsessen schälte.

  Es geschah dort, um elf Uhr morgens in der dampfigen Wärme der Küche, daß Premierminister Chamberlains Kriegserklärung an Deutschland aus dem Radio dröhnte.

  Die Köchin setzte sich, fächelte sich Kühlung zu und schnalzte mißbilligend mit der Zunge. »Großer Gott, wer hätte das nach dem letzten Krieg gedacht? All die jungen Männer müssen wieder in den Krieg ... diese Vergeudung.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe meine beiden Brüder im Ersten Weltkrieg verloren. Waren fast noch Kinder, viel zu jung, um in den Schützengräben zu sterben.«

  Beim Anblick von Lewis streckte sie den Arm aus und drückte ihre rote, feuchte Hand auf seine Finger. »Oh, Jungchen, entschuldige bitte! Hast ja auch Brüder. Hast es mir doch erzählt.«

  Lewis nickte, aber seine Kehle war wie zugeschnürt, und er brachte kein Wort heraus. Was er ihr nicht erzählt hatte, war, daß sich seine Brüder im Fall einer Kriegserklärung umgehend zum Militärdienst melden wollten, ihm jedoch das Versprechen abgenommen hatten, niemandem etwas davon zu verraten. Seine Mum wäre untröstlich gewesen.

  »Na, vielleicht ist es nur ein Sturm im Wasserglas, und es wird nichts draus«, fuhr die Köchin beruhigend fort. »Und weil wir gerade vom Wasser reden ... Wie wär’s mit was zu trinken? Ich mache uns erst mal eine Tasse Tee.« Damit stand sie schwerfällig auf. Während sie ihm ihre breite Rückenansicht präsentierte und eifrig am Herd hantierte, versuchte Lewis sich klarzumachen, was dieser Krieg bedeutete. In all den Wochen, in denen die Leute auf die Verdunklung vorbereitet, in denen Unterstände gebaut worden waren und Markierungsballons der Luftwaffe wie die Reste eines Kindergeburtstages über London geschwebt hatten, hatte er nie ernsthaft an einen Krieg geglaubt. Er hatte angenommen, daß die Evakuierung auf dem Land nicht länger als eine oder zwei Wochen dauern würde. Jetzt allerdings sah es so aus, als sei ein Ende vorerst nicht abzusehen.

  Die Verbindungstür zum Korridor des Herrenhauses flog auf, und William Hammond trat ein. Er trug denselben Schulblazer mit Krawatte wie am Vortag, doch seine Haare standen ihm widerspenstig vom Kopf, als hätten sie jeder Bürste widerstanden. »Habt ihr’s gehört? Ist das nicht wahnsinnig aufregend?«

  Die Köchin am Herd drehte sich um und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Du weißt wohl nicht, was du da sagst, Master William. Wenn deine Mutter dich hören könnte ...«

  »Mami hatte im Wohnzimmer einen hysterischen Anfall. Vater mußte das Riechsalz holen und sie nach oben bringen, damit sie sich hinlegen kann«, berichtete William. »Und Tante Edwina bittet das Personal zu sich ... vollzählig ... in einer halben Stunde im Wohnzimmer. Schätze, sie will eine Rede halten. Ich soll allen Bescheid sagen. « Damit stürmte William ebenso wichtigtuerisch wieder hinaus, wie er hereingekommen war, und Lewis blieb zurück, um bei der Köchin bis zum Empfangstermin bei der Hausherrin auszuharren.

  Schließlich sammelten sich alle in der Küche ... John Pebbles und seine Frau Mary, eine zierliche Frau mit schönem braunem Haar; Kitty, das Hausmädchen, kaum älter als Lewis; Owens, der walisische Butler mit seinem melodischen Dialekt; Lewis und die Köchin. Während sie warteten, wurde hitzig diskutiert, doch als die Glocke sie rief, trabten sie schweigend in die vorderen Räumlichkeiten des Hauses.

  Lewis war der letzte in der Reihe, die in den Salon defilierte, was ihm Zeit gab, sich in der neuen Umgebung genauer umzusehen. Nach dem dampfgesättigten Zwielicht in der Küche und der glänzenden, dunklen Holztäfelung der Halle und des Treppenhauses erschien ihm der weißgetünchte Raum geradezu gleißend hell. Ein mit Chintz bezogenes Sofa stand vor dem Kamin, flankiert von zwei Sesseln mit Gobelinbezügen. Auf einem Wandtisch prangte eine Vase mit Spätsommerblumen, und die vorherrschenden Farben auf dem Gemälde über dem Kamin waren weiche Rot- und Blautöne. Lewis riß den Blick von den seltsam gekleideten Kindern auf dem Bild los und sah den schlanken Mann an, der, ihnen abgewandt und einen Ellbogen auf den Kaminsimsgestützt, aus dem Fenster starrte.

  Dann drehte sich die Gestalt um, und Lewis erkannte, daß es sich nicht um einen Mann, sondern eine große Frau in Reithose und Reitrock handelte, die ihr Haar so kurz trug, wie er es nie zuvor an einer Frau gesehen hatte. Ihre Züge waren scharf, und ihre Augen strahlten kornblumenblau in ihrem sonnengebräunten Gesicht.

  »Ihr habt die Nachricht sicher alle schon gehört«, begann sie, nahm eine Packung Zigaretten vom Kaminsims und zündete sich mit einem silbernen Feuerzeug eine Zigarette an. »Scheint so, als hätte ich unrechtgehabt mit meiner Meinung, daß es keinen Krieg gibt. Hoffentlich liege ich richtiger, wenn ich hoffe, daß er nicht lange dauern wird.« Edwina Burne-Jones erklärte das mit solcher Überzeugung, daß Lewis für einen Moment seine Angst verlor. »Bis dahin allerdings müssen wir die nötigen Vorkehrungen treffen. Wir werden die Verdunkelungsvorschriften rigoros befolgen. Owens, Kitty: Das ist von jetzt an eure Aufgabe.«

  »Ma’am«, akzeptierte Owens gelassen den Befehl, doch Kitty wirkte völlig verängstigt.

  Edwina zog an ihrer Zigarette, blies den Rauch aus und fuhr fort: »Jeder sollte selbst dafür sorgen, daß seine Gasmaske tadellos funktioniert. Und falls es Fliegeralarm gibt, dürfte der Keller als Schutzraum genügen.« Dann schweiften ihre frappierend blauen Augen zu Lewis. »Bist du der Junge aus London?«

  Lewis konnte nur nicken. Dann stieß ihm Johns Ellbogen schmerzhaft in die Rippen, und er krächzte: »Ja, Ma’am. Lewis Finch.«

  »Sieht so aus, als solltest du eine Weile bei uns bleiben, Lewis. Brauchst du irgend etwas?«

  Lewis wurde puterrot bis unter die Haarwurzeln und stammelte: »Ma’am, ich habe meine Postkarte verloren ... die, die man uns gegeben hat, damit wir nach Hause schreiben können.«

  Die Haut um Edwinas Augen legte sich in winzige Fältchen, als sie lächelte. »Ich glaube, da können wir Abhilfe schaffen«, erwiderte sie, ging zu ihrem Sekretär am Fenster und nahm ein Blatt Papier und einen Umschlag mit Briefmarke heraus, die sie Lewis übergab. Das Papierfühlte sich zwischen seinen Fingern so weich wie Rosenblätter an.

  Sie musterte Lewis durch eine Rauchwolke. Ihre faszinierenden Augen verengten sich. »Wie ich von der Dame vom Frauenverein gehört habe, versammelt sich deine Schulklasse in ihrem Institut, bis Platz in der Dorfschule geschaffen ist. Der Unterricht beginnt morgen früh zur üblichen Zeit.« Sie hielt inne und ließ ihren Blick kurz über die anderen schweifen. Dann fügte sie hinzu: »Ich möchte, daß deine Position hier klar ist, Lewis. Du bist ein Gast, kein Dienstbote. Du kannst John bei seiner Arbeit helfen, wenn du möchtest. Er kann sicher jemanden gebrauchen, seit dieser Teufelsbraten von Stallbursche auf und davon ist, um Soldat zu werden ... aber du bist dazu nicht verpflichtet. Hast du mich verstanden?«

  »Ja, Ma’am«, antwortete Lewis, obwohl er sich nicht sicher war, was sie meinte. Wie konnte er Gast in einem so vornehmen Haus sein? Nie zuvor hatte er ein solches Anwesen betreten.

  Was er jedoch von diesem Augenblick an wußte, war, daß er sogar versuchen würde, über Wasser zu wandeln, falls Edwina Burne-Jones es von ihm verlangen sollte.

 

Gemma nahm den erstbesten Parkplatz, der sich in der Ferry Road bot. Zu ihrer Rechten lagen die grünen Spielwiesen von Millwall Park unter dem Backsteinviadukt, über den jetzt die rot-blauen Züge der DLR donnerten. Zu ihrer Linken, auf der anderen Straßenseite, war eine Anlage mit einfachen Häusern aus der Vorkriegszeit, einige getüncht und mit Stuck verziert, andere zeigten noch ihre ursprünglich braunen Backsteinfassaden. Nach Janice’ Beschreibung mußte Gordon Finch nur ein paar Häuser weiter wohnen.

  Sie begann ihr Fenster hochzukurbeln, schüttelte plötzlich den Kopf und drehte es wieder herunter. In dem Durcheinander aus Papieren, Gebrauchsgegenständen und Resten von Lebensmittelverpackungen gab es kaum etwas, das einen Dieb interessieren konnte. Geschlossene Fenster hatten lediglich zur Folge, daß schon nach Minuten Backofentemperaturen im Wageninneren herrschen würden.

  Als sie langsam die Straße hinaufschlenderte und die Hausnummern der gegenüberliegenden Häuserreihe prüfte, wußte sie selbst nicht, was sie veranlaßt hatte, allein das Gespräch mit Gordon Finch zu suchen. Es war ein schwerer Verstoß gegen die Vorschriften, und Kincaid konnte jederzeit ihren Kopf dafür fordern.

  Dabei hatte sie sein Vertrauen sowieso schon über die Maßen strapaziert. Immerhin hatte sie ihm bislang verschwiegen, daß sie Gordon Finch kannte ... auch wenn sich aus den kurzen Begegnungen kaum eine Bekanntschaft ergeben hatte. Aber je länger sie es hinausschob, ihm die Wahrheit zu sagen, desto peinlicher mußte das Geständnis werden.

  Davon abgesehen wußte sie auch nicht mehr über Gordon Finch als das, daß er eine Weile als Straßenmusikant in Islington gespielt hatte. Und dieser Tatsache war wohl kaum Bedeutung zuzumessen.

  Seltsamerweise verschafften diese Argumente Gemmas schlechtem Gewissen kaum Erleichterung. Achselzuckend beschloß sie, einen Kompromiß einzugehen. Sie würde Kincaid von ihrer Begegnung mit Gordon Finch erzählen, allerdings ganz beiläufig wie eine Nebensächlichkeit und erst bei passender Gelegenheit. Und falls sie nach der Unterhaltung mit Finch die Notwendigkeit erkennen sollte, dann wollte sie ihn auch ganz offiziell vorladen lassen.

  Als sie den Eingang zum Millwall Park erreichte, machte sie einen kleinen Umweg und starrte durch den schmiedeeisernen Zaun auf die verwaiste Bowlingbahn und das kompakte Gebäude der Bürger Vereinigung der Docklands. Sie schätzte, daß es das Zentrum des gesellschaftlichen Lebens der Arbeiterschicht auf der Insel war und daß Gordon Finch sicherlich zum Stammpublikum gehörte. Trotzdem hatte sie Mühe, sich den Straßenmusiker bei gesellschaftlichen Aktivitäten jedweder Art vorzustellen, selbst wenn sie einem politischen Ziel dienen sollten.

  Gemma setzte ihren Weg fort, und schon nach wenigen Metern hörte sie jemanden Klarinette spielen. Sie folgte dem Klang des Instruments quer über die Straße und zu einem braunen Backsteinhaus am Ende der Häuserreihe. Die Musik kam aus einem offenen Fenster im ersten Stock, und während sie draußen stand und zuhörte, glaubte sie, in der Melodie ein Stück von Mozart zu erkennen, das sie - von Gordon Finch gespielt - bereits in der Liverpool Road gehört hatte.

  An der Längsseite des Hauses befanden sich zwei blau gestrichene Türen. Die erste trug die Hausnummer, die Janice ihr genannt hatte. Offenbar bewohnte Gordon Finch den oberen Stock. Sie bediente den Türklopfer. Ein Hund schlug an. Erst als das Spiel der Klarinette abrupt endete, wurde ihr klar, daß sie keine Ahnung hatte, was sie ihm sagen wollte.

  Dann wurde die Tür plötzlich geöffnet. Gordon Finch starrte sie an. Er wirkte alles andere als begeistert, war barfuß und hatte nur ein ärmelloses T-Shirt über den Jeans an. Sonnenlicht fing sich in seinem goldenen Ohrring und den rotblonden Bartstoppeln seines Kinns.

  »Die Lady von der Polizei«, sagte er mit einem Blick auf ihr kurzes Kleid und die nackten Beine.

  Gemma war sich plötzlich bewußt, daß sie nur BH und Slip unter dem dünnen Stoff trug. Sie fühlte sich weder beruflich noch privat der Situation gewachsen und fragte sich verwundert, weshalb Strumpfhosen einer Frau das' Gefühl der Unbesiegbarkeit gaben.

  »Auf die Idee, daß Sie bei den Bullen sind, wäre ich wirklich nie gekommen. Ist das ein Höflichkeitsbesuch, oder sind Sie auf dem Kriegspfad?« Sein Ton machte deutlich, was er von ihrem Beruf hielt.

  Gemma zückte hastig ihre Dienstmarke, um einen letzten Rest Autorität zu wahren. »Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen, wenn Sie nichts dagegen haben, Mr. Finch«, erklärte sie energisch.

  Gordon Finch neigte mit gespielter Höflichkeit den Kopf und deutete auf die Treppe. »Bitte ... treten Sie näher.« Er machte einen Schritt zurück. Als Gemma an ihm vorbei ins Haus ging, war sie ihm einen Moment so nahe, daß sie die Wärme seines Atems auf ihrer Haut spürte. Das Klappern ihrer Sandalen auf der Treppe aus rohem Holz hallte unnatürlich laut in ihren Ohren wider. Er folgte ihr schweigend auf nackten Sohlen.

  Auf dem oberen Treppenabsatz ging sie, ohne stehen zu bleiben, weiter durch die geöffnete Tür und landete augenblicklich in der Mitte der Einzimmerwohnung, was ihr die Möglichkeit gab, sich einen Moment ungestört umzusehen.

  Gordon Finchs Hund, Sam, lag auf einem runden Kissen vor dem offenen Fenster. »Hallo, mein Junge«, murmelte sie. »Kennst du mich noch?«

  Der Hund reckte kurz den Hals, sah Gemma an, senkte den Kopf wieder auf die Pfoten und seufzte. Offenbar hatte sie keinen bleibenden Eindruck hinterlassen.

  Das große Zimmer war Wohn- und Schlafraum zugleich. An der Rückseite befand sich eine Kochnische mit einem kleinen Kieferntisch und zwei Stühlen. Im vorderen Teil stand ein Bett mit einem Baumwollüberwurf in grellen Rot- und Vio-lettönen.

  »Na? Findet alles Ihre Zustimmung?« fragte Gordon Finch hinter ihrem Rücken. Als Gemma sich umdrehte, fügte er hinzu: »Was hatten Sie erwartet? Bierdosen und Müll?«

  In einem Bücherregal stand ein CD-Player. Ein Fernseher war nirgends zu sehen. Vor dem Fenster war ein Notenständer aufgebaut. Seine Klarinette ragte zur Hälfte aus dem Kasten auf dem Fußboden, und die Notenblätter auf dem Ständer raschelten leise, was wie ein Seufzen klang. Alles in dieser Wohnung war ordentlich und sauber und wirkte trotz der spärlichen Möblierung ausgesprochen gemütlich.

  »Hören Sie, Mr. Finch. Ich bin nicht hier, um...«

  »Mr. Finch?« äffte er sie spöttisch nach. »Warum haben Sie gestern auf dem Revier nichts gesagt?« Er stand mit dem Rücken zur Tür, die Arme vor der Brust verschränkt.

  »Wie bitte?«

  »Sie wissen genau, was ich meine. Man hätte denken können, wir hätten uns noch nie im Leben gesehen.«

  Gemma starrte ihn an. »Was, bitteschön, heißt das? Soweit ich mich erinnere, haben wir nur einmal ein paar Worte gewechselt. Und dabei haben Sie mich behandelt wie eine Aussätzige. Sollte ich Sie deshalb als alten Freund vorstellen, oder was?« Sie war hergekommen, um ihm eine Verschnaufpause zu verschaffen, und er hatte sie sofort in die Defensive gedrängt. Wütend fügte sie hinzu: »Außerdem haben Sie uns angelogen.«

  »Inwiefern?« Er machte einen Schritt auf sie zu. Gemma wich instinktiv zurück, und der Gedanke durchzuckte sie, daß dieser Besuch vielleicht doch keine so gute Idee gewesen sein könnte. Gordon Finch griff jedoch nur nach der Packung Zigaretten auf dem Tisch neben dem Bett und zog eine Zigarette heraus.

  »Sie haben behauptet, Annabelle Hammond nicht zu kennen und an jenem Abend nicht mit ihr gesprochen zu haben«, fuhr sie fort, während Gordon eine Zigarette anzündete. Augenblicklich breitete sich ein durchdringend riechender Nikotindunst im Zimmer aus.

  »Und?« Seine saloppe Antwort verfehlte ihre Wirkung, denn er vermied es, sie dabei anzusehen. Er löschte das Streichholz mit einer schnellen Handbewegung.

  Gemma schüttelte enttäuscht den Kopf. »Wir besitzen die Videobänder der Überwachungskameras. Ich habe sie mir angesehen. Annabelle ist stehengeblieben und hat mit Ihnen gesprochen.«

  Während die Zigarette in seinem Mundwinkel baumelte, bückte er sich und nahm die Klarinette aus dem Kasten. »Das beweist gar nichts.«

  Gemma war nicht entgangen, daß er kurz zusammengezuckt war, bevor er seine Reaktion mit dem Griff nach der Klarinette zu vertuschen suchte. »Es beweist immerhin, daß Sie Annabelle kurz vor ihrem Tod gesehen haben ... und offenbar eine Meinungsverschiedenheit mit ihr hatten.«

  Das Instrument in der Hand, setzte sich Gordon Finch auf die Bettkante. »Kommt häufig vor, daß völlig fremde Personen an meinem Klarinettenspiel Anstoß nehmen. Oder an meinem Aussehen. Macht das schon einen Verdächtigen aus mir?«

  Er zog noch einmal an der Zigarette und drückte sie in einem kleinen Aschenbecher aus Wedgwood-Porzellan aus. Den Blick auf die Klarinette gerichtet, spielte er mit den Tasten. Sie wartete stumm. Endlich hielten seine Finger still. Er sah zu ihr auf. »Was auch immer zwischen Annabelle und mir gewesen ist, geht niemanden etwas an.«

  »Jetzt schon, denn es geht um einen Mord.«

  »Mit Annabelles Tod habe ich nichts zu tun. Und was zwischen uns war, hatte auch nichts mit ihrem Tod zu tun.«

  »Ist es Ihnen denn völlig egal, wie sie gestorben ist?« wollte Gemma wissen. »Jemand hat Annabelle Hammond umgebracht, und ich vermute, daß sie ihren Mörder gekannt und ihm vertraut hat.«

  »Warum? Wie kommen Sie darauf? Sicher ist es irgendein ... Sie haben gesagt, daß man sie am Park gefunden hat. Wie ist sie ...«

  Gemma hatte Gordon Finch bisher als ausgesprochen wortkarg erlebt. Jetzt schien es ihm völlig die Sprache verschlagen zu haben. »Die Todesursache steht noch nicht hundertprozentig fest. Aber ich kann Ihnen verraten, daß wir kaum Spuren von einem Kampf gefunden haben. Außerdem war es offenbar kein Sexualverbrechen.« Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Und der Mörder hatte sich Mühe gegeben, die Tote liebevoll ... zurechtzulegen.«

  »Zurechtzulegen?« Er starrte sie an. »Wie zurechtzulegen?«

  Gemma hatte keine Ahnung, ob Details wie diese ihn mehr quälen konnten als das, was er sich in seiner Phantasie ausgemalt hatte. Trotzdem wußte sie, daß sie bereits zuviel gesagt hatte und sich vor Kincaid dafür rechtfertigen mußte. »So ... als wollte er ihre Menschenwürde bewahren«, antwortete sie schließlich, um Zeit zu gewinnen. »Sie wirkte noch im Tod friedlich ... geradezu heiter.«

  »Annabelle und friedlich? Das ist in sich schon ein Widerspruch.« Er stand auf und zündete die nächste Zigarette an.

  »Warum? Wie ist sie denn gewesen?«

  Er zog stirnrunzelnd an seiner Zigarette, bis deren Ende orangerot glühte. »Sie war ... sehr intensiv in ihren Gefühlen. Besessen vom Leben. Mehr als irgend jemand sonst, den ich kenne.« Er schüttelte den Kopf. »Das klingt ziemlich blöd und kitschig.«

  »Nein, fahren Sie nur fort.«

  Er trat unruhig von einem Bein aufs andere. »Das ist alles. Alles, was ich Ihnen sagen kann.«

  »Aber ...«

  »Sie begreifen gar nichts. Ich weiß, wie sie war, wenn sie bei mir war. Mehr nicht.« Er trat ans Fenster, zog den Vorhang zurück und starrte hinaus. Eine leichte Brise wehte die Geräusche von schwerem Baugerät auf der Baustelle an der Haltestelle Mudchute Park der DLR herüber.

  Als er weiterhin stumm blieb, sagte sie: »Waren Sie ...«

  »Sie meinen, ob wir eine Affäre hatten?« Gordon Finch klang leicht amüsiert. »Damit war’s längst vorbei. Ich habe schon vor Monaten mit ihr Schluß gemacht.«

  »Sie haben mit ihr Schluß gemacht?«

  Er wirbelte herum und machte einen Schritt auf sie zu. »Ist das so schwer zu glauben? Meinen Sie, ich hätte gar keinen Stolz? Jedenfalls hatte ich genug von ihren Spielchen.«

  »Von welchen Spielchen?«

  »Sie hat meinem Klarinettenspiel zugehört wie Sie. Und eines Abends ist sie mit zu mir nach Hause gekommen.«

  Gemma fühlte, wie sich die Röte über ihr Dekolleté bis zum Hals und über ihr Gesicht ausbreitete. Hatte er das an jenem Abend von ihr erwartet, als sie stehengeblieben war, um mit ihm über seinen Hund zu sprechen? Sie fragte sich, ob er Annabelle deutlicher ermutigt hatte als sie - wobei sie nicht Annabelles Absichten gehabt hatte -, oder ob Annabelle leichter zu animieren gewesen war.

  »Ich nehme an, Sie hätten sich durchaus geschmeichelt fühlen dürfen«, erklärte sie leichthin und setzte sich vorsichtig auf die Armlehne eines alten Sessels neben dem Bett.

  Der Bezug war abgeschabt, doch er hatte ihn mit einem purpurroten Überwurf überdeckt, und einen Moment stellte sie sich vor, Annabelle habe hier gesessen, umrahmt von der Silhouette des Sessels, ihr Haar glänzend gegen den purpurnen Hintergrund. Gemma strich mit den Fingern über die Decke und fühlte sich plötzlich einer Toten gegenüber als Eindringling.

  »Geschmeichelt?« Er schnaubte verächtlich. »Durch die Aufmerksamkeit einer Frau, die mir wochenlang nicht mal ihren Namen verraten hat? Die mir ganz absichtlich verschwiegen hat, wo sie wohnt und was sie beruflich macht?« Er schnippte mit einer ruckartigen Bewegung Asche von seiner Zigarette.

  »Aber Sie haben das alles trotzdem herausgefunden?«

  »Durch puren Zufall. Ich war eines Tages gerade in Island Gardens aus dem Zug gestiegen. Als ich vom Bahnsteig runtergesehen habe, kam sie aus der Wohnung an der Ferry Street. Und nachdem ich ihren Namen kannte, hat es nicht mehr lange gedauert, bis ich die Verbindung zum Teeimport Ham-mond’s hergestellt hatte.«

  »Und? Haben Sie sich nie gefragt, weshalb sie so verschwiegen war ... was sie verbergen wollte?«

  »Diese Konstellation kam mir durchaus gelegen.«

  »Wirklich?« Gemma schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ihnen diese Geheimniskrämerei auch nur im mindesten gefallen hat. Oder haben Sie sich gern behandeln lassen wie jemand, dessen man sich schämt?«

  »Also gut«, entgegnete er schneidend, und sie wußte, daß ihre Bemerkung ins Schwarze getroffen hatte. »Es hat mir nicht gefallen. Aber sie hat gesagt, sie sei mit jemandem aus der Firma verlobt, und sie könne diese Verbindung nicht lösen. Es gebe gewisse Sachzwänge.«

  »Was für Sachzwänge?«

  »Das wollte sie nicht sagen. Sie hat nie über sich und ihr Leben gesprochen. Habe ich doch schon gesagt. Und das wenige hat sie mir auch nur erzählt, weil ...« Er hielt inne und drückte seine Zigarette wütend in einem zweiten Aschenbecher aus.

  »Weil Sie gedroht haben, Schluß zu machen«, ergänzte Gemma für ihn. »War es das?« Als er nicht antwortete, fuhr sie fort: »War es das, was die Affäre beendet hat?«

  »Nein. Ich war nur ... ich hatte sie einfach satt. Das ist alles.« Er stieß die Hände in die Taschen und starrte aus dem Fenster.

  »Wann haben Sie von der Verbindung zwischen Annabelle und Ihrem Vater erfahren?« wechselte Gemma die Strategie.

  »Ich wußte nichts von einer solchen Verbindung ... und ich bezweifle, daß Sie es wissen. Sie fischen im trüben, Sergeant.«

  »Wir haben einen Zeugen, der sie mehrfach zusammen gesehen hat. Zum ersten Mal im vergangenen Herbst. Außerdem hat Ihr Vater eine Nachricht auf Annabelle Hammonds Anrufbeantworter hinterlassen ... am Abend ihres Todes.«

  »Und?« konterte Gordon herausfordernd, doch er war blaß geworden.

  »Wann haben Sie Annabelle zum ersten Mal gesehen?«

  Er zündete die nächste Zigarette an. »Weiß ich nicht mehr.«

  »Sie haben gesagt, sie habe Ihnen zugehört ... als Sie irgendwo gespielt haben. Sie müssen sich doch wenigstens erinnern, in welcher Jahreszeit das gewesen ist«, beharrte Gemma.

  »Im Sommer, vermutlich, jedenfalls war’s heiß.«

  »Und wann haben Sie mit ihr Schluß gemacht?«

  »Vor ein paar Monaten. Schätze, es war Anfang des Frühjahrs.«

  Ist es damals gewesen, als er bei ihrer Begegnung in Islington so schroff und abweisend gewesen war, fragte sich Gemma. Der Zeitpunkt stimmte. »Und Sie hatten sie bis Freitag abend nicht wiedergesehen?«

  »Sehen und reden sind zwei Paar Stiefel. Ich habe sie gesehen - die Isle of Dogs ist ein Dorf-, aber ich hatte nicht mehr mit ihr gesprochen.«

  Eine Brise wehte ein Notenblatt vom Notenständer. Es segelte auf Gemma zu. Sie bückte sich, um es aufzufangen, und dabei drehte sie es um. »Es ist also doch Mozart, was Sie gespielt haben. Hab’s mir gleich gedacht.«

  Gordon wirkte überrascht. »Sie haben zugehört?«

  »Blieb mir gar nichts anderes übrig. Und ich habe mich erinnert, daß Sie’s schon mal gespielt haben.«

  »In Islington.« Er blinzelte in die Rauchwolke, die von seiner Zigarette aufstieg, und musterte sie prüfend. »Sie mögen also Musik? Spielen Sie ein Instrument?«

  Aus seiner Stimme klang unerwartet offenes Interesse. Den Spott hatte er abgelegt. »Nein, ich ...« Gemma zögerte, ihr Geheimnis zu verraten. Allerdings bot es ihr die Chance, seine Mauer des Schweigens zu durchbrechen. Sie schüttelte den Kopf, stand auf und schlenderte zum Küchentisch. Dort drehte sie sich wieder zu ihm um, die Handtasche gegen die Taille gepreßt wie ein Kind. Vielleicht hielt er sie für blöd. »Nein, ich spiele nicht. Aber ich ... ich möchte Klavierspielen lernen. Die erste Stunde hatte ich schon.«

  Er drückte seine Zigarette aus und kam zu ihr, zog einen Stuhl vom Küchentisch, drehte ihn um und setzte sich rittlings darauf. »Warum?«

  Gemma lachte. »Sie klingen wie meine Lehrerin. Warum wollen alle nur immer das Warum wissen? Ich bin nicht so blöd, zu glauben, daß aus mir eine große Pianistin werden könnte, falls Sie das denken. Es ist nur, daß Musik mir ein Gefühl gibt...«

  »Weiter.«

  »Ich weiß nicht. Es hat irgendwie mit mir zu tun«, wiegelte sie lächelnd ab, um sich nicht unnötig lächerlich zu machen. Gordon Finch jedoch nickte nur, als wäre das für ihn sehr plausibel. »Wie ist das bei Ihnen?« fragte sie. »Sie sind gut ... soviel kann ich beurteilen. Warum leben Sie so?« Ihre Geste bezog Wohnung, Klarinette und alle sichtbaren Zeichen seiner bescheidenen Existenz mit ein.

  »Ich liebe mein Leben.«

  »Aber Sie könnten in einem Orchester spielen, in einer Band ...«

  »Oh, ja natürlich. Wie ein Lackaffe im Frack in einem Konzertsaal sitzen oder in einem piekfeinen Restaurant spielen, wo dir sowieso niemand zuhört.«

  »Aber das Geld wäre doch sicher ...«

  »Ich verdiene genug. Und niemand sagt mir, wann ich zur Arbeit oder wann ich nach Hause gehen soll. Niemand kann über mich bestimmen. Ich könnte morgen alles zusammenpacken und irgendwo anders hingehen. Bin frei wie ein Vogel!«

  Gemma sah ihn an. Sie war ihm so nahe, daß sie erkannte, wie klar und rein das Grau seiner Augen war. »Und warum tun Sie’s dann nicht?«

  Die Frage wog schwer in der absoluten Stille, die plötzlich herrschte. Nach einem Moment gab sie ihr Schweigen auf. »Diese Freiheit ist doch eine Illusion, oder?« fuhr sie fort. »Wir haben alle unsere Bedingungen, Verpflichtungen. Auch Sie, so heftig Sie das auch leugnen mögen. Haben Sie deshalb mit Annabelle Schluß gemacht? Hatten Sie Angst, daß sie Ihnen zu nahe kommt?«

  »Nein, ich ...«

  »Im Tunnel wollte sie etwas von Ihnen. Was war es?«

  Er lachte humorlos. »Gute Frage, habe sie Annabelle oft genug gestellt.«

  Sam hob den Kopf und jaulte leise auf, als beunruhige ihn die unterschwellige Spannung in ihren Stimmen. Gordon kniete neben ihm nieder und legte beruhigend die Hand auf den Kopf des Hundes.

  Gemma trat einen Schritt näher. »Was hat sie an jenem Abend von Ihnen gewollt?«

  »Ich sollte es mir noch mal überlegen. Sie wollte, daß ... daß alles wieder so wird wie früher.«

  »Und Sie haben ihr eine Abfuhr erteilt?«

  Er streichelte nur schweigend seinen Hund.

  »Haben Sie Ihre Meinung geändert? Sind Sie ihr nachgelaufen?«

  »Glauben Sie, ich habe sie umgebracht?«

  Gemma zögerte. Sie dachte daran, wie zutiefst erschrocken er bei der Nachricht von Annabelles Tod einen Moment lang gewirkt hatte. Sie hatte seine Reaktion mehr gespürt als gesehen. »Nein«, erwiderte sie langsam. »Nein, das tue ich nicht. Aber das ist meine ganz persönliche, nicht meine dienstliche Meinung und kein Persilschein für Sie. Und wenn ich mich täusche, riskiere ich Kopf und Kragen.«

  Gordon stand auf. »Weshalb sind Sie allein hierhergekommen? Aufgrund dieses Videos hätten Sie mich sofort vorladen lassen können.«

  Gemma berührte die Notenblätter auf dem Notenständer mit der Fingerspitze. »Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Ich hatte das Gefühl, daß Annabelle Ihnen was bedeutet hat ... auch wenn Sie das leugnen.«

  Gordon zögerte. »Es nützt jetzt nichts mehr, aber ich habe bedauert, ihr eine so ... schroffe Abfuhr erteilt zu haben. Sie hatte mich nie zuvor um irgendwas gebeten ... oder mir Grund zu der Annahme gegeben, ich sei mehr für sie als ein Mittel zum Zweck der Auflehnung gegen ihr Leben.« Er schüttelte den Kopf. »Aber ihre Bitte kam so unerwartet ... und erst später wurde mir klar, daß sie geweint hatte.«

  »Und weshalb? Wissen Sie das?«

  »Ich bin sofort nach Hause gegangen ... Ich glaube, ich habe angenommen, daß sie hierherkommt.« Er wandte den Blick ab. Sein Kinn zuckte. »Aber sie ist nicht aufgetaucht. Hatte keine Chance mehr, sie danach zu fragen.«

 

Kincaid saß an einem Tisch an der Tür in einem Lokal, ein paar Häuser von der Firma Hammond’s entfernt, und wartete zum Mittagessen auf Gemma. Trotz der geöffneten Türen war die Luft verräuchert. Der Fernseher in der Ecke plärrte, und die Speisekarte hatte nur Fertigkost zu bieten.

  Nachdenklich nippte er an seinem Bier und fragte sich, ob er Zeit und Ort der Verabredung mißverstanden haben könnte. Ihr Zuspätkommen besserte seine Laune nicht gerade, die schon durch das Gespräch mit seinem Chef ziemlich gelitten hatte. Chief Superintendent Childs war mit den bisherigen Ergebnissen der Ermittlungen ausgesprochen unzufrieden, und ließ sich auch durch Kincaids Argumentation nicht umstimmen, es sei noch zu früh für konkrete Ergebnisse, zumal es von Anfang an kaum nennenswerte Anhaltspunkte gegeben hatte.

  Er hatte gerade beschlossen, seine Bestellung aufzugeben, in der Hoffnung, eine Mahlzeit würde sein Allgemeinbefinden bessern, als er Gemma im Türrahmen entdeckte. Sie sah ihn, lächelte, schlängelte sich zwischen den Tischen hindurch und setzte sich zu ihm.

  »Hallo, Boß!« Sie wirkte erhitzt, und eine feuchte Haarsträhne klebte an ihrer Wange.

  »Was willst du haben?« fragte er.

  »Hm ... eine Limonade wäre nett. In jedem Fall was mit Eiswürfeln.«

  »Soll ich auch gleich das Essen bestellen? Fisch und Pommes?«

  »Ja, gut. Bin dabei«, erwiderte sie und fächelte sich mit der Speisekarte Kühlung zu.

  Kurz darauf kehrte Kincaid mit den Getränken von der Theke zurück. »Hast du Toby untergebracht? Wie geht es ihm?«

  »Ich habe vom Wagen aus gerade mit Hazel telefoniert. Es geht ihm offenbar besser. Er hat nur einen leichten Schnupfen.« Gemma leerte ihr Glas beinahe in einem Zug, lehnte sich zurück und sah sofort erholt aus. Sie berührte seinen Arm. »Duncan, wegen Kit ... Hazel hat erzählt, daß du ihm gesagt hast ...«

  Er schüttelte den Kopf. Nach einer unruhigen, schlaflosen Nacht erschöpfte ihn bereits der Gedanke, über das Thema reden zu müssen. »Die Sache ist völlig verfahren. Ich war nicht so naiv zu glauben, daß Kit mit fliegenden Fahnen zu mir überlaufen würde. Aber daß er es so schwer nehmen würde, hätte ich nicht gedacht.« Er zuckte die Schultern. Das Schlimmste brachte er gar nicht über die Lippen.

  »Der arme Junge hat verdammt viel durchgemacht. Er muß völlig durcheinander sein. Was willst du jetzt tun?«

  Das Mädchen von der Bar kam und knallte zwei gefüllte Teller mit Servietten, Besteck und zwei Schüsselchen mit Sauce Tatar auf den Tisch. Dann kehrte sie wortlos zu ihrem Techtelmechtel mit einem jungen Mann im Unterhemd an die Theke zurück, auf dessen rechtem Oberarm die Tätowierung einer vollbusigen Nixe prangte.

  Kincaid stocherte mit der Gabelspitze in seinem Fisch herum. »Vermutlich braucht er einfach nur Zeit. Ich versuche, mich so normal wie möglich zu verhalten. Und ich rede mit Laura Miller ... will mal vorfühlen, ob sie ihn noch für einen Teil der Sommerferien behalten kann.«

  »Warum hast du gestern abend nicht gewartet?« Gemma spießte eine Pommes auf. »Wir müssen dich um Minuten verpaßt haben.«

  »Sei mir bitte nicht böse. Ich war einfach völlig groggy.«

  Gemma warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, drang jedoch nicht weiter in ihn. »Erzähl mir, was Annabelles Anwalt gesagt hat.«

  »Anwältin«, verbesserte Kincaid sie. »Eine Powerfrau mit einer Kanzlei in Canary Wharf. Unser Gespräch war sehr aufschlußreich. Sie hat keine Frage unbeantwortet gelassen«, erwiderte er und war erleichtert, das Thema wechseln zu können. »Materiell gesehen hat Annabelle offenbar nicht viel zu vererben.« Er trank den letzten Schluck Bier, spielte mit dem Gedanken, noch ein Glas zu bestellen, und entschied sich dagegen. In der Hitze würde es ihn nur müde machen. »Ihre Wohnung ist mit einer Hypothek belastet, und da sie diese erst vor kurzem gekauft hatte, ist kaum was abbezahlt. Ihr Wagen war geleast. Sie hat ein paar Schulden, aber die sind nicht der Rede wert.«

  »Sind denn überhaupt keine Vermögenswerte da?«

  »Das habe ich nicht gesagt. Sie hatte ihre Anteile an der Firma, und die hat sie Harry und Sarah Lowell vermacht. Ihren Vater Martin Lowell hat sie als Treuhänder eingesetzt.«

  Gemma sah überrascht auf. »Nicht ihre Schwester?«

  »Die Anwältin sagt, Annabelle habe diese Verfügung seit Jos Scheidung ändern wollen, es jedoch nie getan hat.«

  »Könnte Lowell direkten Nutzen aus dem Ertrag der Anteile ziehen?«

  »Schätze, das hängt davon ab, wie streng die Bestimmungen sind. Die entscheidende Frage ist, hat Lowell von dem Vermächtnis gewußt?«

  »In diesem Fall könnte er einen Vorteil aus Annabelles Tod ziehen«, sagte Gemma. Sie trank ihre Limonade aus. »Bisher sieht es allerdings nicht so aus, als sei Hammond’s Teas finanziell gesehen eine Goldmine.«

  »Annabelle schien jedenfalls vom Einkommen aus ihren Anteilen gut leben zu können. Ich vermute allerdings, daß sie zusätzlich ein Gehalt bezogen hat.«

  Gemma schob ihren Teller von sich. »Würde mich interessieren, ob Jo Lowell von der testamentarischen Verfügung ihrer Schwester weiß.«

  »Fragen wir sie doch einfach, bevor wir mit Martin Lowell reden. Gehen wir zu Fuß?« erkundigte er sich und stand auf.

  »Geht vermutlich schneller«, stimmte Gemma ohne große Begeisterung zu.

  Als sie das Lokal verließen und die Saunders Ness in Richtung Fußgängertunnel hinuntergingen, erzählte sie ihm von Janice’ Gespräch mit George Brent und von der Verabredung, die Janice mit Lewis Finch für sie an diesem Nachmittag getroffen hatte.

  »Die Initiative der Frau Inspector beeindruckt mich. Es gibt also eine Verbindung zwischen Annabelle und Lewis Finch.«

  »Und zwischen Annabelle und Gordon Finch. Janice hat das entsprechende Videoband gefunden.«

  »Hast du es gesehen?«

  »Und ich habe auch schon mit ihm gesprochen. Aus dem Video geht klar hervor, daß sie etwas von ihm wollte, was er abgelehnt hat. Er behauptet, er habe vor Monaten mit ihr Schluß gemacht und sie habe sich mit ihm versöhnen wollen.«

  »Warum hat er dann gelogen?« Sie hatten den Eingang des Tunnels erreicht, und während sie auf den Lift warteten, sah Kincaid sie an. »Du hast ihn vorgeladen?«

  »Ich bin in seiner Wohnung gewesen. Dachte, daß er dann kooperativer ist.«

  Kincaid runzelte die Stirn. »Ganz allein?«

  »Das war ja der Zweck der Übung ... so wenig Polizei wie möglich«, entgegnete sie trotzig.

  »Gemma, um Himmels willen ... Der Mann hat Annabelle vielleicht ermordet. Worauf hast du dich eingelassen?«

  »Was hätte er denn tun sollen? Mich am hellichten Tag in seiner Wohnung um die Ecke bringen, wo doch auf dem Revier alle wußten, wo ich mich aufhalte?« fragte Gemma sarkastisch und reckte eigensinnig das Kinn vor. »Wäre doch idiotisch gewesen. Außerdem ist der Mann kein Wahnsinniger. Im übrigen« - sie warf ihm einen trotzigen Blick zu - «lebe ich schließlich noch, oder?«

  »Das ist nicht der Punkt. Mach so was bitte nie wieder ... das nächste Mal hast du vielleicht weniger Glück. Ganz zu schweigen davon, daß du gegen die Regeln verstoßen hast.«

  »Als ob du das nie tun würdest«, murmelte sie.

  »Verdammt, Gemma! Ich bin ...« Er hielt inne. Jedes weitere Wort würde sie nur noch bockiger machen, so gut kannte er sie inzwischen. Und es gab keinen Grund, deshalb einen Streit vom Zaun zu brechen. Er hatte in den vergangenen zwei Tagen mit seiner Unbeherrschtheit genug Schaden angerichtet.

  Die Lifttür ging auf, und während sie warteten, daß die Passagiere ausstiegen, sah Kincaid, daß der Aufzug ungewöhnlich groß war und von einem Mann in Uniform bedient wurde. Sobald sie im Lift standen, entdeckte er das moderne elektronische Gegenstück dieser altmodischen Höflichkeitsgeste: eine Überwachungskamera mit Monitor, die auf Deckenhöhe angebracht war.

  Sie lehnten sich gegen die Bank im rückwärtigen Teil, als die anderen Passagiere hereinströmten. »Wenn er eine Beziehung zu ihr zugegeben hat, dann hat deine Taktik allerdings Erfolg gehabt«, lenkte er ein.

  Gemma warf ihm einen prüfenden Blick zu, während der Lift langsam in die Tiefe glitt. Sie wußte offenbar nicht recht, was sie von seinem Entgegenkommen halten sollte. Das Objektiv der Überwachungskamera schwenkte vom Tunnel auf die Aufzugkabine, und einen Moment lang sah er sich selbst mit Gemma im Monitor. Dann kam der Lift mit leisem Ächzen zum Stehen. Die Türen glitten auf und entließen sie in die weiß gekachelte, klamme und beklemmende Atmosphäre des Tunnels.

  Als sie den leicht abwärtsgeneigten Gewölbegang entlangliefen, bemerkte er, daß sich kondensierte Luft an der gewölbten Decke gesammelt hatte, herabtropfte und in Rinnsalen über den abschüssigen Betonboden floß. Stimmen und Schritte hallten unheimlich von den Wänden wider. Von irgendwoher hörte er Musik. »Was genau war auf dem Video zu sehen?« fragte er. »Ist Finch mit ihr weggegangen?«

  »Reg Mortimer scheint die Wahrheit gesagt zu haben, zumindest was Annabelles Verhalten im Tunnel betrifft.« Gemma drängte sich dichter an Kincaid, um einem Fahrradfahrer Platz zu machen. Schilder mit der Aufschrift Fahrradfahren streng verboten waren deutlich sichtbar am Tunneleingang angebracht gewesen. »Annabelle ist stehengeblieben, hat mit Gordon Finch gesprochen, und Mortimer war nirgends zu sehen. Sie schien auf Finch einzureden, aber der hat nicht reagiert. Dann ist sie weitergegangen. Wenige Minuten später hat er seine Sachen zusammengepackt und ist ebenfalls verschwunden.«

  »Haben sie sich später noch mal getroffen?«

  »Er sagt, daß er geradewegs nach Hause gegangen sei. Ich habe Janice gebeten, jemanden zu seiner Vermieterin zu schicken, um das nachzuprüfen.«

  Kincaid warf einen Blick auf Gemma. Sie erschien ihm unnatürlich blaß, aber er wußte nicht recht, ob daran das kalte, von den Kacheln reflektierte Licht oder der beklemmende Gedanke schuld war, da sie sich tief unter der Themse befanden.

  Sie gingen schweigend auf den ebenerdig verlaufenden Mittelteil des Tunnels zu. Die Musik, die sie schon von weitem gehört hatten, entpuppte sich als dilettantische Version von Bad Moon Rising, die der Sänger mehr schlecht als recht mit der Gitarre begleitete. »Man sollte denken, die Leute bezahlen den Kerl nur, damit er endlich aufhört. Wenn Gordon Finch auch nur annähernd so untalentiert ist, wollte Annabelle ihn vielleicht überreden, seine Klarinette einzupacken.«

  »Er ist ...« Gemma hielt inne und warf ihm einen unergründlichen Blick zu. Sie senkte den Kopf, kramte in ihrer Handtasche und warf im Vorübergehen eine Münze in den Gitarrenkasten des Musikers. »Das hat sie nicht getan. Da bin ich sicher.«

  »Hat Finch zugegeben, von Annabelle und seinem Vater gewußt zu haben?«

  »Im Gegenteil. Er behauptet, keine Ahnung gehabt zu haben. Außerdem wissen wir nicht, ob sie eine Affäre mit Lewis Finch hatte. Sie wurde lediglich mit ihm zusammen gesehen.«

  »Wie recht du hast«, bemerkte Kincaid sarkastisch. Gemmas Bemühen, nur das Beste von Annabelle Hammond zu denken, amüsierte ihn.

  Sie gingen jetzt leicht bergauf zum Ausgang des Tunnels auf der Seite von Greenwich. Gemma lief so schnell, daß Kincaid sich anstrengen mußte, Schritt zu halten. Die Musik drang nur noch in kurzen, verzerrten Wellen zu ihnen herauf.

  Das Ende des Tunnels kam in Sicht, und Tageslicht fiel durch den Treppenschacht neben dem Aufzug. Gemma ging an den Lifttüren vorbei. »Nehmen wir die Treppe. Ich halte dieses Eingeschlossensein keine Minute länger aus.«

  »Reg Mortimer und Annabelle müßten an jenem Abend diesen Weg genommen haben. Der Lift macht um sieben Uhr dicht«, sagte Kincaid. »Runterzugehen dürfte allerdings leichter sein, als hinaufzusteigen«, fügte er mit einem Blick auf die Wendeltreppe hinzu.

  »Reg hat ausgesagt, daß sie die Dinnerparty verlassen hätten, weil Annabelle sich nicht gut gefühlt habe; Jo behauptet, sie hätten sich gestritten; Teresa und Annabelles Vater sind der Meinung, die beiden hätten nie Auseinandersetzungen gehabt. Wer sagt die Wahrheit?« überlegte Gemma, während sie die Treppe hinaufstiegen.

  »Im Augenblick würde ich auf Jo tippen ... Allerdings glaube ich nicht, daß es die ganze Wahrheit ist. Wir müssen noch mal mit Mortimer reden. Aber vielleicht sollten wir uns zuerst mehr Informationen von Jo holen.«

  Wenige Minuten später traten sie etwas atemlos in die Sonnenwärme hinaus, die ihnen zur Abwechslung willkommen war. Vor ihnen tauchten die hohen Masten der Cutty Sark auf. Sie mußten um ihren Bug herumgehen, um den King Wil-liam’s Walk zu erreichen. Von dort durchquerten sie das Zentrum von Greenwich. Kleine, etwas heruntergekommene Läden duckten sich neben mit Rankpflanzen überwucherten Kneipen und Restaurants, und viele Geschäfte hatten Plakate mit der Aufschrift Rettet Greenwich in den Schaufenstern.

  »Rettet Greenwich wovor?« fragte Gemma, als sie an einem besonders einladenden Lokal namens The Cricketers vorbeikamen.

  »Vor den Erschließungsgesellschaften, nehme ich an. Jetzt, da die U-Bahnlinie bis hierher gebaut wird, wird das eine Top-Gegend für Eigentumswohnungen für Pendler.« Und das wäre ein Jammer, dachte er. Sie ließen das Stadtzentrum hinter sich und begannen, durch die Wohnstraßen bergauf zu gehen. Ein Jammer, wenn Greenwich jetzt den Bulldozern zum Opfer fallen würde, nachdem es der Zerstörung entgangen war, unter der die Isle of Dogs während des Krieges gelitten hatte.

  Als sie den Emerald Crescent erreicht hatten, fühlte er einen Schweißfilm unter dem Hemd auf seiner Haut. Die kleine Straße machte am Montag nachmittag einen noch verschlafeneren Eindruck als am Samstag abend, aber sein Klopfen an Jo Lowells Haustür wurde umgehend beantwortet.

  Harry Lowell starrte sie mit großen Augen im schmalen Gesicht an. Ihm war anzusehen, daß er mittlerweile schlechte Nachrichten mit ihrem Erscheinen verband.

  »Alles in Ordnung, Harry«, beruhigte Kincaid den Jungen. »Wir möchten nur kurz mit deiner Mutter reden.«

  »Sie ist im Schuppen. Ich bring Sie hin.« Harry drehte sich um, und sie folgten ihm durch das stille Haus. »Sarah macht Mittagsschlaf«, erklärte Harry, als sie durch den rückwärtigen Garten gingen. »Und Mami versucht zu arbeiten, während sie schläft, weil sie ein richtiger Quälgeist ist.« Als sie den kleinen blauen Schuppen erreicht hatten, steckte er den Kopf in die Tür und sagte: »Mami, die Polizei ist da.«

  Jo Lowell kam an die Tür. Sie wischte sich die Hände an einem Tuch ab, das nach Terpentin roch. »Was ...«

  »Wir möchten Ihnen nur ein paar Fragen stellen, Mrs. Lowell«, begann Kincaid. Sie sah erschöpft und leicht derangiert aus, so als habe sie kaum geschlafen oder seit Samstag einfach nicht in den Spiegel geschaut. Ein ärmelloses Oberteil entblößte sommersprossige Schultern mit Sonnenbrand, und sie trug ihr dunkles Haar achtlos zu einem Pferdeschwanz hochgebunden.

  »Sie müssen entschuldigen«, sagte Jo und betrachtete bedauernd ihre Hände. »Ich habe gerade einen neuen Lack ausprobiert. Wir können ins Haus gehen ...«

  »Hier ist es doch bestens«, versicherte Kincaid ihr. »Dauert nur eine Minute.«

  »Also gut. Aber es ist nicht viel Platz hier drin.« Sie trat zurück. Gemma und Kincaid betraten das Gartenhäuschen. Es bestand aus einem Raum, und Kincaid begriff sofort, weshalb sie gezögert hatte, sie eintreten zu lassen.

  Auf dem Arbeitstisch stand ein Eimer mit Gartenrosen und Margeriten zwischen Büchsen von Dekorationsfarben und Pinseln. Viereckige Holzstücke waren mit transparenter, gelber Farbe gestrichen und zeigten beim Trocknen unterschiedliche Maserungen. An der Rückwand enthielten Regale ein großes Sortiment an Garten- und Designbüchern sowie alte Keramikscherben und getrocknete Kräuter. Ein freundlich aussehender Wasserspeier sah von einem eisernen Spiegelrahmen auf sie herab.

  Jo deutete auf den einzelnen Korbstuhl und eine kleine Trittleiter, dann drehte sie einen leeren Eimer als Sitz für sich selbst um. »Haben Sie schon was herausgefunden?« fragte sie.

  Kincaid nahm die Trittleiter und überließ Gemma den Korbstuhl. »Mrs. Lowell, haben Sie gewußt, daß Ihre Schwester ihre Anteile an der Firma Hammond’s Ihren Kindern hinterlassen hat.«

  Jo starrte sie verständnislos an. »Ihre Anteile? Harry und Sarah? Aber ... Sie hat nie ein Wort davon gesagt.« Ihre dunklen Augen füllten sich mit Tränen, die sie mit dem Handrücken wegwischte.

  »Den Vater der Kinder hat sie als Treuhänder eingesetzt«, fuhr Kincaid fort und beobachtete sie aufmerksam.

  »Martin?« Jos Gesicht verlor jede Farbe. Im ersten Moment schien es ihr vor Entsetzen die Sprache zu verschlagen. Sie schluckte. »Sicher ist das ... das muß ein Irrtum sein.«

  Eine Hummel brummte durch das offene Fenster und versank in den Blütenblättern einer Rose. Der Duft der Blumen war so stark, daß er beinahe den Geruch der Farben übertönte. Kincaid unterdrückte ein Niesen und sagte: »Annabelles Anwältin hat uns erklärt, daß das Testament schon vor etlichen Jahren gemacht worden ist und daß Annabelle vor kurzem mit ihr darüber gesprochen habe, es ändern zu wollen. Nachdem ihre Scheidung rechtskräftig geworden war, sollten Sie als Treuhänderin eingesetzt werden. Aber dazu ist sie wohl leider nicht mehr gekommen.«

  »Aber das ist verheerend. Sie können sich nicht vorstellen ... Martin kann so verdammt - unvernünftig sein. Und mit Annabelles Anteilen hat er ein wichtiges Stimmpaket in seiner Hand. Wie konnte Annabelle nur so was Dummes machen?«

  »Sie konnte ja nicht ahnen, wie wenig Zeit ihr noch bleiben würde«, warf Gemma ein. »Vielleicht war Martin damals, als sie das Testament gemacht hat, noch nicht so schwierig.«

  »Stimmt, war er nicht. Aber das scheint lange her zu sein.«

  Gemma zückte ihr Notizbuch und schlug es auf. »Wie genau sind die Anteile verteilt, Mrs. Lowell?«

  »Mein Vater, Sir Peter Mortimer, und ich haben die Mehrheit ... jetzt zusammen mit Martin. Meine Mutter hat ihre Anteile zu gleichen Teilen Annabelle und mir vermacht. Mein Einkommen aus der Firma hat es mir ermöglicht, mich selbständig zu machen und zu Hause zu arbeiten. Wenn Martin mir das verpatzt...«

  »Wir müssen uns mit ihm unterhalten, Mrs. Lowell. Die Anwältin hat uns seine Privatadresse, nicht aber die Geschäftsadresse gegeben. Können Sie uns sagen, wo wir ihn wochentags erreichen?«

  »Ist das wirklich nötig?« Ein Blick in ihre Gesichter schien ihre Frage bereits zu beantworten, denn sie fuhr widerwillig fort: »Er ist der Direktor der Bank gleich am Anfang vom Stadtzentrum. Sie können sie nicht verfehlen.« Sie stand auf. »Hören Sie, wenn das alles ...«

  »Nur noch ein paar Fragen, Mrs. Lowell.« Als Jo wieder auf den umgestülpten Eimer sank, fügte Kincaid hinzu: »Sie haben uns erzählt, daß Ihre Schwester und Reg Mortimer bei Ihrer Dinnerparty Streit hatten. Was genau ist passiert?«

  »Ich ... ich war vor dem Nachtisch in die Küche gegangen, um schon einen Teil Geschirr abzuwaschen. Annabelle hatte den Tisch mit abgeräumt. Plötzlich ist sie in die Küche gekommen und hat erklärt, sie fühle sich nicht wohl, habe sich von den anderen Gästen bereits verabschiedet, und Reg warte bereits draußen auf der Straße. Daraufhin ist sie durch den Garten hinausgegangen.«

  »Aber Sie haben ihr die Geschichte vom Unwohlsein nicht geglaubt?«

  »Es war ein bißchen seltsam ... und kam ziemlich plötzlich. Außerdem hatte sich Reg nicht von mir verabschiedet.« Jo brachte ein Lächeln zustande. »Habe selten erlebt, daß er seine gute Erziehung vergißt.«

  »Fanden Sie es nicht merkwürdig, daß Ihre Schwester Ihnen nicht erzählt hat, was vorgefallen ist?« wollte Gemma wissen.

  Jo zögerte kurz. »Annabelle hat sich mir nicht immer anvertraut. Nicht einmal, als wir noch Kinder waren. Trotzdem hatte ich damit gerechnet, daß sie am nächsten Tag anrufen würde ...«

  »Aber Sie müssen sich doch sehr nahegestanden haben, oder?« beharrte Gemma. »Das geht schon aus den Fotos hervor, die sie bei sich aufbewahrte ... Sie scheint eine äußerst liebevolle Tante für Ihre Kinder gewesen zu sein, jedenfalls eine viel bessere, als ich es für die Kinder meiner Schwester bin ... oder zumindest war sie es, als Harry noch klein war.«

  »Annabelle hat Kinder geliebt. Sie hätte gern selbst Kinder gehabt, glaube ich ... aber die Firma hatte immer Vorrang.«

  »War Harry Annabelles erklärter Liebling?« Gemma erinnerte sich an das Ungleichgewicht bei der Zahl der Kinderfotos.

  »Nein, das würde ich nicht sagen.« Jo spielte mit dem Saum ihrer Khakishorts. »Aber nachdem sie die Leitung der Firma übernommen hatte, hatte sie nicht mehr so viel Zeit für die Kinder. Harry hat ihr das ziemlich übelgenommen. Er ist sehr ...« Sie hielt inne und horchte mit leicht zur Seite geneigtem Kopf. »Ich glaube, ich höre Sarah. Ich will lieber ...«

  »Nur noch eine einzige ...« Kincaid, der sich über die Feinheit des mütterlichen Gehörs wunderte, hielt inne, als Sarahs jammernde Stimme durch das offene Fenster drang. Er hatte bis zu diesem Zeitpunkt keinen Laut gehört. »Nur noch eine letzte Frage, Mrs. Lowell. Kennen Sie einen Mann namens Gordon Finch?«

  »Finch?« wiederholte Jo, die sich durch die Rufe ihrer Tochter deutlich abgelenkt fühlte. »Nicht Lewis Finch?«

  »Was wissen Sie über Lewis Finch?«

  »Nur, daß er und Vater nicht miteinander auskommen. Und das ist ziemlich untypisch für meinen Vater.«

  »Kennen Sie den Grund für diese Abneigung?« erkundigte sich Kincaid.

  »Ich erinnere mich, daß meine Mutter mal gesagt hat, es habe etwas mit der Zeit zu tun, die Vater während des Krieges in Surrey verbracht hat.«

  »Ihr Vater war dorthin evakuiert worden?«

  »Seine Mutter glaubte, daß Greenwich bombardiert werden würde ... sie lebten gleich nebenan. Vater wohnt dort noch immer.« Sie deutete auf die Hangseite der kleinen Straße. »Deshalb hatten seine Eltern ihn zur Patentante geschickt. Sie war eine Exzentrikerin ... eine von den Frauen, die Hosen trugen, als das für Frauen noch als unschicklich galt.« Jo lächelte. »Vater hat sie vergöttert.«

  »Hat?«

  »Er hat oft von ihr erzählt, als wir noch Kinder waren. Anna-belle hat Geschichten über die Familie geliebt.«

  »Wußte Annabelle, daß Ihr Vater Lewis Finch nicht mochte?«

  »Oh, ja. Er hat nie ein Geheimnis daraus gemacht. Ist Gordon Finch ein Verwandter von Lewis?«

  »Sein Sohn. Und offenbar war Ihre Schwester mit beiden gut bekannt. Gordon Finch war der Straßenmusikant, mit dem sie an jenem Abend im Fußgängertunnel gesprochen hatte.«

  »Lewis Finchs Sohn ist ein Straßenmusiker?« Jo runzelte die Stirn. »Wie komisch.«

  »Finden Sie es nicht komisch, daß Annabelle sich über den Wunsch Ihres Vaters hinweggesetzt ... was die Finchs betraf?« wollte Gemma wissen.

  Jo schüttelte den Kopf. »Nein. Sie haben Annabelle eben nicht gekannt. Was die Familie und die Firma betraf, hatte sie einen Tick ... genau wie Vater. Trotzdem hatte sie einen Hang zur Bosheit. Sie liebte es, sich einzumischen und alles durcheinanderzubringen.«