* 14

 

Und weil ich, trotz aller Gedanken, nicht einen Moment der guten Stunden fassen konnte, die vergangen, war ich traurig und elend und wünschte den Tod.

 

Rupert Brooke aus >Kiefern und der Himmel: Abend.<

 

Cambridge 3. September 1965

  Liebe Mami,

Du bist so rührend besorgt um mich, aber so gern ich Dich hierhätte ... es geht mir doch wirklich gut. (Obwohl ich zugeben muß, daß es ziemlich amüsant ist, wie Du und Morgan hinter meinem Rücken konspiriert.) Du hast im Augenblick selbst genug zu tun, jetzt, da Nell krank ist - und Morgan erweist sich als eine sehr liebevolle und erstaunlich kompetente Krankenschwester.

  Obwohl diese letzte Fehlgeburt relativ einfach war, habe ich beschlossen, es nicht noch einmal zu versuchen. Ich habe mir eingeredet, es mir nicht mehr so verzweifelt zu wünschen, aber der Kreislauf von Hoffnung und Enttäuschung steckt noch tief und hält mich von meiner Arbeit ab. Auch für Morgan war es schwer, und er sagt, kein Kind sei es wert, daß ich meine Gesundheit und mein Wohlbefinden dafür opfere. Also mache ich tapfer weiter und versuche dankbar für alles zu sein, was mir beschert wird.

  Daphne war ein großer Trost. Sie besucht mich oft. Morgan scheint sie um meinetwillen zu tolerieren.

  Ich habe das Angebot von einem kleinen Verlag in Cambridge, meine neuesten Gedichte als Sammlung zu veröffentlichen. Sie wollen sich auf die Avantgarde spezialisieren, und ich bin ganz stolz, als eine Vertreterin derselben zu gelten. Es bedeutet Arbeit, aber ich freue mich darauf Denk nur, endlich ein Buch! Es wird so eine Art Kindersatz werden, denke ich.

  Morgan wurde von einer Londoner Galerie gebeten, eine Einzelausstellung in ihren Räumen vorzubereiten. Sie sind durch die Serie über die walisischen Bergleute auf ihn aufmerksam geworden. Du mußt zur Eröffnung unbedingt nach London kommen, dann machen wir uns einen schönen Abend.

  Bitte mach Dir keine Sorgen ... Ich verspreche, rote Backen zu haben, wenn wir uns das nächste Mal sehen.

Alles Liebe, Lydia

 

Der Kaffeeduft holte Kincaid mit geradezu magischer Anziehungskraft aus den Tiefen des Bewußtseins. Obwohl er das Wachsein kaum mehr leugnen konnte, blieb er noch mit geschlossenen Augen hegen und versuchte zu erraten, wer ihm denn Kaffee kochte.

  Bis ihm dämmerte, daß er weder in seiner Wohnung war noch in seinem Bett lag. Er war bei Gemma.

  Normalerweise blieb er nicht über Nacht. Gemma hatte wegen Toby Gewissensbisse. Aber am vergangenen Abend hatte sie darauf bestanden. Im Bett hatten sie sich mit der stummen Leidenschaft ängstlicher Teenager geliebt, die Entdeckung fürchten. Die Erinnerung daran erregte ihn erneut. Er schlug die Augen auf und hoffte, Gemma willens zu finden, zu ihm ins Bett zurückzukommen.

  Gemma saß angezogen am halbrunden Tisch, trank Kaffee und las in einem Manuskript.

  »Du hast mich letzte Nacht nur benutzt«, sagte er beleidigt.

  Gemma sah auf und lächelte. »Ihre Kombinationsgabe ist erstaunlich, Sir.« Sie reckte sich, und ihr kurzer Pullover enthüllte blanke Haut über ihrer Taille. »Entschuldige. Habe schon befürchtet, daß dich der Kaffeeduft wecken würde. Aber ich hab’s nicht mehr ausgehalten ...«

  »Gestern nacht hast du dasselbe gesagt«, neckte er und fügte hinzu: »Wie lange bist du schon auf?«

  »Das brauchst du nicht zu wissen.« Gemma blätterte eine Seite weiter.

  Kincaid hatte ihr am Vorabend gestanden, daß eine Kopie von Vics Manuskript im Kofferraum seines Wagens lag. Sie mußte ihm im Schlaf die Autoschlüssel entwendet haben. »Diebische Elster.«

  »Ich habe auch dein Notköfferchen aus dem Kofferraum mitgebracht«, sagte sie und deutete auf Toilettenbeutel und Kleidung zum Wechseln, die er stets für alle Fälle dabeihatte.

  »Dann habe ich jetzt vermutlich keine Ausrede mehr, noch länger im Bett zu bleiben«, seufzte er resigniert. Das grünliche Licht des frühen Morgens ging allmählich in einen warmen Goldton über. Toby mußte bald aufwachen.

  »Ich finde, wir sollten heute vormittag noch mit Daphne Morris sprechen«, verkündete Gemma wenige Minuten später, als Kincaid das Hemd in die Hose steckte.

  »Gemma...«

  »Keine Widerrede«, unterbrach sie ihn energisch. »Das ist Schnee von gestern.«

  »Du bist unmöglich«, murmelte er. Er wußte, er hatte kapituliert, und fühlte sich trotzdem erleichtert.

  »Gestern nacht hast du gesagt, Darcy Eliot hätte eine lesbische Beziehung zwischen Lydia und Daphne Morris angedeutet.« Sie pochte mit dem Finger auf das Manuskript. »Falls Vic einen Verdacht hatte, hat sie ihn mit keinem Wort erwähnt. Aber angenommen, sie ist erst kurz vor ihrem Tod darüber gestolpert? Die Direktorin einer Mädchenschule hätte viel zu Verlieren, wenn so was ruchbar würde.«

  Kincaid band sich die Schuhe zu und sah auf. »Vic hat mit Daphne Morris gesprochen. Das steht in ihren Notizen. Und in diesem Gespräch hat Daphne Morris den Eindruck erweckt, Lydia kaum gekannt zu haben.«

  Gemma wirkte skeptisch. »Das ist ganz offensichtlich nicht wahr ... allein Lydias Briefe beweisen das Gegenteil. Weißt du, welche Schule Daphne Morris leitet?«

  »Nein, aber ich weiß ungefähr, wo sie liegt. Dürfte nicht schwierig sein, den Rest herauszubekommen. »Was, meinst du, machen Schuldirektorinnen samstags?«

  Schuldirektorinnen, so stellte sich heraus, verbrachten ihre Wochenenden in Landhäusern, aber Daphne Morris war aufgehalten worden. Sie erwischten sie beim Packen. Eine hagere Frau mit Pockennarben und resolutem Beschützerinstinkt führte sie in das Wohnzimmer ihrer Privatwohnung. »Ich muß Sie bitten, sie nicht lange aufzuhalten, ja?« verlangte sie, als sie sich zum Gehen wandte. »Sie braucht am Wochenende jede Minute ...«

  »Schon gut, Jeanette«, kam es amüsiert von Daphne Morris, die in Reithose und Stiefeln, das glänzende kupferrote Haar mit einem Tuch zurückgebunden, das Zimmer betrat. Sie sah aus wie aus einer Werbeanzeige für >Country Life<. »Ich verspreche dir, in einer Viertelstunde aus dem Haus zu sein.

  Jeanette befürchtete, ich könne zum mordenden Monster werden, wenn ich übers Wochenende nicht ausspanne«, fuhr Daphne Morris fort und rollte die Augen. Sie kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu, zögerte und ließ den Arm sinken, als sie die frostigen Mienen ihrer Besucher sah. »Was ist? Habe ich was Falsches gesagt?«

  »Ja wissen Sie es denn nicht?« fragte Gemma verblüfft.

  »Tut mir leid«, erwiderte Daphne verunsichert. »Aber vielleicht hat Jeanette was falsch verstanden. Wer, sagten Sie, sind ' Sie?«

  Kincaid stellte sich und Gemma vor und fügte hinzu: »Wir sind von Scotland Yard, Miß Morris. Wir möchten gern über Victoria McClellan mit Ihnen sprechen. Soviel wir wissen, ist sie wegen Lydia Brooke bei Ihnen gewesen.«

  Daphne runzelte die Stirn. »Ja, das stimmt. Aber ich verstehe nicht, was das mit Ihnen zu tun hat.«

  Kincaid warf Gemma einen Blick zu. Sie zuckte unmerklich die Schultern. Entweder hatte Daphne Morris keine Ahnung von Vics Tod oder sie war eine erstaunlich gute Schauspielerin. Das hatten sie nicht erwartet. »Miß Morris, dürfen wir uns setzen?«

  »Oh!« entfuhr es ihr erschrocken. »Verzeihen Sie! Selbstverständlich.« Daphne deutete auf das Sofa vor dem Marmorkamin und nahm in einem kleinen goldenen Sessel Platz. Der Raum war hell, klassisch schlicht eingerichtet und eher steril und unpersönlich. Fotos, aufgeschlagene Bücher oder herum-liegende Zeitschriften gab es nicht. »Also, worum geht es eigentlich?« Sie strahlt natürliche Autorität und Eleganz aus, dachte Kincaid. Ein Hauch von Schuldirektorin war spürbar geworden.

  »Victoria McClellan«, begann er und räusperte sich. »Dr. McClellan ...«

  »Dr. McClellan ist Dienstag verstorben«, kam Gemma ihm gelassen zu Hilfe.

  »Aber das ist ja schrecklich ...« Daphne sah überrascht von Gemma zu Kincaid. »Davon weiß ich ja gar nichts. Sie war doch noch so jung ...«

  »Sie ist ermordet worden, Miß Morris. Vergiftet«, erklärte Kincaid geradeheraus, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Wir vermuten einen Zusammenhang mit ihren Recherchen über Lydia Brooke.« Daphne Morris wurde blaß. Ihre Augen wurden groß. Und Kincaid hätte schwören können, daß die Gefühlsregung echt war. Was steckte dahinter? Angst oder Schock? Bevor sie sich fassen konnte, fuhr er fort: »Bei Ihrem Gespräch mit Dr. McClellan haben Sie den Eindruck erweckt, Lydia und Sie seien nur flüchtige Bekannte gewesen - alte Collegekameradinnen, deren Wege sich gelegentlich gekreuzt hätten.«

  »Aber ich ...«

  »In Wirklichkeit sind Sie und Lydia langjährige, enge Freundinnen gewesen. Wollten Sie Dr. McClellan absichtlich täuschen?«

  »Ich habe Dr. McClellan nicht getäuscht«, protestierte Daphne. »Es gab gar keinen Grund, mit einer Fremden über meine Privatangelegenheiten zu sprechen. Ich habe ein Recht auf mein Leben, meine Erinnerungen ...«

  »Und was ist mit Lydia?« fiel Gemma ihr ins Wort. »Wenn Lydia Ihnen etwas bedeutet hat, müßten Sie doch den Wunsch haben, daß eine Biographin ihr gerecht wird? Aus Lydias Briefen geht unmißverständlich hervor, daß Sie ...«

  »Briefe?« flüsterte Daphne aschfahl. »Was für Briefe?«

  »Dr. McClellan hatte selbstverständlich Einblick in Lydias Korrespondenz«, erwiderte Gemma lächelnd. »Hat sie das nicht erwähnt? Einschließlich des ausgiebigen Briefwechsels mit ihrer Mutter. Und darin werden Sie häufig erwähnt. Daher wissen wir auch, daß Sie sich mit Morgan Ashby nicht verstanden haben. Gab es einen bestimmten Grund dafür, daß Morgan Sie nicht mochte?«

  Im ersten Augenblick schien es Daphne die Sprache verschlagen zu haben. Dann reagierte sie mit Wut. »Das geht Sie nichts an. Wie Dr. McClellan Lydia darstellen würde, war mir egal. Biographien sind das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben werden. Ich habe für Leichenfledderei nichts übrig.« Sie holte Luft. »Verstehen Sie - ich unterstelle Dr. McClellan keine schlechten Absichten. Aber auch noch so lange Briefe oder Gespräche hätten nie zeigen können ...«

  »Mit Verlaub - diese Diskussion dürfte sich mittlerweile erledigt haben«, warf Kincaid ein. »Eine Biographie wird es nicht geben. Falls es jemand darauf angelegt hat, Details aus Lydias Leben vor der Öffentlichkeit geheimzuhalten, dürfte er sich jetzt die Hände reiben - Wochenenden auf dem Land beruhigt genießen, und so weiter.« Er lächelte. »Offenbar haben auch Sie gute Gründe, Einzelheiten Ihrer Beziehung zu Lydia Brooke bedeckt zu halten, Miß Morris. Zum Beispiel, falls Ihre Beziehung von einer, sagen wir, etwas unorthodoxen Natur war? Sexuell gesehen, meine ich. Ich bezweifle, daß so was im Elternbeirat Ihrer Schule Beifall finden würde.« Er sah sich unverhohlen bewundernd um. »Diese Schule ist ein ziemlich vornehmes Mädchenpensionat, soweit ich weiß.«

  Daphne sprang auf und stieß den zierlichen goldenen Sessel um, der lautlos auf den tiefen Teppich kippte. »Da steckt doch Morgan dahinter!« schrie sie unvermittelt. »Er würde alles tun, nur um mich zu treffen. Morgan ist krank vor Eifersucht. Ein pathologischer Fall! Hat er Ihnen auch erzählt, daß man ihn wegen Körperverletzung verhaftet hat? Er hat Lydia geschlagen.« Daphne Morris registrierte das überraschte Schweigen ihrer Besucher mit tiefer Befriedigung. »Er hat ihr mehrere Rippen und den Kiefer gebrochen. Dachten Sie, Morgans berühmtes Künstlertemperament sei nur harmloses Theater gewesen?«

  »Wann genau ist das passiert?« fragte Gemma gelassen.

  Daphne fuhr sich mit zitternder Hand über den Mund und ordnete ihr wirres Haar. Kincaid registrierte erstaunt ihre großen Hände.

  »Ich hätte das nicht sagen dürfen. Ich habe es Lydia versprochen.« Sie schüttelte den Kopf. »Und in all den Jahren habe ich nie ... niemals gegenüber Lydia ein Versprechen gebrochen.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

  »Sicher gibt es Beweise, Krankenberichte und so weiter ... Für den Fall, daß wir gezwungen sind, das zu überprüfen«, fuhr Gemma fort. »Trotzdem wäre es besser, Sie geben uns die nötigen Informationen. Ist das kurz vor Lydias Tod gewesen?«

  Daphne starrte sie verständnislos an. »Wie bitte?«

  »Sie haben uns erzählt, daß Morgan gegenüber Lydia handgreiflich geworden ist«, formulierte Kincaid vorsichtig. »War das kurz vor ihrem Tod?«

  »Lydia hatte zum Zeitpunkt ihres Todes Morgan seit Jahren nicht gesehen. Jedenfalls so weit ich weiß. Es war Wochen vor der Trennung. Sie ist zu mir gekommen.« Daphne tastete sich zu ihrem Stuhl zurück, und Kincaid stellte ihn hastig für sie auf. »Warum reden Sie dauernd von Lydias Tod?« wollte sie wissen. »Was hat er damit zu tun?« Daphne klammerte sich an den Sitz des Stuhls, als müsse sie sich daran festhalten.

  »Vic - Dr. McClellan - hat geglaubt, daß Lydias Tod kein ... Nein, sie war überzeugt, daß Lydia Brooke ermordet worden war«, verbesserte er sich. »Finden Sie es in diesem Zusammenhang nicht seltsam, daß auch Victoria McClellan eines gewaltsamen Todes gestorben ist?«

 

Cambridge 11. Februar 1968

  Ich habe nie geglaubt, daß es dazu kommen würde. In Trümmern. Beobachtete und Beobachterin. Die eine Lydia leidenschaftslos, rational, wissend, daß es nur zwei unvermeidliche Lösungen gibt - Tod oder Trennung.

  Die andere Lydia weiß, daß Tod die bessere Alternative gewesen wäre.

  Lydia beobachtet Lydia, die zusammengekauert wie ein Fötus im schweißnassen Bett liegt. Lydia erkennt dies als Sabotageakt, weiß, daß die andere die große, schlichte Kraft dessen, was sie verband, nie ertragen konnte. Also hat die andere die Atmosphäre vergiftet, hat mit einem Wort hier, einer Bemerkung da provoziert, wo sie hätte Trost geben können, hat mit wildem Verlangen Blut gesaugt.

  Und Lydia hat beobachtet, Elektra sprachlos, stumm, die Dichterin zum Schweigen gebracht.

  Das ist das Ende.

 

»Sie hat es kein einziges Mal geleugnet«, bemerkte Gemma mit einem Seitenblick auf Kincaid, der am Steuer saß.

  »Wer hat was nie geleugnet?« fragte Kincaid, der sich auf den Kreisverkehr konzentrierte. Er bog zur Barton Road ab.

  »Daphne hat ihr lesbisches Verhältnis mit Lydia nie geleugnet.«

  »Vielleicht war ihr die Anspielung zu läppisch, um überhaupt darauf zu reagieren«, gab Kincaid zu bedenken. »Vielleicht hält sie uns für übergeschnappt - wie Morgan Ashby. Vielleicht hat sie sich schon beim Yard über uns beschwert. Schließlich haben wir gerade eine angesehene Schuldirektorin einer lesbischen Beziehung - und des Mordes - bezichtigt. Und das ganz ohne Beweise.«

  »Sie hat uns nicht die ganze Wahrheit gesagt«, ereiferte sich Gemma. »Sie war richtig erleichtert, als sie merkte, daß wir die Briefe meinen, die Lydia an ihre Mutter geschrieben hat. War nicht zu übersehen.«

  »Sie hat für den Nachmittag von Vics Tod ein wasserdichtes Alibi.«

  Kincaid und Gemma hatten erneut mit Jeanette gesprochen und sich Daphnes Terminkalender angesehen. Beide bestätigten, daß Daphne an jenem Dienstag zahllose Gespräche geführt und mehrere Verabredungen gehabt hatte. Trotzdem wollte Gemma nicht so schnell klein beigeben. »Auch Alibis haben Lücken. Und wir wissen nicht, wohin Vic gefahren ist, nachdem sie die Fakultät am frühen Nachmittag verlassen hatte. Was ist, wenn sie zu Daphnes Wohnung gefahren ist? Daphne könnte ihr Büro unbemerkt verlassen und sie ohne Zeugen getroffen haben.«

  Kincaid blieb skeptisch. »Also ... konzentrieren wir uns auf Morgan Ashby. Wie sollen wir ihn deiner Ansicht nach überreden, sich wie ein zivilisierter Mensch mit uns zu unterhalten?«

  Gemma bekam eine Gänsehaut. Sie hatte Morgan Ashby angelogen. Selbst ein Mann, der ruhiger und ausgeglichener war, würde ihr das übelnehmen. Sie flüchtete sich in Galgenhumor. »Also wenn er auf dich nicht fliegt, müssen wir uns wohl auf meinen Charme verlassen.«

  Diesmal hielten sie sich an die ländlichen Sitten und klopften zuerst an der Hintertür. Sie hatten Morgan Ashbys Wagen nirgends entdecken können, aber ihre Hoffnung, daß der Hausherr nicht zu Hause war und Francesca ihnen den Weg bereiten würde, war bald zunichte.

  Morgan öffnete. Seine Miene war düster. Offenbar hatte er jemand anderen erwartet. Daß sie ebensowenig willkommen waren, wurde bald deutlich. »Sie schon wieder?« fuhr er Kincaid an. »Ich habe Sie doch neulich schon rausgeworfen.« Dann entdeckte er Gemma, die sich hinter Kincaid verschanzt hatte, und seine Züge entspannten sich. »Was machen Sie denn hier, Miß Ja ...« Er verstummte, sah erneut von Gemma zu Kincaid, und sein Blick wurde schlagartig giftig. »Sie interessieren sich gar nicht für den Atelierraum, was? Sie wollten nur rumschnüffeln. Verdammt, hätte ich mir denken können!« Er schüttelte angewidert den Kopf. »Jetzt reicht’s endgültig. Ich wiederhole mich ungern, aber ich sag’s noch einmal, zum Mitschreiben: Verpißt euch!«

  »Mr. Ashby«, rief Gemma, als Kincaid die Hand ausstreckte, um zu verhindern, daß die Tür zugeschlagen wurde. »Wir sind Polizeibeamte. Beide. Von Scotland Yard. Wir müssen mit Ihnen reden.«

  Morgan warf Kincaid einen verächtlichen Blick zu, aber zumindest hatte ihr Einwurf ihn daran gehindert, Kincaids Hand in der Tür einzuklemmen.

  »Scotland Yard? Dann haben Sie mir also auch einen Haufen Lügen aufgetischt, was?« wandte Morgan sich an Kincaid. »Dieses Rührstück über Ihre Ex-Frau Victoria McClellan ...«

  »Das ist die Wahrheit«, warf Kincaid ein. »Vic hat sich an mich gewandt, eben weil ich Polizist bin. Lydias Tod kam ihr nicht geheuer vor.«

  »Lydias Tod?« wiederholte Morgan. Er zögerte. »Wovon reden Sie überhaupt?«

  Gemma trat einen Schritt vor und schob sich zwischen Kincaid und Morgan. Sie erkannte ihre Chance und war entschlossen, sie zu nutzen. »Mr. Ashby«, begann sie. »Bitte lassen Sie uns rein. Wir bleiben nicht lange.«

  Morgan starrte sie drohend an. Dann zuckte er plötzlich mit den Schultern und gab den Weg frei. »Sagen Sie, was Sie sagen müssen. Bringen wir’s hinter uns.«

  Trotz des rüden Tons trat Gemma hastig hinter ihm in die Küche. Kincaid folgte ihr und machte die Tür zu.

  Socken und Unterwäsche hingen auf einer Leine über dem Ofen, und auf dem Herd kochte ein Topf Kartoffeln. Gemmas Magen knurrte. Ob vor Hunger oder Nervosität wußte sie nicht.

  Morgan stellte sich mit dem Rücken zum Herd. Er bot ihnen keinen Stuhl an. »Was meinen Sie mit nicht geheuer?« fragte er und sah von einem zum anderen. »Weshalb interessierte sich diese McClellan für die Umstände von Lydias Tod? Hat ihr die nackte Tatsache nicht gereicht?«

  »Vic hat einiges an Lydias Selbstmord als sehr unbefriedigend empfunden. Aber darauf kommen wir später. Gehen wir zuerst ein paar Jahre weiter zurück.« Kincaid trat einen Schritt auf Morgan zu. Gemma biß sich ängstlich auf die Lippe.

  »Wir kommen gerade von einem Besuch bei Daphne Morris«, fuhr Kincaid fort. Gemma sah, wie Morgan bei diesem Namen erstarrte. »Sie alle scheinen ja gut miteinander bekannt gewesen zu sein. Die Dame hat uns ein paar faszinierende Einzelheiten über Ihre Beziehung zu Lydia erzählt. Zum Beispiel das Intermezzo mit den gebrochenen Rippen. Der Vorfall ist sogar aktenkundig bei der Polizei ...«

  Gemma hörte Morgans Faust gegen Kincaids Kinnlade krachen, bevor sie überhaupt begriff, was passierte. Es folgte ein rascher Schlagabtausch. Die beiden Kampfhähne rangen schwer atmend und mit wild entschlossenen Mienen miteinander. Blut tropfte scharlachrot aus Kincaids geplatzter Lippe.

  Gemma war mit zwei Schritten bei ihnen, zerrte sie beide an den Jacken und schrie: »Aufhören! Beide! Morgan, hören Sie mir zu! Lydia hat nicht Selbstmord begangen. Jemand hat sie umgebracht. Hören Sie? Sie können es nicht gewesen sein - Sie hätten sie niemals vergiftet. Aber jemand hat es getan. Sie müssen uns helfen, Morgan ...«

  Plötzlich bekam Kincaid Morgans Arm zu fassen und bog ihn ihm routiniert auf den Rücken. Morgan verzog das Gesicht vor Schmerz.

  »Lassen Sie mich los, verdammt noch mal!« brüllte er und trat gegen Kincaids Schienbein. Aber Gemma spürte, daß er nicht mehr mit ganzem Herzen dabei war.

  Kincaid lockerte seinen Griff und keuchte wütend: »Dann behalten Sie jetzt gefälligst Ihre Pfoten bei sich, ja?«

  Morgan riß sich von Kincaid los, trat zur Seite und berührte seine Nase. Er starrte verdutzt auf die Blutspuren an seinen Fingern und sah Gemma böse an. »Weshalb sollten sie sich die Mühe gemacht haben, sie umzubringen?« schnaubte er. »Hatten sie nicht schon genug Schaden angerichtet?« Gemma beobachtete entsetzt, wie sich sein Gesicht verzerrte und er laut aufschluchzte.

  Morgan ließ sich widerstandslos von Gemma zu einem Stuhl am Küchentisch führen. Sie machte ein Geschirrhandtuch naß und reichte es ihm. Dann setzte sie sich ihm gegenüber. »Wer hat Lydia was angetan, Morgan?« fragte sie sanft.

  »Diese verdammten Perversen.« Morgan tupfte sich die Nase. Obwohl er seine Gesichtsmuskeln jetzt unter Kontrolle zu haben schien, glitzerten Tränen in seinen Wimpern.

  »Sprechen Sie von Daph ...«, begann Kincaid, aber Gemma brachte ihn mit einer heftigen Handbewegung zum Schweigen. Nach kurzem Zögern ließ Kincaid sich am oberen Ende des Tisches nieder und preßte sein Taschentuch gegen die Lippe.

  »Sie ist ein gerissenes Aas«, bemerkte Morgan. »Sie hat sich in Geduld gefaßt all die Jahre, die treue, verläßliche Daphne, und nur auf ihre Gelegenheit gewartet.«

  »Hat Lydia mit Daphne geschlafen?« wollte Gemma in neutralem Ton wissen.

  »Geschlafen?« Morgan lachte harsch. »Das ist eine verdammte Beschönigung für das, was sie getrieben haben. Sie alle, nicht nur Daphne. Und Lydia hat es vor mir breitgetreten, wenn wir unsere Kräche hatten. Sie haben sie krank gemacht, sie so verbogen, daß sie zu einer normalen Beziehung gar nicht mehr fähig war. Sie hatte Alpträume, wußten Sie das? Sie wachte schreiend und schwitzend aus Träumen auf, an die sie sich nie erinnern konnte. Und das Schlimmste - sie konnte es nicht ertragen, glücklich zu sein. Wir sind eine Weile gut ausgekommen, aber dann hat sie angefangen, herumzumäkeln, Kräche vom Zaun zu brechen. Jetzt glaube ich manchmal, sie wollte, daß ich ihr weh tat - aber damals hatte ich zu wenig Abstand. Ich habe nichts begriffen.«

  »Brauchte sie vielleicht einen Grund, um Sie zu verlassen?« fragte Gemma.

  »Oh nein! Das verstehen Sie ganz falsch.« Morgan schüttelte den Kopf. »Sie ist zwar zu Daphne gerannt, aber nach ein paar Tagen kam sie immer zu mir zurück, und es ging eine ganze Weile wieder gut.«

  »Dann hat sie Sie erneut provoziert.« Gemma begann allmählich zu begreifen.

  Morgan nickte und schloß kurz die Augen. »Erst als ich merkte, daß ich die Hände um ihren Hals gelegt hatte und sie schüttelte wie einen Hund, wußte ich, daß ich derjenige sein mußte, der den Schlußstrich zog.«

  Gemma spürte, daß Kincaid auf dem Sprung war, und schüttelte heftig den Kopf. Sie wartete, widerstand dem Impuls, Morgan zu drängen oder ihm Worte in den Mund zu legen.

  »Ich habe sie mit letzter Anstrengung losgelassen und hatte das Gefühl, meine Hände seien für immer befleckt. Wie hatte ich mich nur dazu hinreißen lassen können? Später in jener Nacht, als sie sich in den Schlaf geweint hatte, habe ich meine Sachen gepackt und bin gegangen. Am nächsten Tag habe ich die Scheidung eingereicht. Ich habe ihr das Haus und alles, was drin war, gelassen.« Er sah Gemma flehentlich an. »War es denn so schrecklich, die Ehe auf diese Art zu beenden?«

  »Es blieb Ihnen doch gar nichts anderes übrig.« Gemma berührte seine Hand. »Morgan, wer hat Lydia krank gemacht? Abgesehen von Daphne.«

  Die Haut unter seinen Augen wurde knittrig, als er die Stirn in Falten legte. »Adam natürlich. Der >Dieb ihrer Jungfernschaft<, wie sie ihn gern genannt hat. Oder das >Lamm Gottes<. Sie fand das komisch.«

  »Nur Adam?« drängte sie weiter.

  »Adam und Darcy Eliot und dieser verdammte Scheinheilige, Nathan Winter, der später zum perfekten, moralisch unantastbaren Ehemann und Vater mutiert ist.« Morgan grinste höhnisch.

  »Soll das heißen, daß Lydia mit allen geschlafen hat?«

  Gemma vermied es, Kincaid anzusehen. »Daphne eingeschlossen?«

  »Sie hat mich als Spießer beschimpft, weil ich die Bande nach unserer Hochzeit nicht mehr bei uns sehen wollte.«

  »Aber in bezug auf Daphne haben Sie nachgegeben? Nachdem Lydia die Fehlgeburten hatte. Weil Daphne die einzige Frau war, die sie in ihrer Nähe ertragen konnte. Was war später? Nach der Trennung? Ging die Affäre zwischen Daphne und Lydia weiter?«

  Morgan schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Ich habe Lydia nicht wiedergesehen - bis auf die wenigen Male, wenn wir eine Begegnung nicht vermeiden konnten.« Er wirkte plötzlich müde und erschöpft.

  »Da war Francesca.«

• »Francesca hat mich vor dem Wahnsinn gerettet. Tut sie immer noch. Und ich beneide sie nicht um diese Aufgabe.« Morgan versuchte ein Lächeln. »Wir wären beide besser dran gewesen, wenn ich ...« Er hielt inne und horchte. »Sie ist gekommen. Vom Einkaufen. Ich erkenne das Motorengeräusch des verdammten alten Volvo auf einen Kilometer Entfernung.«

  Eine Autotür fiel zu. Sie warteten. Kurz darauf ging die Hintertür auf. Francesca Ashby trat ein, ihre Haltung sorgenvoll gespannt. Sie sah Morgan mit den Blutspuren im Gesicht und ließ ihre Taschen und Päckchen fallen, wo sie stand. »Morgan! Bist du ...«

  »Alles bestens, Liebling. Keine Sorge«, beruhigte er sie.

  »Aber ...« Sie warf einen Blick auf Kincaid, an dessen Wange sich die dunklen Umrisse eines Blutergusses abzuzeichnen begannen, und sah dann zu Gemma. »Was ist passiert?« fragte sie und stellte sich neben ihren Mann.

  »Etwas, das schon lange hätte geschehen müssen«, erwiderte er und legte den Arm um ihre Taille. »Aber ich weiß nicht, ob ich es erklären kann. Es ist vorbei, Fran. Endgültig. Sie behaupten, jemand habe Lydia umgebracht. Sie hat nicht Selbstmord begangen.« Er sah zum ersten Mal seit ihrer Prügelei Kincaid an. »Sind Sie sich sicher?«

  »Im Augenblick fehlen uns noch stichhaltige Beweise. Trotzdem bin ich davon überzeugt«, erwiderte Kincaid.

  »Und Sie glauben, dieselbe Person hat Ihre Dr. McClellan umgebracht?«

  Kincaid nickte. »Können Sie sich vorstellen, wer dazu fähig gewesen wäre?«

  »Nein«, antwortete Morgan gedehnt. »Komisch - aber es ist mir auch egal.«

  »Morgan, das ist nicht dein Ernst!« Francesca trat entsetzt von ihm zurück.

  Er sah zu ihr auf. »Ich meine damit nicht, daß ich es richtig finde oder daß ich mir nicht wünsche, daß ihr Gerechtigkeit widerfährt - auf gewisse Weise. Aber begreifst du nicht, was das für mich bedeutet, Frannie?«

  »Es ist nie deine Schuld gewesen, Morgan. Egal, wie sie gestorben ist.« Sie streichelte ihm übers Haar. »Du hattest diese Art der Absolution nicht nötig.«

  »Doch, hatte ich«, widersprach er leise. »Ich verkaufe das "Haus, Fran. Hilfst du mir?« Er wandte sich zu ihr um, und als sie zustimmend nickte, entfuhr ihm ein tiefer Seufzer, der fast wie ein Schluchzen klang. Er legte den Kopf gegen ihre Brust.

  Gemma und Kincaid saßen für einen Moment bewegungslos da und betrachteten Francescas ruhige Züge. Dann standen sie auf und gingen leise hinaus.