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Die »Docklands« von einst sind den Londonern noch deutlich im Gedächtnis. Generationen von Kindern sind in jenen Straßen im Schatten der Ozeanriesen aufgewachsen, deren Bordwände, weiße Klippen, gleich hinter ihren Gärten aufragten.

 

  George Nicholson aus: Docklands, ein illustrierter historischer Überblick über Arbeit und Leben in East London

 

Er sah jede Note, die seiner Klarinette entschwebte. Es waren Töne, sanft und anhaltend, mit dem rauchig vollen Timbre, das ihn an schwarze Perlen auf der durchsichtig weißen Haut einer Frau erinnerte. If I had you hieß das Stück, ein alter Schlager in langsamen, melodischen Tempi. Hatte er dieses Stück je für sie gespielt?

  Am Anfang war sie bei seinem Spiel auf der Straße stehen geblieben, hatte ihm zugesehen, sich im Rhythmus der Musik gewiegt. Er hatte ihrer eleganten Erscheinung, ihrem an das Schönheitsideal der Präraffaeliten erinnernden Gesicht mißtraut. Und doch hatte sie ihn fasziniert. In den folgenden Monaten hatte er nie gewußt, wann sie auftauchen würde. Ein System war nicht zu erkennen gewesen. Trotzdem hatte sie ihn stets gefunden, auch wenn er seinen Standplatz wieder einmal verlegt hatte.

  Es war ein Tag wie dieser gewesen, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, ein heißer Sommertag, mit dem vagen, unbewußt wahrnehmbaren Duft, der Regen verhieß. In der Abenddämmerung kühlten Schatten die heiße, flirrende Luft etwas ab, und die Menschen strömten wie befreit auf die Straßen, rastlos und drängend, erhitzt von Getränken und vom Sommer. Und er hatte eine jazzige Improvisation of Summertime gespielt, um die Stimmung der Leute aufzugreifen.

  Sie hatte etwas abseits hinter der Menge gestanden, ihn beobachtet und sich schließlich abgewandt, ohne ihm auch nur eine einzige Münze zuzuwerfen. Sie bezahlte nie, bei keiner der folgenden Gelegenheiten, und sie sprach nicht ein Wort. Eines Abends allerdings, als sie allein gekommen war, war er es gewesen, der sie zurückrief, als sie sich zum Gehen gewandt hatte.

  Später saß sie nackt auf seinem zerwühlten Bett, sah ihm beim Klarinettenspiel zu, und er hatte sich vorgestellt, wie die Töne, von der schimmernden Masse ihres Haars magnetisch angezogen, darin verschwanden. Als er sie beschuldigt hatte, aus purer Neugier Slumtourismus zu betreiben, hatte sie nur gelacht - ein anhaltendes, herrliches Lachen - und seine Vorwürfe als »absurd« zurückgewiesen.

  Er hatte ihr geglaubt - damals. Er hatte nicht geahnt, daß die Wahrheit jenseits jedes Vorstellungsvermögens lag.

 

»Ich gehe nicht!« Lewis Finch lehnte sich in seinem Stuhl zurück und stemmte störrisch die Stiefel gegen die abgetretene Fußstütze unter dem Küchentisch.

  Seine Mutter stand am Herd, hatte ihm den Rücken zugewandt und stellte Kohl und Kartoffeln für das Abendessen des Vaters auf.

  »Du brauchst jemand, der sich um dich kümmert, wenn Dad eingezogen wird«, sagte er. »Und wenn Tommy und Edward sich freiwillig melden ...« Er wußte, welchen Fehler er gemacht hatte, als sie zu ihm herumwirbelte, den Löffel noch in der Hand.

  »Schäm dich, Lewis Finch, daß du mich so quälst. Meinst du nicht, deine Brüder machen mir nicht schon genug Sorgen mit ihrem Gerede von Uniformen und Krieg? Du tust, was ich dir sage ...« Sie verstummte, ihr schmales Gesicht von Sorge gezeichnet. »Oh, Lewis! Ich will nicht, daß du auß Land verschickt wirst, aber die Behörden behaupten, es muß sein ...«

  »Aber Cath ...«

  »Cath ist fünfzehn und hat einen Job in der Fabrik. Du bist noch ein Kind, Lewis. Und ich ruhe nicht, bevor du nicht in Sicherheit bist.« Sie kam zu ihm, strich ihm sein dickes blondes Haar aus der Stirn und sah ihn eindringlich an. »Außerdem ist bisher alles nur Geschwätz. Ich glaube keine Sekunde, daß es Krieg gibt, jetzt beeil dich, sonst kommst du zu spät in die Schule. Und nimm deine schmutzigen Stiefel von meinem Tisch«, fügte sie mit einem bedeutungsvollen Blick auf seine Füße hinzu.

  »Ich bin kein Kind mehr«, schimpfte Lewis laut, während er zur Haustür hinauspolterte. Einen Moment war er versucht, einfach die Schule zu schwänzen. Es schien irgendwie nicht richtig zu sein, in einem muffigen Schulzimmer herumzusitzen ... am ersten Tag im September.

  Er sah die Stebondale Street hinauf und dachte sehnsuchtsvoll an die Molche und Kaulquappen, die in der Lehmkuhle hinter dem Zaun warteten, aber er hatte nichts, mit dem er sie hätte fangen können. Außerdem ... wenn er zu spät kam, setzte es vor der ganzen Klasse Tatzen mit dem Lineal von Miß fenkins, und seine Mutter hatte gedroht, ihn nach St. Edmund’s zu schicken, falls es wieder Ärger in der Schule gab. Mit einem Seufzer steckte er die Hände in die Taschen und trabte in Richtung Schule.

  Der Morgen verging, und durch das offene Fenster seines Klassenzimmers in der Cubitt Town School konnte Lewis die massigen, düsteren Silhouetten der Lagerschuppen entlang des Flußufers sehen. Hinter den Lagerschuppen lagen die großen Schiffe mit ihren exotischen Ladungen ... Zucker von den Westindischen Inseln, Bananen aus Kuba, Wolle aus Australien, Tee aus Ceylon ... Miß fenkins’ Geographiestunde rückte in immer weitere Ferne. Was weiß sie schon von der Welt, dachte Lewis, während sie weiter über Steuern, Abgaben und Gesetze referierte. Zum Beispiel die Penang, die konnte von exotischen Ländern, konnte von Dingen erzählen, die wirklich wichtig waren. Die Penang war einer der wenigen Großsegler, die noch die Themse heraufkamen, und lag jetzt im Britannia-Trockendock zur Überholung. Allein der Geruch dieses Schiffs ließ Lewis sehnsuchtsvoll erschaudern. Nach der Schule wollte er ...

  Das Quietschen der Klassenzimmertür riß Lewis mit einem Ruck aus seinen Gedanken. Mr. Bales, der Direktor, stand im Türrahmen, und der Ausdruck in seinem langen, schmalen Gesicht war so eigenartig, daß Lewis’ Magen sich zusammenkrampfte. Aus dem Korridor schwappte eine Welle des Lärms in Lewis’ Klassenzimmer. Es war das Geschrei und Gepolter der Kinder aus den anderen Klassen.

  »Miß fenkins, Kinder!« Mr. Bales räusperte sich. »Ihr müßt jetzt alle sehr tapfer sein. Die Meldung kam gerade übers Radio. Wir stehen kurz vor Eintritt in den Krieg. Die Regierung hat Anweisung zur Evakuierung Londons gegeben. Wir sollen alle nach Hause gehen und uns hier in einer Stunde mit unserem Gepäck wieder melden.« Er wandte sich ab. Die Hand an der Tür, drehte er sich noch einmal um und drohte mit dem Finger: »Und vergeßt nicht eure Namensschilder und Gasmasken! Und seid pünktlich. In einer Stunde, habe ich gesagt.«

  Die Tür fiel hinter ihm zu. Im ersten Moment herrschte atemlose Stille. Dann ertönte der Schrei von Ned Norris in der letzten Reihe: »Ferien! Wir haben Ferien!«

  Die Klasse nahm die Parole auf, drängte sich hinaus und mischte sich unter die anderen Kinder im Korridor. Lewis war mitten unter ihnen, zwängte sich durch das Schultor und sprang mit einem Indianerschrei die Treppe hinunter. Mit dem Herzen allerdings war er nicht dabei.

  Die Kinder zerstreuten sich, doch als Lewis in die Seyssel Street einbog, wurde sein Schritt langsamer. Plötzlich war er sich der Geräusche der Insel bewußt, hörte das unaufhörliche Poltern, Ächzen und Ffeifen von den Docks her, das Tuten der Schlepper und das gedämpfte Stampfen der Schiffsmaschinen vom Fluß. Wie sollte Krieg sein, wenn sich nichts geändert hatte?

  Er dachte erneut an die Penang, die für die Rückreise nach Australien überholt wurde. Er wollte sich am liebsten an Bord verstecken, ein neues Leben in den Outbacks beginnen, sich nicht zu einer fremden Familie auf dem Land verschicken lassen wie ein fehlgeleitetes Gepäckstück. Mit fast elf Jahren war er alt genug, um zu arbeiten. Er war groß für sein Alter und stark, sichergab man ihm irgendwo Arbeit.

  Als er oben in die Stebondale Street einbog, sah er das alte Fahrrad seines Vaters ordentlich gegen die Vordertür ihres Hauses gelehnt stehen. Die Spitzenvorhänge der Mutter, brüchig vom vielen Waschen, blähten sich im offenen Fenster.

  In diesem Moment wußte er, daß er nicht weglaufen konnte. Allein die Vorstellung von den Tränen der Mutter oder der stummen Enttäuschung des Vaters waren für ihn unerträglich.

  Lewis versetzte dem Fahrrad einen so kräftigen Fußtritt, daß es mit zufriedenstellendem Krachen umfiel. Er ließ es einfach liegen, ging hinein und in die Küche, und als er die Gesichter seiner Eltern sah, wußte er, daß die Nachricht ihm schon vorausgeeilt war.

 

George Brent schwenkte die Arme, soweit es die Hundeleine erlaubte, und ging etwas schneller. Er brauchte die körperliche Bewegung in diesen Tagen ebenso dringend wie Sheba, denn selbst bei dieser Hitze taten ihm morgens beim Aufstehen sämtliche Knochen weh. Er verdrängte hastig die Gedanken daran, wie er den kalten feuchten Winter überstehen sollte. Hatte keinen Sinn, über etwas zu jammern, das man nicht ändern konnte, schon gar nicht an einem so herrlich heißen Sommertag. Der Winter war noch Monate entfernt, und seine größte Sorge im Moment war, sich keinen Sonnenbrand auf der Glatze zu holen.

  Sheba trottete vor ihm her, die Schnauze tief über dem Boden, um jede Witterung aufzunehmen, der kleine schwarze Körper zitternd vor gespannter Erregung. Als sie das indische Restaurant in der Manchester Road passierten, hob sie die Nase und schnüffelte geräuschvoll. Die würzigen Düfte, die aus der Küche drangen, waren George jetzt so vertraut wie einst der Geruch von Kohl und Wurst in seiner Kindheit, aber er hatte sich nie recht entschließen können, das Zeug zu probieren ... obwohl er zugeben mußte, daß er auf das Drängen von Mrs. Singh hin wohl eines Tages seinen Widerstand aufgeben würde.

  Er winkte Mrs. Jenkins in der Reinigung nebenan zu und ging wieder schneller. Er war an diesem Morgen spät dran, denn er hatte Mrs. Singh mit ihrem Fernseher geholfen, und vermutlich würde er seine Kumpel verpassen, die sich täglich zum Kaffee im ASDA-Supermarkt trafen. Allerdings war es schließlich nur fair, einem Nachbarn zu helfen, oder? Besonders einer so guten Nachbarin wie Mrs. Singh.

  Er lächelte bei dem Gedanken daran, was seine Töchter sagen würden, wenn sie wüßten, was mit der Witwe nebenan lief, und bog um die Ecke in die Glengarnock. Sie dachten wohl, damit sei’s für ihn vorbei. Aber er hatte noch nicht alle Munition verschossen. Wie konnte man von einem Mann erwarten, sich nach so vielen Jahren mit regelmäßigem Sex zu kasteien? Was für ihn das Andenken an die Mutter seiner Kinder allerdings nicht schmälerte.

  Als sie in die Stebondale Street kamen, zerrte Sheba an der Leine, witterte die Nähe des Parks, doch George verlangsamte seine Schritte, als sie die Wohnhäuser gegenüber dem Eingang zum Rope Walk erreichten. Sie weckten in ihm die Erinnerung an die Sendung über den Blitzkrieg, die er am Vorabend im Radio gehört hatte. Während er gemütlich bei einer abendlichen Tasse Tee in seiner Küche gesessen hatte, hatte ihn unerwartet die Flut der Erinnerungen eingeholt ... an das Geräusch der Bomber im Anflug, die Sirenen, die Zerstörung.

  Er blieb stehen und befahl Sheba, sich zu setzen. Er nahm die Häuser jetzt für selbstverständlich, ging täglich gedankenlos an ihnen vorüber, aber diese kurze Reihe von einem halben Dutzend Häusern war alles, was von der Stebondale Street übrig geblieben war, die er vor dem Krieg gekannt hatte. Der Rest war zerstört worden, wie das meiste auf der Insel, wie die Häuser, in denen er aufgewachsen war.

  Er war damals zu alt gewesen, um aufs Land verschickt zu werden, und hatte daher die schlimmsten Luftangriffe im Herbst und Winter 1940 miterlebt. Seine Mundwinkel zuckten nach oben, als er sich daran erinnerte, wie er sich an seinem siebzehnten Geburtstag in der Rekrutierungsstelle gemeldet hatte. Das eigentliche Kampfgeschehen, dessen war er sicher gewesen, war besser als das ständige Warten darauf, daß die Bomber kamen.

  Wenige Monate später waren ihm die Nächte im Unterstand im Garten wie das Paradies erschienen. Aber er hatte auch das überstanden. Zumindest hatte ihn die Zeit in Italien gelehrt, die Zukunft Zukunft sein zu lassen.

  Shebas ungeduldiges Kläffen riß ihn aus seinen Tagträumereien. Er ging gehorsam weiter, und bald, als er sie von der Leine und in ihre ersehnte Freiheit entließ, rannte sie in gestrecktem Galopp davon. George folgte ihr in seinem Tempo, den Rope Walk zwischen Mudchute und Millwall Park hinunter, und geriet leicht außer Atem, als es die Anhöhe zum Mudchute Plateau hinaufging. Oben verschwand Sheba aus seinem Blickfeld, während sie den Karnickelspuren durch das dichte Gras folgte. George jedoch blieb auf dem schmalen Weg, der am Rand des Parks entlangführte. Der Hund schien stets zu wissen, wo sein Herrchen war, auch wenn dieser ihn längst aus den Augen verloren hatte. Und Sheba streunte nie.

  Als er das Parkgatter zum ASDA-Supermarkt erreichte, warf er einen Blick auf die Uhr. Es war mittlerweile halb zehn geworden - und seine Kumpel hatten das gemeinsame Frühstück wahrscheinlich längst beendet. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, und er schwitzte ... der Gedanke an eine Tasse Kaffee, auch wenn er sie allein trinken mußte, war trotzdem verlockend. Doch je länger er herumtrödelte, desto heißer würde es auf dem Heimweg werden.

  Er wischte sich die Stirn mit dem Taschentuch trocken und ging weiter. Auf diesem Abschnitt wuchsen die Brombeerranken bis in den Weg, verhakten sich in seinen Hosenbeinen, und er blieb einen Moment stehen, um besonders hartnäckige Brombeerdornen aus den Schnürsenkeln seiner Schuhe zu lösen. Während er noch kniete, hörte er Sheba laut aufjaulen.

  Stirnrunzelnd löste er die Brombeerranke aus dem Schuhband. Daß Sheba ausgerechnet hier jaulte, kam ihm merkwürdig vor, da ihr normales Repertoire auf dieser Wegstrecke aus aufgeregtem Bellen und Kläffen bestand. Hatte sie sich vielleicht verletzt? Unruhig geworden, stand er hastig auf und starrte angestrengt auf den Weg. Der Laut hatte geklungen, als sei Sheba weit vorausgelaufen.

  »Sheba!« rief er und hörte selbst das ängstliche Vibrieren seiner Stimme.

  Diesmal war das Jaulen noch deutlicher zu hören. Es kam irgendwo von vorn und nach rechts versetzt neben dem Weg. George rannte in diese Richtung, sein Herz klopfte, als er die sanfte Kurve im Dauerlauf umrundete.

  Die Frau lag auf dem Rücken im hohen Gras gleich neben dem Trampelpfad. Sie hatte die Augen geschlossen, und die Strähnen ihres üppigen langen, rotblonden Haars waren mit den Ranken einer weißblühenden Winde verwoben. Sheba, die neben ihr kauerte, sah erwartungsvoll zu George auf.

  Sie war wunderschön. Im ersten Augenblick dachte er, sie schliefe, sagte sogar zögernd: »Miß ...«

  Dann ließ sich eine Fliege auf der weißen Hand nieder, die bewegungslos auf dem Revers ihres Jacketts ruhte, und da wußte er Bescheid.