* 13

 

Hilflos liege ich.

  Und um mich wandeln die Füße deiner Wächter. Über mir ein Rauschen und der Strahlenglanz von Flügeln,

  ein unerträglicher Strahlenglanz von Flügeln ...

 

Rupert Brooke aus >Im Freien schlafen: Vollmond<

 

Der Tag von Victoria McClellans Begräbnis brach an, klar und kalt. Gemma kleidete sich besonders sorgfältig. Sie wählte einen schwarzen Rock mit passendem Jackett und nahm sich Zeit, ihr Haar zu einem Zopf zu flechten.

  Sie hatte den Rest des vorausgegangenen Nachmittags damit verbracht, durch Cambridge zu wandern und sich mit der Stadt und ihren Colleges vertraut zu machen. Bei ihrer späten Rückkehr hatte sie eine Nachricht von Kincaid auf ihrem Anrufbeantworter vorgefunden. Er hatte ihr Termin und Ort der Trauerfeier mitgeteilt und sie gebeten, ihn anzurufen. Letzteres hatte sie unterlassen.

  Was Gemma zu sagen hatte, wollte sie persönlich und nicht am Telefon besprechen. Also fuhr sie rechtzeitig nach Grantchester, um vor der Kirche auf seine Ankunft zu warten. Sie fand einen Parkplatz in der High Street unterhalb von Vics Cottage. Als sie ausstieg, atmete sie tief ein, um einen klaren Kopf zu bekommen. Die strahlende Sonne hatte das Wageninnere aufgeheizt und sie schläfrig gemacht. Mittlerweile war es so warm geworden, daß sie den Mantel im Auto lassen konnte. In der Luft lag die unverwechselbare Milde des Frühlings.

  Vom Parkplatz ihres Wagens aus konnte Gemma den Kirchturm über den Baumwipfeln aufragen sehen. Die Turmuhr stand auf Viertel vor zwölf, nicht auf zehn Minuten vor drei, wie in Rupert Brookes Gedicht. Das gab ihr Zeit, dem alten Pfarrhaus einen Besuch abzustatten, in dem Rupert Brooke gelebt und gearbeitet und dem er in seinem Gedicht >The Old Vicarage, Grantchester< ein Denkmal gesetzt hatte.

  Ein kurzer Spaziergang führte sie auf der High Street bergab und zu einem schmiedeeisernen Tor. Gemma umfaßte zwei Eisenstreben mit den Händen und spähte in den Garten. Sie fühlte sich ein wenig wie ein vorwitziges Schulmädchen, entschuldigte sich jedoch damit, daß die Bewohner des alten Pfarrhauses an die Neugier der Öffentlichkeit gewöhnt sein mußten.

  Das Haus, das schon vor Brookes Zeit nicht mehr als Pfarrei genutzt worden war, befand sich seit Jahren im Besitz eines bekannten Schriftstellers und dessen Frau, einer Wissenschaftlerin. Sie hatten das gemütliche Haus mit viel Gefühl und Rücksichtnahme auf die Legende >Rupert Brooke< renoviert. Der aufwendig angelegte Garten allerdings hatte kaum Ähnlichkeit mit dem verwilderten Grundstück, das die Fotos in Hazels Büchern gezeigt hatten. Der gute Rupert, dachte Gemma, wäre angesichts der Vergewaltigung seiner herrlichen Wildnis sicher enttäuscht gewesen.

  Gemma trat vom Tor zurück und warf noch einen Blick auf den Tennisplatz, der zum Haus gehörte. Sie ging an der Einfahrt von >The Orchard< vorbei und hinunter zum Fluß, bis sie in das Gartenlokal mit seinen Tischen und Sonnenstühlen unter den knorrigen Apfelbäumen hineinschauen konnte. Dort, unter blühenden Bäumen, in jenen fernen Apriltagen der Jahrhundertwende, hatten sie gesessen: Rupert Brooke und seine Freunde, hatten gelacht, diskutiert und die Zukunft geplant, die für so viele von ihnen niemals stattgefunden hatte.

  Jemand hatte vor das Denkmal auf dem Kirchhof ein Glas mit weißen Krokussen und gelben Osterglocken gestellt. Gemma fuhr die Worte mit dem Finger nach, die in den Obelisken aus Granit gemeißelt waren.

  Zur Ehre Gottes in Liebe und dankbarer Erinnerung ... 1914-1918 ... unseren tapferen Männern

  Sie ging zur Rückseite und las dort die eingravierten Namen der jungen Dorfbewohner, die ihr Leben im Ersten Weltkrieg gelassen hatten. Rupert Brookes Name stand unter ihnen.

  Gemma hatte die Hand auf den warmen Stein gelegt, als Kincaids Stimme sie aus ihren Gedanken riß. »Gemma! Ich dachte, du kommst gar nicht!«

  Sie drehte sich um. Kincaid eilte über den Rasen auf sie zu. Er trug einen streng anthrazitgrauen Anzug mit blütenweißem Hemd und dunkler Krawatte. Er sah müde aus.

  »Ich wollte mit dir reden«, begann sie. »Vor der Beerdigung. Deshalb habe ich nicht angerufen.«

  Angesichts dieser Logik zog er eine Augenbraue hoch, warf dann aber zustimmend einen Blick auf die Uhr. »Es ist noch früh. Gehen wir ein paar Schritte.«

  Sie schlenderten durch das überdachte Tor auf den Friedhof und an den Reihen flechtenbewachsener Grabsteine entlang. Kein Grund, um den heißen Brei herumzureden, dachte Gemma und sah zu ihm auf. »Ich schulde dir eine Erklärung für Vorgestern«, begann sie. »Ich hatte kein Recht, dir Vorschriften zu machen.«

  Er lächelte andeutungsweise. »Wann wäre das je ein Hinderungsgrund gewesen?«

  Gemma ging auf das Geplänkel nicht ein. »Besonders, weil ich weiß, wie dir zumute ist.« Sie warf einen Blick zurück zur Kirche. »Ich verstehe, warum du herausfinden mußt, wer Vic getötet hat. Ich will dir helfen.«

  Kincaid drehte sie zu sich um. »Nein, Gemma. Ich weiß dein Angebot zu schätzen, aber ich will nicht, daß du meinetwegen deinen Job riskierst.«

  »Es ist nicht nur deinetwegen. Ich tue das für Vic. Ich bin schon mittendrin, es gibt also kein Zurück. Außerdem ...« Sie lächelte und legte den Handrücken gegen die Stirn. »... habe ich Grippe. Ich bin die nächsten Tage arbeitsunfähig.«

  »Gemma ...«

  »Was oder wer kann uns davon abhalten, mit Leuten zu reden? Gestern war ich bei Morgan Ashby und seiner Frau ...«

  »Du warst wo? Der Mann ist ein Verrückter! Bist du vollkommen ...« Seine Miene erstarrte. Sein Blick war über ihre Schulter gerichtet, und sie fragte sich, was oder wer sie vor seiner Standpauke gerettet hatte.

  »Großer Gott!« stöhnte er. »Da ist meine Mutter.«

  Gemma starrte ihn verblüfft an. »Wie bitte?«

  »Ich wollte es dir sagen ... Ich hatte sie angerufen. Sie wollte kommen, falls sie sich freimachen kann.«

  »Aus Cheshire?« krächzte Gemma. »Aber das ist eine halbe Weltreise.« Sie wandte sich um, sah durch das Tor und suchte unter den Leuten, die sich vor der Kirche zu sammeln begannen, nach einem Gesicht mit vertrauten Zügen.

  »Sie hat Vic gemocht«, erklärte Kincaid. »Komm! Ich stell dich vor. Und über die andere Sache reden wir später.«

  Nachdem Kincaids Mutter ihren Sohn umarmt hatte, hielt sie Gemma lächelnd die Hand hin. »Ich bin Rosemary.«

  Die Ähnlichkeit war vorhanden, dachte Gemma. Es waren das kastanienbraune Haar, die Augen und der Mund.

  »Dein Vater wollte auch mitkommen«, fuhr Rosemary, an Kincaid gewandt, fort. »Aber Liza hat heute ihren freien Tag, und einer muß im Geschäft bleiben.« Sie sah zu ihm auf und berührte seine Wange kurz mit den Fingerkuppen. »Es tut mir so leid, mein Liebling.«

  Kincaid lächelte und ergriff ihre Hand. »Die Kirche füllt sich schon. Gehen wir lieber rein.«

  Gemma hielt absichtlich Abstand, um Mutter und Sohn einige Minuten allein zu lassen, aber Kincaid wartete, bis sie die beiden eingeholt hatte, und nahm ihren Arm. »Setzen wir uns in eine der hinteren Reihen«, murmelte er, und Gemma sah, wie er die Trauergäste beobachtete, die hereinkamen, sich jedes Gesicht einprägte.

  Die Kirche hatte die nächtliche Kälte gespeichert, und Gemma fühlte die Wärme seines Körpers, als er sich über sie beugte und seiner Mutter zuflüsterte: »Sieht so aus, als habe Pfarrer Denny einiges mit uns vor.« Er wedelte mit dem reichhaltigen Programm des anstehenden Gottesdienstes, das auf jedem Sitzplatz lag. »Machen wir uns auf einiges gefaßt.«

  Gemma empfand den routinemäßigen Ablauf des Trauergottesdienstes als tröstlich. Sie ließ Reden und Lieder über sich ergehen, während sie die Gesichter der Umgebung betrachtete und sich fragte, wer diese Leute sein mochten und was sie wohl Vic bedeutet hatten. Und was Vic ihnen bedeutet hatte, dachte sie mit einem verstohlenen Blick auf Kincaids verschlossene Miene. Nichts an ihm verriet dem unaufmerksamen Betrachter seine Emotionen.

  Nach dem Gottesdienst erhob sich die Trauergemeinde und trat schweigend ins Sonnenlicht hinaus.

  Gemma, Kincaid und Kincaids Mutter gehörten zu den ersten, die durch das Portal ins Freie gelangten. Kincaid dankte dem Pfarrer und führte die beiden Frauen dann beiseite, wo sie den zögerlichen Strom der Trauernden aus der Kirche beobachten konnten. »Die meisten scheinen nicht recht zu wissen, was sie jetzt anfangen sollen«, bemerkte Kincaid. »Es ist kein Empfang angesagt, aber sie scheinen sich auch nicht einfach so davonmachen zu wollen.«

  »Das ist alles sehr seltsam.« Rosemary schüttelte den Kopf. »Ich bin überrascht, daß ihre Eltern so gar nichts organisiert haben. Ich hätte nicht erwartet, daß Eugenia je eine Gelegenheit auslassen würde, vor Publikum ihre gesellschaftliche >Korrektheit< unter Beweis zu stellen.« Sie zog eine Grimasse. »Verzeihung, das war nicht nett von mir.«

  Kincaid lächelte. »Du hast doch recht. Ich hab mir dasselbe gedacht.«

  »Jedenfalls muß ich Eugenia und Bob erst mal kondolieren«, seufzte Rosemary wenig begeistert.

  »Ich möchte gern mit Kit reden ...«, begann Kincaid und sah dann lächelnd zu einer jungen Frau hinüber, die durch das Portal auf sie zukam. Gemma schätzte sie auf Vics Alter. Sie hatte kinnlanges braunes Haar und ein sympathisches Gesicht. Sie strahlte Kincaid an, als habe sie einen lange vermißten Bruder wiedergefunden.

  »Gott sei Dank! Das haben wir hinter uns«, seufzte sie. Aus der Nähe sah Gemma die verschmierte Wimperntusche und die zuckenden Mundwinkel.

  Zu Gemmas Überraschung nahm Kincaid ihre Hand und tätschelte sie. »Das ist Laura Miller, die Sekretärin von Vics Fakultät«, stellte Kincaid sie vor. »Meine Mutter, Rosemary Kincaid, und Gemma James.«

  Gemma war Rosemary ebenso schlicht vorgestellt worden, und ohne den Panzer ihres offiziellen Status als Kriminalbeamtin fühlte sie sich seltsam unsicher.

  »Entschuldigen Sie ... ich bin ziemlich durcheinander.«

  Laura tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen. »Aber Eugenia Potts hat mich gerade zur Schnecke gemacht. Ich bin perplex. Sie erlaubt nicht, daß ich mit Kit rede. Ich wollte ihm nur sagen, daß seine Freunde aus der Schule nach ihm fragen. Was ist mit dieser Frau los?«

  Kincaid wechselte einen Blick mit seiner Mutter. »Ich weiß nicht. Selbst für Eugenia ist das Benehmen ungewöhnlich. Wo sind die beiden überhaupt?«

  »Noch in der Kirche. Iris hat sich nicht davon abbringen lassen, ihnen persönlich ihr Beileid auszusprechen. Hoffentlich stößt sie auf mehr Entgegenkommen als ich.« Laura runzelte die Stirn. »Iris kann im Augenblick wirklich nicht noch mehr Aufregung gebrauchen. So schlimm wie ...« Sie verstummte, starrte an Gemma vorbei. »Seht mal! Da ist sie ja.«

  Gemma drehte sich um. Eine korpulente ältere Frau kam mit energischen Schritten auf sie zu. Im Schlepptau hatte sie eine kleinere, aufgeregt wirkende Dame.

  »Wer ist die Begleiterin?« fragte Kincaid.

  »Das ist Enid, Iris’ ... hm, Freundin«, antwortete Laura leise und hastig, dann hatten die beiden Frauen die Gruppe erreicht, und man stellte sich gegenseitig vor.

  Iris Winslow machte, wie Laura, kein Hehl aus ihrer Freude, Kincaid zu sehen. »Ich bin wirklich froh, daß Sie gekommen sind«, seufzte sie und fügte mit einem Seitenblick auf Enid hinzu: »Ich fand den Trauergottesdienst sehr angemessen. Egal, was andere sagen. Ich glaube, Vic wäre einverstanden gewesen. Und das ist doch die Hauptsache, oder? Sie ist nie fürs Pompöse gewesen.«

  Enid kräuselte die Lippen und murmelte Zustimmendes.

  Kincaid stöhnte unterdrückt. »War Eugenia Potts vielleicht mit dem armen Pfarrer Denny nicht zufrieden? Oder was?«

  »Leider ist das der Fall«, erwiderte der großgewachsene, hagere Mann im Anzug eines Geistlichen, der sich in diesem Moment zu ihnen gesellte. »Aber ich schätze, er kann damit umgehen.« Er lächelte, und Gemma fühlte sich sofort zu ihm hingezogen. Im nächsten Moment erfuhr sie, daß er Adam Lamb war. Iris begrüßte ihn überschwenglich.

  Während Gemma der Unterhaltung nur bruchstückhaft folgte, ließ sie ihre Blicke über die Runde schweifen und versuchte die Anwesenden in die richtige Beziehung zu Vic zu setzen. Iris Winslow war offenbar ihre Vorgesetzte, und Darcy Ellot, der große Mann in der malvenfarbenen Weste, der inzwischen ebenfalls zu ihrer Gruppe gestoßen war, einer ihrer Kollegen. Was Adam betraf, war sie nicht ganz sicher. Jedenfalls schien er Iris und Darcy zu kennen. Dann hörte sie, wie Kincaid leise zu ihm sagte: »Wie hält sich Nathan?« Der Name wenigstens sagte ihr etwas. Nathan hatte Vic das Buch gegeben, in dem sie Lydias unveröffentlichte Gedichte entdeckt hatte. Außerdem wußte sie von Kincaid, daß er als Lydias Nachlaß Verwalter fungierte.

  Adam schüttelte unmerklich den Kopf. »War ein schwieriger Tag, fürchte ich. Er redet gerade mit Austin - Pfarrer Denny -, danach bringe ich ihn nach Hause. Da gibt’s kein Pardon.«

  War Nathan krank und Adam so etwas wie sein Pfleger? fragte sich Gemma. Aber dann trat auch Nathan Winter in den immer größer werdenden Kreis um Kincaid. Gemma musterte den überraschend gutaussehenden Mann Anfang Fünfzig erstaunt.

  »Adam gebärdet sich in letzter Zeit zunehmend wie eine besorgte Gouvernante«, erklärte Nathan, als habe er das Gespräch zwischen Adam und Kincaid gehört. »Dabei geht es mir ganz gut.« Sein Optimismus wirkte aufgesetzt. Und seine glanzlosen Augen und die tiefen Falten an den Mundwinkeln straften ihn Lügen. »Außerdem habe ich nicht die Absicht zu verschwinden, ohne mit Kit gesprochen zu haben«, fügte er hinzu. »Gibt’s was Neues von Ian McClellan?« fragte er Kincaid.

  »Nicht die Spur«, erwiderte Kincaid. »Bin gerade heute morgen im Polizeipräsidium gewesen. Die sind keinen Schritt weiter. Der Mann scheint wie vom Erdboden verschwunden zu sein.«

  »Mistkerl«, erklärte Nathan laut und deutlich, und die Unterhaltung um ihn herum verstummte vorübergehend.

  Rosemary wandte sich an Darcy Eliot und sagte fröhlich in die gespannte Stille hinein: »Ich liebe Ihre Bücher, Mr. Eliot. Und ich verehre Ihre Mutter ... Wie lange ich schon ein Fan von ihr bin, sage ich lieber nicht laut.«

  »Sehr freundlich«, bedankte Eliot sich. »Leider läßt mir die Bildungsbürokratie heutzutage kaum Zeit für diesen angenehmen Zeitvertreib. Meine Mutter andererseits scheint mit jedem Jahr produktiver zu werden.«

  »Hätten wir doch alle etwas von Margerys Vitalität«, bemerkte Iris. »Ich weiß nicht, wie sie das macht.«

  »Sie behauptet, das gelegentliche Glas medizinischen Sherrys sei eine große Hilfe«, erklärte Darcy mit einem Zwinkern.

  »Und ich muß sagen, diese Art von Medizin hätten wir heute alle dringend nötig. Ist mir schleierhaft, weshalb ...« Er hielt inne und sah Iris stirnrunzelnd an. »Iris, hast du was?«

  Iris war blaß geworden und hatte nach Enids Arm gegriffen, lächelte jedoch tapfer in die Runde. »Nichts, was ein kleiner Schluck aus der untersten Schublade deines Schreibtischs nicht beheben könnte, Darcy. Sind nur die Kopfschmerzen, die mich schon einige Tage plagen.«

  »Fühlen Sie sich nicht wohl, Dr. Winslow?« erkundigte sich Adam besorgt. »Nathans Haus liegt gleich oben an der Straße - kommen Sie! Ich koche Ihnen eine Tasse Tee. Nathans Kräuter wirken Wunder. Soviel ich weiß, hat er auch eine Mischung gegen Kopfschmerzen.« Er nahm sie beim Ellbogen und wandte sich Nathan zu. Doch Nathan starrte nur stumm auf das Trio, das gerade durch das Kirchenportal ins Freie getreten war. Die verwelkte Blondine im dunklen Kostüm mit dem schwarzen Strohhut muß Vics Mutter sein, dachte Gemma, und der magere Mann mit dem schütteren Haar an ihrer Seite offenbar ihr Vater. In ihrer Mitte wirkte Kit bleich und elend. Die Ärmel seines marineblauen Blazers waren zu kurz, und die knochigen Handgelenke, die darunter hervorragten, erschütterten Gemmas Mutterherz mehr als alles andere.

  Rosemary legte Kincaid kurz die Hand auf den Arm.

  »Duncan, ist das Vics Sohn?« fragte sie, und ihre Stimme klang plötzlich rauh.

  »Ja«, antwortete Laura, bevor Kincaid etwas sagen konnte. »Das arme Kind ist verdammt schlecht weggekommen, als der liebe Gott die Großeltern verteilt hat.« Ihr Mund war vor Wut ganz verkniffen.

  Alle standen wie versteinert, als das Ehepaar Potts Kit in Richtung Auffahrt drängte. »Sie hat tatsächlich die Absicht, ohne ein Wort an uns vorbeizugehen«, bemerkte Rosemary völlig verdattert. »Das ist ja nicht zu fassen!«

  Ihre Worte schienen Nathan aus seiner Starre zu reißen. Er machte einen Schritt vorwärts und rief: »Kit, warte!«, und alle anderen liefen wie die Lemminge hinter ihm her.

  Vics Vater blieb stehen und drehte sich um. Gemma sah das Mißfallen, das aus der Haltung der Mutter sprach, als sie gezwungen war, ebenfalls stehenzubleiben.

  »Hallo, Kit«, sagte Nathan, als sie die drei erreichten. Die anderen verschanzten sich verlegen hinter Nathans breitem Rücken. »Ich wollte mich nur erkundigen, wie’s dir geht.«

  Hinter dem schmalen Schleier ihres Strohhuts war Eugenias Gesicht vom Weinen geschwollen und gerötet. Sie hielt mit zitternder Hand ein Taschentuch an die Lippen und sagte kein Wort.

  In der Stille klang Kits Antwort wie ein Schrei der Verzweiflung: »Ich wünschte, ich wäre tot.«

  »Christopher!« jammerte Eugenia. »Hast du denn keine Achtung...«

  »Eugenia«, fiel Rosemary ihr ruhig ins Wort und trat vor. »Das mit Victoria hat mich sehr getroffen. Es muß schrecklich für dich sein.«

  »Du weißt gar nicht, wovon du redest, Rosemary Kincaid. Wenn du dein einziges Kind verloren hättest ...«

  »Ich möchte deinen Enkel gern kennenlernen«, fuhr Rosemary fort und unterbrach sie erneut. Sie hielt Kit eine Hand hin. »Hallo, Kit. Ich bin Rosemary. Duncans Mutter. Warte mal ...« Sie neigte den Kopf leicht zur Seite und sah ihn prüfend an. »Du mußt jetzt - wie alt sein? Zwölf? Dreizehn?«

  »Elf«, antwortete Kit mit kurz aufflackerndem Interesse und straffte die Schultern.

  »Und was spielst du in der Schule? Rugby? Fußball?«

  »Fußball«, gab er mit einem ängstlichen Seitenblick auf die Großmutter zu.

  »Dachte ich’s mir.« Rosemary lächelte. »Du erinnerst mich etwas an ...« Sie wandte sich hilfesuchend an die anwesenden Männer. »Wie heißt doch der Bursche, der für Manchester United spielt?«

  »Ich fühle mich elend, Robert«, warf Eugenia ein. »Bitte bring uns sofort nach Hause.« Sie sank leicht vornüber, und Kit stöhnte auf, als sie hilfesuchend nach seinem Arm griff.

  »Selbstverständlich, meine Liebe«, sagte Bob Potts. »Warte hier. Ich hole den Wagen.«

  »Ich möchte kurz mit Kit sprechen, wenn’s recht ist«, meldete sich Kincaid zu Wort. »Es ist ziemlich wich ...«

  »Mir wird schlecht«, jammerte Eugenia und fächerte sich mit dem Gottesdienstprogramm Luft zu. »Robert!« Sie begann mit unsicheren Schritten die Auffahrt hinunterzugehen, ohne den Griff um Kits Arm zu lockern.

  »Tut mir leid«, seufzte Bob Potts und zuckte entschuldigend die Schultern. »Ich fürchte, wir müssen uns verabschieden. Sie fühlt sich gar nicht wohl.« Er ging hinter seiner Frau her, drehte sich jedoch noch einmal um. »Tut mir wirklich leid«, wiederholte er. »War nett, dich wiederzusehen, Rosemary. Grüß Hugh von mir. Und ... danke.«

  Die kleine Gruppe im Kirchhof sah zu, wie Bob Potts Eugenia und Kit einholte und ihnen in den Wagen half. Schweigend sahen die anderen zu, wie der Wagen auf die High Street einbog und hinter der Kurve verschwand.

  Dann sagte Kincaid ruhig: »Er heißt in Wirklichkeit Bob. Einfach nur Bob. Hat er mir mal erzählt. Aber sie nennt ihn beharrlich Robert.«

 

»Mein Gott, was für eine Farce!« sagte Rosemary Kincaid, warf einen Blick auf die beherrschte Miene ihres Sohnes und ließ sich in den Liegestuhl sinken. »Solche Anlässe sind traurig genug, auch ohne zusätzlichen Zündstoff.« Sie hatte sich nicht davon abbringen lassen, Duncan und Gemma zum Tee im >Orchard< einzuladen. »Wir haben alle eine Stärkung nötig«, hatte sie behauptet. »Und ich fahre nicht zu meiner Schwester nach Bedford weiter, ohne wenigstens ein paar Sätze mit dir gesprochen zu haben, Duncan.«

  Rosemary Kincaid warf einen kurzen Blick auf die Speisekarte. »Ich bin dafür, wir gehen aufs Ganze. Tee, soviel wir trinken können, mit Sandwiches und Scones und Kuchen.«

  »Nach dem Motto: >Wer ißt, hat keine Zeit zu trauern<?« bemerkte Duncan lächelnd. »Oder liegt Dad dir wieder in den Ohren, daß du mehr essen sollst?«

  »Ich finde eine gute Portion Trost mit einem Schlag Nostalgie ist mehr als angebracht. >Zeigt noch die Turmuhr zehn vor drei? Und ist noch Honig da zum Tee?«< zitierte sie Rupert Brooke.

  »Gibt es«, sagte Gemma. »Ehrlich. Ich hab’s auf der Karte gesehen.«

  »Dann geh ich und gebe die Bestellung auf, Honig eingeschlossen«, erbot sich Duncan und rappelte sich aus seinem Gartensessel auf.

  Rosemary beobachtete, wie er mit langen Beinen davonschritt, und konzentrierte sich dann mit unverhohlener Neugier auf die junge Frau ihr gegenüber. War sie schön? Vielleicht nicht im klassischen Sinn, dachte sie, aber sicher sehr attraktiv. Die Sonne leuchtete auf ihrem kupferfarbenen Haar. Sie hatte ein offenes, intelligentes Gesicht und strahlende Augen.

  Sie waren Kollegen, das wußte Rosemary, aber Duncan hatte sie im vergangenen Jahr immer häufiger erwähnt, und als er Weihnachten zu Hause gewesen war, hatte sie gespürt, daß sich die Beziehung entscheidend verändert hatte. »Sie haben ihm gutgetan, Gemma«, begann Rosemary und beobachtete, wie die junge Frau rot wurde. »Die letzten Monate wirkte er entspannter als seit ... ich glaube, seit seiner Kindheit.«

  »Sie wollten doch sagen >seit seiner Ehe mit Vic<, oder?« fragte Gemma.

  »Ja. Aber mir ist klargeworden, daß das nicht stimmt.« Rosemary warf einen Blick auf Duncan, der in der Schlange an der Theke stand, die Hände in den Taschen. »Damals war er ein Arbeitstier. Er war gerade Inspektor geworden, und er stand unter großem Druck. Ich glaube, die Ehe hat ihn innerlich zerrissen - er konnte keiner Seite genug von sich geben. Und letztendlich hat der Job obsiegt.«

  Gemma runzelte die Stirn. »Machen Sie ihn für Vics Schicksal verantwortlich?«

  Rosemary zuckte die Schultern. »Eigentlich nicht. Die Situation war schwierig. Vics Reaktion darauf, wie ihre Mutter sie erzogen hat, ist strikte Selbstdisziplin gewesen. Sie hat es sich einfach versagt, jemals Gefühle zu zeigen, geschweige denn, darüber zu reden. Duncan ist in einer Familie groß geworden, die immer alles offen ausgesprochen hat. Also hat er ihr Schweigen für Zufriedenheit gehalten. Als beiden die Wahrheit klargeworden war, war der Schaden irreparabel.« Sie lächelte, als sie Gemmas angespannte Miene sah. »Und die Moral von der Geschicht’, meine Liebe: Wenn Ihnen etwas, das er tut, auf den Keks geht, dann nehmen Sie kein Blatt vor den Mund.«

  »Oh!« Überrascht über die Ausdrucksweise mußte Gemma unwillkürlich lachen. Das war Rosemarys Absicht gewesen.

  »Männer haben immer Probleme, sich in andere hineinzuversetzen«, fügte Rosemary liebevoll hinzu. »Manchmal muß man sie mit der Nase darauf stoßen. Soviel ich weiß, haben Sie einen Sohn?«

  »Toby. Er ist drei und ein harter Brocken«, seufzte Gemma stolz. »Möchten Sie ein Foto sehen?«

  Rosemary nahm ihr das Foto aus der Hand. Sie betrachtete den kleinen blonden Jungen mit einem verschmitzten Lächeln. Das Leben wurde immer komplizierter. Würde Gemma auch bei Duncan bleiben, wenn sie damit die Sicherheit ihres Kindes aufs Spiel setzte? »Er ist süß«, murmelte sie. »Einfach süß. Und ich kann mir vorstellen, daß er Sie in Trab hält.«

  »Wer? Ich?« fragte Duncan, der endlich mit dem Teetablett kam. »Ich weiß, ich bin süß, aber ich versuche, nicht damit zu kokettieren. Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat. ’ne ganze Menge Leute hatte dieselbe Idee wie wir - mit dem Teetrinken, meine ich.«

  »Die Wespen scheinen sich auch schon darauf zu freuen«, bemerkte Rosemary und wedelte mit einem Sandwich. »Macht euch auf einen Kampf gefaßt.«

  Alle drei griffen hungrig zu. Duncan erläuterte ihnen dabei, wer auf der Trauerfeier gewesen war.

  »Du meinst, Vic hatte eine Affäre - oder eine Beziehung, wie auch immer - mit Nathan?« sagte Gemma und bemerkte nicht, daß sie dabei einige Krümel verlor. »Das läßt einiges in neuem Licht erscheinen.«

  »Warum? Hast du dich auch in ihn verguckt?« erkundigte sich Duncan flapsig, aber Rosemary glaubte etwas wie Eifersucht herauszuhören.

  »Ich finde, er sah heute ziemlich schlecht aus«, erwiderte Gemma und strich Erdbeermarmelade auf einen Scone. »Unter anderen Umständen allerdings ...« Sie lächelte hinterhältig. »Aber ich bin zur Zeit nicht zu haben. Ich habe mein Herz an einen jungen Mann namens Rupert verloren. Vorn am Eingang gibt’s ein paar bezaubernde Postkarten. Wenn ihr mich also entschuldigt ...«

  »Natürlich«, sagte Rosemary, als Gemma das letzte Stück Scone in den Mund schob und ihren Tee austrank. »Würden Sie die schönste für mich aussuchen? Sie kommt zu meiner Sammlung.«

  »Und jetzt?« fragte Duncan prompt, nachdem Gemma zum Kiosk gegangen war. »Kommt die mütterliche Standpauke? Und sag bloß, daß sie ein nettes Mädchen ist.«

  »Sie ist ein nettes Mädchen. Obwohl sie den Ausdruck vermutlich unpassend fände. Sie ist eine attraktive, sensible Frau, und ich hoffe, du weißt, was du an ihr hast.» Rosemarys Ton klang halb belustigt, halb ernst, während sie ihren Sohn besorgt musterte. Er war zu klug und zu verletzlich - was, wenn er nicht damit fertig wurde? Sie haßte es, ihn noch mehr zu belasten, aber sie sah keine andere Möglichkeit. Leise fügte sie hinzu: »Aber ich wollte tatsächlich mit dir reden, mein Schatz.«

  Noch immer bewußt flapsig erwiderte Duncan: »Das höre ich heute schon zum zweiten Mal. Ich fürchte, das ist kein gutes Omen.«

  »Ich weiß nicht, ob gut oder schlecht dabei eine Rolle spielt. Es ist eher eine Frage, wie man mit der Wahrheit umgeht.«

  »Der Wahrheit?« Duncan runzelte die Stirn. Er war verunsichert. »Wovon redest du, Mutter?«

  »Sag mir, was du siehst, wenn du Kit anschaust, Liebling.«

  »Einen netten Jungen, dem das Leben verdammt übel mitgespielt hat, und das ist verflucht unfair«, erwiderte er heftig. Er schien nichts begriffen zu haben.

  Rosemary trank einen letzten Schluck Tee. »Dann will ich dir sagen, was ich sehe, mein Liebling. Als Kit heute aus der Kirche kam, in der Mitte zwischen seinen Großeltern, dachte ich einen Moment, ich hätte Halluzinationen.« Sie legte ihm flüchtig die Hand auf den Arm. »Ich habe dich gesehen, meinen Duncan mit zwölf Jahren. Nicht wegen seiner Haarfarbe natürlich - die hat er von seiner Mutter -, aber die Kopfform, die Art, wie sein Haar fällt, wie er sich bewegt, sogar sein Lächeln ...«

  »Was?« Jede Farbe war aus Kincaids Gesicht gewichen.

  »Was ich dir beizubringen versuche, ist, daß Kit dein Kind ist. Der genetische Stempel ist so unverkennbar wie ein Brandzeichen.«

  Er machte den Mund zu und schluckte mühsam. »Aber das ist unmöglich ...«

  »Bei Sex und seinen Folgen ist normalerweise nichts unmöglich, mein Liebling«, entgegnete Rosemary lächelnd. »Habe ich dir das mit den Bienen und den Blumen nie ordentlich erklärt?«

  »Aber was ist mit Ian? Sicher hat er ...«

  »Duncan, es ist eine einfache Rechenaufgabe. Der Junge ist elf. Du und Vic, ihr habt euch vor fast zwölf Jahren getrennt. Ich bin sicher, du wirst feststellen, daß er innerhalb von sechs oder acht Monaten nach eurer Trennung geboren wurde.« Rosemary sah Duncans verschleierten Blick und seufzte. »Ich schätze, Vic hatte keine Ahnung, daß sie schwanger war, als sie dich verlassen hat. Und ich schätze, du hast keine Ahnung, seit wann sie mit diesem - wie heißt er noch? - zusammen war.«

  »Ian. Erst seit unserer Trennung - möchte ich gern glauben. Aber ich weiß es nicht.«

  Rosemary lächelte. »Sagen wir also kurz danach. Aber die Wahrheit kam vermutlich erst Jahre später ans Licht - wenigstens, was Vic betrifft.«

  »Ich glaub es nicht. Du denkst doch nicht, Vic hat die ganze Zeit über gewußt - ich meine, als sie mich angerufen und mich eingeladen hat ...« Er verstummte und hatte schwer an Rosemarys Eröffnung zu knabbern.

  »Eugenia Potts muß die Erkenntnis wie ein Schlag getroffen haben. Vermutlich hat sie sich die Ähnlichkeit nie eingestanden, aber ich schätze, als sie dich und Kit zusammen gesehen hat, konnte sie es nicht länger verdrängen.«

  »Kit ... Gütiger Himmel. Sie ist völlig durchgedreht, als sie mich neulich abends mit ihm in Vics Haus an traf.«

  »Sie hat dich nie gemocht. Was ein Pluspunkt für dich ist - du hast dich ihr nie untergeordnet.«

  Er schwieg lange, schob die Brösel auf der Tischdecke mit den Fingern von einer Seite zur anderen. Dann sah er zu ihr auf. »Warum ist es mir nicht aufgefallen, wenn es so verdammt offensichtlich ist?«

  »Vermutlich weil wir ein sehr statisches Bild von uns selbst haben. Wir sehen uns nicht so, wie andere uns sehen. Aber wenn du ein Foto von dir in dem Alter neben eines von Kit hältst, siehst du es auch.«

  »Und wenn du dich irrst? Es ist doch nur Spekulation ...«, fügte er lahm hinzu. Er griff nach dem letzten Strohhalm.

  »Wer hat mir Weihnachten erzählt, wie wichtig die Intuition für einen guten Kriminalbeamten ist?« Als er ernst blieb, fuhr sie seufzend fort: »Liebling, ich täusche mich nicht. Und ich will nicht streiten. Unter anderen Umständen - wenn Vic noch leben würde, und sie, Kit und Ian eine glückliche Familie wären - hätte ich vermutlich nie ein Wort gesagt. Aber so wie die Dinge jetzt liegen ... Du kannst es dir nicht leisten, dir keine Gewißheit zu verschaffen.«

 

Cambridge 21. Juni 1964

  Liebe Mrs. Brooke,

bitte verzeihen Sie diesen Brief, aber ich konnte mich nicht überwinden, Ihnen die Nachricht telefonisch zu übermitteln. Lydia liegt in der Klinik. Es geht ihr sehr schlecht, nach der Fehlgeburt in der vergangenen Nacht. Das Baby war ein Junge, und ich habe ihn nach meinem Vater Gabriel getauft. Morgen findet hier in der Krankenhauskapelle eine Trauerfeier statt.

  Lydia ist geschwächt und hat Fieber, und ich kann sie nicht beruhigen. Sie scheint sich die Schuld an allem zu geben, nimmt es als Strafe Gottes und ist für kein vernünftiges Argument zugänglich.

  Würden Sie bitte kommen? Vielleicht können Sie ihr da Trost geben, wo ich versage.

Morgan

 

Kincaid klingelte weit nach Einbruch der Dunkelheit an Gemmas Wohnungstür. Er hoffte inständig, daß sie zu Hause war und ihn sehen wollte, denn er hatte sie in Grantchester ohne Abschied einfach stehenlassen.

  Später war er wie blind durchs Dorf gerannt und hatte den Fußweg zum Fluß eingeschlagen. Wie lange er so gelaufen war, daran konnte er sich nicht mehr erinnern. Schließlich jedoch war es kalt geworden, und seine Füße hatten in den Schuhen mit den dünnen Ledersohlen weh getan. Irgendwann, als die Sonne hinter den Dächern versank, war er wieder bei seinem Wagen in der High Street gelandet.

  Er war nach London zurückgefahren. Sein Wunsch nach menschlicher Nähe war ebenso drängend geworden wie zuvor sein Bedürfnis, allein zu sein. Jetzt atmete er erleichtert auf, als er das Klicken des Riegels an Gemmas Türschloß hörte und das Licht von drinnen wie ein schmaler Silberstreif auf sein Gesicht fiel.

  »Gemma? Darf ich reinkommen?«

  Sie machte die Tür weiter auf. Sie trug jetzt Jeans und einen alten Pullover. Als er in die winzige Wohnung trat, fiel sein Blick auf die Bilderbücher auf dem Bett. Unter der Bettdecke zeichnete sich eine Kindergestalt ab. »Ist es zu spät?«

  »Wir haben gerade vorgelesen«, erwiderte Gemma und nickte übertrieben in Richtung Bett. »Aber Toby scheint verschwunden zu sein. Ich glaube, er hat den Zauberkiesel gegessen, der kleine Jungs unsichtbar macht. Jedenfalls kann ich ihn nirgends finden.«

  Kincaid räusperte sich und sagte mit bester Sherlock-Holmes-Stimme: »Laß mich meine detektivischen Fähigkeiten einsetzen. Wo ist mein Vergrößerungsglas? Also gut, Watson. Das Spiel beginnt.«

  Es folgte das übliche Ritual des erprobten Versteckspiels. Sie überhörten das leise Kichern unter der Bettdecke geflissentlich, bis der gesuchte Junge schließlich mit viel Gekreische und Kitzelattacken aus dem Versteck befördert wurde.

  »Mehr, mehr! Ich will mich noch mal verstecken!« jammerte Toby, als Gemma ihn zu seinem Bett trug und ihn mit dem Versprechen, das Spiel am nächsten Morgen fortzusetzen, unter die Bettdecke steckte.

  All das habe ich versäumt, dachte Kincaid und spürte einen Stich in der Herzgegend.

  »Alles in Ordnung?« fragte Gemma und machte Tobys Zimmertür leise zu. »Was zum Teufel ist mit dir am Nachmittag los gewesen?«

  »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, murmelte Kincaid und rückte abwesend die Kerzen auf Gemmas Tisch hin und her.

  »Fang von vorn an«, schlug Gemma vor. »Was hat deine Mutter zu dir gesagt? Du warst bleich wie der Tod, als ich vom Kiosk zurückgekommen bin.« Sie lehnte sich vor und fuhr mit den Fingerspitzen sein Kinn nach. Die Zärtlichkeit ihrer Berührung widersprach der Ungeduld ihrer Worte.

  »Dir entgeht wirklich nichts«, seufzte er ausweichend. Gemma schnappte nicht nach dem Köder, sondern betrachtete ihn nur schweigend. Er holte tief Luft. »Meine Mutter behauptet, Kit sei mein exaktes Abbild in dem Alter. Sie glaubt, daß Kit mein Sohn ist.«

  Gemmas Augen weiteten sich vor Überraschung, bis er sein Konterfei in ihren Pupillen erkennen konnte. »Großer Gott«, sagte sie atemlos. »Wie konnte ich nur so blind sein!«

  »Du hast keine Zweifel?« Kincaid hatte insgeheim auf Gemmas Protest gehofft. Jetzt machte ihn ihre Reaktion beinahe froh.

  Sie schüttelte bedächtig den Kopf. »Die Ähnlichkeit ist mir auch aufgefallen. Er kam mir gleich so bekannt vor - so als würde ich ihn schon lange kennen.« Sie berührte sein Gesicht mit einem Ausdruck der Verwunderung erneut. »Aber ... aber wieso hast du nicht gewußt, daß Vic schwanger war?«

  Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Die Wohnung war ihm plötzlich zu eng. »Laß uns Spazierengehen«, schlug er vor.

  »Ich möchte Toby nicht allein lassen.«

  »Natürlich nicht. Dumm von mir.« Verdammt! Er hatte sich noch nicht einmal an die Verantwortung für ein Kind gewöhnt, geschweige denn für zwei. Er würde gar nicht wissen, wo er anfangen sollte.

  Das merkwürdige Gefühl von Platzangst verstärkte sich. Um wenigstens irgend etwas zu tun, kramte er in der Brusttasche seines Anzugjacketts nach dem Streichholzheftchen, das er am Vortag in einem Lokal eingesteckt hatte. Man kann nie wissen, wann man etwas gebrauchen kann, schoß ihm die Pfadfinderweisheit durch den Kopf. War Kit bei den Pfadfindern gewesen? Konnte er Knoten machen? Durch die Zähne pfeifen? Er hatte keine Ahnung, wo er anfangen sollte.

  Er beugte sich vor und zündete die Kerzen an. Als er das Streichholz ausgeblasen hatte, sagte er: »Zwischen mir und Vic gab es damals eine Menge Streß. Wir haben kaum ... miteinander geschlafen.«

  »Einmal genügt«, unterbrach Gemma ihn lächelnd.

  »Ja, schon.« Himmel, war das peinlich! Es hatte einen Krach gegeben und eine Versöhnung. Einige Wochen, bevor Vic ihn verlassen hatte. Er hatte es völlig vergessen.

  »Ist sie in jenen letzten Wochen sehr sprunghaft gewesen? Die hormonellen Veränderungen am Anfang einer Schwangerschaft sind ...«

  »Du meinst, daß Vic ausgezogen sein könnte - was ihr nicht ähnlich sähe -, weil sie schwanger war?« Es gab keinen Platz, um auf und ab zu gehen. Er zwang sich, sich auf die Fußstütze des Lederstuhls zu setzen, den er den Folterstuhl nannte. »Ich hätte es merken müssen. Da hast du recht.«

  »Nein, das meine ich gar nicht. Sie könnte es selbst nicht gewußt haben ...«

  »Trotzdem habe ich sie dann im Stich gelassen.«

  Gemma glitt vom Stuhl und kniete vor ihm nieder, so daß sie in sein Gesicht aufsehen konnte. »Blödsinn. Du kannst nicht ändern, was passiert ist. Solche Gedanken sind unproduktiv. Aber du mußt entscheiden, was du jetzt tun willst.«

  »Was kann ich denn tun?« protestierte er. »Kits Leben ist schon durcheinander genug. Er glaubt, Ian sei sein Vater ...«

  »Glaubst du wirklich, daß Ian ihm viel nützt, selbst wenn er zurückkommen sollte? Und Kits Aussichten bei seinen Großeltern sind mehr als schlecht.« Sie nahm ihre Hände von seinen Knien. »Ich glaube, Liebling, daß du Angst hast, dein Leben durcheinanderzubringen.«