* 22

 

Er trägt die ungebrochene Blüte der Ruhe; stiller noch ob ein tiefer Brunnen am Mittag oder Liebende vereint, als Schlaf oder das Herz nach dem Zorn. Er ist das Schweigen, das großen Friedensworten folgt.

 

Rupert Brooke aus dem Fragment einer Elegie, gefunden in einem Notizbuch nach seinem Tod

 

Kincaid und Gemma standen am Ende der Brücke über den Graben bei Sutton Gault, die Weite des Himmels von East Anglia grau und endlos über ihnen. Unter ihnen arbeitete ein Team der Spurensicherung im weichen Erdreich am Rande des Wasserlaufs. Sie hatten am Vortag unter Adam Lambs Anleitung zu graben begonnen, aber die hereinbrechende Dämmerung hatte sie gezwungen, ihre Arbeit auf den nächsten Tag zu verschieben.

  »Ich bringe Kaffee«, sagte der Inspektor der Ortspolizei, der mit zwei dampfenden Plastikbechern über die Wiese auf sie zukam. »Gehen Sie doch rüber und essen Sie was zu Mittag«, schlug er vor und deutete über die Schulter auf ein hübsches Gasthaus, das in einer Senke auf der anderen Seite der Straße lag. »Die Leute kommen sogar aus London, um hier zu essen. So gut ist es.«

  »Vielleicht ein andermal, danke«, wehrte Kincaid ab. Bei einem schicken Mittagessen zu sitzen, während die Leute von der Spurensicherung Verity Whitecliffs sterbliche Überreste ausgruben, erschien ihm unpassend.

  Als der Inspektor das steile Ufer zum Team der Spurensicherung hinunterkletterte, rückte Gemma näher an Kincaid heran. Sie hielt den Becher Kaffee in beiden Händen, um sich zu wärmen. Es wehte ein schneidender Wind. »Ich muß immer daran denken, wie es für die vier in jener Nacht gewesen sein muß, als sie Verity begraben haben. Das verfolgt mich bis in meine Träume.«

  Kincaid sah sie an. »Muß ein Alptraum gewesen sein«, murmelte er. »Trotzdem - es rechtfertigt nicht ihr Schweigen.«

  »Nein«, antwortete sie leise. »Aber Verity ist nicht unbetrauert gestorben, und die Wahrheit wird ans Licht kommen.« Gemma runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob ich so stark wäre wie Dame Margery.«

  Kincaid dachte an ihren Besuch bei Dame Margery am vorangegangenen Nachmittag. Sie hatte sie in ihrem taubengrauen Salon empfangen, tadellos gekleidet wie immer. Sie hatte sehr gebrechlich gewirkt, so als sei sie seit jenem Tag in Ralph Peregrines Büro um Jahre gealtert. Inzwischen hatte sie die Nachricht vom Gehirntumor ihrer Freundin Iris Winslow und von der Mordanklage gegen ihren Sohn verkraften müssen.

  Wenn auch Kincaids Notizen über den Fall weiter verschwunden blieben, so hatte die Polizei doch eine kleine Emailledose mit Digoxin-Tabletten bei Darcy sichergestellt. Beim Verhör hatte er behauptet, er habe sie stets für den Fall bei sich getragen, daß seine Mutter sie plötzlich brauche.

  »Hatte Ihr Sohn die Angewohnheit, Ihre Medikamente mit sich herumzutragen, Dame Margery?« fragte Kincaid, nachdem sie Sherry und Tee als Erfrischung abgelehnt hatten.

  »Ich habe ihn jedenfalls nie darum gebeten«, erwiderte sie behutsam und versuchte, das Zittern ihrer Hände zu verbergen, indem sie sie auf ihrem Schoß verschränkte.

  »Haben Sie je erlebt, daß er Ihr Medikament im Notfall bei sich gehabt hat?« kam Kincaid jetzt auf den Punkt.

  »Nein. Nein. Habe ich nicht. Es ist ja schließlich kein Medikament für den Notfall. Digoxin nimmt man regelmäßig ein.« Dame Margery sagte das ruhig, beinahe gleichmütig. Kincaid nahm trotzdem an, daß sie sich über die Konsequenzen ihrer Worte im klaren war.

  »Dame Margery, sind Ihnen in letzter Zeit in bezug auf dieses Medikament Unregelmäßigkeiten aufgefallen?«

  Sie wandte den Blick ab. »Ja. Meine letzte Ration war etliche Tage früher aufgebraucht als sonst.«

  Gemma sah überrascht auf.

  Margery drehte sich zu ihr um. »Haben Sie erwartet, daß ich lüge, Miß James? Welchen Sinn hätte das? Aus den Unterlagen des Apothekers hätten Sie jederzeit die Wahrheit erfahren. Ich habe nicht vor, meinen Sohn unnötig zu belasten, aber ich decke ihn auch nicht.« Ihre Hände krampften sich zusammen. Dann sagte sie beinahe flehentlich: »Habe ich als Mutter versagt? Wäre etwas anderes aus meinem Sohn geworden, wenn ich ihm Vorrang vor meiner Arbeit gegeben hätte?«

  »Dame Margery ...«

  Sie schüttelte den Kopf. »Ach was, das können Sie mir gar nicht beantworten, Mr. Kincaid. Niemand kann das. Die Frage war nicht fair.« Sie starrte durch die Terrassentür auf die ersten Rosenblüten in ihrem Garten. »Er war ein entzückendes Kind. Aber schon damals hatte er seinen eigenen Kopf.«

  Dame Margery straffte energisch die Schultern. »Ich werde Victoria McClellans Buch zu Ende schreiben«, erklärte sie. »Ich lasse nicht zu, daß all ihre Mühe umsonst gewesen ist - ungeachtet der ... persönlichen Komplikationen. Victoria und Lydia haben es verdient, Gehör zu finden. Und Verity ...« Zum ersten Mal bebte ihre Stimme. »Ich trage ihr gegenüber eine Schuld, die ich nie wiedergutmachen kann.«

  Gemmas Berührung riß Kincaid aus seinen Gedanken. »Erzählst du Kit von Lydia und Verity?« fragte sie.

  Er nickte. »Selbstverständlich. Er muß wissen, warum seine Mutter gestorben ist.«

  »Duncan.« Zu seiner Überraschung hakte sich Gemma bei ihm ein. Offenbar war es ihr egal, was die anderen dachten. »Was willst du wegen Kit unternehmen?«

  Er starrte auf die weite Ebene hinaus, sah endlos wechselnde Möglichkeiten, die er weder vorhersehen noch kontrollieren konnte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als behutsam und Schritt für Schritt den richtigen Weg zu finden. »Ich rufe ihn täglich an. Treffe ihn so oft wie möglich. Dann, wenn er sich an mich gewöhnt hat ...«

  »Sagst du ihm die Wahrheit.«

  »Ja. Keine Geheimnisse mehr. Und dann sehen wir weiter.«

  Gemma umfaßte seinen Arm fester. »Es macht mir ein bißchen angst«, gestand sie schließlich. »Es wird einiges zwischen uns ändern. Ob zum Besseren oder Schlechteren ... weiß ich nicht. Vielleicht wird es einfach nur anders sein.«

  Er lächelte. »Mir macht es sogar eine Heidenangst.«

  Unter der Brücke ertönte ein Schrei. Der Inspektor machte ihnen ein Zeichen. Sie rutschten das glitschige Ufer zum Wasser hinunter. Als sie die Grabungsstätte erreicht hatten, kauerten sie sich nieder und starrten auf das hinunter, was der Mann von der Spurensicherung hochhielt.

  »Sie hatten recht«, erklärte er zufrieden. »Es ist das Schulterblatt eines Menschen. Und da ist noch mehr. Aber die Verwesung ist weit fortgeschritten. Wird schwierig sein, alles rauszuholen.«

  Der Knochen sieht viel zu klein, zu zart aus, um einem Menschen gehört zu haben, dachte Kincaid. Im sauren Moorboden hatte er die Farbe alten Elfenbeins angenommen.

  Gemma streckte die Hand aus. Ihre Finger schwebten über dem Knochen, als wolle sie ihn berühren. Sie blickte zu Kincaid auf. »Aus Lydia ist doch noch die >Stimme der Rache< geworden.«