my little underground

Das hat nichts zu bedeuten, klar? Gott umzubringen bedeutet nichts. Ist einfach nur irgendwas. Bloß so ein Gedanke, etwas, das ich tun kann, etwas, um mich zu beschäftigen. (Und nein, es ist auch kein Vorsatz fürs neue Jahr.) Ich mach nur gern was, um mich von Sachen abzulenken, an die ich nicht denken will. (Oder genauer gesagt von der einen Sache, an die ich nicht denken will.) Zum Beispiel letztes Jahr, gegen Sommerende, da hab ich das mit den angemalten Schnecken gemacht. War bloß, weil ich abends im Garten stand und ein bisschen Hundescheiße eingesammelt hab (von meinen Hunden erzähl ich später); es hatte den ganzen Tag geregnet, also war alles nass und eklig und plötzlich sah ich, dass da lauter Schnecken auf dem Gartenweg waren. Wahnsinnig viele Schnecken, die auf dem regennassen Beton ihre Schleimspur zogen – die eine im Schneckentempo hierhin, die andere im Schneckentempo dahin … Das brachte mich ins Grübeln. Keine Ahnung, worüber, aber das war auch nicht wichtig. Es reichte schon, an dem verregneten Sommerabend draußen zu stehen, den Beutel mit Hundescheiße in der Hand, dabei dem Zeitlupentanz der Schnecken zuzusehen und einfach nur zu grübeln, grübeln, grübeln … über nichts Bestimmtes.

Und dann kam’s mir.

Buchstaben.

Buchstaben, Wörter, Botschaften.

Was würde passieren, grübelte ich vor mich hin, wenn ich einen Haufen Schnecken einsammelte, ihnen Buchstaben auf ihr Schneckenhaus malte und sie danach wieder im Garten freiließ? Ich meine, was würde ich finden, wenn ich am nächsten Abend in den Garten zurückkam? Würden die Schnecken wissen, dass sie einen Buchstaben auf dem Rücken hatten? Würden sie sich so anordnen, dass mir die Buchstaben Schneckenbotschaften lieferten? HALO DAWN WIR LIBN DCH. (Irgendwie stell ich mir vor, dass sich Schnecken beim Buchstabieren schwertun.) Oder vielleicht würden die angemalten Viecher ja auch in die andern Gärten zuckeln und meinen Nachbarn Botschaften bringen. DU SHEISE. WR BRING DICH UM.

Also warf ich, mit dieser Idee im Kopf (und einem Grinsen im Gesicht), den Beutel Hundescheiße in die Tonne, rief meine Hunde und ging zurück ins Haus, um die Sache vorzubereiten. Es dauerte nicht lange. Ich brauchte bloß ein bisschen Leuchtfarbe, einen feinen Pinsel, eine Pappschachtel und ein paar Schnecken. Der einzige Haken war, wie viele Buchstaben ich machen sollte, damit es klappte – also wie viele A’s, wie viele B’s, wie viele C’s und so weiter. Weißt du, wie beim Scrabble. Ich meine, da hast du ja auch nicht von jedem Buchstaben gleich viele, oder? Manche Buchstaben kommen schließlich häufiger vor als andere. Egal, auf jeden Fall kapierte ich (ein bisschen schwer von Begriff) erst nach viel Grübeln und Buchstabenzählen in Büchern, dass es genau wie beim Scrabble sein musste. Wieso also nicht einfach die Anzahl der Buchstaben von da übernehmen (d. h. fünfzehn E’s, fünf A’s, sechs I’s, neun N’s usw.)? Das tat ich dann auch. (Nur dass es in jedem Scrabble-Spiel hundert Buchstaben gibt, was bedeuten würde, ich hätte hundert Schnecken sammeln müssen. Was echt viel ist. Also halbierte ich mehr oder weniger die Anzahl der Scrabble-Buchstaben.)

An den nächsten zwei Abenden sammelte ich ungefähr fünfzig Schnecken ein, malte ihnen leuchtende Buchstaben auf ihr Schneckenhaus (was mich noch mal fast einen ganzen Abend kostete) und ließ sie danach allesamt wieder im Garten frei. Ja, ich weiß, das Ganze klingt bescheuert, aber ehrlich gesagt war es doch ganz schön spannend – drauf zu warten, dass es wieder Abend wurde, mir vorzustellen, wie ich mit der Taschenlampe in den Garten ging, mich zu fragen, ob mir die Schnecken wohl irgendwas zu sagen hätten …

Aber leider tat sich so gut wie gar nichts.

Und der Hauptgrund dafür war, dass sich die Leuchtfarbe, mit der ich die Buchstaben gemalt hatte, als giftig herausstellte. (Nicht schlucken, nicht einatmen usw. Kann auf Wasserlebewesen tödlich wirken.) Keine Ahnung, wie die Giftigkeit durch die Schneckenhäuser in die Schnecken selbst gekommen ist, aber so war’s einfach. Und das Endergebnis meines Schneckenkommunikations-Experiments sah wie folgt aus:

  1. vier tote Schnecken, deren (noch intakte) Gehäuse die Buchstabenfolge MNEH ergaben

  2. zwölf tote Schnecken, deren schleimig zerstörte Gehäuse nicht lesbar waren

  3. vierunddreißig fehlende/vermutlich tote Schnecken und

  4. zwei tote Drosseln

Frage: Was soll das alles?

Antwort: Nichts.

Wie gesagt, ich versuch nur zu beschreiben, was ich so treibe, mehr nicht. Was ich die letzten zwei Jahre gemacht habe, um mich von der anderen Dawn abzulenken, der dreizehnjährigen Dawn … der Dawn, die in einer Höhle in meinem Kopf lebt. (Die Höhle ist eng und kalt, es gibt darin keinen Laut, ich versuch sie so weich wie ein Kissen zu machen, aber die meiste Zeit ist sie hart wie Stein. Sie muss hart sein, um die Monster auszusperren.)

Wie auch immer, inzwischen ist morgen und im Moment lauf ich gerade die überdachten Gänge der Ladenpassage entlang Richtung Waterstone’s, der Buchhandlung. (Manche in der Schule nennen die Ladenpassage »the Mall«, als ob das Ganze eine coole Einkaufsmeile in Beverley Hills wär. Aber von Mall kann überhaupt keine Rede sein, das Teil ist nichts als eine Art Tunnel mit lauter Geschäften.) Und da bin ich jetzt und lauf durch die vollen Gänge – mit gesenktem Kopf, Augen auf den Boden gerichtet, Hände in den Taschen vergraben und meinen iPod so laut aufgedreht, dass er den Stadtsound aus vorbeiwehenden Stimmen, wabernder Musikberieselung und Hunderten und Aberhunderten von schlurfenden Füßen überdröhnt …

Und niemand kann mich sehen, absolut keiner.

Ich bin total unsichtbar.

Und weißt du, wieso? Ich sag’s dir. Weil ich meinen Unsichtbar-Mantel anhab, darum. Das ist auch der Grund, wieso die Buchhandlung wahrscheinlich zuhat, bis ich hinkomme. Wenn’s etwas gibt, wieso du garantiert zu spät kommst, dann ist es der Versuch, deinen Unsichtbar-Mantel zu finden, bevor du losgehst. Heute Nachmittag hab ich wieder fast eine Stunde gebraucht. Nach fünfzehn Minuten dachte ich, ich hätt ihn, und erst, als ich ihn angezogen, Mum Tschüss gesagt hatte und schon halb die Straße runtergegangen war, merkte ich: Stimmt ja nicht. Das war überhaupt nicht mein Unsichtbar-Mantel – es war mein Gar-nicht-Mantel.

Das ist allerdings ein Fehler, der ganz schön leicht passieren kann.

Beides sind Mäntel und beide sind unsichtbar.

Der einzige wirkliche Unterschied ist, dass die Unsichtbarkeit des Gar-nicht-Mantels bloß darauf beruht, dass er überhaupt nicht da ist.

Ist natürlich alles Unsinn. Ich hab keinen Unsichtbar-Mantel. Unsichtbar-Mäntel gibt es nicht. Was ich hab, ist ein Gar-nicht-Mantel, aber das ist ja klar. Jeder hat einen Gar-nicht-Mantel. Mehr als einen sogar. Du kannst so viele Gar-nicht-Mäntel haben, wie du willst – Millionen, Billionen, Trillionen, Endlosillionen –, denn nicht nur, was kein Mantel ist, ist ein Gar-nicht-Mantel, sondern auch alles, was überhaupt nichts ist.

Und das trifft auf jede Menge Dinge zu.

Ich muss jetzt aufhören. Es ist schon fast vier und es ist der zweite Januar, was wahrscheinlich so eine Art Tag-nach-dem-Neujahrstag-Feiertag oder so ist, und das heißt, dass die Läden wahrscheinlich um vier schließen, so wie an Sonn- und Feiertagen …

Frage: Wieso schließen Läden sonntags um vier?

Antwort: Keine Ahnung, frag Gott.

Ich weiß nicht viel über Gott. Ich mein, ich weiß natürlich die Grunddinge, das, was einem im Religionsunterricht so beigebracht wird … obwohl ich ehrlich gesagt im Religionsunterricht nicht besonders gut aufgepasst hab. Aber ich kenn eben das, was jeder kennt – die Geschichten aus der Bibel, die Wunder, das mit Gott und dem Teufel, mit Jesus und Glauben und Himmel und Hölle und Engeln und allem. Unmöglich, den ganzen Kram nicht zu kennen. Schließlich taucht er ja ständig irgendwo auf – in der Schule, im Fernsehen, in Büchern und Filmen, in Zeitungen, Zeitschriften und auf CDs, auf der Straße, auf Plakaten, auf den Spruchbändern vor Kirchen, die (unerklärlicherweise) für Gott werben (z. B.: WANN HAST DU GOTT ZUM LETZTEN MAL GESAGT, DASS DU IHN LIEBST? Oder: DIESER TAG IST EIN GESCHENK GOTTES) … den Kram kriegst du einfach überall mit. Du kannst ihm überhaupt nicht entgehen. Deshalb, ja, ich kenn das alles, aber viel mehr weiß ich nicht. Ich mein so Sachen wie: Was ist der Unterschied zwischen Protestanten und Katholiken und Presbyterianern und Methodisten und Anglikanern und Baptisten und Quäkern und Unitaristen und Mormonen und Jehovas Zeugen und all den andern Sorten von Christentum? Geht es bei allen um denselben Gott? Oder verehren die verschiedene Sorten von Göttern? Oder vielleicht geht es immer um denselben Gott, nur in leicht unterschiedlicher Verpackung – ein bisschen wie bei den Cornflakes-Schachteln, die man im Supermarkt kriegt. Du weißt schon, es gibt die echten Kellogg’s Cornflakes und dann die supermarkteigenen Tesco-Cornflakes und Honig-Cornflakes und Attraktiv-und-preiswert-Cornflakes und Gold-Flakes und Bio-Flakes … und alle sind so ziemlich das Gleiche – d. h. sie schmecken nach Corn und Flakes und es gibt sie alle in Schachteln –, aber jede Sorte schmeckt ein ganz klein bisschen anders und jede wird in einer etwas andern Schachtel verkauft.

Keine Ahnung …

Vielleicht ist es aber auch nicht so.

Nicht dass das einen Unterschied macht. Denn im Gegensatz zu Cornflakes gibt es Gott nicht. Er existiert nicht. Weshalb es auch schwierig sein wird, ihn umzubringen.