Als ich vom Bett aufsteh und aus meiner Hose in Biggie-Smalls-Größe steige, muss ich der Dawn Bundy im Spiegel den Rücken zudrehen, denn wer immer diese Dawn Bundy ist (die im Spiegel) und was immer sie da treibt, ich will nicht sehen, wie sie mich beobachtet. Ich will nicht ihren abschätzigen Blick im Sinn haben, wenn ich rumstolper wie so ein riesiger Idiot und die Hose auszuziehen versuch, ohne dabei umzukippen. Ich will nicht sehen, wie sie den Kopf schüttelt und sagt: Verdammt, was machst du da?, wenn ich anfang, mich in den lächerlich kurzen Jeansrock zu zwängen.
Ich will mich nicht in ihren Augen sehen.
Ich will nicht ich sein.
Ich halt das nicht aus.
(i walk away
from your head)
Den Rock anzuziehen ist überraschenderweise gar nicht so schwierig. Ist zwar ein kleiner Kampf, ihn über die Schenkel zu kriegen, aber als das geschafft ist … sitzt er echt nicht schlecht. Ich meine, klar, er ist eng – viel enger, als ich es gewohnt bin – und der schmale Gürtel, der dazugehört, ist eindeutig überflüssig, weil der Rock auch so oben bleibt, aber er sitzt nicht schmerzhaft eng oder so. Er schneidet nicht in die Haut. Und was noch viel überraschender ist, er sieht sogar ziemlich gut aus (und fühlt sich auch gut an). Klar, ich schau jetzt noch nicht in den Spiegel, d. h. ich betrachte alles nur von oben, muss mich also noch nicht der ganzen Wirklichkeit meiner plumpen weißen Beine in einem sehr kurzen, sehr engen Rock stellen, aber trotzdem …
Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen.
Doch es ist so ein Komisches-Gefühl-Lächeln. Irgendwie wackelig, als ob meine Lippe runterhängt. Und vielleicht hängt sogar auch die Zunge ein bisschen raus. Und meine Zähne wirken viel zu groß.
»Scheiße«, hör ich mich sagen.
Und meine Stimme klingt irgendwie unscharf.
Und ich merk, dass ich einfach dasteh, zu Boden starre und sich alles zu bewegen scheint – mein Kopf, der Boden, die Wände, die Musik …
Und ich denk …
Was soll’s?
Ich will nicht denken. Ich will es nur einfach tun, was immer »es« ist. Ich will es einfach geschehen lassen. Und also mach ich’s – ich lass es geschehen. Ich mach’s. Ich steh mit dem Rücken zum Spiegel, zieh das alte schlabberige T-Shirt aus und will gerade das enge, knatschrosa T-Shirt über den Kopf ziehen, als plötzlich die Zimmertür aufgeht und Mel leichtfüßig reinstürmt.
»Hey, schau dir das an«, sagt sie und lächelt breit.
Und schlagartig bin ich wie versteinert, panisch, mein Herz pocht wie verrückt, denn Mel sieht mich. Sie sieht mich halb nackt. Und das will ich nicht. Ich ertrag das nicht. Es bringt mich um. Deshalb muss ich mich wegdrehen, mich vor ihrem Blick verstecken und den Körper mit einem Arm verdecken, während ich gleichzeitig verzweifelt versuch, das T-Shirt runterzuzerren …
»Alles in Ordnung?«, fragt Mel verwirrt. »Was ist los?«
»Nichts«, murmel ich in mich rein und kämpf mit dem T-Shirt. »Ich versuch nur … ich versuch nur gerade das Ding hier anzuziehen –«
»Warte«, sagt sie und kommt auf mich zu. »Ich helf dir.«
»Nein …«, setz ich an und dreh mich noch mehr weg.
»Sei nicht albern«, seufzt sie, streckt die Hand aus und legt sie mir auf den Rücken. »Schon gut –«
»NEIN!«
Der Laut platzt aus mir raus, als ihre Hand meine Haut berührt. Ich kann nichts dazu. Ihre Hand ist eiskalt, glühend heiß … Elektroschock mit einer Million Volt. Er jagt voll durch mich durch, peitscht mich durchs Zimmer, und als ich mich an die Wand kauer und winsel wie ein Baby, schaff ich es kaum, auf den Beinen zu bleiben.
»Dawn?«, flüstert Mel ängstlich. »Was ist –?«
»Rühr mich nicht an!«, hör ich mich mit zusammengebissenen Zähnen fauchen.
»LASS MICH!«
»Na gut«, murmelt sie. »Okay …«
Ich spür jetzt, wie sie einen Schritt zurück macht, und ich muss ihr Gesicht gar nicht sehen, um zu wissen, dass sie mich entsetzt und mit weit aufgerissenen Augen anstarrt. Ich bin ein von Panik geschütteltes verrücktes Etwas, eine kreischende Irre, die sich kläglich gegen die Wand drückt, eine Wahnsinnige mit fettem Gesicht, die sich in ein winziges rosa T-Shirt zwängt …
Entsetzen ist die einzige Reaktion, die ich verdient hab.
(the beat of your heart
your cold empty heart)
Inzwischen hab ich das T-Shirt fast an. Und auch wenn es nicht gerade viel Stoff ist, also auch nicht besonders viel von mir verdecken kann (ehrlich gesagt lässt es mehr frei, als es bedeckt), gibt es mir doch ein Gefühl von Pseudosicherheit, den Stoff auf meiner Haut zu spüren. Ich bin jetzt angezogen. Meine Arme sind vielleicht noch nackt, mein Bauch ist sichtbar … und es starrt mich auch von unten her ein unvertrauter (und beunruhigend tiefer) Ausschnitt an. Aber zumindest bin ich angezogen. Und irgendwie fühl ich mich mit dem T-Shirt sicherer.
Es erlaubt mir, wieder normal zu atmen.
Es hält die Gedanken ab, wie wild im Kopf rumzujagen.
Es beruhigt die Panik in mir.
»Tut mir leid, Dawn«, sagt Mel leise. »Ich wollte dich nicht –«
»Nein, schon gut«, antworte ich und richte mich wieder auf. »Ist meine Schuld … es ist nur …«
Ich hol tief Luft, atme langsam wieder aus und zwing mich dazu, mich umzudrehen und Mel anzuschauen. Und was ich seh, überrascht mich irgendwie. Ich meine, klar, es liegt wirklich Entsetzen in ihren Augen, aber es ist längst nicht so schlimm, wie ich dachte. Ehrlich gesagt ist das Entsetzen so schwach, dass ich mir gar nicht sicher bin, ob ich es sehen würde, wenn ich’s nicht suchte. Was ich aber sehen würde (und seh), ist etwas, das wie Sorge wirkt.
»Entschuldigung«, sag ich und versuch dabei zu lächeln. »Ich meine, tut mir leid, dass ich dich erschreckt hab … es ist nur –«
»Schon gut«, antwortet sie und lächelt zurück. »Du musst nichts erklären.«
Ich schüttel den Kopf. »Ist nur, dass ich ein bisschen … keine Ahnung. Ich glaub, ich bin bei manchen Sachen ein bisschen komisch …«
»Schon gut«, sagt Mel. »Ich versteh das.«
»Wirklich?«
»Ja, ich glaub schon.«
Dann erleben wir wieder einen von diesen Momenten – eine Pause, in der wir schweigen und einander nur ansehen, unsicher, was wir sagen sollen – und für eine kurze Zeit scheint alles gut. Mein Kopf ist klar, der Boden bewegt sich nicht mehr, die Musik klingt dunkel, süß und perfekt
want you to stay)
und dann kommen Jesus und Mary durch die Tür getrottet, klatschnass vom Regen, und beide schütteln sich (so nutzlos wie immer) und Mel fängt an, über sie zu lachen, bricht ab und sieht auf, als Taylor reingeschlendert kommt.
Und Taylor wirft einen Blick auf mich und sagt: »Wow! Wer ist denn die heiße Braut?«
Und das ist es so ziemlich, echt.
Der Boden bewegt sich wieder, kreist um meine Füße und in meinem Kopf kreist es auch und alles andere – das Zimmer, die Wände, das Fenster, die Decke … die Luft, die Welt, die Blase, in der ich lebe –, alles scheint sich aufzulösen in ein taumelndes, wirbelndes, kreisendes Gewirr aus Stimmen, Musik, Bewegung und Zeit.
An manches erinner ich mich.
Ich erinner mich, wie Taylor um mich rumgeht, mich umkreist, mich von oben bis unten anguckt, nickt und mir begeistert entgegenlächelt – Schau dich an … du siehst super aus –, als wär ich ein unglaubliches Wunder oder so. Ich weiß, sie macht sich nur lustig, aber das ist mir egal. Denn ich schau mich jetzt im Spiegel an, und was ich da seh, gefällt mir wirklich. Ich weiß natürlich, dass das nicht ich bin. Ich weiß, es ist nur ein angemaltes Gesicht und ein reizloser Körper, der in einen kurzen Jeansrock und ein knatschrosa T-Shirt (mit ROCK ’N’ ROLL STAR in Pailletten auf der Brust) gequetscht ist. Trotzdem hat die Gestalt im Spiegel eine wahrnehmbare Figur. Eine frauliche Figur, mit Rundungen oder (wenn’s denn sein muss) echten Kurven.
Das gefällt mir.
Es gefällt mir auch, als Taylor uns allen was einschenkt und mir ihr Glas entgegenreckt und sagt: »Prost, heiße Braut!«
Und als Mel mich anlächelt und sagt: »Prost!«
Und als sie beide ihren Drink runterkippen.
Und es wär ja unhöflich, wenn ich nicht dasselbe täte, also schluck ich auch meinen Drink runter – und muss sofort husten und würgen. Denn er schmeckt überhaupt nicht mehr fruchtig. Er schmeckt wie flüssiges Feuer.
»Verdammt!«, keuch ich und versuch Luft zu kriegen. »Was zum Teufel –?«
»Du brauchst einen BH«, sagt Taylor.
»Hä?«
»Einen anständigen BH«, sagt sie, als sie rüberkommt und ihren Blick auf meine Brüste heftet. »Ich meine, verdammte Kacke, wo hast du denn das schreckliche Teil her, das du da trägst – aus der Altkleidersammlung?«
Ich schau an mir runter und seh, dass mein BH unter dem dünnen T-Shirt durchscheint. »Was stimmt nicht damit?«, frag ich zurück.
»Alles«, sagt Taylor. »Erst mal ist er zu groß für dich. Total falsche Körbchengröße. Außerdem ist er antik … ich mein, schau dir das Teil doch mal an …« Sie streckt die Hand aus und fummelt am Träger rum. Ich schrecke zurück. »Der hat einfach nichts«, redet sie weiter. »Du brauchst was, das unterstreicht, was du hast. Der alte Lumpen bringt dir gar nichts.« Sie lächelt mich an. »Der hat doch null Effekt.«
»Er gehört meiner Mum«, murmel ich vor mich hin.
»Was?«
»Der BH ist von meiner Mum –«
»Von deiner Mum?«
»Ja, meine sind alle –«
»Heilige Scheiße. Du trägst den BH von deiner Mum?«
»Meine sind alle in der Wäsche.«
»Kacke!«, sagt sie und schüttelt vor Abscheu den Kopf. »Ich glaub’s nicht. Da hast du so viel Geld und trägst trotzdem den verdammten BH von deiner Mum –«
»Was für Geld?«
»Wie bitte?«
»Was für Geld?«, wiederhol ich.
Einen Augenblick lang starrt sie mich mit leerem Blick an. Dann zündet sie sich auf eine merkwürdig herausfordernde Art eine Zigarette an und bläst den Rauch aus. »Das alles hier«, sagt sie, wedelt mit der Hand rum und deutet auf meine ganzen Sachen. »Ich meine, das alles kannst du dir leisten, aber keinen anständigen eigenen BH? … Davon red ich.« Sie lächelt mich wieder an. »Ist gut eingesetztes Geld, Dawn. Ehrlich, du würdest staunen … ich meine, schau mich an.« Sie streckt ihren Rücken durch und reckt mir ihre Brust entgegen. Ich will nicht hinschauen, aber ich weiß nicht, wie ich aus der Nummer rauskommen soll. Also werf ich einen Blick auf ihren Busen und seh zwei perfekte Brüste, die perfekt in ihrem schwarzen Neckholder-Top sitzen.
»Ist ein Secret Embrace«, sagt Taylor stolz. »Pusht und bringt deine Titten super zur Geltung.« Sie fängt an, ihr Top auszuziehen. »Willst du mal sehen? Kannst ihn ja anprobieren, wenn du magst. Ist vielleicht ein bisschen klein für dich …«
Und eh ich weiß, was passiert, steht Taylor da, direkt vor mir, und präsentiert ihren sexy schwarzen BH, ganz seidig, mit Spitzen und weich, und sofort erstarre ich wieder, gerate in Panik, mein Herz pocht wie verrückt, weil ich sie seh. Ich seh ihre Beinah-Nacktheit. Und ich weiß nicht, ob ich das mag oder nicht. Ich weiß nicht, ob ich das aushalte. Also muss ich wegschauen, meinen Blick von ihr abwenden. Und ich muss versuchen, mich nicht so verschreckt und durcheinander zu fühlen …
»Was ist los mit ihr?«, fragt Taylor Mel. »Was macht die denn?«
»Schon gut«, antwortet Mel leise. »Zieh einfach dein Top wieder an.«
»Wieso? Ich wollt ihr doch nur zeigen –«
»Tu’s einfach, Tay.«
Daran erinner ich mich.
Und daran, wie ich noch was trinke.
Und mich langsam wieder wohlfühl.
Und rede – über Schule, Klamotten, Musik, Lokale, Fernsehen, Gerüchte, Leute, Geheimnisse … Dinge, die mich eigentlich gar nicht interessieren oder von denen ich nichts versteh, wo ich normalerweise nicht mal zuhör, aber das ist schon okay. Ist ja nur Reden. Einfach bloß Reden. Sonst nichts. Und der Regen draußen prasselt und die Musik spielt noch immer
(off your head
off your head
hanging from your head)
und ich weiß nicht, wie viel Uhr es jetzt ist, aber es muss ganz schön spät sein und ich fühl mich okay, ich fühl mich nicht schlecht, ich fühl mich wie eine andere Dawn zu einer andern Zeit … eine andere Dawn, ein Sexobjekt, eine Tochter, jemand in einer Höhle in meinem Kopf, wo es kalt ist und dunkel und keinen Laut gibt (are you washed in the blood?) und ich versuch die Höhle so weich wie ein Kissen zu machen, aber die meiste Zeit ist sie hart wie Stein, um die Monster (hatte er irgendwas vor?) auszusperren, aber es interessiert mich nicht mehr. Mich interessiert überhaupt nichts mehr, denn ich bin nicht mehr hier ich bin nicht hier bin nicht hier bin nicht hier bin nicht hier hör nicht zu (wem?) sag nichts verlier den Verstand (Gott hilf mir) bin ohne Verstand (dein Dad), bin fort aus seinem Körper und seiner Seele und hör nicht mehr zu (dein Dad – hatte er irgendwas vor?) nein nein nein nein nein …
Es gibt keinen Grund 4.
Mein Dad …
Nein.