psycho candy

Es gefällt mir, an diesem riesigen schwarzen Un-Ort zu sein. Ich könnte hier ewig bleiben, allein in dieser Un-Welt, die Augen geschlossen, dunkle Musik spielt, ich bin nicht dreizehn Jahre alt und muss nicht nicht über alles nachdenken, kann einfach nur diesem herrlichen Nichts lauschen …

Aber es gibt immer irgendwas, stimmt’s? Es gibt immer irgendwas, das dich aus deinem Nirgendwo zurückholt. Und diesmal ist es eine plötzliche Berührung – ein Finger, der mir leicht auf die Schulter tippt –, eine Berührung, die meinem Herz einen Schock versetzt und mich aus meiner Leere reißt. Ich schlucke leise. Ein erschrockener Atemzug, dann öffnen sich meine Augen und bombardieren mich mit der blendend hellen Außenwelt. Und vor mir auf dem Weg steht ein freundlich aussehender Mann in beigefarbener Cordjacke.

»Tut mir leid«, sagt er, als ich den Kopfhörer aus den Ohren zieh. »Ich wollte dich nicht erschrecken.« Er lächelt, um zu zeigen, dass er mir nichts tun will. »Alles in Ordnung mit dir?«

Er ist nicht jung, der Mann, aber er ist auch nicht alt. Wahrscheinlich ist er so zwischen dreißig und vierzig. Mittelgroß, mittelkräftig, in einfach fast allem mittel. Sein Gesicht wirkt harmlos, er hat sehr normales hellbraunes Haar und total durchschnittliche dunkelbraune Augen (die zur Farbe der abgewetzten Aktentasche in seiner Hand passen). Unter seiner beigefarbenen Jacke trägt er ein mattschwarzes Hemd mit einem weißen Pfaffenkragen – du weißt schon, so einem typischen Stehkragen, wie ihn Pfarrer tragen. Wenn er also nicht gerade zu einem Faschingsball will, muss das ein Pfarrer sein. Oder ein Priester, ein Pastor, ein Vikar oder so. Ich weiß nicht genau, was der Unterschied ist.

»Wie?«, frag ich.

Er lächelt. »Ich wollte nur sicher sein, dass mit dir alles in Ordnung ist. Ich habe dich hier sitzen sehen, verstehst du, da dachte ich, vielleicht geht es dir nicht gut oder so …«

»Nein«, antworte ich und schau mich um, wo Jesus und Mary sind. »Nein, alles okay. Ich hab bloß, also … ich hab bloß nachgedacht.«

Er nickt, als ob er versteht. »Ist ein guter Tag zum Nachdenken.«

Ich entdecke Jesus und Mary, sie schnuppern auf der andern Seite vom Weg an einem Grabstein rum und ich will schon ihre Namen rufen, kann mich aber zum Glück gerade noch bremsen. Ich meine, der Typ ist immerhin Pfarrer, der wär wahrscheinlich beleidigt, wenn er wüsste, dass meine Hunde Jesus und Mary heißen. Und auch wenn mir das eigentlich egal ist (denn was mich betrifft, ist es ja keine Beleidigung), seh ich keinen Grund, ihn unnütz aufzuregen.

»Sind das deine Hunde?«, fragt mich der Pfarrer.

»Ja.«

Ich pfeif nach ihnen – einmal, zweimal – und sie kommen beide angetrottet.

»Sie sind schön«, sagt der Pfarrer.

»Danke.«

Er beobachtet sie, wie sie auf uns zukommen und sich neben mich setzen, und ich beobachte sie auch – und frag mich, warum sie so still dasitzen mit dieser leicht kindlichen Verlegenheit in den Augen. Warum tun sie nicht, was sie sonst immer tun, wenn sie jemand Neuen treffen? Wieso laufen sie nicht ihre üblichen Kreise um ihn herum, wedeln mit dem Schwanz und winseln sich um den Verstand?

»Ich heiße übrigens David Welchman«, sagt der Pfarrer. »Ich bin der Gemeindepfarrer hier in St. Michael’s.«

»Ach so«, sag ich kopfnickend.

Auch er nickt, lächelt mich an und ich denk mir, wahrscheinlich wartet er jetzt, dass ich mich auch vorstelle. Aber ich glaub, das will ich nicht. Keine Ahnung, warum. Ist einfach so.

»Was hörst du da?«, fragt er mich und wirft einen neugierigen Blick auf den Kopfhörer in meinem Schoß. »Irgendwas, was ich kennen könnte?«

»Eher nicht.«

Er nickt, wie ein mittelalter Mann, der mit einem jungen Mädchen über Musik spricht, eben nickt. Ich wickle die Ohrstöpsel zusammen und schieb sie mitsamt iPod in meine Tasche. Der Pfarrer lächelt mich wieder an.

Ein kalter Wind kommt auf, er fegt in das tote Laub und lässt kleine braune Tornados aufwirbeln, über der Kirche türmt sich eine schwere graue Wolkenbank.

»Sieht nach Regen aus«, sagt der Pfarrer zum Himmel schauend.

Und gerade, als er es sagt, spür ich den ersten Tropfen auf meiner Hand. Es ist ein Gefühl von eisig und heiß, ganz groß und ganz klein, wie ein winziger Sturm auf dem Kopf einer riesigen Nadel.

»Tja«, sagt der Pfarrer zu mir und hebt die Aktentasche in seiner Hand. »Ich muss dann mal weiter …«

»Kann ich mit Ihnen über was reden?«, frag ich ihn.

»Wie bitte?«

»Ich würd gern mit Ihnen über was reden.«

»Ja, natürlich«, sagt er, allerdings nicht sehr überzeugend. »Was ist es denn, worüber du mit mir reden willst?«

»Gott.«

Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Pfarrer nicht wirklich mit mir reden will, aber ich bin mir auch ziemlich sicher, dass er nicht Nein sagen kann. Weil:

  1. Es ist sein Job, mit Leuten über Gott zu reden, und

  2. es regnet jetzt in Strömen und es wär nicht sehr christlich von ihm, ein junges Mädchen in einem Unwetter allein draußen stehen zu lassen.

  3. Aber er hat anscheinend was zu tun, irgendwas Geschäftliches, Aktentaschiges, und er würde viel lieber das machen als mit mir reden.

  4. Und was noch wichtiger ist: Er ist ein Mann, ein mittelalter Mann, und ich bin ein Mädchen, ein Teenager, und sonst ist gerade niemand in der Nähe und wahrscheinlich denkt er, es ist nicht sehr angebracht für einen mittelalten Mann, mit einem jungen Mädchen allein zu sein (auch wenn das Mädchen ein bisschen rund und pummelig und nicht gerade eine Schönheit ist).

Was soll er machen?

Tja, er wird wohl einen Kompromiss eingehen, so sieht das aus. Er wird zu mir sagen: »Komm, gehen wir erst mal aus dem Regen«, und dann wird er den Weg Richtung Kirche langrennen und sich die Aktentasche über den Kopf halten und ich und Jesus und Mary werden ihm folgen, und wenn wir den Schutz des Steinvorbaus erreichen, ist das der Punkt, bis zu dem er gehen wird. Und so kommt es auch.

»Setz dich bitte«, sagt er und schlägt den Regen von seiner Jacke.

Ich schau auf die verschlossene Tür, dann wieder zu ihm. »Können wir nicht reingehen?«

»Na«, antwortet er vorsichtig. »Ich glaube, es ist besser, wir reden hier draußen.«

»Wieso das denn?«, antworte ich ganz bewusst und gucke ihn direkt an.

Es ist gemein, das zu fragen, und völlig unnötig und der Teil von mir, der ich ist (die jetzige Dawn), bereut es auch beinah sofort. Und selbst der andere Teil von mir (die Höhlen-Dawn – die, wie ich weiß, so einen kleinen Kitzel absurder Befriedigung spürt, als sie sieht, wie sich der Pastor unbehaglich windet) weiß, dass wir nicht fair sind.

Aber jetzt ist es zu spät.

(Tut mir leid.)

Ich hab’s schon gesagt.

(Tut mir leid.)

Und es gibt keine Möglichkeit, es zurückzunehmen. Ich kann nur die Augen niederschlagen, mich auf die kalte Steinbank setzen und so tun, als wär nichts passiert.

(Was ist passiert?

Nichts. Nichts ist passiert.

Es gibt keinen Grund 4.)

»Also«, sagt der Pfarrer nach einer Weile. »Wie kann ich dir helfen?«

Seine Stimme ist immer noch ziemlich freundlich, aber sie hat jetzt so einen leichten Unterton von Vorsicht. Sie klingt wie die Stimme eines freundlichen Mannes, der mit einem potenziell gewalttätigen Irren spricht.

Ich schau auf und seh ihn an.

(Tut mir leid.)

Und dann sag ich – und versuch dabei, so normal wie möglich zu erscheinen: »Ist es falsch, schlimme Dinge geheim zu halten?«

Er sieht mich mit einem besorgten und leicht verwunderten Blick an. »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich versteh, was du meinst.«

»Wenn man weiß, dass etwas falsch ist«, erklär ich. »Ich meine, wenn Sie wissen, dass jemand etwas Falsches getan hat, etwas, das er nicht tun durfte, und Sie erzählen es keinem … ist das dann falsch?«

»Nun«, sagt der Pfarrer und seine Stimme klingt jetzt sehr ernst. »Das kommt darauf an, was die Person getan hat.« Er sieht mich an. »Ist deine Frage hypothetisch? Oder sprechen wir von etwas, das tatsächlich passiert ist?«

»Es ist tatsächlich passiert.«

»Verstehe. Und kennst du die Person, die etwas Falsches getan hat?«

»Ja.«

Er sieht mich wieder an, jetzt mehr besorgt als verwundert. »Kannst du mir sagen, in welche Richtung das geht, was die Person getan hat?«

»Etwas sehr Schlimmes.«

»Hat sie das Gesetz gebrochen?«

»Ja.«

»Hat sie jemanden verletzt?«

»Ja.«

»Schlimm?«

»Ja.«

»Wie schlimm?«

»So schlimm, wie’s nur geht.«

Der Pfarrer schüttelt ganz langsam den Kopf. »Und du sagst, du kennst die Person? Du weißt, was sie getan hat?«

»Ja … ich kenn sie. Und ich weiß, was sie getan hat. Und es ist schlimm … es ist gegen das Gesetz, verstehen Sie. Es ist falsch.« Ich seh den Pfarrer an. »Finden Sie, ich sollte es jemand erzählen?«

»Ich glaube, du würdest einen schrecklichen Fehler begehen, wenn du es nicht tätest.«

»Verstehe … dann meinen Sie also, ich sollte was unternehmen?«

»Absolut.«

»Sie meinen also nicht, ich sollte mich zurücklehnen und es einfach geschehen lassen?«

»Natürlich nicht.«

Ich seh ihn an. »Wieso ist es dann für Gott in Ordnung, es einfach geschehen zu lassen?«

»Wie bitte?«

»Das ist doch eine strafbare Handlung, oder?«

Der Pfarrer schaut verwundert. »Was?«

»Unterlassung, ein Verbrechen anzuzeigen … das ist doch strafbar. Illegal.«

»Ich bin sicher, dass es das ist –«

»Aber wieso kommt dann Gott damit durch? Ich meine, er kriegt doch alle möglichen schrecklichen Dinge mit. Aber er unternimmt nie was dagegen. Er versucht nie, irgendwas zu verhindern. Er erzählt keinem davon. Er ruft nicht die Polizei.« Ich seh den Pfarrer an. »Wenn ein anderer das täte, würde er dafür verhaftet.«

»Nun«, sagt der Pfarrer, »ich finde, jetzt bist du ein bisschen albern –«

»Ich weiß«, sag ich. »Aber trotzdem hab ich doch recht, oder?«

Der Pfarrer lächelt mich an.

Ich lächle zurück und stell mir vor, wie Gott verhaftet wird und zigtausendfach wegen unterlassener Anzeige eines Verbrechens angeklagt wird. Ich stell mir vor, wie ihm seine allmächtigen Fingerabdrücke genommen werden, wie er von der Polizei verhört wird. Ich stell mir vor, wie er sich mit seinem Anwalt berät. Ich stell ihn mir im Prozess vor, wie er auf der Anklagebank sitzt und sich selbst schwören muss, die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen … so wahr ich mir helfe. Ich stell mir vor, wie er mit einem Gefangenentransporter ins Gefängnis gefahren wird. Ich stell mir vor, wie er in seiner Zelle mit einem schrecklichen kleinen Bett, einem schrecklichen kleinen Waschbecken und einem schrecklichen kleinen Klo ohne Deckel eingeschlossen wird …

Und ich weiß nicht, wieso ich das alles mache.

Ich versteh nicht, wieso ich mir überhaupt die Mühe gemacht hab herzukommen.

Kenne deinen Feind?

Ich hab keinen Feind.

Es gibt keinen Gott.

Und dieser Mann, dieser Pfarrer … er ist nur ein Mann. Er ist ein stinknormaler Mann (mit einem komischen Kragen), der an etwas glaubt, das es nicht gibt. Es ist sinnlos, ihm Fragen zu stellen. Es gibt überhaupt keinen Grund, mit ihm zu reden.

Ich will nicht über Gott reden.

Ich will ihn umbringen.

Jetzt regnet es nicht mehr so stark. Jesus streckt vorsichtig seine Schnauze um die Ecke vom Kirchenvorbau und schnuppert die frischen Düfte, die durch den Regen freigesetzt worden sind. Mary sitzt einfach still auf dem kalten Steinboden und starrt beharrlich auf den rechten Schuh des Pfarrers. Der Pfarrer sieht mich auf diese stumme, nachdenkliche Art an wie Leute, die mehr zu wissen meinen als du selbst. Er hat seinen Glauben, nehm ich an. Und wahrscheinlich meint er es gut. Aber ich weiß, wenn ich ein böser Mensch wär und ihm was tun wollte, würde sein Glaube mich nicht aufhalten.

»Was tut er eigentlich?«, frag ich ihn.

»Wie bitte?«

»Gott … ich meine, was tut er eigentlich?«

»Nun«, antwortet der Pfarrer langsam (das »Nun« ist so ein Lieblingswort von ihm), »es ist nicht so sehr die Frage, was Gott tut –«

»Für mich schon.«

»Nun, es tut mir leid, aber so einfach ist es nicht.« Dann schaut er mich an und ich seh, wie die Rädchen in seinem Kopf arbeiten, und weiß, dass er gleich anfangen wird, eine Predigt zu halten … und das will ich jetzt wirklich nicht.

»Ich glaub, ich geh jetzt mal besser«, sag ich und steh auf.

Er sieht mich an und nickt langsam. »Nun … wenn du je noch mal mit mir über irgendwas reden willst, was auch immer es sein mag …« Er macht eine Pause und in seinem Blick liegt aufrichtige Sorge. »Ich kann dir zwar keine Antworten versprechen, aber manchmal hilft es, einfach zu reden.«

»Okay.«

»Egal woran du glaubst oder nicht glaubst.«

»Ja … gut, danke. Ich werd’s mir merken.«

Er lächelt. »Gut.«

»Dann bis bald«, sag ich.

»Hoffentlich.«

Danach verschwind ich.