Als ich am Ende der Whipton Street aus dem Bus steige, bin ich in Gedanken halb bei Gott und halb bei Taylor und Mel. Die Straßenbeleuchtung brennt und schillert orange im noch immer fallenden Regen. Jetzt am Abend wird es kälter. Ich halt den Kopf weiter gesenkt, lauf schnell die Whipton Lane lang und bieg dann nach rechts in die Dane Street ab. Meine Straße. Hier wohn ich.
Es ist ein Un-Ort, echt, hier sieht es aus wie an jedem andern Un-Ort der Welt. Reihenhäuser, Ziegelsteinwände, eine zu enge Straße, vollgeparkt von zu vielen Autos. Die übliche Auswahl an weggeworfenem Mist schwappt in den Gossen rum, durch die der Regen rinnt – leere Plastiktüten und Styroporschachteln, Zigarettenkippen, die sich auflösen, Hundekacke –, und weiter die Straße runter auf halber Höhe hat sich an der Stelle, wo mal wieder der Gulli verstopft ist, ein kleiner See aus schmutzig grauem Wasser gebildet.
Das hier ist nicht gerade das Paradies.
Aber die Hölle wohl auch nicht.
Jesus und Mary wissen jetzt, wo wir sind, sie riechen den Geruch von Zuhause. Und beide sind losgetrottet, sie laufen vor mir her, trippeln, so schnell sie können, ohne richtig zu rennen, sind besessen von dem Gedanken, endlich aus der Kälte und dem Regen zu kommen. Zuhause heißt warm, Zuhause heißt trocken, Zuhause heißt Fressen. Das ist es, woran sie denken.
Mel Monroe, denkt eine Hälfte von mir.
Mel Monroe.
Mel ist das böse Mädchen, zu dem alle andern bösen Mädchen aufschauen. Sie ist knallhart und sie ist scharf. Die lässt sich nichts gefallen. Die weiß Bescheid. Mel Monroe kann dein Leben zerstören, indem sie dich bloß schief anguckt. Und bis vor einem halben Jahr war sie DIE EINE, die Einzige, und keiner reichte an sie ran. Doch dann ist Taylor Harding aufgekreuzt, die (wie gemunkelt wurde) auf der andern Seite der Stadt von der Schule geflogen war. Geflogen (wie die wechselnden Gerüchte behaupteten), weil sie sich geprügelt hatte, weil sie Drogen genommen hatte, weil sie in der Turnhalle Sex mit einem Jungen oder in der Turnhalle Sex mit einem Mädchen gehabt hatte, weil sie ein Messer bei sich trug, eine Pistole … eine Panzerfaust. Was auch immer. Was eben so alles geredet wird. Jedenfalls, als sie das erste Mal auftauchte – mit ihrem gewaltigen schlechten blonden Ruf –, gingen eigentlich alle davon aus, dass es früher oder später zum Showdown zwischen ihr und Mel kommen würde. Aber überraschenderweise kam der nie. Die ersten paar Tage umkreisten sie sich gegenseitig, musterten sich, schätzten sich ab, aber dann, am dritten Morgen, tauchten sie zum Erstaunen aller Arm in Arm in der Schule auf. Es war, als ob sie schon immer die größten Busenfreundinnen gewesen wären – sie stolzierten gemeinsam durch die Gegend, hatten den gleichen Blick drauf … und auf einmal war Mel nicht mehr DIE EINE, die Einzige. Mel und Taylor waren jetzt zusammen die Einzigen. Zu zweit eins. MelundTaylor. An der Hüfte verbunden wie eine Hardcoreversion siamesischer Zwillinge.
Aber nichts davon hatte irgendwas mit mir zu tun. Weder damals noch jetzt. Ja, natürlich weiß ich Bescheid, was in der Schule abgeht. Und natürlich hör und seh ich genau, was so läuft, ich weiß auch, was was und wer wer ist … aber niemand sieht mich, klar? Ich bin unsichtbar. Nichts hat irgendwas mit mir zu tun.
Wieso also, denkt jetzt die eine Hälfte von mir, wieso sollten mich Mel und Taylor fragen, ob ich zu ihrer Party komm? Wieso sollte mich irgendwer fragen, ob ich zu seiner Party komm?
Gleichzeitig denkt die andere Hälfte (die, die nicht über Taylor und Mel nachdenkt) daran, Gott umzubringen.
Gott umbringen?
Wieso denn?
Wie denn?
Was heißt das überhaupt?
Und dann seh ich Splodge bei sich vor dem Haus auf der Treppe sitzen, im Regen.
Sein richtiger Name ist Steven Lodge. Er ist jünger als ich – vielleicht zehn oder elf – und ich kenn ihn eigentlich gar nicht so gut, aber das Haus, wo er wohnt, ist nur vier Türen von unserm entfernt, deshalb seh ich ihn ziemlich oft. Er trägt ständig so einen billigen Parka, egal wie das Wetter ist, und er ist immer allein. Was so ein bisschen der Grund ist, weshalb ich ihn mag. Alle nennen ihn Splodge (außer seine Eltern, nehm ich mal an), denn:
1. Sein zweiter Vorname ist Peter, was ihn zu S. P. Lodge macht. (Man sollte meinen, dass seine Eltern das gemerkt hätten, haben sie aber offenbar nicht. Oder vielleicht doch und sie fanden es einfach nur lustig.)
Und 2. hat er so ein purpurig rotes Feuermal im Gesicht. Und leider ist das nun mal ziemlich splodge-haft. Du weißt nicht, was ein splodge ist? Ich sag’s dir: ein Flatschen. Das Feuermal geht fast über die ganze linke Hälfte von seinem Gesicht und natürlich sehen die Leute so was nicht gern, deshalb wissen sie nicht, wo sie hingucken sollen, wenn sie mit ihm reden, und sie wissen auch nicht, wie sie sich verhalten sollen (lieber ignorieren oder doch irgendwas sagen?), deshalb fühlen sie sich total mulmig und kleinlaut … und deshalb gehn ihm die meisten aus dem Weg. Als ob er krank wär oder so. Also ist er die meiste Zeit allein – manchmal kickt er ein bisschen mit einem Ball rum, manchmal läuft er einfach nur so durch die Gegend und manchmal (wie jetzt) sitzt er bloß auf der Treppe vorm Haus und beobachtet, wie die Welt an ihm vorbeizieht.
Jetzt lächelt er, als Jesus und Mary zu ihm hochwatscheln, um kurz an seiner Jogginghose zu schnuppern.
»Ihr seid ja nass«, sagt er zu ihnen und krault Mary den Kopf.
»Liegt am Regen«, sag ich, als ich neben ihm stehen bleib und den iPod ausschalte. »Regen hat meistens den Effekt, nass zu machen.«
Er sieht zu mir auf. »Du solltest ihnen Mäntel besorgen.«
»Die haben Mäntel.«
Er lächelt mich an. Sein Feuermal ist heute echt purpurig. Liegt an der Kälte. Der Flatschen wird purpurig, wenn es kalt ist, und orangig rot, wenn es heiß ist.
»Alles klar?«, frag ich.
»Ja.«
»Was machst du?«
»Nichts Besonderes …« Er wirft einen Blick auf die Tüte in meiner Hand. »Was Gutes gekauft?«
»Bibeln«, erklär ich.
»Bibeln?«
»Ja.«
Während ich mir den Regenschlier von der Stirn wisch, wendet Splodge seine Aufmerksamkeit einem vorbeifahrenden Lieferwagen zu. So einem blauen mit der Aufschrift Marthings Möbel auf beiden Seiten. Uralter Kasten, pfeift aus dem letzten Loch. Eine zusammengeflickte Rostlaube mit verbogener Antenne, Klebeband am Scheinwerfer und Scheiben, die so dreckig sind, dass man nicht durchgucken kann. Hab ihn schon öfter hier gesehen.
Splodge folgt ihm mit den Augen, als er vorbeifährt, die Dane Street hoch, bis er links in die Whipton Lane abbiegt. Danach dreht sich Splodge wieder zu mir um.
»Weißt du, wer das ist?«, fragt er.
»Wer – in dem Lieferwagen?«
»Ja … ich seh den ständig hier in der Gegend. Manchmal fährt er rum, manchmal parkt er, aber ich hab noch nie jemand aussteigen sehen.«
»Vielleicht das FBI«, schlag ich vor. »Vielleicht beschatten sie dich.«
Er lächelt nicht.
Ich seh ihn an. »Kann ich dich mal was fragen?«
Er schnieft. »Was denn?«
»Glaubst du an Gott?«
Er guckt mich schräg an. »Gott?«
»Ja … also, glaubst du, dass es wirklich eine Art übernatürliches Wesen gibt, das alles erschaffen hat und alles weiß und alles sieht?«
Er zuckt mit den Schultern. »Weiß nicht … ehrlich gesagt, hab ich noch nie so genau drüber nachgedacht.«
»Gehst du in die Kirche?«
»Ja, manchmal.«
»Betest du und so was?«
Er nickt. »Hm … jeden Abend, bevor ich ins Bett geh.«
»Echt?«
»Ja.«
»Du betest zu Gott?«
»Ja.«
»Aber du weißt nicht, ob du an ihn glaubst oder nicht?«
Er zuckt wieder mit den Schultern.
»Wofür betest du?«, frag ich ihn.
»Für ein neues Gesicht.«