Als ich aufwache, sind Taylor und Mel weg. Ich weiß nicht, wie spät es ist … frühmorgens, spätnachts. Keine Ahnung. Ich sehe alles verschwommen, ich kann die Digitalziffern auf meinem Wecker nicht erkennen. Sie schweben in der Dunkelheit wie rot glühende, unscharfe Miniraumschiffe. Deshalb weiß ich nicht, wie spät es ist, aber es fühlt sich an wie diese Un-Zeit, diese Leere mitten in der Nacht, wenn die Welt am kältesten und dunkelsten ist und du nirgends einen Laut hörst.
Und ich fühl mich …
Sündig.
Ich fühl mich schlecht und sündig.
Gott, mir ist schlecht.
Ich lieg auf dem Bett, auf der Zudecke, und hab nichts an als das alberne rosa T-Shirt, weshalb ich starr gefroren bin; auch das Make-up in meinem dämlichen Gesicht fühlt sich kalt und schmutzig starr an. Ich fühl mich wie tot. Ein totes Ding. Und ich wünsch mir, ich wär tot. Denn wenn ich tot wär, wär mir zumindest nicht so entsetzlich schlecht, würde es mir nicht den Magen umdrehen.
Verdammt, das ist ja nicht auszuhalten.
Ich hab Krämpfe im Bauch, die Blase tut weh, weil sie so voll ist. Mein Mund ist ausgetrocknet, die Lippen kleben aneinander. Mir tut alles weh. Ich riech schlecht. Es pocht in meinem Schädel und kreist und wirbelt und alles verschwimmt …
Und ich kann mich an nichts erinnern.
Was ist passiert?
Was ist mit Taylor und Mel passiert?
Wann sind sie gegangen?
Wann bin ich eingeschlafen?
Wieso fühl ich mich so?
Was ist passiert?
Langsam, ganz langsam setze ich mich auf. Stechende Schmerzen schießen durch meinen Hinterkopf und einen Moment ist mir, als müsste ich mich übergeben. Aber ich schaff es, den Brechreiz zu unterdrücken.
Ich schalte die Nachttischlampe an, zuck zusammen, weil das Licht so furchtbar grell ist, und schau mich im Zimmer um. Chaos. Flaschen, Zigarettenkippen, verstreute Klamotten, leere Tüten. Außerdem stinkt es. Nach Zigarettenqualm, Alkohol, Kotze …
»Scheiße«, flüster ich vor mich hin und beug mich vor, um mir den Fußboden anzugucken.
Da seh ich’s – eine kleine Lache gelblicher Kotze auf dem Teppich neben meinem Bett.
Bei dem Anblick kommt es mir hoch, und wie ich so dasitz und würge und mich anstreng, mich ja nicht zu übergeben (wobei ich mich gleichzeitig zu erinnern versuch, ob tatsächlich ich da gekotzt hab … es mir vorzustellen versuch und dann gleich wieder nicht vorzustellen versuch, denn die Vorstellung, wie ich kotze, macht die Übelkeit nur noch schlimmer) … da hör ich auf einmal, wie Jesus in seinem Körbchen winselt.
Ich schau zu ihm rüber.
Sein Schwanz wedelt schwach, schlägt – timp, timp, timp – gegen den Rand und ich weiß, es ist ein besorgtes Schwanzwedeln. Ein Wedeln, das sagt: Ich weiß noch, wie ich mal auf den Boden gekotzt hab und du mich ausgeschimpft hast, und ich weiß auch, dass jetzt wieder Kotze auf dem Boden ist, ich riech’s nämlich, und ich will nicht noch mal ausgeschimpft werden. Ich schau rüber zu Marys Körbchen. Sie wirkt viel gelassener – die Augen halb geschlossen und die Schwanzspitze wandert lässig von einer Seite zur andern.
Ich schau wieder zu Jesus.
»Ist ja gut, Jesus«, erklär ich ihm. »Ist ja gut …«
Und da erinner ich mich plötzlich. An Taylors Stimme.
Ist nur Reden. Einfach bloß Reden. Sonst nichts. Wir reden bloß.
Und ich erinner mich an den Regen, der draußen prasselt, und wie die Musik spielt (the beat of your heart, your cold empty heart) und Taylor mich Dinge fragt.
Hatte er irgendwas vor?
Wer?
Dein Dad – hatte er irgendwas vor?
Und jetzt hab ich die Augen geschlossen und mein Rücken friert und ich erinner mich schemenhaft – vage Gedanken an Dad, eine kalte Dezembernacht …
Ich glaub nicht, dass Gott ihn gezwungen hat, das zu tun.
Das war ein anderer Dad, eine andere Dawn …
Eine andere Zeit.
Alles okay.
Und ich fühl, dass ich sterbe.
Denn ich weiß nicht mehr, ob diese Erinnerungen Erinnerungen aus meinem Kopf sind, Erinnerungen an Gedanken, Erinnerungen an Träume … oder ob sie Erinnerungen an etwas sind, das ich gesagt hab. Hab ich Taylor und Mel von Dad erzählt? Hab ich ihnen von der Nacht erzählt, in der die Hymne mich heimgesucht hat? Dem einen Mal, der schwarzen Hölle, der Scham, die Höhlen schafft …? Ich weiß nicht. Ich kann nicht denken. Alles liegt in schimmernden Stücken … Ich bin nicht hier ich hör nicht zu … Wer? … Ich sag nichts … Gott hilf mir … ich bin fort aus meinem Verstand … dein Dad … ich bin fort aus seinem Körper und seiner Seele und ich hör nicht mehr zu … dein Dad – hatte er irgendwas vor … nein nein nein nein nein …
Ich erinner mich nicht.
Aber ich glaub, es könnte sein, dass ich irgendwas gesagt hab.
Irgendwas über Dad.
Hatte er irgendwas vor?
Was vor?
Was denn?
Sag du’s mir.
»Scheiße«, hör ich mich jetzt flüstern. »Das Geld.«
Ich spring zu schnell vom Bett auf, was Folgendes bewirkt:
-
einen schlingernden Schmerz im Kopf,
-
einen benebelnden Schwindel, der den Boden in Wellen schwanken und mich zur Seite taumeln lässt, und
-
ein kaltes, klebriges Gefühl an der nackten linken Fußsohle, als ich in die Lache aus Erbrochenem trete.
»Scheiße«, murmel ich wieder, hüpf jetzt auf einem Fuß rum und versuch vergeblich, die Kotze vom andern Fuß zu schütteln.
Und mein Kopf pocht noch immer und alles um mich herum kreist und wirbelt und verschwimmt noch immer und inzwischen sind Jesus und Mary aus ihren Körbchen gesprungen und wuseln um meine hüpfenden Füße wie ein paar geisteskranke Otter. Sie jaulen und japsen vor Freude über dieses unerwartete (aber sehr willkommene) Spiel mitten in der Nacht.
»Nein«, sag ich laut flüsternd. »Nein, Schluss jetzt. Ich spiel nicht …«
Es hilft nicht. Sie hören nicht auf zu spielen, ehe ich aufhör zu spielen, und inzwischen ist es sowieso sinnlos, meinen Fuß vom Boden wegzuhalten, denn Jesus und Mary sind beide in das Erbrochene rein- und wieder rausgetreten, also verbreiten jetzt acht kleine Hundepfoten die Kotze auf dem Teppich …
Ich hör auf zu hüpfen und bleibe stehen.
Und warte ein, zwei Sekunden.
Bis Jesus und Mary merken, dass das Spiel vorbei ist, und aufhören rumzurennen, einfach stillstehen, leise keuchen und zu mir aufsehen.
Und ich energisch zu ihnen sage: »Schluss jetzt. Okay? Ist genug.«
Sie sehen mich an.
ehrlich?
Und ich antworte: »Ja, ehrlich.«
na gut, okay … wenn du’s sagst
Ich schau nach unten auf meinen Fuß. Es hängt nicht allzu viel klebriges Zeug dran, nur ganz am Rand ein bisschen was Glitschiges, Gelbliches. Ich schmier es (mit schlechtem Gewissen) in den Teppich und versprech mir, es nachher wegzumachen, dann geh ich durchs Zimmer, zieh meinen Bademantel an, öffne die Tür und lauf schnell auf Zehenspitzen über den Flur zu Mums Schlafzimmer.