happy when it rains (3)

Ich hör, wie Mels Worte in meinem Kopf rumgeistern:

wegen gestern Nacht …

wegen gestern Nacht …

wegen gestern Nacht …

aber ich sag nichts dazu.

Ich kann nichts sagen.

Ich seh sie nur an.

»Erinnerst du dich noch an viel?«, fragt sie schließlich.

»An genug«, antworte ich und meine Stimme wird instinktiv kühl.

Sie senkt den Blick. »Hör zu, ich bin echt nicht stolz auf das, was wir gemacht haben, klar? Und ich fühl mich auch ziemlich beschissen deswegen. Aber ich werd jetzt nicht so tun, als ob ich’s nicht freiwillig gemacht hätte oder so. Es war genauso meine Idee wie die von Taylor.«

»Du meinst, mich betrunken zu machen?«

Sie sieht mich überrascht an.

»Ich bin ja nicht blöd«, sag ich. »Ich meine, erst wusst ich natürlich nicht, was ihr mit mir gemacht habt … am Anfang jedenfalls nicht. Und als ihr mich dann so weit hattet … na ja, da war ich dann zu betrunken, um zu kapieren, was lief. Aber als ich mitten in der Nacht aufgewacht bin und mir so schlecht war wie noch nie in meinem Leben, da war’s nicht schwer zu begreifen, was passiert ist.«

»Tja«, murmelt Mel. »Tut mir leid …«

»Wie habt ihr’s gemacht?«, frag ich sie. »Habt ihr was in dieses Revolver-Zeug getan?«

»Später, ja … Taylor hat eine Ladung Wodka reingekippt. Allerdings ist da sowieso schon Wodka drin.«

»In dem Revolver

»Na klar, das ist ’n Alkopop, du weißt schon … wie Bacardi Daiquiri und so. Wir haben das Etikett abgekratzt, damit du nicht siehst, was drin ist.«

Ich schau sie an, die Augen jetzt fest auf ihre gerichtet, und ich merk, dass ich überraschend ruhig bin. Was immer ich an miesen Gefühlen spür – Verbitterung, Wut, Betrogensein –, es ist nicht echt. Es sind Gefühle, die du kriegst, wenn du denkst, dass sie von dir verlangt werden, und obwohl du sie nicht wirklich spürst, glaubst du zeigen zu müssen, dass du sie hast.

»Und wieso?«

»Wieso was? Warum wir dich betrunken gemacht haben?«

»Ja … und alles andere. Das mit den Klamotten, dem Make-up und so. Dem Getue, dass ihr mich mögt. Ich mein, wahrscheinlich dachtet ihr, es ist lustig –«

»Nein«, sagt sie bestimmt. »Das war’s nicht.«

»Na klar«, antworte ich (und ich kann nichts dran ändern, dass ich ziemlich sarkastisch klinge). »Garantiert wolltet ihr bloß, dass es mir bessergeht, stimmt’s?«

Mel schüttelt den Kopf. »Ehrlich, Dawn … so war’s nicht. Es war nur …«

»Nur was?«

Sie sieht mich eine Weile an und ihr Gesicht ist so ernst, ihre Augen sind so beunruhigt, dass ich’s nicht verhindern kann, ein bisschen Mitleid mit ihr zu kriegen. Und plötzlich wird mir bewusst: Hier sitz ich, die dämliche Dawn, und das Mädchen gegenüber, das Mädchen, mit dem ich Mitleid hab, ist Mel Monroe. Ich mein … sie ist Mel Monroe, verdammt. Sie ist knallhart, sie ist scharf, sie ist das große böse Mädchen, zu dem alle andern bösen Mädchen aufschauen. Sie kann dein Leben zerstören, indem sie dich bloß schief anguckt. Und es ist erst ein paar Tage her (oder vielleicht doch eher tausend Jahre?), dass ich sie mit Taylor aus dem Accessorize-Laden hab kommen sehen und ich mich gleich so fremd, so nicht dazugehörend fühlte, dass ich mit gesenktem Kopf weitergegangen bin und so getan hab, als ob ich sie gar nicht sehe, als ob ich ganz in meiner Musik versunken wär … Und jetzt ist sie hier, Mel Monroe, eiskalt und schön, und sitzt nervös auf der Bettkante in meinem Zimmer. Und ich spür allen Ernstes ein bisschen Mitleid mit ihr. Und dieser Wechsel gibt mir (unglaublicherweise) das Gefühl, dass ich eine Art Macht über sie hab.

Ich weiß natürlich, dass ich keine hab.

Mir ist klar, dass das nur ein kurzer Ausschlag im Gleichgewicht der Natur ist. Und Mel weiß das auch. Genau aus dem Grund sieht sie mich jetzt so an, blickt danach zu Boden, holt tief Luft, reißt sich zusammen … und hebt schließlich den Kopf, schaut zu mir rüber und zwingt sich zu sagen, warum sie hier ist:

»Es ging nur ums Geld.«

»Was?«

»Das Geld … bei der ganzen Sache ging’s nur um das Geld. Auch jetzt noch. Deshalb bin ich hier.«

»Um was denn für Geld?«

»Das Geld von deinem Dad.«

Als ich nichts sage, guckt sie mich einen Moment ganz konzentriert an und versucht rauszufinden, was mein Schweigen wohl bedeutet, und ich versuch meinen Blick so leer zu halten, wie ich nur kann. Was nicht leicht ist, denn mein Herz pumpt gerade ziemlich heftig und ich spür, wie mir eine Menge Dinge durch den Kopf gehen.

»Schau«, sagt Mel, »ich hab keine Ahnung, ob bei euch tatsächlich Geld ist oder nicht, und ehrlich gesagt interessiert es mich auch nicht mehr. Aber eigentlich ist es sowieso egal, ob es da ist oder nicht. Ich meine, wenn Taylors Dad nun mal glaubt, dass es da ist –«

»Taylors Dad?«

»Ja. Wenn er glaubt –«

»Wart mal«, sag ich, plötzlich verwirrt. »Was hat Taylors Dad mit der Sache zu tun?«

Mel zieht die Augenbrauen hoch. »Weißt du das nicht?«

»Was weiß ich nicht?«

Sie sieht mich verblüfft an. »Du weißt das echt nicht?«

Ich schüttle den Kopf. »Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst.«

»Lee Harding«, sagt sie. »Taylors Dad. Noch nie was von ihm gehört?«

»Nein.«

Sie seufzt. »Hat dein Dad ihn nie erwähnt?«

»Mein Dad?«

»Ja, die beiden kennen sich. Na ja, kannten sich …« Sie unterbricht sich, um eine Zigarette anzuzünden, und ich kann nur dasitzen und sie beobachten, warten, atmen, ohne zu wissen, was ich von dem Ganzen halten soll. »Lee Harding«, sagt sie und bläst den Zigarettenrauch aus, »ist vor zwei oder drei Wochen aus dem Knast gekommen. Er hat zweieinhalb von fünf Jahren Haft wegen Drogenhandel und Körperverletzung abgesessen. Daher kannte ihn dein Dad.«

»Aus dem Knast?«

»Nein, über die Drogen. Lee war ein Händler, ein Dealer. Ich glaub, kennengelernt hat ihn dein Dad in der Zeit, als er Stoff für sich selbst brauchte, aber dann hat er angefangen, ab und zu für Lee zu arbeiten.« Sie sieht mich an. »Du weißt aber schon, dass dein Dad in lauter so Sachen verstrickt war, oder?«

»Ja.«

»Er kannte anscheinend ziemlich viele Leute. Hatte jede Menge Kontakte.«

»Ja.«

»Na ja, egal«, fährt Mel fort. »So wie es aussieht, hat Lee vor ein paar Jahren einen richtig fetten Deal am Laufen gehabt, irgendwas mit einer großen Lieferung Heroin, und dein Dad hat ihm bei der Verteilung geholfen. Du weißt schon, Verkauf in Lees Auftrag, das Ganze für einen bestimmten Prozentsatz der Einnahmen … aber dann wird Lee auf einmal geschnappt, verstehst du? Und die Polizei weiß genau, wo sie nach den Beweisen suchen muss, um ihn einzubuchten. Dein Dad hat gerade Heroin im Wert von über £ 200.000 kassiert. Das Problem ist nur … er hat zwar das Zeug verkauft und er hat auch den Schotter, aber er hat nichts davon an Lee abgegeben.«

»Willst du mir sagen, mein Dad hat Lees Geld gestohlen und ihn verpfiffen?«

»Ich will überhaupt nichts sagen. Ich erzähl dir nur, was ich gehört hab.« Sie sieht mich an. »Ich meine, denk doch mal nach, dein Dad hat mehr als 200 Riesen bekommen, die eigentlich Lee Harding gehören –«

»Ja, okay, aber wenn Lee zu der Zeit in Untersuchungshaft war, wie hätte mein Dad dann bezahlen sollen?«

Mel schüttelt den Kopf. »Er hatte das Geld schon ungefähr eine Woche, bevor Lee verhaftet wurde. Und außerdem, so läuft das nicht. Bei so was gehören auch andere Leute dazu … da gab’s ein System … dein Dad hätte das Geld nicht Lee persönlich übergeben müssen. Wenn er gewollt hätte, hätte er’s ihm schon irgendwie rüberschieben können. Und dann, als Lee erwischt wird, verschwindet dein Dad … und niemand hat ihn in den letzten zwei Jahren gesehen … also, verstehst du …« Mel sieht mich an. »Passt irgendwie alles zusammen, oder?«

»Findest du?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Was ich finde, ist egal. Das Einzige, was zählt, ist, wie Lee Harding darüber denkt. Und er glaubt, dein Dad hat sein Geld genommen und der Polizei den Tipp gegeben.«

»Und jetzt ist Lee aus dem Gefängnis.«

»Ja … und er will sein Geld zurück.«

Ich starr sie an und versuch, bestimmte Dinge zu durchdenken, mir zu überlegen, ob das, was sie sagt, einen Sinn ergibt. »Aber wieso hat er bis jetzt gewartet?«, frag ich. »Ich meine, klar, er war im Gefängnis, aber du hast doch gesagt, da waren noch andere beteiligt … wieso hat er nicht ein paar von denen gesagt, sie sollen sich um das Geld kümmern?«

Mel nimmt einen weiteren Zug von der Zigarette. »Lee ist ein Psycho. Er erledigt solche Dinge lieber persönlich, wenn du verstehst, was ich meine.« Sie sieht mir in die Augen. »Deshalb … wenn du irgendwas über das Geld weißt –«

»Warte mal einen Moment«, sag ich. »Wieso weißt du eigentlich von der Sache?«

»Ich hab doch gesagt, er ist Taylors Dad …«

»Ja, und?«

Sie seufzt (wie um zu sagen: Spielt das denn eine Rolle, wieso ich es weiß?). »Schau«, sagt sie, »wir waren bei Taylor zu Hause, okay? Vor ein paar Wochen … irgendwann kurz vor Weihnachten. Da haben wir zufällig mitgehört, wie ihr Dad mit ein paar Freunden geredet hat. Die waren alle total breit, verstehst du … Lee war gerade aus dem Gefängnis gekommen und sie schmissen so eine Art Willkommen-zu-Hause-Party für ihn. Egal, jedenfalls haben wir gehört, wie sie über einen Typen redeten, der John Bundy hieß –«

»Ach ja, richtig«, fahr ich dazwischen. »Und wahrscheinlich hat Taylor ganz zufällig erwähnt, dass seine Tochter bei ihr in der Schule ist.«

Mel schüttelt den Kopf. »Nein … Taylor wusste nicht, dass du seine Tochter bist. Jedenfalls damals nicht. Sie ist ja noch ziemlich neu an der Schule, vergiss das nicht. Ich meine, sie wusste zwar, dass du Bundy heißt, aber sonst hatte sie keine Ahnung von dir. Für sie warst du einfach das komische Mädchen aus der Schule, das nie mit irgendwem spricht –«

»Die Schwuchtelwuchtel ohne Freunde?«

Mel lächelt. »Ja.«

»Aber jetzt weiß sie, wer ich bin.«

Mel nickt. »Sie hat mich gefragt … weißt du, sie hat mich gefragt, ob du mit diesem John-Bundy-Typen verwandt bist, und ich hab ihr erklärt –«

»Du hast gewusst, dass er mein Dad war?«

»Nicht genau, nein … aber ich hatte gehört, dass dein Dad verschwunden ist, und dann waren da diese Gerüchte, dass er Drogen nimmt und manchmal im Knast sitzt und alles, also hab ich mir einfach gedacht, er könnte der Typ sein. Ich meine, es gibt ja nicht so viele Leute hier in der Gegend, die Bundy heißen, oder?«

Ich zuck mit den Schultern.

»Na ja, egal«, fährt Mel fort, »jedenfalls, nachdem wir Taylors Dad und seine Freunde über deinen Dad hatten reden hören, haben Taylor und ich überlegt, dich mal ein bisschen unter die Lupe zu nehmen. Verstehst du, wir wollten rauskriegen, ob du wirklich John Bundys Tochter bist, und dann irgendwie rumstochern und sehen, ob du was von dem Geld weißt.« Mel drückt ihre Zigarette aus. »Taylor hat sich ausgerechnet, dass uns ihr Dad vielleicht was abgibt, wenn wir das Geld für ihn ranschaffen.«

»Verstehe«, sag ich. »Also ging es bei dem Ganzen … dass ihr hergekommen seid und so getan habt, als ob ihr meine Freunde sein wollt, und bei dem Scheiß mit den Klamotten, dem Make-up und dem Wodka … also ging es dabei nur ums Geld?«

»Ja. Hör zu, es tut mir leid –«

»Habt ihr’s gesucht?«

»Was?«

»Das Geld. Ich meine, nachdem ich umgekippt bin letzte Nacht … habt ihr da nach dem Geld gesucht?«

»Ja … also, Taylor schon. Aber sie hat nichts gefunden.«

»Und wahrscheinlich hat sie mich gefragt, wo es ist, als ich betrunken war, oder?«

»Ja.«

»Aber ich hab nichts gesagt?«

Mel zögert. »Nichts von dem Geld, nein.«

Und auf einmal zöger ich auch. »Was meinst du damit?«

Sie zündet sich eine neue Zigarette an. »Erinnerst du dich, wie dich Taylor nach deinem Dad gefragt hat?«

»Ja, vage.«

Mel schüttelt den Kopf und bläst Rauch aus. »Sie wollte es total clever anstellen. Weißt du, sie hat versucht rauszufinden, ob du was von dem Geld weißt, aber sie wollte nicht zeigen, dass es ihr nur darum geht. Verstehst du? Sie konnte ja nicht einfach raus mit der Sprache und dich fragen, sie musste versuchen, es anders aufzuziehen. Wie war er, dein Dad? An was erinnerst du dich? Hatte er irgendwas vor?« Mel schüttelt wieder den Kopf. »Ich hab ihr gesagt, sie soll dich einfach fragen wegen dem Geld. Du warst zu betrunken. Es war nicht fair …«

Ich seh sie an. »Was war nicht fair?«

Für einen Moment schließt sie die Augen und seufzt. »Du warst zu betrunken … du hast bloß angefangen zu faseln und es war echt schwer zu kapieren, was du gesagt hast. Als ob du einen Albtraum hättest oder so, verstehst du … hast einfach nur Zeug rausgebrabbelt, das sich ziemlich sinnlos angehört hat.«

»Was denn für Zeug?«, frag ich leise.

Mel hält meinem Blick stand. »Zeug über deinen Dad.«

Ich weiß nicht, wie ich mich gerade fühl. In meinem Magen ist eine Leere, eine Erinnerung an Schmerz. In der Kehle ein Pfropfen, der mich erstickt. Und tief drinnen in meiner dunklen Höhle spür ich den Ansatz von Tränen, die mir in die Augen steigen wollen. Aber dafür sind sie zu weit weg.

Ich kann nicht sprechen.

Meine Augen stellen Fragen.

Und Mel antwortet. »Du hast immer wieder gesagt: Das war nicht er«, erklärt sie mir. »Das war ein anderer …« Sie starrt zur Decke, konzentriert sich und versucht nachzudenken. »Und du hast was von Gebeten gesagt … und von irgendwas waschen, glaub ich. Und Blut.« Sie sieht mich an. »Das Blut von irgendwas?« Sie zieht nachdenklich an ihrer Zigarette. »Und immer wieder hast du gesagt: Hör auf, hör auf damit, und dann noch irgendwas, womit ich überhaupt nichts anfangen konnte …«

»Hör auf mit der Hymne«, murmel ich, den Blick zu Boden gerichtet.

»Was?«

Ich schau zu Mel hoch. »Nichts … gar nichts. Tut mir leid … ich kann nicht …«

»Schon gut«, sagt sie leise. »Ich versteh dich.«

»Wirklich?«

»Ja, ich glaub schon. Zum Teil bin ich auch deswegen hier.«

Ich seh sie verwirrt an. »Wie meinst du das?«

Sie seufzt. »Für mich hat es einen Sinn ergeben.«

»Was?«

»Das, was du letzte Nacht gesagt hast, als du betrunken warst … das über deinen Dad. Ich hab zwar nicht alles verstanden … Und es war ja nicht so, als ob du irgendwas verraten hättest. Jedenfalls hatte Taylor nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst.«

»Aber du?«

Sie nickt ernst. »Ich glaub schon.«

Ich seh sie an und warte, dass sie es ausspricht.

Nach ein paar Sekunden Schweigen sagt sie (ganz leise): »Ich hatte einen Bruder … Oliver …«

Dann macht sie eine Pause und starrt vor sich hin auf den Boden … und ich erinner mich, dass sie das schon mal gemacht hat, als es um ihren Bruder ging. Sie hat nichts weiter über ihn gesagt, einfach nur »mein Bruder« geflüstert und schweigend dagesessen, als ob sie ganz allein wär. Diesmal wirkt sie allerdings nicht ganz so einsam und ich hab das Gefühl, dass sie mir noch was sagen will.

Ich sitz ganz still und warte.

Nach kurzer Zeit schließt sie die Augen, schluckt schwer, atmet danach zitternd aus und fährt fort. »Oliver war dreizehn, ich ungefähr zehn … er war mein großer Bruder, verstehst du? Er hat auf mich aufgepasst.« Sie lächelt traurig in sich rein. »Er ging immer in diesen Jugendclub von der Stadt, weißt du, dieses Ding, wo Jugendliche Hilfe kriegen können, wenn sie Probleme haben … nicht dass Oliver Probleme hatte. Ich meine, er hatte sich nur ein bisschen in die Scheiße geritten, weil er Autos geknackt hat und so … sonst nichts. Egal, jedenfalls war da so ’n Pfarrer, der ab und zu in dem Club vorbeischaute, um mit den Jugendlichen zu reden über … keine Ahnung, über was. Ich glaub, er hat mit ihnen über Moral und solches Zeug geredet …« Mels Stimme klingt plötzlich total verbittert. »Ich weiß nicht, wie es passiert ist«, fährt sie fort, »aber irgendwie hat sich Oliver mit dem Pfarrer eingelassen und sie haben diese besonderen kleinen Gespräche geführt, du weißt schon, nur zu zweit … und dann … Scheiße, keine Ahnung. Ich war erst zehn. Ich wusste überhaupt nicht, was los war. Und meine Mum und mein Dad hatten natürlich auch keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollten, also haben sie mir nichts gesagt … Ich weiß bis heute nicht richtig, was passiert ist.« Sie holt wieder tief Luft. »Ich weiß nur, dass Oliver sich umgebracht hat, erhängt. Und er hat für Mum und Dad einen Zettel hinterlassen, auf dem stand, wie sehr es ihm leidtut und wie sehr er sich schämt … und dann kam das Ganze mit der Polizei und dem Pfarrer und alles … verdammt …«

Ihre Stimme verliert sich und sie wischt sich eine Träne aus dem Auge.

»Scheiße«, flüster ich.

Sie nickt.

»Was ist mit ihm passiert? Mit dem Pfarrer, mein ich.«

Sie schüttelt den Kopf. »Nichts … gottverdammte Kacke … gar nichts. Er hat alles geleugnet, ist ja klar. Hat gemeint, das Ganze wär nur Olivers Fantasie gewesen. Und Beweise gab’s ja nicht …« Sie zuckt mit den Schultern. »Er wurde versetzt, das ist alles. Der Pfarrer. Sie haben ihn irgendwo in eine andere Stadt versetzt.« Einen Moment starrt sie gedankenverloren vor sich hin, dann drückt sie die Zigarette aus und sieht mich wieder an. »Wir haben im selben Zimmer geschlafen«, sagt sie. »Oliver und ich. Manchmal hatte er Albträume, verstehst du, als das mit dem Pfarrer lief. Er hat im Schlaf geredet. Damals hab ich nichts kapiert …« Sie unterbricht sich, sieht mich nachdenklich an und will wissen, ob ich das versteh.

Ich nicke. »Über manches kann man einfach nicht reden. Es ist zu schwer.«

»Ja … aber man kann es trotzdem verstehen.«

Ich nicke wieder. »Ja …«

Und dann, als wir einen kurzen Moment dasitzen und (abgesehen von The Jesus and Mary Chain) Stille in der Luft liegt, klopft es leise an der Tür. Wir drehen uns beide um und sehen, wie sie sich einen Spalt öffnet und Mums Kopf (scheinbar schwebend) in der Lücke erscheint.

»Ich geh dann jetzt zum Arzt, Schatz«, sagt sie.

»Ach ja, stimmt«, antworte ich und schau auf die Uhr (16.32 Uhr). »Ich wusste gar nicht, dass es schon so spät ist …«

Mum lächelt Mel nervös an. »Hallo …«

»Hi«, sagt Mel und lächelt zurück.

»Also gut«, sagt Mum verlegen und wendet sich wieder mir zu. »Ich beeil mich dann mal lieber, sonst komm ich noch zu spät …«

In ihren Augen liegt ein leichter Schleier von Betrunkensein.

»Alles in Ordnung, Mum?«, frag ich.

»Mir geht’s gut.« Sie lächelt mich an. »Also, bis später, Schatz. Okay?«

»Ja, okay. Tschüss …«

Ihr Lächeln verschwindet, als sie den Kopf zurückzieht und die Tür schließt. Ich horch auf die schlurfenden Schritte, mit denen sie die Treppe nach unten geht. Ich hör, wie sie die Schlüssel nimmt und die Haustür öffnet … Pause … dann schlägt die Tür zu.

»Ist sie immer so?«, fragt mich Mel.

»Wie – so nervös?«

»Nein, so betrunken.«

Mein Instinkt will Nein sagen, aber als ich zu Mel rüberschau und den wissenden Blick in ihren Augen seh, wird mir klar, dass es sinnlos wär.

»Also, sie ist nicht immer betrunken«, erklär ich.

»Aber öfter als nicht.«

»Ja … so ungefähr.«

Mel nickt. »Meine auch.«

»Echt? Deine Mum?«

»Ja … sie hat schon immer getrunken, aber nachdem sich Oliver umgebracht hat … na ja, das war einfach zu viel für sie. Für Dad auch. Sie sind nicht mehr miteinander klargekommen. Ein Jahr danach haben sie sich getrennt. Seitdem trinkt sich Mum zu Tode.« Mel zündet sich eine Zigarette an und lächelt mich an. »Das Leben ist scheiße.«

»Ja.«

»Du musst sagen: Verfickte Scheiße

»Muss ich?«

»Ja.«

»Okay … Verfickte Scheiße!«

Sie lacht und das Lachen klingt gut. Es klingt auch müde und hoffnungslos – nach Lieber-lachen-als-Heulen oder so –, aber trotzdem klingt es gut.

»Na ja, egal«, sagt sie und ihr Lachen vergeht mit einem erschöpften Seufzer. »Begreifst du jetzt? Ich meine, kapierst du, was ich gemeint hab mit ›verstehen‹?«

»Ja … (i can see that you and me live our lives in the pouring rain) ja, ich glaub, ich kapier’s. Na ja, wenigstens den größten Teil.«

»Welchen denn nicht?«

Ich zuck mit den Schultern. »Wieso du hier bist. Ich meine, ich will nicht sagen, dass ich das Ganze nicht zu schätzen weiß oder so, und ich begreif auch, dass es für dich echt schwer gewesen sein muss –«

»Es ist nicht schwer gewesen für mich.«

»Ich hab auch nicht gemeint –«

»Hör auf mit deiner scheiß Bevormunderei, Dawn.«

»Ich wollte dich nicht –«

»Hör zu«, sagt sie schmallippig. »Ich bin nicht vorbeigekommen und hab dir das alles erzählt, weil du mir leidtust oder irgendwas … klar? Denn das stimmt nicht … und ich will auch nicht, dass du Mitleid mit mir hast. Kapiert?«

»Ja.«

»Ich mein, ich weiß, was du durchmachst … das ist alles. Ich weiß, wie das ist. Und ich wollte dir nur sagen …«

»Wieso?«

»Wieso?«

»Wieso wolltest du mir was sagen?«

»Weil …« Sie schüttelt den Kopf. »Scheiße, keine Ahnung.« Sie senkt den Kopf, holt tief Luft, dann atmet sie aus (als ob sie sich am Ende entschlossen hat, die Wahrheit zu sagen) und schaut zu mir rüber. »Okay«, sagt sie leise. »Ich mag dich, ja? Ich finde, du bist … verstehst du … ich finde, du bist okay. Und ich wollte dir sagen …« Sie zögert, schaut besorgt.

»Schon gut«, sag ich. »Du musst nichts –«

»Doch.«

»Ich weiß, was du versuchst zu sagen.«

»Nein, weißt du nicht.«

»Okay«, antworte ich leicht ungeduldig. »Dann erklär’s mir.«

»Es ist wegen Taylors Dad«, sagt sie und sieht mich an. »Lee Harding … er kommt heute Abend her.«