inside me (3)

Zwei Jahre sind eine lange Zeit. Zwei Jahre sind überhaupt keine Zeit. Zeit genug für den Käfig in deinem Kopf, so klein zu werden, dass sich der Atem in deinem Hals wie ein Stein anfühlt, aber nicht annähernd genug Zeit, um zu vergessen, wer du bist.

(i’ve seen my time away)

Das letzte Mal, dass ich meinen Dad gesehen hab, war an einem schneeigen Dezembermorgen vor etwas mehr als zwei Jahren.

(it’s living inside me)

Ich bin im Wohnzimmer und pack ein Weihnachtsgeschenk für Mum ein. Jesus und Mary sitzen neben mir auf dem Fußboden, den Blick fest auf die Schachtel in meiner Hand gerichtet. In der Schachtel ist so ein Kuh-in-der-Dose-Teil. Du weißt schon, sieht aus wie eine kleine runde Dose mit durchlöchertem Deckel. Und wenn du sie umdrehst, macht sie Muh. Was Jesus und Mary faszinierend finden, und faszinierend bedeutet für sie, dass sie drauf rumbeißen wollen. Deshalb versuch ich die Kuh-in-der-Dose einzupacken, ohne sie umzudrehen, damit die beiden sie ja nicht muhen hören.

Mum ist irgendwohin einkaufen.

Und ich hör Dad die Treppe runterkommen – hust, hust, schlurf, schlurf, hust, hust – und jetzt spür ich, wie ich zerfalle. Auf einmal sind zwei von mir da. Ich und ich. Zwei Ichs. Und während mein Herz schneller schlägt und meine Kehle enger wird und meine Hände vor Angst anfangen zu zittern, spür ich, wie sich mein anderes Ich in die Sicherheit seiner Höhle verkriecht.

Ich heiß Dawn.

Mein Bauch tut weh.

Ich heiß Dawn.

Ich kann mich nicht rühren.

Ich kann nur dasitzen und auf das Geräusch der Schritte hören, mit denen mein verkaterter Dad die Treppe runterkommt … in mir das Geräusch seiner schwankenden Füße spüren, seine zitternde Hand, die sich am Geländer festhält, seine blutunterlaufenen Augen, sein unrasiertes Gesicht, seinen säuerlichen Atem, seine Hoffnungslosigkeit …

Seine schreckliche Scham.

Er wird nie wieder mit mir reden.

Er wird nicht reinkommen, mich anlächeln und fragen, was ich da mache. Seine Augen werden nicht aufleuchten, wenn ich ihm die Kuh-in-der-Dose zeige. Er wird nicht Jesus in der einen Hand und Mary in der andern hochheben, an sein Gesicht halten und ihnen einen Lippenfurz entgegenprusten. Er wird mir nicht mal Tschüss zurufen.

Er wird überhaupt nichts.

Nie mehr.

»Dad!«, ruf ich und versuch auf die Beine zu kommen. »Dad!«

Aber vom zu langen Sitzen auf dem Fußboden sind mir die Beine eingeschlafen und ich brauch eine Weile, um hochzukommen, ohne wieder umzufallen, und bis ich das Zimmer durchquert, die Tür geöffnet hab und raus auf den Flur bin, ist Dad schon halb aus der Haustür.

»Dad!«, schrei ich wieder.

Und für einen kurzen Moment bleibt er stehen.

Einen halben Moment.

Und in diesem Bruchteil eines Moments seh ich (für immer) eine gekrümmte und ungewaschene Gestalt in einem zerlumpten alten Dufflecoat. Ich seh einen hageren Kopf, versteckt in den Falten einer Kapuze, erhasche einen kurzen Blick auf ein Stück vergilbte Haut, ein dunkles Blitzen verzweifelter Augen – und dann, ohne ein Wort, ist er fort.

Dad kam in der Nacht nicht nach Hause und in der nächsten Nacht auch nicht. Mum war nicht besonders besorgt. Es war nicht das erste Mal, dass er für ein paar Tage verschwand, und er war bisher immer wiedergekommen. Er war irgendwo unterwegs, um sich volllaufen zu lassen, das war alles. Volllaufen lassen, Rausch ausschlafen, volllaufen lassen, Rausch ausschlafen …

Er würde zurückkommen, wenn ihm das Geld ausging.

Aber aus zwei Tagen wurden drei Tage.

Und aus drei Tagen vier.

Da fing Mum an, sich Sorgen zu machen.

Sie rief alle seine Freunde (oder »sogenannten Freunde«, wie sie sie beharrlich nennt) an, aber keiner schien ihn in letzter Zeit gesehen zu haben. Und weil die meisten, die er kannte, genauso durch den Wind waren wie er, konnte sich auch kaum einer dran erinnern, wann und wo er ihn zuletzt gesehen hatte. Und selbst wenn sie sich erinnerten, waren diese Junkies dermaßen paranoid, dass es gar keinen Sinn hatte, sie irgendwas zu fragen. Ich meine, solche Leute lügen sogar, wenn du sie fragst, welchen Tag wir haben. Und dann waren da noch die andern Typen, mit denen Dad manchmal rumhing – die richtig miesen Typen: Drogenhändler, Dealer, Diebe, Gangster, Verbrecher. Leute, die überhaupt nichts rauslassen.

Mum versuchte es bei allen. Niemand wusste, wo Dad war. Niemand wusste überhaupt irgendwas.

Mum versuchte es im Krankenhaus … nichts.

Sie ging los und suchte ihn – klapperte die Stadt ab, ging in sämtliche Clubs, sämtliche Pubs, sämtliche Bars, zeigte den Leuten Dads Foto, sprach mit den Bedienungen, den Türstehern und jedem andern, der ihr zuhörte …

Nichts.

Viele kannten Dad – sie wussten, wer er war, sie erinnerten sich, ihn gesehen zu haben … aber nicht in letzter Zeit. Nicht in der letzten Woche oder so.

Dad, so schien es, war einfach verschwunden.

Und so ging Mum schließlich – gegen alle Instinkte – zur Polizei und meldete ihn als vermisst. Ich kam natürlich mit und war überrascht, dass uns die Polizei wirklich ernst nahm. Sie trugen Dads Personalien in ein spezielles Formblatt ein, dazu eine vollständige Beschreibung seines Aussehens, besondere Umstände, die zu seinem Verschwinden geführt hatten (nach Mums Aussage keine), und seinen gegenwärtigen geistigen Zustand (Alkoholiker). Sie fragten auch nach einem aktuellen Foto, aber Mum hatte vergessen, eins mitzubringen. Da meinten sie, das wäre gar kein Problem, sie würden vorbeikommen und es abholen, am besten dann, wenn sie sowieso da wären, um unser Haus zu durchsuchen.

»Haus durchsuchen?«, fragte Mum überrascht. »Wieso wollen Sie unser Haus durchsuchen?«

»Reine Routine, Mrs Bundy«, erklärte der Polizeibeamte. »Sie wären überrascht, wie viele sogenannte vermisste Personen sich gesund und munter zu Hause befinden.«

»Aber er ist nicht zu Hause«, sagte Mum. »Ich weiß, dass er nicht –«

»Das ist mir klar, Mrs Bundy«, erwiderte der Beamte. »Aber wie schon gesagt – das ist Routine.«

»Klar …«, sagte Mum zögernd. »Und wann wollen Sie dann vorbeikommen?«

»Je früher, desto besser. Wie wär’s gleich morgen früh?«

Ich hab seitdem eine Menge gelernt. Zum Beispiel weiß ich inzwischen, wenn jemand als vermisst gemeldet wird und die Person erwachsen ist, muss die Polizei, falls sie den Mann (oder die Frau) irgendwann findet, er (oder sie) aber nicht will, dass der Aufenthaltsort bekannt wird, diesem Wunsch nachkommen – d. h. wenn du als Erwachsener von zu Hause wegläufst, kann dich keiner zwingen, wieder zurückzugehen. Ich hab auch gelernt, dass die Polizei zwar jede Vermisstenmeldung ernst nimmt, aber manche eben doch ernster als andere. Bei Kindern zum Beispiel, vor allem bei kleinen Kindern. Was ja auch in Ordnung ist. Aber irgendwie bedeutet das, wenn dein Dad vermisst wird und es gibt nicht sonderlich viel Gutes über ihn zu sagen – d. h. wenn er ein Trinker und ein Exjunkie ist oder schon eine Latte Gefängnisstrafen auf dem Buckel hat –, tja, dann sucht die Polizei eben nicht ganz so gründlich nach ihm. Ich meine, die setzen dann sicher keinen Sherlock Holmes auf den Fall an, oder?

Nein.

Sie tun überhaupt nicht besonders viel.

Was anderes, das ich gelernt hab, ist, dass Mum viel mehr über Dads zwielichtige Geschäfte wusste, als ich mir vorgestellt hatte. Deshalb war sie auch so nervös, als sie hörte, die Polizei würde unser Haus durchsuchen. Denn im Prinzip war alles Mögliche in unserm Haus versteckt, wovon sie nicht wollte, dass es die Polizei fand. Drogen, Pillen, geschmuggelter Alkohol und geschmuggelte Zigaretten, gestohlene iPods, Handys, Kreditkarten, Sportschuhe, T-Shirts

Und als sie das Haus nach all diesen Dingen absuchte, um sie schnell loszuwerden, ehe die Bullen aufkreuzten … da fanden wir die Sporttasche. Sie war unter Mums und Dads Bett versteckt. Eine dunkelgrüne Sporttasche.

»Was ist das?«, fragte ich Mum, als sie sie vorzog.

Sie schüttelte den Kopf und guckte ratlos. »Keine Ahnung. Hab ich noch nie gesehen.«

»Ist das Dads Tasche?«

»Weiß nicht.«

Sie kniete am Boden vor dem Bett, während ich auf dem Bett saß und zu ihr runtersah. Sie schaute mich einen Moment an, dann wandte sie sich wieder der Tasche zu und zog den Reißverschluss auf.

»Jessesmaria«, flüsterte sie.

»Was ist drin?«, fragte ich und beugte mich vor, um in die Tasche zu gucken.

Mum antwortete nicht, aber das brauchte sie auch gar nicht. Ich sah jetzt, was in der Tasche war. Geld. Jede Menge Geld. Stapelweise £ 20- und £ 50-Scheine. Und oben auf dem Ganzen lag schwer eine mattschwarze Automatikpistole.