nine million rainy days (2)

Ich seh ihn da in der Tür stehen, seine heruntergekommene Gestalt umgeben von staubigem Licht … Ich seh ihn. Seine erschöpften Augen schauen mich an. Sein Gesicht unrasiert, blass und eingefallen. Die früher blonden Haare sind jetzt schäbig braun und kleben ihm regendunkel am Kopf.

Ich seh ihn.

Meinen Dad.

Ich kann nicht sprechen.

»Darf ich reinkommen?«, fragt er nervös.

Ich kann nicht sprechen.

»Dawn?«, fragt er.

»Dad …?«, hauch ich.

Er lächelt ängstlich. »Tut mir leid … ich wollte dich nicht erschrecken. Ich …« Er schaut über die Schulter. »Die Haustür war offen … da dachte ich …«

»Mel …«, murmel ich vor mich hin.

»Wie bitte?«

»Nichts … eine Freundin von mir war hier, das ist alles. Sie hat wohl die Tür offen gelassen, als sie gegangen ist …« Ich starr ihn an. »Gott, ich glaub’s nicht, dass du es bist …«

Er zuckt mit den Schultern. »Ich bin’s …«

»Was machst du hier?«

»Wir müssen reden, Dawn«, sagt er. »Und wir haben nicht viel Zeit … meinst du, ich kann reinkommen?« Er senkt den Blick. »Ich versteh, wenn du nicht willst, dass ich … ich mein, ich versteh das. Ich kann auch hier an der Tür bleiben, wenn du willst … oder wenn ich gehen soll –«

»Nein, ist schon okay«, sag ich leise.

Er sieht mich an. »Bist du sicher?«

Ich nicke.

Als er vorsichtig ins Zimmer tritt, tapsen Jesus und Mary (genauso vorsichtig) auf ihn zu, mit gesenktem Kopf und argwöhnisch wedelndem Schwanz. Es ist ein Schwanzwedeln, das fragt: Bist du wirklich der, für den wir dich halten?

»Hallo, Hunde«, sagt Dad.

Ihre Schwänze wedeln schneller.

Dad sieht mich an. »Ist es okay, wenn ich mich hier drüben hinsetze?«, fragt er und deutet in Richtung Schreibtisch.

»Ja.«

Ich weiß nicht genau, wie ich mich fühle (oder was ich empfinde), als ich ihn mit den Augen auf dem Weg zum Schreibtisch verfolge und er sich hinsetzt. Leere wahrscheinlich … ich fühl mich nur leer. Ausgelöscht. Zu schockiert, um irgendwas zu empfinden. Vielleicht ist es ja am besten so, denn es gäb zu viel, was ich in diesem Moment empfinden könnte – Angst, Wut, Hass, Abscheu …Verlegenheit, Scham, Verzweiflung, Unglauben …

(and all my time in hell

is spent with you)

Es ist alles zu viel für mich.

Jesus und Mary sind inzwischen zurück aufs Bett gesprungen und Dad setzt sich gerade an meinen Schreibtisch. Er sieht ganz anders aus, als ich ihn in Erinnerung habe. Alt, erschöpft, niedergeschlagen. Er sieht trist aus – triste Augen, tristes Haar, triste Klamotten aus der tristen Altmännerkleider-Abteilung von einem tristen Wohltätigkeitsladen. Außerdem sieht er ungewohnt nüchtern aus.

Er lächelt mich zaghaft an. »Hörst du noch immer The Jesus and Mary Chain

Ich schau hinab auf den iPod neben mir auf dem Bett. Er spielt noch, man hört blechern klingende Musik aus den Ohrstöpseln.

(i have ached for you

i have nothing left to give

for you to take)

Ich will nicht über Musik reden.

»Wo bist du die ganze Zeit gewesen, Dad?«, frag ich und meine Stimme klingt viel kälter, als ich eigentlich will.

Er sieht mich traurig an. »Tut mir leid, Schatz … ich wollte nicht, dass es so kommt. Ich wollte nicht einfach so aus dem Nichts auftauchen –«

»Wo bist du gewesen?«, wiederhol ich.

Er schüttelt den Kopf. »Eigentlich nirgends richtig … Ich habe eine kleine Wohnung am andern Ende der Stadt, auf der andern Flussseite. Kennst du die St.-Thomas-Siedlung?«

»Die beiden Hochhausblöcke?«

Er nickt. »Ist ganz okay … bisschen laut manchmal, aber weißt du …« Er sieht sich abwesend im Zimmer um, dann schaut er wieder mich an. »Einen Job hab ich auch«, sagt er. »Verstehst du … einen richtigen Job. Von neun bis fünf und so … na ja, vielleicht nicht ganz von neun bis fünf.« Er grinst verlegen. »Ich liefere Möbel aus.«

»Möbel?«

»Ja … ist nicht gerade der spannendste –«

»Marthings«, sag ich plötzlich. »Marthings Möbel … das ist dein Lieferwagen, stimmt’s? Der blaue.«

Einen Moment sagt er nichts, senkt nur wieder den Blick und knibbelt abwesend an seinen Fingernägeln. Und als ich ihn anseh, merk ich noch was an ihm, das anders war: Ihm fehlt jede Vitalität. Er hat keine Energie. Keine Freude. Kein Leben. Ich meine, früher, als er noch mein Dad war, hätte er nie so leblos herumgesessen wie jetzt. Egal wie betrunken oder bekifft oder sonst was er war, er hat die ganze Zeit rumgezappelt und konnte nicht still sitzen, auch die Augen ruhten nie. Aber jetzt … tja, jetzt sitzt er da, total gebeugt und fast ohne jede Regung. Als ob nichts von ihm übrig wär. Oder nichts mehr für ihn.

»Du hast uns beobachtet, stimmt’s?«, sag ich zu ihm. »In deinem Lieferwagen … du hast Mum und mich beobachtet.«

Er sieht zu mir hoch. »Ich wollte nur … keine Ahnung. Ich wollte nur sicher sein, dass es euch gut geht, sonst nichts. Ich hab euch nicht überwacht oder so … ich hab euch nur … ich wollte euch nur sehen. Dich und deine Mum … ich konnte es nicht ertragen, euch nicht zu sehen.«

»Du konntest es nicht ertragen?«, sag ich wütend. »Und was ist mit uns? Was glaubst du, wie wir uns gefühlt haben?«

»Tut mir leid –«

»Nicht zu wissen, wo du steckst oder ob du überhaupt noch lebst … verdammt, Dad, ich mein – wir wussten doch nichts

»Ich hab nicht gedacht –«

»Du hättest uns wenigstens Bescheid geben können, dass du nicht tot bist. Verstehst du, ein Anruf, ein Brief …«

»Ich bin tot«, sagt er verständnislos.

»Was?«

»Ich wollte sterben. Nicht mehr weiterleben. Nicht nachdem … du weißt schon. Nicht nach dem. Aber ich konnte nicht … ich hab’s nicht geschafft. Ich konnte nicht zulassen, dass du mich noch mehr hasst.« Er senkt den Blick. »Und mich umzubringen, hätte sowieso nicht gereicht. Es hätte nichts geändert. Also hab ich mich bemüht, damit zu leben … Tag um Tag … ohne irgendwas, das mir den Schmerz nimmt … und das hat mehr in mir getötet als jedes Sterben.«

»Trinkst du nicht mehr?«, frag ich leise.

Er schüttelt den Kopf. »Seit ich gegangen bin, hab ich nichts mehr angerührt. Gar nichts. Keinen Alkohol, keine Drogen …«

»Und was ist mit Gott?«

»Nein«, sagt er und schluckt schwer. »Auch kein Gott. Es hat nie einen gegeben …«

»Was willst du damit sagen?«

Er seufzt. »Alles war immer nur ich, Dawn. Ich … egal, was ich war, egal, was ich bin … es hatte nie mit was anderm zu tun. Das ganze Zeug mit Gott war bloß … keine Ahnung. Nur eine weitere Ausrede, verstehst du … etwas … hinter dem ich mich verstecken konnte …« Er seufzt wieder und reibt sich das eine Auge. »Ich wusste nicht, was ich tat, Dawn. Ich wusste es nicht … ich meine, ich weiß nicht mal …«

»Was?«, sag ich scharf. »Du weißt nicht mal was

Er atmet schwer aus. »Tut mir leid … ich kann nicht … es ist zu spät. Ich kann es nicht wiedergutmachen.«

»Und wieso bist du dann hier?«, fauch ich ihn an. »Was willst du, Dad? Willst du, dass ich dir vergebe

»Ich könnte dich nie darum bitten, mir zu vergeben.«

»Tja«, sag ich garstig. »Vielleicht solltest du es wenigstens mal versuchen.«

»Ich verdiene nicht –«

»Ich red ja auch gar nicht davon, was du verdienst!«, schrei ich ihn an. »Ich red von mir! Von mir, Dad. MIR! Was glaubst du eigentlich, was ich verdien? Ich meine, du hast doch auch deinen tollen Gott um Vergebung gebeten, oder? Ihn hast du gebeten.«

Dad starrt mich nur an, in den Augen nichts als Verwirrung und Angst. Und ich kann nicht mehr wütend sein auf ihn. Ich will … ich will, dass er spürt, wie ich mich fühl, ich will, dass er mich versteht. Ich will, dass er versteht, was ich von ihm will. Aber er kapiert’s nicht. Er versteht nicht. Und ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass er krank, tot, verblendet, verwirrt ist, einfach am Ende von einem Leben voll Drogen …

Ich weiß es einfach nicht.

Und ich weiß auch nicht, ob es einen Unterschied machen würde.

Du kannst nur sein, was du bist.

Ich kann ihn nicht hassen.

(i have no more empty heart

or limbs to break)

»Erklär mir einfach, was du willst, Dad«, sag ich seufzend. »Wieso bist du hier?«

»Um dich zu warnen«, sagt er und wirft einen Blick auf die Uhr.

»Warnen wovor?«

»Vor einem Mann namens Lee Harding.«

Dann erzählt er mir alles über das Geld, wie er es Lee Harding gestohlen und der Polizei einen Tipp gegeben hat, wie er uns das Geld dagelassen hat, als er verschwand, damit sich Mum keine Sorgen um einen Job machen musste, wie er inzwischen aber gemerkt hat, in was für einem Zustand er damals war (»total im Arsch«, nennt er es), und dass er überhaupt nicht wusste, was er eigentlich tat … und anfangs bin ich so verwirrt von dem Ganzen – weil ich Mels Geschichte mit der von Dad vermische … damals und jetzt, jetzt und damals –, ich bin einfach derart verwirrt im Kopf, dass ich überhaupt nichts tu. Ich sitz bloß da, sprachlos, und hör Dad schweigend zu, wie er seine Geschichte weitererzählt.

»Ich habe einfach nicht nachgedacht«, erklärt er mir. »Der Gedanke, dass ich dich und Mum vielleicht in Gefahr bringe, kam mir gar nicht.« Er schüttelt den Kopf, bestürzt über sich selbst. »Ich glaube, ich hab gedacht, dass Lee Harding länger eingesperrt würde –«

»Und das ist also der wahre Grund, wieso du hier bist, ja?«, sag ich, überrascht von der Giftigkeit meiner Stimme. »Du machst dir Sorgen um dein Geld.«

»Nein … ich hab dir doch gesagt, ich bin gekommen, um dich zu warnen –«

»Ja, schön, ist ja echt toll von dir, Dad. Sehr rücksichtsvoll. Vielen Dank.«

Er wirft mir einen schrägen Blick zu. »Ich versteh nicht –«

»Tja, das glaub ich auch«, sag ich und funkel ihn an. »Ich meine, du glaubst, es ist okay, wenn du mal eben in unser Leben spazierst, bloß weil irgendein eiskalter Kerl vorbeikommen will, um sich sein Geld zu holen … du glaubst, das ist okay. Aber was ist mit Mum und mir? Was ist mit all der Scheiße und dem Schmerz, den wir in den letzten zwei Jahren durchgemacht haben? Findest du nicht, das wär es wert zurückzukommen?«

»Aber das ist was anderes –«

»Nein, ist es nicht, Dad.«

Er sieht mich an, will etwas sagen, erklären, warum es was anderes ist, wieso er nicht vorher zurückkommen konnte … aber er schafft es nicht. Ich glaub, ich möchte ihm sagen, dass er nichts erklären muss, ich weiß selbst, dass es was anderes ist, aber auch ich schaff es nicht.

Deshalb atme ich irgendwie nur aus, lass alles raus und sag: »Ich weiß Bescheid über Lee Harding.«

»Wie bitte?«

»Ich weiß Bescheid – über Lee Harding, das Geld … alles.«

»Du weißt es?«

Ich nicke. »Mel hat es mir erzählt, das Mädchen, das ich eben erwähnt hab. Sie ist mit Taylor, der Tochter von Lee Harding, befreundet.«

»Verstehe …«, sagt Dad nachdenklich. »Und diese Mel … hat dir alles über Lee Harding erzählt?«

»Ja.«

»Alles?«

»Ja.«

»Hat sie dir auch gesagt, dass er heute Abend herkommt?«

»Ja.« Ich schau auf die Uhr. »In ungefähr einer Stunde. Davor wolltest du mich warnen, stimmt’s?«

Er nickt und schaut verwirrt. »Wieso hat sie dir von Lee Harding erzählt?«

»Weil … na ja, das ist eine lange Geschichte.« Ich seh Dad an. »Woher weißt du, dass er herkommt?«

»Das ist eine lange Geschichte«, sagt er und versucht ein Lächeln.

Ich lächle nicht zurück, sondern starr ihn nur an und verlang eine Antwort.

Sein Lächeln verschwindet und er stößt einen langen, erschöpften Seufzer aus. »Als ich herausgekriegt hab, dass Harding entlassen wird, war mir klar, es wird nicht lange dauern, bis er anfängt, nach mir zu suchen, und ich hatte Angst, er könnte probieren, mich über dich oder deine Mum aufzustöbern. Oder, was noch schlimmer wäre, er könnte herausfinden, dass ihr sein Geld habt. Also hab ich in den letzten paar Wochen so ziemlich jeden beobachtet – Harding, seine Freunde, seine Familie, dich, deine Mum …«

»Dann weißt du also, dass mich Taylor und Mel besucht haben?«

»Ja …«

»Wusstest du, wer sie sind, was sie vorhatten?«

»Zuerst nicht. Anfangs dachte ich, sie wären Freundinnen von dir. Aber irgendwas war an Taylor, verstehst du … irgendwas vage Vertrautes, so als ob ich sie schon mal gesehen hätte. Als sie vorletzte Nacht gingen, bin ich ihr deshalb nach Hause gefolgt. Da war mir klar, wer sie ist.« Er zuckt mit den Schultern. »Ich erkannte sie immer noch nicht, aber ich glaube, ich muss ihr vor ein paar Jahren irgendwann mal zu Hause bei Lee begegnet sein … und … verstehst du …«

»Du hast eins und eins zusammengezählt …«

Er schüttelt den Kopf. »Nicht wirklich. Auf die Art wusste ich nur, dass Lee Hardings Tochter ein paar Stunden bei meiner Tochter gewesen ist. Ich meine, natürlich hab ich geahnt, dass da irgendwas läuft, aber ich wusste nicht, was.« Er sieht mich mit unsicherem Blick an.

»Mach dir keine Sorgen«, sag ich (leicht spöttisch), »ich hab ihr nichts von dem Geld erzählt.«

»Ich weiß, dass du nichts erzählt hast«, antwortet er nüchtern. Wieder schaut er nach unten auf seine Hände. »Wär auch egal gewesen, wenn …« Und dann, nach einem kurzen, nachdenklichen Schweigen, sieht er mich wieder an. »Ich bin Taylor letzte Nacht wieder hinterher … oder heute Morgen, wann immer sie gegangen ist. Danach hab ich die ganze Nacht vor dem Haus von Lee Harding gewartet. Und dann bin ich den ganzen Tag über ihm gefolgt. Deshalb weiß ich, dass er hierherkommt … ich hab gehört, wie er mit Freunden im Pub drüber sprach.«

»Du bist ihm in einen Pub gefolgt? Hast du keine Angst gehabt, dass er dich sieht?«

Mit einem verlegenen Lächeln fasst Dad in seine Tasche und zieht eine Brille und eine Baseballkappe raus. Er setzt beide auf. »Ist ziemlich erbärmlich, ich weiß, aber es scheint zu funktionieren. Und davon abgesehen …« Er nimmt Kappe und Brille wieder ab. »Ich meine, schau mich doch an, Dawn. Seh ich denn etwa noch aus wie ich?«

(and the way you are

sends the shivers to my head)

»Was sollen wir tun, Dad?«, frag ich.

»Du meinst wegen Lee Harding?«

»Ja.«

Er sieht auf die Uhr (18.45 Uhr).

»Habt ihr noch die Pistole?«, fragt er mich.

»Die Pistole?«

»Die ich mit dem Geld dagelassen hab.«

»Ja … die haben wir noch.« Ich schau ihn an. »Ist das deine?«

»Spielt das eine Rolle?«

Ich sag nichts, sondern starr ihn nur an.

Er seufzt wieder. »Ich hatte … ich hatte sie einfach, sonst nichts. Zum Schutz. Benutzt hab ich sie nie –«

»Wieso hast du sie hiergelassen?«

»Weiß nicht. Ich hatte nicht vor, sie hierzulassen … sie war einfach mit dem Geld in der Tasche …« Er schaut wieder auf die Uhr, dann zurück zu mir. »Wo ist sie, Dawn?«

»Wieso? Was hast du vor?«

»Hör zu«, sagt er. »Das Geld ist mir egal, klar? Harding kann es von mir aus haben. Und er kann auch mit mir machen, was er will … aber nicht hier. Das ist etwas zwischen mir und ihm. Und sonst keinem. Wenn er dich oder deine Mum auch nur anschaut …«

»Was dann?«, frag ich. »Willst du ihn erschießen?«

Dad sieht mich eine Weile schweigend an und ich hab das Gefühl, er möchte mir sagen, dass er einfach versuchen will zu tun, was er für richtig hält – aber ich soll nicht glauben, dass er versuchen will, alles wieder hinzukriegen, denn ihm ist klar, dass er das gar nicht kann.

Und ich weiß absolut nicht, was ich dabei empfinde.

Eine Sekunde dies, in der nächsten das …

Du bist mein Dad.

Du bist ein Monster.

Ich hass dich.

Ich hab dich geliebt.

Ich liebe dich.

Wie kann ich dich lieben?

Wie kannst du mein Dad sein?

(as far as i can see

there is nothing left of me)

Du hast mich umgebracht.

Verdammt noch mal.

Du hast mich gemacht. Du hast mich zerstört.

Du hast mich in eine Höhle gesteckt und mich zum Sterben dort liegen gelassen.

(and all my time in hell

was spent with you)

Du bist mein Dad.

»Dawn«, sagt er jetzt ganz leise.

Ich seh ihn an. »Was ist?«

»Deine Mum kommt bald zurück. Wir müssen –«

»Sie ist zum Arzt«, sag ich leer.

»Ich weiß.«

»Du bist ihr gefolgt?«

Er nickt. »Sie hat die Praxis gegen halb sechs verlassen und ist noch was trinken gegangen.« Er schaut auf die Uhr. »Vor einer halben Stunde ist sie aus dem Pub raus. Sie müsste also jeden Moment hier sein.« Er zögert, sieht mich verlegen an. »Ist sie …? Ich meine, ist alles in Ordnung mit ihr?«

Ich zuck mit den Schultern. »War reine Routine –«

»Nein, ich mein überhaupt … du verstehst schon … wie geht’s ihr?«

»Was glaubst du

Er nickt traurig. »Trinkt sie viel?«

»Ja.«

»Nimmt sie …?«

»Nimmt sie was?«

Er schüttelt den Kopf. »Nichts … spielt keine Rolle …«

Ich schau ihn an, wie er in seinem Schweigen dasitzt, und seh, wie er sich verabscheut. Und ich seh, dass er weiß, er kann nichts dagegen tun. Es gibt kein Gefühl, das die Dinge besser macht – Scham, Schuld, Bedauern, Reue … alle Empfindungen sind nutzlos.

Sie ändern nichts.

Nichts ändert was.

Ich schau auf meinen iPod, wo noch immer weit weg der Song läuft,

(nine million rainy days

have swept across my eyes

thinking of you)

und stell ihn ab.

Ich steh von meinem Bett auf.

Dad schaut zu mir rüber.

Ich schau nach unten, als Jesus und Mary vom Bett springen und aus dem Zimmer trotten (und der Teil von mir, der noch mit der realen Welt verbunden ist, begreift, dass sie schon lange nicht zum Pinkeln draußen waren), dann schau ich wieder zu Dad.

»Ich kann nichts sagen«, erklär ich ihm leise.

»Ich weiß«, sagt er.

Meine Augen jucken jetzt und mir ist klar, dass ich wirklich nichts sagen kann. Das Einzige, was ich kann, ist das, was ich tu. Und als ich mich langsam auf Dad zubewege, weiß ich nicht, ob das, was ich tu, richtig oder falsch ist oder warum ich es tu oder auch nur, was es bedeutet … ich weiß überhaupt nichts.

Ich beweg mich nur einfach.

Geh auf ihn zu …

Bleib vor ihm stehen …

Schau ihm in die Augen.

Das Einzige, was ich möchte, ist, ihn für einen Moment festhalten. Das ist alles. Oder dass er mich festhält. Ich möchte nur, dass wir wieder sind, was wir früher waren – ich und mein Dad – nur für einen Moment …

Meine Arme bewegen sich.

Ich strecke sie verlegen nach Dads Kopf aus.

Er beugt sich mir langsam entgegen.

Ich nehm seinen Kopf in meine Arme.

Er verspannt sich, hält seinen Körper von mir fort, aber er lässt sich anfassen.

Und dann tret ich ein bisschen näher …

Halt ihn ein bisschen fester.

Und ganz vorsichtig bewegt auch er sich, um mich zu halten.

Und dann … ich weiß nicht, wie es passiert. Vielleicht spring ich ein wenig zurück, als seine Hand meinen Arm berührt, oder vielleicht streift seine Hand auch nur den Ärmel von meinem Bademantel und verfängt sich im Stoff … keine Ahnung. Aber plötzlich wird mir bewusst, dass der Bademantel vorn aufgegangen ist, und nur für einen kurzen Moment spür ich, wie Dads stoppelige Wange auf meiner nackten Haut ruht … und ich weiß, es ist Zufall, ich weiß, dass Dad schon gemerkt hat, was passiert ist, und den Kopf schnell zurückzieht … Ich weiß, dass es nicht noch mal geschehen wird. Aber nicht mein anderes Ich. Das Einzige, was mein anderes Ich – die Höhlen-Dawn, die dreizehnjährige Dawn – je kannte, ist der Schmerz jenes Moments und die Panik, alles noch mal erleben zu müssen. Und jetzt glaubt sie, dass sie es noch mal erlebt. Und sie dreht durch.

Sie schreit, ein Aufschrei der Angst, und stößt Dad von sich weg …

Sie tritt zurück, zu schnell, sie verliert fast das Gleichgewicht, während sie verzweifelt nach ihrem Bademantel fasst und versucht, ihre Nacktheit zu verbergen …

Und dann – KRACH!

Auf einmal explodiert die Welt.

Und ich schau entsetzt zu, wie Dad stöhnt, einen gottlosen Seufzer, und dann auf dem Stuhl zur Seite sackt.