deep one perfect morning (2)

Am Kreisverkehr in der Nähe vom Bahnhof steig ich aus dem Bus und geh durch ein rostiges Eisentor in einen heckengesäumten Weg, der parallel zu den Gleisen verläuft. Der Weg ist zerfurcht von Traktorspuren, in denen lehmig braun das Wasser steht, doch der Boden zwischen den Spuren ist überraschend fest, sodass ich dort ohne allzu große Probleme gehen kann. Jesus und Mary laufen voraus, schnuppern in den Hecken rum. Ich lass mir einfach Zeit – lauf nur immer weiter und hör dabei meine Musik –, während der Weg mich in eine stille Welt aus Bäumen, Feldern und weitem Himmel führt.

Es ist okay.

Es gefällt mir hier.

Es verschafft mir das Gefühl, von allem fort zu sein.

Es gibt hier keine gemeinen Mädchen oder geheimnisvollen Schnecken.

Es gibt nur:

  • eine große schwarze Krähe, die über ein kahles Feld auf eine Reihe dürrer Winterbäume zufliegt, die am Ufer von einem unsichtbaren Bach stehen

  • einen Zug in der Ferne, der leise aus dem Bahnhof rumpelt

  • ab und zu ein paar vertrocknete braune Blätter, die durch den Wind von den Bäumen am Wegrand segeln

  • Dawn Bundy und ihre Hunde.

Den Weg kenn ich ziemlich gut, denn ich geh hier so oft wie möglich mit den Hunden, aber über die Kirche am Ende vom Weg weiß ich so gut wie nichts. Ist einfach irgendeine Kirche, eine alte steinerne Kirche mit einem alten steinernen Turm und einem verfallenen Friedhof drum rum. Und wenn ich sonst an das Holztor zum Friedhof komm, dreh ich einfach wieder um und geh zurück. Aber heute nicht. Heute bleib ich am Tor stehen. Und heute les ich auch zum ersten Mal so richtig die verblasste Schrift auf dem Holzschild überm Tor. Dort steht:

Die sind

Vertraute des

HERRN,

die IHN fürchten,

ER weiht sie ein

in SEINEN

Bund

Ich seh das Schild eine Weile an, les es noch mal und noch mal, aber es ergibt für mich keinen Sinn, deshalb ruf ich nach den Hunden, mach das Tor auf und wir gehen weiter, auf den Friedhof. Ein gewundener Weg führt durch die Schatten uralter Bäume und Grabsteine auf die Vorderfront der Kirche zu, und als wir ihm folgen, riech ich den erdigen Duft des toten Laubs unter meinen Füßen. Einen Augenblick bleib ich stehen, schau runter zu den verrottenden Blättern auf dem Weg und überlege …

Tote Blätter.

Tote Leiber.

Diese herabgefallenen Blätter, denk ich, sie kommen von den Bäumen, deren Wurzeln irgendwas aus dem Boden saugen. Und das hier ist ein Friedhof. Der Boden ist voller Toter. Verrottetes Fleisch, tote Leiber verströmen Gott weiß was in die Erde – Blut, Träume, Gehirne, Erinnerungen, Gefühle … und die Wurzeln der Bäume saugen den Saft der toten Körper auf und der Saft steigt in die Blätter und die Blätter verfallen und sterben selbst wieder …

Vielleicht steh ich ja auf den Überresten der Gefühle eines Menschen.

Ich geh weiter.

Es liegt jetzt eine Stille in der Luft und die Zeit hat sich aufgelöst. Die alten Steinmauern der Kirche wirken im Vormittagslicht ernst und mürrisch und der steingraue Turm ragt kalt und dunkel in den leuchtenden Januarhimmel. Die Kirchentür befindet sich unter einem holzgedeckten Vorbau. Der Vorbau hat einen aus Stein gefliesten Boden, auf beiden Seiten eine steinerne Bank und steinerne Wände, an denen Anschlagtafeln mit Kirchen- und Gemeindeinformationen hängen. Ich steh eine Weile davor und werf einen sinnlosen Blick auf die Infozettel:

CHRISTLICHER STUDIENKREIS

JUGENDANDACHT

MITTAGS BROT UND KÄSE

LEIDEST DU AN ANGST UND DEPRESSIONEN?

SEELISCHEN PROBLEMEN?

DROGEN- ODER ALKOHOLSUCHT?

HAST DU KÜRZLICH EINEN ANGEHÖRIGEN VERLOREN?

GOTTESDIENSTE IM JANUAR

IN DER ST. MICHAEL’S CHURCH:

BEGINN DES FRÜHGOTTESDIENSTES

UM 10.45 UHR

Mit Pastor David Welchman und der Solistin Martha Angstrom

ABENDGOTTESDIENST WIEDER UM 18.00 Uhr

Mit Pastor David Welchman und dem Solisten Alan Taylor

JEDER IST HERZLICH EINGELADEN

Es steht nicht so richtig da, an welchem Tag die Gottesdienste sind, aber ich nehm an, dass wahrscheinlich sonntags gemeint ist, und ich denk: Hätte mir eigentlich klar sein müssen, dass heute nichts läuft. Ich mein, schließlich braucht Gott ja wohl nicht jeden Tag Verehrung, oder?

Doch ich bin jetzt hier, also kann ich zumindest mal versuchen, ob offen ist, einfach so.

Ich zieh an der Tür.

Die Kirche ist zu.

Ich starre die Tür an – ein wuchtiges Teil aus schwerem, dunklem Holz, riesigen Scharnieren, gusseisernen Riegeln – und versuch mir vorzustellen, was wohl dahinter ist. Stille Kirchendinge, nehm ich mal an. Kirchenbänke und Kanzel. Bleiglas. Dunkelheit.

Der abstoßende Geruch Gottes.

Zu meinen Füßen stößt Mary ein beunruhigtes Winseln aus.

Ich schau zu ihr runter. »Was ist los? Gefällt’s dir hier nicht?«

Sie wedelt nervös mit dem Schwanz.

Ich lächle sie an. »Zu gruselig für dich?«

Sie gähnt verlegen.

Neben ihr bellt Jesus leise – um mir zu sagen, dass er keine Angst hat. Für ihn ist es okay hier. Aber wenn Mary gehen will, also … dann ist das für ihn auch okay.

»Na gut«, sag ich zu ihnen. »Dann lasst uns wieder gehen.«

Wir verlassen den Vorbau und gehen den Weg zurück über den Friedhof in Richtung Tor. Ungefähr auf halber Strecke, zurückgesetzt in einem kleinen Blumengarten, steht eine Holzbank. Sieht nach einem netten Plätzchen aus, um eine Weile auszuruhen, meine Beine sind irgendwie müde vom Laufen, außerdem hab ich’s ja nicht besonders eilig, muss nicht irgendwo anders hin …

Also setz ich mich.

Und werf einen Blick über den Friedhof, schau gedankenlos über die Gräber und Kreuze, die Bäume und Grabsteine …

Und dann schließ ich die Augen und senk gedankenverloren den Kopf.