about you (2)

Als ich dann nach langem, ruhelosem Schlaf aufwach, fühl ich mich immer noch sterbenskrank. Mein Mund ist staubtrocken, ich hab ein beschissenes Gefühl in der Kehle und einen dicken Kopf, in dem es pocht. Meine Nase ist verstopft, meine Augen sind verklebt. Mein Zimmer stinkt. Aber am schlimmsten ist, dass ein alles plattmachendes Gefühl von Schuld und Scham auf mir lastet. Und ich weiß nicht, wieso. Und mein kindischer Kopf sagt mir ständig, dass es nicht fair ist, sich so schuldig zu fühlen und zu schämen, wenn ich nicht mal weiß, was ich getan hab.

Aber ich bin kein Kind.

Ich weiß, dass es um fair nicht geht.

Ich leg meine Hände über die Augen.

Öffne die Augen.

Und nehm die Hände langsam wieder weg.

(i can see)

Die Vorhänge sind offen und ich seh das einzige Gute an diesem trüben Januartag: dass es nicht mehr mitten in der Nacht ist. Die Kälte ist nicht mehr so kalt, die Dunkelheit ist weg (stattdessen ist da ein verregnetes graues Halbdunkel) und die Einsamkeit der Mitten-in-der-Nacht-Stille ist von den öden Geräuschen des Tages durchbrochen: von Autos, einer fernen Sirene, einer Haustür, die irgendwo weiter oben in der Straße zuschlägt. Ich hör auch Mum. Wie sie unten in der Küche rumklackert, wahrscheinlich beim Kaffeemachen.

Ich schau auf meinen Wecker.

Es ist 12.30 Uhr.

Zeit, aufzustehen, nehm ich an.

Ungefähr eine Stunde später, nachdem ich mich endlich aufgerafft habe und ins Badezimmer gegangen bin, mir das Make-up aus dem Gesicht geschrubbt und die Haare (mit dem Guaranashampoo, das mir aber nicht den sofortigen Energiekick gibt) gewaschen, Zähne geputzt und ein paarmal ins Waschbecken gewürgt hab … fühl ich mich immer noch schrecklich. Und wenn ich Lust hätte, Taylor und Mel dafür zu hassen, was sie gestern mit mir gemacht haben, dass ich mich jetzt so scheiße fühl, dann würd ich’s tun. Aber es geht nicht. Ich hab keine Lust. Ich hab auf gar nichts mehr Lust. Es gibt nichts, das der Mühe wert wär.

Zum Beispiel mir die Haare zu bürsten.

Sie zu föhnen.

In den Spiegel zu schauen.

Mich anzuziehen.

Oder Gott umzubringen.

Ich meine, was soll’s?

Ich kann Gott überhaupt nicht umbringen, oder? Ich hätte das nie geschafft. Es war eine total sinnlose und unnütze Übung. Komplette Zeitverschwendung, so wie alles andere auch – Buchstaben auf Schnecken malen, Unsichtbar-Mäntel tragen, versuchen zu tun, als ob alles okay wär, obwohl nichts okay ist …

Wem will ich denn da etwas vormachen?

Nein, ich hab auf gar nichts mehr Lust. Ich hab keine Lust mehr auf Gott oder Spielchen oder dämliche kleine Lügen. Und ich hab auch keine Lust mehr, mir die Haare zu bürsten oder zu föhnen oder mich anzuziehen, deshalb schlüpf ich (nachdem ich gerade geduscht, mir die Zähne geputzt hab und so und mir schon wünsche, ich hätte auch dazu keine Lust gehabt) wieder in meinen Bademantel und stolper mit nassen, verknoteten Haaren aus dem Badezimmer.

Wen kümmert’s?

Mum sitzt überraschenderweise mal in der Küche. Trinkt Kaffee (ganz ohne Whisky?) und mümmelt an einem Keks.

»Alles okay, Schatz?«, fragt sie mich, als ich reinkomm.

»Ja …«

»Ich hab schon den Hunden zu fressen gegeben.«

»Danke … haben sie auch ihre Bonios gekriegt?«

Sie nickt und trinkt Kaffee. »Bist du sicher, dass alles okay ist? Du siehst irgendwie krank aus.«

Ich setz mich an den Küchentisch. »Mir geht’s gut«, sag ich. »Hab nur nicht viel geschlafen, das ist alles.«

»Willst du was essen?«

»Nein, danke.«

Dann schauen wir nach unten, weil Jesus und Mary durch die Hundeklappe getrottet kommen.

»Hey«, sag ich zu ihnen.

Sie kommen rüber und schmiegen sich an meine Füße. Mary pupst leise. Jesus sieht sie irritiert an.

»Nett«, sag ich. »Sehr damenhaft.«

Mum lächelt und zündet sich eine Zigarette an. Sie wirkt müde und abgespannt – die Haut ganz grau und bleich, die Augen irgendwie leer … aber nicht schlimmer als sonst. Sie sieht auch sonst nie mehr so toll aus. Und ich wünsch mir …

Ich wünsch mir, ich könnte aufhören, mir Dinge zu wünschen, die nicht geschehen werden.

»Wann musst du los?«, frag ich.

»Wie bitte?«

»Zu deinem Arzttermin – wann du losmusst?«

Sie zuckt mit den Schultern. »So gegen halb fünf, denk ich.«

»Vielleicht wär’s ganz gut, wenn du vorher nichts trinkst«, schlag ich vor.

Sie lächelt. »Okay.«

Aber ich weiß, dass sie trotzdem was trinken wird.

»Mum«, frag ich vorsichtig. »Erinnerst du dich, was du heute Nacht gesagt hast?«

»Wann?«

»Als du aufgewacht bist … du hast im Sessel geschlafen und ich hab dich geweckt. Erinnerst du dich?«

»Ja …«

»Und du hast was gesagt, irgendwas von wegen sauber.«

»Sauber?«

»Ja … ich denk, du hast meinen Bademantel gemeint.«

Sie zögert kurz und etwas Ängstliches liegt plötzlich in ihrem Blick. »Deinen Bademantel?«

»Ja.«

Sie zieht nervös an der Zigarette und schaut ihn an. »Was … den da meinst du?«

»Ja.«

»Den du anhast?«

»Ja.«

Sie nimmt noch einen Zug von der Zigarette und schüttelt den Kopf. »Ich weiß nicht … hast du mich gefragt, ob ich ihn für dich wasche oder so?«

»Nein.«

Sie meidet jetzt meinen Blick und versucht, auf unbekümmerte Weise ratlos zu wirken. Aber unbekümmert ist leider gar nichts an ihr. Sie wirkt angespannt, nervös … und vielleicht irr ich mich ja, aber es sieht fast so aus, als ob sie sich vor irgendwas fürchtet.

»Mum?«, frag ich leise. »Was hast du gemeint … mit dem Bademantel?«

Sie versucht mich anzulächeln. »Tut mir leid, Schatz. Aber ich kann mich nicht erinnern –«

»Bitte, Mum«, fleh ich sie an. »Bitte sag mir bloß …«

Es klingelt.

Die Hunde springen auf und fangen an zu kläffen.

Und ich seh an Mums Gott-sei-Dank-es-ist-vorbei-Blick, dass es sinnlos wäre, die Klingel zu überhören.

Der Augenblick ist vorbei.

Ich hab ihn versäumt.

Ich steh auf und geh zur Tür.

Es ist Mel und sie ist allein. Keine Taylor diesmal. Nur Mel. Was mir ein komisches Gefühl gibt. Erstens weil ich echt nicht damit gerechnet hab, in nächster Zeit noch mal eine von beiden zu sehen. Keine Ahnung, weshalb, einfach so, ohne konkreten Grund, ich bin einfach davon ausgegangen, ich wär für die beiden erledigt. Sie hatten ihren Spaß, sie haben für eine Weile mit ihrem fetten Hätschel-Girlie gespielt und jetzt brauchen sie was Neues zum Spielen. Der zweite Grund, warum ich ein komisches Gefühl hab, ist, dass Mel total rausstaffiert und zurechtgemacht ist wie immer und ich bloß in einem verratzten alten Bademantel an der Tür steh. Und plötzlich kümmert es mich doch wieder ein bisschen, dass meine Haare vielleicht aussehen wie ein inkontinentes Krähennest. Und drittens hab ich mich so dran gewöhnt, Mel mit Taylor zusammen zu sehen, dass ich es fast beunruhigend finde, als sie jetzt plötzlich allein vor mir steht. Du weißt schon, wie wenn man von einem erfolgreichen Fernsehmoderatoren-Duo – Ant & Dec oder so – nur den einen sehen würde. Es wirkt einfach falsch.

»Hi, Mel«, sag ich und zieh schnell den Gürtel um meinen Bademantel enger. »Wo ist Taylor?«

Mel nickt nur. »Kann ich kurz reinkommen? Ich muss mit dir reden.«

Da sind wir also wieder – Mel und ich, allein in meinem Zimmer (abgesehen von Jesus und Mary, die immer da sind und beide hübsch in ihren Körbchen liegen … und den andern Jesus und Mary (Chain), die auch immer da sind und gerade die traurig-süße Melodie von About You spielen, dem Song, den ich schon seit dem Aufwachen im Kopf hab)

(there’s something warm

there’s something warm

there’s something warm in everything)

und ich sitz an meinem Schreibtisch (und hoffe, dass Mel den leichten Geruch nach Erbrochenem von der – fast – eingetrockneten Sauerei auf dem Fußboden nicht riecht, den ich ganz vergessen hab wegzumachen) und Mel hockt merkwürdig steif auf der Bettkante und guckt irgendwie … keine Ahnung. Besorgt vielleicht? Unsicher?

»Alles okay mit dir?«, frag ich.

Sie schlägt die Beine übereinander und fummelt an ihren Haaren. »Ja …«

»Wo ist Taylor?«

Sie zuckt abwehrend mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Hör mal, wir gehen doch nicht überall zusammen hin. Ich mein, sie ist ja nicht mein …« Mel bricht ab, sie wirkt ein bisschen aufgewühlt.

»Tut mir leid«, sag ich. »Das wollte ich auch gar nicht sagen, ich war nur …«

»Ja, ich weiß«, seufzt sie. »Schon gut …« Sie seufzt noch mal, dann nimmt sie das eine Bein vom andern, wirft den Kopf zur Seite und schaut mit einem Lächeln zu mir rüber. »Ist echt ganz schön … die Musik.«

»Ja.«

(i know there’s something good

about you

about you)

»Ist das die Gruppe, von der du neulich erzählt hast?«, fragt Mel.

»Ja, The Jesus and Mary Chain. Gefällt dir die Musik echt?«

»Ja, ist gut.« Sie lächelt. »Vielleicht besorg ich mir mal was von denen.«

»Ich kann dir auch ein paar CDs leihen, wenn du willst.«

Sie nickt, noch immer lächelnd, und ich glaub, sie meint es ernst, sie mag die Musik wirklich, aber ich kann schon sehen, wie ihr Lächeln langsam verschwindet. Sie leckt sich nervös die Lippen und ich hab das Gefühl, dass ich bald rausfinden werde, was sie hier will.

»Hör zu, Dawn«, sagt sie.

Hör zu.

»Wegen gestern Nacht …«