deep one perfect morning (1)

Okay, es ist Mittwochmorgen, zehn Uhr (der Morgen, nachdem Taylor und Mel vorbeigekommen sind), und ich bin mit Jesus und Mary draußen im Garten. Es ist ein richtig schöner Tag – zwar kalt und windig, aber mit blauem Himmel – und die Hunde nutzen das Wetter aus. Beide laufen begeistert im Kreis, schnauben dabei und erschnuppern die Geschichten, die der Wind heranträgt. Ich steh dabei, den Kopf voll Musik, und beobachte die Hunde, lächle ihnen zu und frag mich, was sie wohl riechen und ob sie wissen, was es ist, und ob es sie überhaupt kümmert … und dann entschließ ich mich mitzuschnuppern. Also heb ich den Kopf Richtung Himmel und atme tief durch die Nase ein, saug mir die Lunge voll Luft … aber ich schnupper zu fest, ein bisschen Rotz kommt mir in die Kehle und auf einmal krümm ich mich, leg die Hände gegen die Wand und keuch, würg und spuck Rotz und Schleim …

Und plötzlich seh ich auf dem Weg zu meinen Füßen, genau dort, wo ich hinspuck, drei leere Schneckenhäuser.

Drei schäbige Schneckenhäuser, nebeneinander in einer schäbigen Reihe.

Jede mit einem verblassten Buchstaben aus Leuchtfarbe bemalt.

Von links nach rechts gelesen steht da: O, D, G.

In dem D-Haus ist ein Loch (wahrscheinlich von einer Drossel reingepickt) und der untere Teil vom D fehlt, also könnte es auch ein B sein … aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es kein B ist.

»Hä?«, hör ich mich sagen.

Ich geh in die Hocke, um mir das Ganze genauer anzuschauen. Und ja, es sind eindeutig die Schneckenhäuser, auf die ich im letzten Sommer Buchstaben gemalt hab (ich erkenn den Pinselstrich). Und ja, das D ist eindeutig ein D. Und … hä? Was machen die hier? Wie sind die hierher gekommen? Wo waren sie die ganze Zeit? Wieso liegen sie heute auf einmal hier?

Verdammt, was geht hier vor?

ODG?

Ist das eine Nachricht?

Oh. De. Ge.

Von wem?

Odege.

Ich hock mich auf den rissigen Betonweg, der Wind weht mir kalt in den Nacken und das Einzige, was ich jetzt noch im Kopf hab, sind diese drei verblassten Buchstaben – ODG – und die sechs Möglichkeiten, in denen man sie kombinieren kann: ODG, DGO, GDO, DOG, OGD und GOD.

Die letzte – GOD – ist natürlich die unheimlichste. Über die will ich gar nicht erst nachdenken. Ich will mir nicht vorstellen, dass Gott mir vielleicht eine Nachricht schickt … dass er womöglich weiß, ich will ihn umbringen, und vielleicht seine Allmacht nutzt, um mir eine göttliche Warnung zu schicken, ein Zeichen von oben …

Nein, ich will darüber nicht nachdenken.

Deshalb denk ich stattdessen über die andern Kombinationen nach.

DGO, GDO und OGD sagen mir (glaub ich) gar nichts.

ODG (überleg ich) ist ein Teil von SplODGe, was bedeuten könnte, dass er hier gewesen ist (wann?), seinen Namen aus meinen bemalten Schneckenhäusern zusammengesetzt hat (wieso?) und das S, das P, das L und das E verloren gegangen sind (wie?) …

Und DOG …? Ich denk an meine Hunde und frag mich, ob die Schneckenhäuser was mit ihnen zu tun haben könnten. Mit steifen Beinen steh ich auf und ruf nach ihnen. »Kommt her! Hey! Jebus … Mary! HIERHER!«

Sie ignorieren mich.

Ich mach mit den Händen einen Trichter, halt ihn mir vor den Mund und ruf noch mal, diesmal viel lauter. »JEBUS! MARY! LOS, KOMMT JETZT! HIERHER! SOFORT!«

Das hilft. Sie unterbrechen ihr windverrücktes Gerenne, jagen beide auf mich zu und wirken ein bisschen ängstlich – Kopf nach unten, kleinlaut mit dem Schwanz wedelnd –, doch sobald ich wieder mit ihnen spreche – »braves Mädchen, braver Junge« –, gehen die Köpfe hoch und sie wissen, dass ich nicht sauer bin.

»Was ist das?«, frag ich sie locker, geh zurück in die Hocke und zeig auf die Schneckenhäuser. »Na los, kommt schon, schaut sie euch an …«

Jesus ist mutiger als Mary, also kommt er zuerst – schleicht sich quasi auf Zehenspitzen zu den Schneckenhäusern, reckt den Hals vor, schnuppert versuchsweise … und kurz darauf, nachdem ihm nichts passiert ist, kommt auch Mary und schnuppert. Und ich seh an der Vorsicht und dem mangelnden Schuldbewusstsein, dass die Schneckenhäuser nichts mit ihnen zu tun haben. Nein, Jesus und Mary haben sie nicht (aus irgendeinem geheimen Hundeversteck) ausgegraben und für mich auf den Weg gelegt. Sie haben nicht versucht, meinem Hirn einen Streich zu spielen, indem sie das Wort DOG auf dem Weg falsch buchstabieren.

Und ich schäm mich ein bisschen (und komm mir dämlich vor), dass ich es überhaupt für möglich gehalten hab.

Also streck ich, um mich wieder besser zu fühlen, den Arm aus und kraul Mary den Kopf, aber sie schnuppert so konzentriert an den Schneckenhäusern, dass die plötzliche Berührung sie erschrocken wegspringen lässt. Und als sie zur Seite fortjagt, erwischt sie eins von den Dingern und zertritt es auf dem Beton, und mit dem Hinterlauf stößt sie an die andern beiden, die kullernd wegrollen. Jetzt gibt es nur noch zwei Schneckenhäuser und statt ODG steht plötzlich GO da.

Na gut, dann geh ich eben.

Ich glaub nicht wirklich, dass Splodge irgendwas mit den Schneckenhäusern zu tun hat, aber ein Teil von mir will es unbedingt wissen (und ich wollte ohnehin raus, deshalb ist es nicht so, als würde ich extra zu ihm gehen). Als ich die Straße runter zu seinem Haus geh, den iPod an und Jesus und Mary zu meinen Füßen, seh ich, wie der blaue Lieferwagen mit der Aufschrift Marthings Möbel vom Gehweg rollt und Richtung Whipton Lane fährt. Der Motor keucht, stottert und spuckt eine Fahne schwarzen Rauch aus dem Auspuff. Ich schau ihm einen Moment hinterher und erinner mich, wie sich Splodge gestern für den Wagen interessiert hat. Und für einen paranoiden Augenblick merk ich, wie ich mich selbst frag, ob der Lieferwagen mit irgendwas zu tun hat – z. B. mit den Schneckenhäusern, dem Gott-Zeug, der Sache mit Taylor und Mel …

Natürlich weiß ich tief drinnen, dass es keine Verbindung zwischen diesen Dingen gibt – der blaue Lieferwagen ist nichts als ein blauer Lieferwagen, Taylor und Mel wollen mich nur ein bisschen fertigmachen, die Schneckenhäuser waren rein zufällig auf einmal da … du weißt schon, so ein total absurdes Zusammentreffen, das einem dermaßen unglaublich unwahrscheinlich vorkommt, dass es irre leicht ist, es nicht für Zufall zu halten, sondern zu glauben, es muss einfach was bedeuten und irgendwas (oder irgendwer) muss dafür verantwortlich sein. Aber wie jemand mal gesagt hat (ich weiß nicht mehr, wer): Ja, seltsame Dinge geschehen. Aber die Welt ist groß und alles Mögliche passiert – es wäre seltsam, wenn nicht ab und zu seltsame Dinge passierten.

Und außerdem weiß ich, dass Gott mich nicht einschüchtert, weil ich ihn umzubringen versuch. Denn:

  1. gibt es keinen Gott, und

  2. selbst wenn es ihn gäbe (was nicht der Fall ist) und selbst wenn er versuchen würde, mir Angst zu machen, (was er nicht tut), wieso sollte er das ausgerechnet mit Schneckenhäusern machen? Wieso nimmt er keinen Blitz oder eine Fledermausplage oder so was? Und wenn er schon Schneckenhäuser nimmt, um mir eine Botschaft zu schicken, wieso hat er sie dann in der falschen Reihenfolge hingelegt? Ich meine, er ist doch Gott, oder? Wenn er in sieben Tagen das ganze Universum schaffen kann, dann sollte es ihm doch nicht allzu schwerfallen, auch die beschissenen drei Schneckenhäuser in die richtige Reihenfolge zu bringen, oder?

»Was meinst du, Jeeb?«, frag ich Jesus.

Er sieht zu mir hoch und lächelt sein Hundelächeln.

Und ich nehm dieses selige Schweigen als Zustimmung.

Als ich bei Splodge zu Hause ankomm, sitzt er wie immer in seinem Parka auf der Treppe und beobachtet, wie die Welt an ihm vorbeizieht. Sein Feuermal ist heute so richtig purpurig.

»Hi«, sag ich zu ihm und stell den iPod ab.

»Hi, Dawn«, antwortet er. »Alles okay?«

»Ja.«

Er dreht sich um und lächelt Jesus und Mary an. »Hübsche Mäntel«, sagt er.

Jesus und Mary wedeln zustimmend mit dem Schwanz.

Splodge sieht wieder mich an. »Wohin willst du?«

Ich zuck mit den Schultern. »Eigentlich nirgendwohin. Lauf nur ein bisschen, du weißt schon …«

Er nickt.

Ich lächle ihn an und versuch mir zu überlegen, wie ich auf das Thema Schnecken zu sprechen kommen soll. Ist nicht so einfach. Ich meine, wie fragst du einen Elfjährigen mit einem zur Hälfte purpurfarbenen Gesicht, ob er heimlich deine bemalten Schneckenhäuser eingesammelt, sie monatelang aufgehoben und dann wieder bei dir zu Hause in den Garten zurückgelegt hat? Wie macht du so was, ohne dass er dich für bescheuert hält? Und ohne dass er denkt, du hältst ihn für bescheuert?

Du lügst ihn an, so machst du das.

»Erinnerst du dich an den Lieferwagen?«, frag ich ihn.

»Welchen Lieferwagen?«

»Den blauen. Du weißt schon, den, den wir gestern gesehen haben. Du hast doch gesagt, du siehst ihn ständig hier in der Gegend, aber nie steigt einer aus.«

»Ach so, ja«, sagt er kopfnickend. »Der Marthings-Möbel-Wagen. Der ist vor ein paar Minuten gerade wieder die Straße hochgefahren.« Er sieht mich an. »Was ist damit?«

»Ich bin mir nicht sicher«, erklär ich ihm mit gesenkter Stimme. »Aber gestern Abend hat ein Lieferwagen vor unserm Haus gestanden und ich glaub, ich hab jemand den Durchgang zum Garten entlangschleichen sehen.«

Splodge hebt die Augenbrauen. »Echt?«

»Ja.«

»Was hat er da gemacht?«

»Keine Ahnung. Ich meine, es war schließlich dunkel. Ich konnte kaum was erkennen. Das Einzige, was ich gesehen hab, war so ein ziemlich kleiner Typ in einem Parka –«

»Du hast gesehen, wie er aus dem Lieferwagen raus ist?«

»Nein … ich hab nur gesehen, wie er in den Durchgang gelaufen ist.«

»Hast du die Polizei gerufen?«

Ich schüttle den Kopf. »Hätte ja jeder sein können. Ein Freund von irgendeinem Nachbarn oder so.«

Splodge runzelt die Stirn. »Du hättest die Polizei rufen sollen.«

»Ja, gut«, sag ich. »Wenn ich ihn noch mal seh, ruf ich an.«

Ich lüg Spodge nicht gern an, aber ich tu es auch wieder nicht so ungern, dass ich es sein lass. Und, was noch wichtiger ist, es dient einem Zweck. Denn jetzt weiß ich, dass Splodge nicht die Schneckenhäuser in meinen Garten gelegt hat. Wenn nämlich er es gewesen wär, hätt er doch erschrocken gucken müssen, als ich ihm von dem ziemlich kleinen Typ im Parka erzählt hab, der gestern Abend bei uns ums Haus geschlichen ist. Dann wär schließlich Splodge dieser ziemlich kleine Typ im Parka gewesen.

Aber er war’s nicht.

Da bin ich mir zu 99 % sicher.

Also bleibt mir, schneckenhaus-und-umbringenstechnisch, bloß noch GOTT.

Ich setz die Ohrstöpsel wieder ein, drück den PLAY-Button und geh zur Bushaltestelle.