Kapitel 87

Eve zog ihn damit auf, dass er jetzt auf dem Campus arbeitete und jede Menge Veranstaltungen besuchte. »Das ist so, als hättest du ein Schlupfloch gefunden, um wieder studieren zu können«, sagte sie nach seinem ersten Semester. »Was ist das nur mit dir und der Uni? Bist du etwa vom Geruch muffiger Hörsäle abhängig?«

Vielleicht. Muffige Hörsäle. Knarzende Bibliotheksstühle. Große, grüne Rasenflächen.

Im Dekanatsbüro der Abteilung für Krankenpflege hatte Lincoln seinen eigenen Schreibtisch. Er war der einzige Mann unter den Verwaltungsangestellten und der Einzige unter fünfundvierzig Jahren. Die Damen im Büro erstarrten vor Ehrfurcht angesichts seiner Computerkenntnisse. Sie behandelten ihn, als wäre er Gandalf. Er hatte zwar einen Schreibtisch, aber da musste er nicht herumsitzen. Er konnte Kurse besuchen oder tun, was auch immer nötig war, um den Laden am Laufen zu halten.

Internetsicherheit gehörte auch zu seinen Aufgaben – aber da gab es wenig zu tun, außer das Antivirusprogramm aufzufrischen und die Leute daran zu erinnern, keine verdächtigen Dateianhänge zu öffnen. Sein Vorgesetzter im zentralen Informatikbüro erzählte, dass es im Pflegebereich noch nie einen Vorfall mit Pornographie gegeben hätte und dass die Leute online tun und lassen konnten, was sie wollten, solange es nicht um Schweinkram oder Glücksspiele ging.

»Gibt es denn einen E-Mail-Filter?«, fragte Lincoln.

»Machst du Witze?«, sagte der Typ. »Der Fakultätssenat würde ausflippen!«

Lincoln dachte immer noch an Beth. Am Anfang eigentlich die ganze Zeit.

Er abonnierte die Zeitung, sodass er beim Frühstück ihre Kritiken lesen konnte und beim Mittagessen dann noch mal. Er versuchte, von ihren Artikeln darauf zu schließen, wie es ihr ging. Kam sie ihm glücklich vor? Ging sie mit romantischen Komödien zu hart ins Gericht? Oder beurteilte sie sie zu nachsichtig?

Indem er ihre Rezensionen las, hielt er die Erinnerung auf eine Art und Weise wach, die er eigentlich gar nicht gut finden sollte. Denn die Erinnerung war wie ein Kontrolllämpchen in seinem Inneren. Manchmal war es geradezu schmerzlich, wenn sie besonders lustig oder einfühlsam schrieb, oder wenn er aus ihren Worten etwas Wahres herauslesen konnte, das er über sie wusste. Aber auch dieser Schmerz verblasste. Die Zeit heilt alle Wunden. Wenn man sie lässt.

Als im Herbst die Uni wieder begann, hatte sich Lincoln in seine Dozentin für Mittelalterliteratur verguckt, eine Mittdreißigerin mit leicht entzündlicher Intelligenz. Sie hatte volle Hüften und einen stumpf geschnittenen Pony und sprach schwärmerisch von Beowulf. In seinen Arbeiten unterstrich sie Sätze mit leuchtend grüner Tinte und schrieb Kommentare an den Rand. »Genau!« oder: »Ziemlich ironisch, nicht?« Er überlegte, sie um eine Verabredung zu bitten, wenn das Semester vorbei war. Andererseits konnte er sich natürlich auch für ihr Fortgeschrittenen-Seminar einschreiben.

Eine der Damen aus seinem Büro versuchte immer wieder, ihn mit ihrer Tochter Neveen zu verkuppeln, einer Werbetexterin, die Biozigaretten rauchte. Die beiden gingen ein paarmal zusammen aus, und Lincoln mochte Neveen gern genug, um sie zu Justins und Denas Hochzeit mitzubringen.

Die wurde in einer riesigen katholischen Kirche am Stadtrand abgehalten. (Wer hätte gedacht, dass Justin katholisch war? Und zwar gläubig genug, um Dena dazu zu bringen zu konvertieren. »Meine Kinder werden bestimmt nicht als Unitarier aufwachsen«, hatte er Lincoln bei der Generalprobe verkündet. »Diese Schwanzlutscher glauben ja kaum an Jesus.«)

Der Empfang fand in einem netten Hotel ein paar Meilen weiter statt. Es gab ein polnisches Buffet und ein Streichquartett, das während des Essens spielte. Lincoln war nervös, weil Sacajawea später spielen würde. Er aß viel zu viele Piroggen.

Nach dem Brauttanz (My heart will go on), dem Brautjungferntanz (Leather and Laces) und dem Vater-Tochter-Tanz (Butterfly Kisses) kam die Band auf die Bühne. Während sie ihre Instrumente aufbauten, sagte Justin sie an und schlug seinen älteren Tanten und Onkeln vor, sich an den Freigetränken gütlich zu tun oder lieber gleich einzupacken, »hier vorn geht’s nämlich gleich voll ab«.

Lincoln wartete die ganze Zeit auf den Stich, den ihm Chris’ Anblick versetzen würde, aber der kam nicht. Chris war immer noch dasselbe schmucke Prachtstück. Ein paar von Denas jugendlichen Cousinen scharten sich um seine Seite der Bühne und fingerten an ihren Halsketten herum. Ein älteres Mädchen, ungefähr im College-Alter, war mit der Band zusammen gekommen. Sie hatte langes blondes Haar und einen strahlenden Teint und reichte Chris zwischen den Songs eine Wasserflasche.

Der Stich blieb aus. Selbst als Chris Lincoln wiedererkannte und ihm winkte. Jetzt war Chris – zumindest für Lincoln – nur noch irgendein Typ, der auch nicht mit Beth zusammen war.

Zu Musik zu tanzen, die sich anhört wie Led Zeppelin, einmal durch den Radiohead-Fleischwolf gedreht, ist schwierig, aber die meisten von Justins und Denas Freunden waren betrunken genug, um es trotzdem zu versuchen. Sogar Lincolns Date. Lincoln war nicht betrunken, ihm war aber trotzdem danach zu hopsen, rumzubrüllen und zu laut zu singen. Er fing Stagediver auf. Er wirbelte Neveen herum, bis ihr ganz schwindelig wurde. Er reckte völlig hemmungslos Teufelshörner in die Luft.

Liebe auf den zweiten Klick
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