Kapitel 15
Von: Jennifer Scribner-Snyder
An: Beth Fremont
Gesendet: Di., 07. 09. 1999, 9:45 Uhr
Betreff: Nette Geschichte
Und sogar auf der Titelseite. Du hast es immer noch drauf.
Von Beth an Jennifer: Hey, danke. War richtig aufregend, mal wieder mit den Nachrichtenredakteuren zusammenzuarbeiten. Bei denen sind alle so richtig mit Leidenschaft dabei. Ich kam mir vor wie Lois Lane.
Von Jennifer an Beth: Normalerweise fühlst du dich eher wie Roger Ebert, oder?
Hey, rate mal, von wem deine Überschrift stammt!
Von Beth an Jennifer: Jetzt, wo du’s erwähnst, das war wirklich ’ne gelungene Schlagzeile. Sogar richtig knackig. Die kommt bestimmt von Chuck.
Von Jennifer an Beth: Sehr witzig.
Von Beth an Jennifer: Wir beide, wir sind echt ein tolles Team. Wir sollten uns zusammentun und … unsere eigene Zeitung gründen oder so.
Von Jennifer an Beth: Mitch hat deine Story beim Frühstück gelesen und war echt sauer. Er liebt dieses Kino. Er hat da sechsmal Die Goonies gesehen. (Die Freundin, die er in der siebten Klasse hatte, stand auf Corey Feldman.) Er hat gesagt, die Cinerama-Leinwand lässt jeden Film gut aussehen.
Von Beth an Jennifer:
1. Mitch hatte in der Siebten eine Freundin? Erzähl weiter!
2. Ich hoffe nur, er wollte damit nicht sagen, dass Die Goonies ein schlechter Film war. Ich liebe Martha Plimpton, und Corey Feldman war fantastisch. Er hat es nicht verdient, so eine Witzfigur zu werden. Hast du mal Das Geheimnis eines Sommers gesehen? Meine teuflischen Nachbarn? Cap und Capper?
3. Ich stelle mir so gerne vor, wie ihr beiden beim Frühstück zusammen die Zeitung lest. Trautes Heim, Glück allein.
Von Jennifer an Beth: Das sah heute Morgen leider ganz anders aus.
Ich hab die Inlandsmeldungen überflogen, und da gab es eine Nachricht über eine Mutter, die von ihrem Sohn gefesselt worden war, weil sie ihm keine PlayStation kaufen wollte, und da hab ich dann verkündet: »Gott, noch ein Grund, um keine Kinder zu kriegen.« Und Mitch hat geschnaubt (wirklich, so richtig geschnaubt) und gemeint: »Schreibst du dir das eigentlich irgendwo auf? All die Gründe, warum wir keine Kinder kriegen sollten?«
Ich hab ihm gesagt, er sollte nicht fies werden, und er meinte: »Dann sei du doch nicht so fies. Ich weiß, dass du noch nicht bereit bist, ein Baby zu bekommen. Da musst du nicht noch ständig Salz in die Wunde streuen.«
»Wie bitte?«, hab ich da gefragt. »Was denn für eine Wunde?«
Und dann meinte er, er sei die Sache leid und ich sollte es einfach vergessen. »Ich liebe dich«, sagte er. »Ich gehe jetzt zur Arbeit.« Und ich meinte, er solle das doch nicht so sagen, nur damit er vom Tisch aufstehen kann. Und dann wollte er wissen, ob es mir lieber wäre, wenn er gehen würde, ohne mir zu sagen, dass er mich liebt.
Und ich hab erklärt: »Es wäre mir nur einfach lieber, wenn du ›Ich liebe dich‹ sagen würdest, weil du mich so unendlich liebst, dass du es dir nicht verkneifen kannst. Und es wäre mir wirklich lieber, wenn du zur Arbeit gehen würdest und nicht wütend auf mich wärst.«
Und er hat dann erklärt, dass er gar nicht auf mich wütend sei, sondern auf die ganze Situation. Diese Sache mit den Kindern. Oder vielmehr, dieser Mangel an Kindern.
Aber das hat natürlich sehr wohl was mit mir zu tun. Und das habe ich ihm dann auch gesagt. »Und du bist doch wütend auf mich.«
»Okay«, hat er geantwortet. »Ich bin wütend auf dich. Aber ich liebe dich auch. Und ich muss jetzt zur Arbeit. Bis später.«
Und dann hab ich mir die ganze Zeit Sorgen gemacht, dass er vielleicht auf dem Weg zur Arbeit einen Autounfall hat und dass ich dann den Rest meines Lebens bereuen werde, ihm nicht »Ich liebe dich auch« nachgerufen zu haben.
Und dann hab ich nach dem Frühstück mit Absicht meine Folsäuretabletten nicht genommen – um es uns beiden heimzuzahlen.
Von Beth an Jennifer: Wann hast du denn angefangen, Folsäure zu nehmen?
Von Jennifer an Beth: Nach meiner letzten Schwangerschaftspanik. Ich dachte, auf die Art und Weise hab ich wenigstens eine Sorge weniger. Meinst du, ich sollte Mitch anrufen und mich entschuldigen?
Von Beth an Jennifer: Ja.
Von Jennifer an Beth: Ich will aber nicht. Er hat schließlich angefangen.
Von Beth an Jennifer: Wahrscheinlich bringt ihn deine Schwangerschaftspanik einfach auf die Palme.
Von Jennifer an Beth: Na, und ob. Und ich mache ihm deshalb ja auch keine Vorwürfe. Aber ich bin nicht besonders gut, wenn es um Entschuldigungen geht. Normalerweise mache ich alles nur noch schlimmer. Ich sage ganz zuckersüß: »Es tut mir so leid«, und sobald man mir vergeben hat, schiebe ich noch »Aber du hast schließlich angefangen« hinterher.
Von Beth an Jennifer: Das ist doch furchtbar, mach das nicht. Genau das würde deine Mutter auch sagen.
Von Jennifer an Beth: Genau das hat meine Mutter zu mir gesagt, und zwar mindestens hunderttausend Mal.
Das habe ich geerbt. Ich muss eine schreckliche Person sein, da bin ich genetisch vorbelastet.
Und wo wir gerade bei meiner Mutter sind: Letzte Woche war ich blöd genug, ihr davon zu erzählen, dass Mitch und ich wegen der Kinderfrage Streit hatten. Und dann hat sie geseufzt – hast du sie schon mal seufzen hören? Das hört sich an, als würde ein Luftballon sterben – und meinte: »So geht es immer los. Pass bloß gut auf dich auf.«
Mit »es« meint sie natürlich die Scheidung. Und sie ist sicher, dass ich die auch geerbt habe, zusammen mit ihren geraden Zähnen und ihren blöden Entschuldigungen. Sie wartet ja nur darauf. Sie kann nicht damit aufhören, mit einem Zahnstocher in meiner Ehe herumzupieken. Fast geschafft!
Also meinte ich eben: »Ach, tatsächlich, Mom? Es geht mit Streitereien los? Und ich dachte immer, es hätte alles mit meiner Lehrerin in der dritten Klasse angefangen.«
(Denn so ging es nämlich mit ihrer Scheidung los. Obwohl man natürlich genauso gut argumentieren könnte, dass alles schon mit ihrer Zwangsheirat losging, sodass die Affäre meines Vaters mir Mrs Grandy eher ein Symptom als die Krankheit war.)
Nach dieser schrecklichen, bissigen Bemerkung lagen meine Mutter und ich uns natürlich in den Haaren, und ich hab noch mehr üble Sachen gesagt, und schließlich meinte sie: »Du kannst sagen, was du willst, Jennifer, aber wir wissen doch beide, wer die Scherben aufsammeln wird, wenn das hier alles den Bach runtergeht.«
Also hab ich aufgelegt, und Mitch – der ins Zimmer gekommen war, aber nicht mitbekommen hatte, worüber wir uns gestritten hatten, meinte: »Ich wünschte wirklich, du würdest nicht so mit ihr reden. Sie ist doch deine Mutter.«
Und ich konnte ja schlecht antworten: »Ja, aber sie denkt, dass du mich verlassen wirst, und sie stellt jetzt schon klar, dass sie im Falle einer Scheidung auf deiner Seite ist.« Also hab ich ihn nur mit einem finsteren Blick bedacht.
Dann hat Mom mich am Sonntag wieder angerufen, und es war so, als ob wir uns nie gestritten hätten. Sie wollte, dass ich sie zum Einkaufszentrum fahre, und sie hat darauf bestanden, mir bei Sears einen roten Pulli zu kaufen, den ich vermutlich selbst abbezahlen werde, wenn sie ihre Raten für die Sears-Karte mal wieder nicht aufbringen kann.
Von Beth an Jennifer: Ist das der Pulli, den du heute anhast? Den hast du von Sears? Der ist wirklich süß.
Von Jennifer an Beth: Jetzt lenk nicht ab. (Aber trotzdem danke. Wirklich niedlich, nicht?)
Von Beth an Jennifer: Deine Mom spinnt. Deine Ehe hat überhaupt nichts mit ihrer zu tun. Dein Leben ist ganz anders als ihres. Als sie so alt war wie du, war sie schon geschieden und hatte ein zehnjähriges Kind.
Von Jennifer an Beth: Ich weiß, aber meine Mutter schafft es, sich sogar daraus noch was Übles zurechtzubasteln. Sie ist überzeugt, dass ich ein Spätzünder bin – dass ich eine halbe Ewigkeit dafür brauche, mein Leben zu ruinieren, und deshalb verliert sie langsam die Geduld.
Ich weiß noch, wie es war, als ich die 18 hinter mich gebracht hatte, das Alter, in dem sie mich bekommen hat, und ich dachte: »Puh, geschafft. Ich hab’s gepackt, ich bin 19 und nicht schwanger.« Als ob das auch nur im Entferntesten ein Risiko gewesen wäre. Mit 19 hatte ich ja noch nicht mal einen Typen geküsst.
Von Beth an Jennifer: Echt? Wie alt warst du denn bei deinem ersten Kuss?
Von Jennifer an Beth: 20. Ist das nicht erbärmlich? Männer wollen eben keine fetten Frauen küssen.
Von Beth an Jennifer: Das stimmt gar nicht. Denk doch an all die Typen bei Jerry Springer, na ja, und dann ist da noch Präsident Clinton …
Von Jennifer an Beth: Dann sagen wir’s mal so: Niemand, den ich je küssen wollte, wollte ein fettes Mädchen küssen.
Von Beth an Jennifer: Ich wette, du hast ihnen dazu überhaupt keine Chance gegeben. Mitch erzählt immer, du hättest ihn praktisch mit einem Knüppel davongejagt.
Von Jennifer an Beth: Es war ja nur zu seinem Besten.
Von Beth an Jennifer: Wie hat er dich letztendlich denn erobert?
Von Jennifer an Beth: Er hat einfach nicht lockergelassen. Er hat sich im Kurs für kreatives Schreiben immer hinter mich gesetzt und ständig gefragt, ob ich mittags schon was vorhätte. Als ob ich Wert darauf gelegt hätte, dass dieser muskelstrotzende blonde Typ mir beim Essen zuschaut.
Von Beth an Jennifer: Ich kann ihn direkt vor mir sehen. Dieser kernige Junge vom Lande mit den sexy Sousaphon-Schultern … mit einer von diesen Kappen, die man bei der Genossenschaft als Geschenk mit dazukriegt, und einer knappen Wrangler-Jeans. Erinnerst du dich noch an diese Aufkleber, die wir damals im College hatten? Frauen stehen auf Wrangler?
Von Jennifer an Beth: Ja. Und wenn mir solche Sachen in den Sinn kommen, dann wünsche ich mir erst recht, ich wäre irgendwo anders aufs College gegangen. Irgendwo in Philadelphia. Oder New Jersey.
Von Beth an Jennifer: Weißt du, wenn du in New Jersey zur Uni gegangen wärst, dann hättest du Mitch nie kennengelernt. Oder hier einen Job angenommen. Wir wären uns nie über den Weg gelaufen.
Von Jennifer an Beth: Mitch denkt, es war Schicksal, dass wir uns begegnet sind. Er meint immer, ich könnte die Zeit zurückdrehen und mein ganzes Leben noch einmal leben und würde ihn dann trotzdem irgendwann heiraten.
Von Beth an Jennifer: Siehst du! Er ist so ganz und gar nicht wie dein Dad. Er ist einfach wunderbar. Es wäre toll gewesen, wenn du und ich im College befreundet gewesen wären. Warum waren wir da eigentlich keine Freundinnen?
Von Jennifer an Beth: Vermutlich, weil ich fett war.
Von Beth an Jennifer: Jetzt erzähl doch keinen Quatsch. Wahrscheinlich war ich einfach nur zu sehr damit beschäftigt, Chris’ Freundin zu sein, um noch andere Leute kennenzulernen.
Von Jennifer an Beth: Und vermutlich, weil mein Job beim Daily mich zu sehr in Anspruch genommen hat. Ich hab nie jemanden kennengelernt, der nicht Journalismus studiert hat, bevor ich angefangen habe, mit Mitchs Freunden von der Blaskapelle abzuhängen.
Von Beth an Jennifer: Aber ich hab doch Journalismus studiert. Und da ist noch etwas, das ich nicht gemacht hab, weil ich viel zu sehr damit beschäftigt war, verliebt zu sein: Ich hab nie bei der Uni-Zeitung gearbeitet.
Von Jennifer an Beth: Glaub mir, da hast du auch nichts verpasst. Das war die reinste Schlangengrube. Eine betrunkene Schlangengrube.
Und weißt du … wo wir schon mal übers College reden. Ich hab keine Artikel mehr zu korrigieren, und du sonnst dich gerade im Ruhm einer fantastischen Titelstory …
Das wäre doch genau der richtige Zeitpunkt, um die Geschichte Wie Beth umworben wurde zu Ende zu bringen.
Von Beth an Jennifer: Das wäre wohl eher die Geschichte Wie Chris umworben wurde.
Von Jennifer an Beth: Wie der Kopfhörer-Typ umworben wurde.
Da war er also, mit seinem gelben Sweatshirt und seinem Buch in der Hand. Und da lief sie auch schon wieder auf Hochtouren, die schmutzige Fantasie …
Von Beth an Jennifer: Ähem. Ja. Da waren wir also. Im Studentenwerk. Er saß immer in der Ecke. Und ich saß ihm immer gegenüber, allerdings drei Plätze weiter. Ich hatte mir angewöhnt, bei meiner Veranstaltung um 9:30 Uhr etwas früher zu gehen, sodass ich mich noch ein bisschen aufmotzen konnte und dann schon ganz locker und lässig auf meinem Platz saß, wenn er hereinkam.
Er hat mich nie auch nur eines Blickes gewürdigt – zu meiner großen Erleichterung aber auch sonst niemanden – und hat auch nie seine Kopfhörer abgenommen. In Gedanken hab ich mir immer ausgemalt, welches Lied er wohl gerade hört … und ob wir dazu wohl bei unserer Hochzeit den ersten Tanz aufs Parkett legen würden … und ob wir wohl einen traditionellen Hochzeitsfotografen engagieren oder uns eher für Bilder in Schwarz-Weiß entscheiden würden … Vermutlich eher Schwarz-Weiß wie in einem Modemagazin. Viele leicht verschwommene Aufnahmen, ganz authentische Bilder von uns, wie wir uns mit einem romantischen, verträumten Blick in die Arme schließen.
Natürlich hatte der Kopfhörer-Typ ohnehin bereits einen verträumten Blick drauf, was meine Freundin Lynn einer »Tüte zum Frühstück« zuschrieb.
Von Jennifer an Beth: Und dann …
Von Beth an Jennifer: Ich weiß schon, was du jetzt denkst. Du kannst es nicht fassen, dass ich dazu bereit war, mich wissentlich mit einem Drogenkonsumenten einzulassen.
Von Jennifer an Beth: Ich hab mich wissentlich mit einem Typen eingelassen, der Tuba spielt. Jetzt erzähl endlich weiter.
Von Beth an Jennifer: Na ja, am Anfang war ich sicher, dass er die Kräfte des Universums spüren musste, die uns zueinander hinzogen. Ich wollte ihn unbedingt, ich konnte spüren, wie mein Herz sich mit jedem Schlag nach ihm sehnte. Er war Schicksal. Er war ein Magnet und ich der Stahl!
Die ganze Sache ging im September los. Im Oktober kam einer von seinen Freunden vorbei und sagte »Chris« zu ihm. (Ein Name, na endlich! Say it loud and there’s music playing. Say it soft and it’s almost like praying – Wie ein Lied kann er dich betören. Wie Gebete kann er dich beschwören.) An einem Dienstagabend im November hab ich ihn in der Bibliothek entdeckt. Woraufhin ich die nächsten vier Dienstagabende in der Bibliothek verbracht habe, in der Hoffnung, dass er das jede Woche so machte. Was nicht der Fall war. Manchmal hab ich mir erlaubt, ihm zu seiner 11:30-Uhr-Veranstaltung zur Andrews Hall zu folgen, und dann musste ich einmal quer über den ganzen Campus rennen, um es noch rechtzeitig zu meiner Vorlesung im Temple Building zu schaffen.
Gegen Ende des Semesters zog ich die Möglichkeit, eine normale und beiläufige Unterhaltung mit ihm anzufangen, schon längst nicht mehr in Erwägung. Ich hatte den Versuch, mit ihm Blickkontakt herzustellen, aufgegeben. Ich ging inzwischen sogar mit einem Sig Ep aus, den ich in meiner Soziologieklasse kennengelernt hatte.
Aber mein 10:30-Uhr-Date mit dem Kopfhörer-Typen wollte ich trotzdem nicht aufgeben. Ich nahm an, dass wir nach den Weihnachtsferien beide einen anderen Stundenplan haben würden und sich die Sache damit erledigt hätte. So lange würde ich noch warten und dann eben weiterziehen.
Von Jennifer an Beth: Das ist toll, du hast mich wirklich so weit gekriegt, dass ich jetzt glaube, jede Hoffnung sei verloren. Clever.
Von Beth an Jennifer: Was mich betraf, war ja auch jede Hoffnung verloren.
Und dann … dann kam ich in der Woche vor den Abschlussprüfungen zur üblichen Zeit ins Studentenwerk und fand Chris auf meinem Stuhl vor. Die Kopfhörer hingen ihm um den Hals, und er sah mich an, während ich auf ihn zuging. Jedenfalls denke ich, dass er mich angesehen hat. Er hatte mich nie zuvor angesehen, noch nie, und schon allein bei der Vorstellung wurde mir heiß und kalt. Noch bevor ich mir überlegen konnte, wohin ich mich jetzt setzen sollte, hatte er mich auch schon angesprochen.
Von Jennifer an Beth: Hat er gesagt: »Hör auf, mir nachzuschleichen, du Psychopatin«?
Von Beth an Jennifer: Nein. Er meinte: »Hey.«
Und ich sagte: »Hi.«
Und er fing an: »Hör mal …« Seine Augen waren grün. Und er hat beim Sprechen ein bisschen geblinzelt. »Nächstes Semester hab ich einen Kurs um 10:30 Uhr, also … müssen wir uns wahrscheinlich irgendwas anderes überlegen.«
Ich stand da wie vom Schlag getroffen.
Und dann meinte ich: »Willst du mich verarschen?«
»Nein, ich frage dich, ob du mit mir ausgehen willst.«
»Dann lautet meine Antwort Ja.«
»Gut …«, sagte er. »Wir könnten zusammen essen gehen. Du könntest mir gegenübersitzen. Das wäre dann immer noch wie am Dienstagmorgen. Nur eben mit Grissini.«
»Jetzt machst du dich aber über mich lustig.«
»Ja.« Er lächelte immer noch. »Jetzt ja.«
Und das war alles. Wir gingen am Wochenende aus. Und am nächsten. Und dem danach. Es war verrückt und romantisch.
Von Jennifer an Beth: Wow, der hatte ja die Ruhe weg. (Aber echt cool.) Wusste er etwa die ganze Zeit, dass du ihn beobachtet hast?
Von Beth an Jennifer: Ja, ich denke schon. Das ist eben Chris. Er überstürzt nichts. Er lässt sich nie in die Karten gucken. Er legt immer als Erster auf.
Von Jennifer an Beth: Was soll das heißen, er legt als Erster auf?
Von Beth an Jennifer: Na ja, als wir angefangen haben, miteinander zu telefonieren, da hat immer er das Gespräch beendet. Wenn wir uns geküsst haben, dann hat sich immer er zuerst von mir gelöst. Er war stets nur einen Schritt davon entfernt, mich in den Wahnsinn zu treiben. Ich hatte dauernd das Gefühl, dass ich ihn viel zu sehr will, und deshalb wollte ich ihn nur noch umso mehr.
Von Jennifer an Beth: Das hört sich an wie die reinste Qual.
Von Beth an Jennifer: Es ist die reinste Qual, aber es ist auch fantastisch. Es fühlt sich toll an, etwas so sehr zu wollen. Wenn ich an ihn dachte, dann war das so, als würde man an etwas zu essen denken, nachdem man anderthalb Tage fasten musste. Ein bisschen so, als würde man dafür seine Seele verkaufen.
Von Jennifer an Beth: Ich hab noch nie anderthalb Tage nichts gegessen.
Von Beth an Jennifer: Nicht mal, wenn du die Grippe hattest oder so?
Von Jennifer an Beth: Vielleicht ein einziges Mal. Was ist denn mit dem Sig-Ep-Typen passiert?
Von Beth an Jennifer: O Gott. Das war schrecklich. Bis Sonntagnachmittag hatte ich völlig vergessen, dass ich ja noch mit ihm Schluss machen musste. Neun Stunden lang war ich mit zwei Männern zusammen. Nicht, dass ich Chris damals schon meinen Freund genannt hätte. Ich wollte ihn auf keinen Fall vergraulen. Das erste Jahr war seltsam. Es kam mir vor, als wäre ein Schmetterling auf mir gelandet. Ich dachte, wenn ich mich bewegen oder atmen würde, dann würde er davonflattern.
Von Jennifer an Beth: Weil er immer als Erstes aufgelegt hat?
Von Beth an Jennifer: Genau. Und auch wegen anderer Sachen. Ich wusste nie, wann ich ihn als Nächstes sehen oder wann er wieder anrufen würde. Manchmal redeten wir eine ganze Woche nicht miteinander. Und dann hatte er mir einen Zettel unter der Tür durchgeschoben. Oder ein Blatt. Oder einen Songtext auf einem Streichholzbriefchen.
Oder Chris tauchte einfach so auf. Lehnte Mittwochabend an meiner Tür, wenn ich von Wirtschaftskunde zurückkam. Manchmal blieb er nur eine Viertelstunde. Manchmal verschwand er, sobald ich eingeschlafen war. Manchmal überredete er mich aber auch, für den Rest der Woche den Unterricht zu schwänzen. Und manchmal verließen wir mein Zimmer nicht mehr bis zum nächsten Samstagmorgen, und dann auch nur, weil mein Vorrat an Salsa, Eis am Stiel und Diätcola schließlich zur Neige ging.
Er machte mich wahnsinnig. Ich verbrachte viel Zeit damit, aus dem Fenster zu schauen und zu versuchen, ihn durch die Macht der Gedanken zu mir zu locken. Ich lieh mir Filme über Mädchen aus, die auf einer Haarsträhne herumkauten und nervöse Flecken im Gesicht bekamen.
Ich war noch nie so glücklich gewesen.
Von Jennifer an Beth: Ich glaub, ich weiß jetzt, warum wir im College nicht befreundet waren. Du warst ein bisschen gruselig.
Von Beth an Jennifer: Nicht gruselig. Nur zielstrebig.
Von Jennifer an Beth: Gruselig zielstrebig.
Von Beth an Jennifer: Ich hab mich eben auf mein Ziel konzentriert. Ich wusste, was ich im Leben wollte. Ich wollte Chris. Und dabei war es eine große Hilfe, von nichts anderem abgelenkt zu werden. Da gab es keine langweilige Nebenhandlung.
War es bei dir mit Mitch denn nie so?
Von Jennifer an Beth: Nein, so wie bei dir nie.
Ich meine, ich hatte mich Hals über Kopf in ihn verliebt. Aber es war eher so, dass er noch viel verliebter war als ich, und vermutlich sind wir auch aus diesem Grund noch immer zusammen. Es war für mich wichtig, dass Mitch sein Herz auf der Zunge trug. Ich war so unsicher, ich musste einfach erleben, wie er bei mir alle Türen einrennt und mein Zimmer mit Blumen füllt.
Von Beth an Jennifer: Hat er wirklich mal dein Zimmer mit Blumen gefüllt?
Von Jennifer an Beth: Jap. Es waren zwar Nelken, aber trotzdem Blumen.
Von Beth an Jennifer: Hmmm. Theoretisch finde ich ja, dass das toll klingt. Aber in der Praxis hat Chris mir gerade deshalb gefallen, weil er solche Sachen nicht gebracht hat. Weil er nie irgendwas tun würde, was im traditionellen Sinn romantisch ist. Und nicht nur deshalb, weil er sich unbedingt von allen anderen unterscheiden will, sondern weil sein Instinkt ihm wirklich etwas ganz anderes sagte (und immer noch sagt) als der von anderen Typen. Das war so, als würde man mit einem Mann gehen, der gerade erst auf der Erde aufgeschlagen ist.
Von Jennifer an Beth: Ich bin so froh, dass du mir das endlich alles erzählt hast. Ich hatte das Gefühl, dass wir über einen großen Teil deines Lebens nicht sprechen können, und das hab ich gehasst.
Und lass mich zum Abschluss noch sagen, dass du dir nie Sorgen machen musst, ich würde mit Chris durchbrennen oder mich im Vollrausch an ihn ranmachen. Er würde mich einfach wahnsinnig machen.
Von Beth an Jennifer: Ich bin auch froh, dass wir darüber geredet haben. Aber ich kann leider keine Entwarnung geben, was den Vollrausch angeht. Mitch ist echt scharf.
Von Jennifer an Beth: Jetzt verdrehe ich gerade die Augen.