Kapitel 73
Von: Jennifer Scribner-Snyder
An: Beth Fremont
Gesendet: Mi., 09. 02. 2000, 10:08 Uhr
Betreff: Ich glaube, ich hab deinen süßen Typen getroffen
Außer es gibt hier zwei dunkelhaarige, beinahe hünenhafte süße Typen.
Von Beth an Jennifer: Getroffen? Du hast ihn kennengelernt?
Von Jennifer an Beth: Ja. Gestern Abend. Nach der Arbeit.
Von Beth an Jennifer: Macht es dir eigentlich Spaß, mich so hinzuhalten?
Von Jennifer an Beth: Ich bin nicht sicher, ob ich dir das überhaupt erzählen will. Nach so einer Story machst du dir nämlich nur Sorgen um mich, und das will ich wirklich nicht.
Von Beth an Jennifer: Zu spät. Ich mache mir bereits Sorgen. Jetzt erzähl schon – mit allen Einzelheiten.
Von Jennifer an Beth: Also …
Gestern hatte ich Spätschicht, also musste ich auf dem Kiesplatz unter der Schnellstraße parken, und ich war hier auch erst um neun fertig, und draußen war es kalt, und nass und fies, und als ich endlich bei meinem Wagen war, hatte der einen Platten. (Das klingt jetzt schon wie der Anfang einer Law-&-Order-Folge, nicht?)
Also … hab ich sofort mein Handy rausgeholt, um Mitch anzurufen, aber der Akku war leer. In dem Augenblick hätte ich direkt zurück zum Gebäude gehen und einen Abschleppwagen rufen sollen oder so. Stattdessen hab ich aber beschlossen, den Reifen selbst zu wechseln. Ich meine, ich hab vorher schon mal einen Reifen gewechselt. Ich bin durchaus in der Lage, mir selbst zu helfen. Während ich den Wagenheber rausgeholt habe, schoss mir plötzlich durch den Kopf: Vielleicht sollte ich das in meinem Zustand besser nicht machen.
Und dann fiel mir wieder ein, dass ich ja in gar keinem Zustand mehr bin.
Ich hab zwanzig Minuten gebraucht, um die ersten zwei Muttern zu lösen, die dritte hat sich nicht vom Fleck gerührt. Ich hab sogar versucht, mich auf den Schraubenschlüssel zu stellen. Er ist abgesprungen und mir gegen das Schienbein geknallt. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits völlig durchnässt, mit Schlamm bedeckt und hab geheult. Und zwar ziemlich hysterisch.
Und dann sehe ich diesen riesigen Schatten auf mich zukommen, und alles, was mir in den Sinn kommt, ist: Ich hoffe, dass er mich nicht vergewaltigt, weil ich sechs Wochen lang warten muss, bevor ich wieder Geschlechtsverkehr haben darf.
Und der riesige Schatten fragt: »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Und ich sage: »Ja«, in der Hoffnung, dass er einfach weitergeht. Und dann kommt er mir so nahe, dass ich sehen kann, wie süß er ist – auf eine ganz eigene, unerwartete Art und Weise; rau und ungeschliffen, könnte man sagen –, und außerdem trägt er eine völlig unmoderne Jeansjacke. Und ich denke natürlich sofort: Das ist Beths süßer Typ, und hab auf einmal keine Angst mehr vor ihm, was ziemlich witzig ist, wenn man mal darüber nachdenkt, denn egal, wie sehr du für ihn schwärmst, genau genommen wissen wir beide ja nichts über diesen Kerl. Es hätte sogar sein können, dass er es nicht mal ist.
Egal, jedenfalls hat er mir den Reifen gewechselt.
Dafür hat er höchstens acht Minuten gebraucht. Und ich stand einfach nur da und hab sein Abendessen festgehalten (McDonald’s) und zugeschaut. Und geweint. Ich muss ziemlich erbärmlich ausgesehen haben, denn er meinte: »In der Tüte habe ich ein paar Fritten, wenn Sie möchten.« Ich dachte noch, dass das ein furchtbar seltsames Angebot war, aber andererseits gehöre ich tatsächlich zu den Personen, die sich durch ein paar Fritten getröstet fühlen, also hab ich zugegriffen.
Und dann – im Ernst, nur Minuten später – war er fertig (und ebenfalls völlig mit Matsch bedeckt, der ganze Parkplatz war eine einzige graue Pfütze). Er hat mir noch geraten, das mit dem Reifen so schnell wie möglich in Ordnung bringen zu lassen, und ist dann gegangen.
Also bin ich ins Auto gestiegen, hab die Heizung angestellt … und angefangen, noch heftiger zu weinen als vorher. Mehr als je zuvor, seit es passiert ist. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt jemals so sehr geweint habe. (Vielleicht, als mein Dad uns verlassen hat.) Ich hab gezittert und diese schrecklichen dumpfen Elefanten-Laute von mir gegeben. Mir kam immer wieder das Wort »Verzweiflung« in den Sinn, und dass ich das früher eigentlich nur verstanden habe, wenn ich es im Kontext gelesen hatte.
Ich war ziemlich fertig, als irgendwann jemand ans Fenster geklopft hat. Es war dein süßer Typ. Er stand immer noch da. Die ganze Situation schien ihm peinlich zu sein, es kam mir vor, als wäre ihm körperlich unwohl dabei, sich um mich kümmern zu müssen. Er sagte: »Ich habe das Gefühl, ich sollte lieber Ihren Mann anrufen«, ganz entschlossen und bestimmt. (Ich war nur ein bisschen eingeschnappt, weil er davon ausgegangen ist, dass ich verheiratet bin. Das war so, als würde man »Madame« genannt, wenn man sich eigentlich noch wie eine »Mademoiselle« fühlt.)
Ich hab immer wieder beteuert, dass es mir gut geht, und dann meinte er: »Wenn jemand, der mir wichtig ist, weinend in einem Parkhaus hocken würde, und auch noch zu so später Stunde, dann würde ich schon wollen, dass man mich anruft.«
Genau das hat er gesagt. Ist das nicht nett?
Schließlich hab ich zugegeben, dass er recht hatte, dass es mir nicht gut ging, aber dass schon wieder alles in Ordnung kommen würde, und ich hab ihm versprochen, endlich nach Hause zu fahren. Für eine Minute sah es so aus, als würde er mich nicht allein lassen, als würde er einfach da stehen bleiben, mit der Hand an meinem Autofenster. Was auch gar nicht so dumm gewesen wäre – immerhin waren meine Augen zu kleinen Schlitzen geschwollen, und ich kam ihm vermutlich so vor, als würde ich gleich über die nächste Klippe fahren.
Aber dann hat er genickt, mir seine McDonald’s-Tüte gereicht (?) und ist gegangen.
Ich bin dann auch los. Ich bin nach Hause gefahren und hab seine zwei Cheeseburger gegessen (mit extra Gürkchen), während ich auf Mitch gewartet habe, der, das sollte ich vielleicht noch erwähnen, tatsächlich erleichtert war, mich weinen zu sehen. Ich glaube, er hat angefangen zu befürchten, dass ich entweder unmenschlich kalt bin oder dass ich insgeheim innerlich zerbreche.
Ich hab so ziemlich die ganze Nacht durchgeweint. Heute Morgen hab ich so aufgedunsen und fleckig ausgesehen, dass ich Danielle erzählt habe, das wäre eine allergische Reaktion auf Meeresfrüchte.
Von Beth an Jennifer: Du hättest besser zu Hause bleiben sollen.
Von Jennifer an Beth: Ich will nicht, dass die Leute anfangen, sich zu fragen, warum ich so oft krank bin.
Von Beth an Jennifer: Wenn die den Grund wüssten, würden sie dir nur zu gerne ein paar Tage extra freigeben.
Von Jennifer an Beth: Ich will nicht, dass man mich bemitleidet. Obwohl das eigentlich gar nicht stimmt. Ich will, dass mich die ganze Welt bemitleidet. Ich bin erbärmlich und jämmerlich. Aber ich will nicht, dass die Leute Mitleid mit mir haben, wenn das bedeutet, dass sie über meine Gebärmutter nachdenken.
Von Beth an Jennifer: Geht es dir heute denn besser? Bist du erleichtert, dass du es endlich rausgelassen hast?
Von Jennifer an Beth: Ich weiß nicht. Ich will immer noch nicht darüber reden.
Von Beth an Jennifer: Aber über Meinen süßen Typen können wir doch reden, oder?
Von Jennifer an Beth: Bis er uns zu den Ohren rauskommt.
Von Beth an Jennifer: Ich kann einfach nicht fassen, dass du ihn wirklich getroffen hast. Ich renne ihm seit Monaten hinterher, ohne auch nur mehr als flüchtigen Blickkontakt hinzubekommen, und du triffst ihn wirklich und wahrhaftig. Und du hast ihn ja nicht einfach nur getroffen. Du hattest eine Begegnung der süßen Art, ein Meet-Cute. Ist es sehr übel, wenn ich jetzt eifersüchtig auf dich bin?
Von Jennifer an Beth: Was ist denn ein Meet-Cute?
Von Beth an Jennifer: Das ist der Moment in einem romantischen Film, in dem die beiden Hauptfiguren sich kennenlernen. Das ist nie eine ganz normale Begegnung. Nie einfach nur: »Harry, darf ich dir Sally vorstellen? Sally, das ist Harry.« Die treffen sich immer auf eine spezielle Art und Weise, eher wie: »Hey, Ihretwegen hab ich jetzt Schokolade in meiner Erdnussbutter!«/»Was soll das denn heißen? Sie sind schuld, dass ich jetzt Erdnussbutter in meiner Schokolade habe!«
Wenn dich ein gut aussehender Mann rettet (weil du in einem Parkhaus weinst), dir den Reifen wechselt und seine Fritten mit dir teilt, dann ist das definitiv wie bei einem Meet-Cute.
Verdammt, eigentlich sollte ich doch das Meet-Cute haben.
Von Jennifer an Beth: Dein Meet-Cute wäre ungefähr so gelaufen: »Hey, Ihretwegen hab ich jetzt Schokolade in meiner Erdnussbutter!«/»Tut mir leid, ich habe einen festen Freund.«
Außerdem sollte ich vielleicht auch noch erwähnen, dass wir im eisigen Regen standen. Eisiger Regen ist so ganz und gar nicht süß.
Von Beth an Jennifer: Du hast ihn immerhin mit nassen Haaren zu Gesicht bekommen …
Also, jetzt erzähl mir mal alles ganz genau, welchen Eindruck hat er auf dich gemacht? Das klingt ja eher so, als fändest du ihn merkwürdig.
Von Jennifer an Beth: Merkwürdig würde ich nicht sagen. Eher linkisch, ein bisschen schüchtern. Das schien ihm alles total unangenehm zu sein – als würde er mich nur deshalb nicht da stehen lassen, weil er dafür viel zu galant und anständig ist.
Von Beth an Jennifer: Also linkisch, galant, anständig …
Von Jennifer an Beth: Und so nett. Es war doch wirklich lieb von ihm, dass er geblieben ist und gewartet hat, bis ich mich wieder zusammengerissen hatte. Eine Menge Typen wären einfach gegangen oder hätten höchstens den Notruf verständigt.
Von Beth an Jennifer: Linkisch, ritterlich, anständig, lieb …
Von Jennifer an Beth: Und wirklich, wirklich süß. Du hast nicht übertrieben. Nicht so wie ein Model. Eher auf altmodische Art und Weise. Und je genauer ich ihn mir angeschaut habe, desto niedlicher wurde er. Er ist der reinste Kleiderschrank. Ich hab beinahe damit gerechnet, dass er mein Auto mit bloßen Händen hochhebt.
Von Beth an Jennifer: Ein Typ wie ein Schrank, aber mit Klamotten, als hätte er gerade auf der Wissenschaftsmesse den ersten Preis geholt. Wie süß ist das denn?
Von Jennifer an Beth: Sehr süß.
Von Beth an Jennifer: Also werde ich von nun an wohl auf dem Kiesplatz parken. Dessen bist du dir doch bewusst, oder?
Von Jennifer an Beth: Bloß nicht. Dieser Parkplatz ist so was von unheimlich. Bleib lieber beim Pausenraum.