Kapitel 12
Dieses Wochenende hatte Lincoln Lust, abends auszugehen. Aber so richtig.
Am Samstagabend spielte er sonst eigentlich immer Dungeons & Dragons. Dafür traf er sich schon seit dem College immer mit denselben fünf oder sechs Leuten. Noch etwas, das Eve für äußerst hinderlich hielt.
»Es kommt mir fast so vor, als würdest du den Frauen mit Absicht aus dem Weg gehen«, meinte Eve dazu.
»Da kommen doch auch Frauen«, entgegnete Lincoln. Eine zumindest. Christine war schon immer das einzige weibliche Mitglied der Gruppe gewesen. Direkt nach dem College hatte sie Dave geheiratet, einen kräftigen Typen, der gerne den Spielleiter gab, und die Partien wurden definitiv in ihr Wohnzimmer verlegt.
»Könntest du mit deinen Dungeons-&-Dragons-Freunden nicht mal irgendwas anderes unternehmen?«, hatte Eve vorgeschlagen. »Ihr könntet zum Beispiel mal irgendwo hingehen, wo ihr alle ein paar Frauen kennenlernen könnt?«
»Das denke ich nicht«, meinte Lincoln. »Die anderen sind nämlich alle verheiratet.«
Na ja, außer Troy. Aber selbst Lincoln war klar, dass Troy nicht der Typ war, den man mitnahm, wenn man Frauen aufreißen wollte. Troy glaubte, dass jeder – wirklich absolut jeder – über Babylon 5 reden wollte. Er hatte einen buschigen blonden Bart und trug eine Mathelehrer-Brille mit Metallrahmen, und er mochte Lederwesten.
Vielleicht hatte Eve recht. Vielleicht brauchte Lincoln wirklich mal ein wenig Abwechslung.
Er rief Troy am Freitag an und sagte Bescheid, dass er sich nach einer anderen Mitfahrgelegenheit zum wöchentlichen D-&-D-Spiel umsehen musste. (Troy hielt nichts davon, sich ein eigenes Auto zuzulegen.) Und dann wählte Lincoln Justins Nummer.
Justin war genau der Typ Mann, den man mitnahm, wenn man Frauen aufreißen wollte.
Lincoln und Justin waren zusammen zur Highschool gegangen. Sie hatten beide im Schulteam Golf gespielt und im Chemielabor nebeneinandergesessen. Und als Lincoln in seinem zweiten Collegejahr – oder dem, was eigentlich sein zweites Collegejahr sein sollte – nach Nebraska wechselte, waren sie im selben Studentenwohnheim gelandet.
Justin hatte Lincoln sofort in seine College-Clique aufgenommen. Sie hingen zusammen in ihren Schlafräumen ab, spielten Sega Mega Drive und bestellten üble Pizzas. Manchmal schlichen sie sich beim Frauenturnen ein. Ab und zu besorgte jemand einen Kasten Bier.
Justins Freunde gehörten nicht unbedingt zu den Menschen, deren Gesellschaft Lincoln von sich aus gesucht hätte. Aber sie akzeptierten ihn, ohne Fragen zu stellen, und dafür war er dankbar. Er gewöhnte sich an, jeden Tag eine Baseball-Kappe zu tragen, und wurde richtig gut bei Sonic the Hedgehog.
Im nächsten Jahr nahmen sich die Jungs gemeinsam eine Wohnung außerhalb des Campus. Lincoln blieb im Wohnheim, weil die Kosten von seinem Stipendium gedeckt wurden. Danach sah er sie dann nicht mehr so oft … Er hatte schon mindestens seit zwei Jahren nicht mehr mit Justin gesprochen und ungefähr genauso lange auch keine Kneipe mehr von innen gesehen.
»Heiliger Linc! Alter. Was geht ab, du Arschwichser?«
»Du weißt schon, alles wie immer.« Lincoln hatte Justin im Krankenhaus angerufen, wo er in der Marketing-Abteilung arbeitete. Lincoln verstand nicht so recht, wozu ein Krankenhaus eine Marketing-Abteilung brauchte. Wem wollten sie da was andrehen, etwa den Kranken?
»Gehst du noch zur Uni?«, fragte Justin.
»Nein, ich hab meinen Abschluss gemacht … mal wieder. Ich bin wieder in der Stadt und bei meiner Mom, du weißt schon, fürs Erste.«
»Hey, Mann, willkommen daheim. Lass uns doch was zusammen machen! Mal wieder quatschen. Ehrlich gesagt könnte ich ein wenig Gesellschaft gebrauchen. Bist du verheiratet?«
»Nicht einmal annähernd.«
»Gut. Ich sage dir, all die anderen Wichser haben mich total hängenlassen. Was soll ich denn bitte schön machen, etwa allein in Kneipen rumhängen? Wie irgend so ein Perverser? Ich mache Party mit meinem kleinen Bruder, aber das bringt’s so gar nicht. Der pumpt mich immer an, und außerdem kriegt er die ganzen Weiber ab. Und er hat immer noch alle Haare, der kleine Mistkerl.«
»Ja, cool, super«, sagte Lincoln. Er war erleichtert, weil Justin direkt die Initiative übernommen hatte. »Genau deshalb ruf ich auch an. Ich arbeite jetzt meistens abends, deshalb geh ich nicht viel raus, aber ich dachte, wir könnten vielleicht versuchen, einen Termin zu finden, der uns beiden passt …«
»Geht klar, Alter. Arbeitest du morgen Abend?«
»Nein. Morgen Abend ist perfekt.«
»Ich hol dich um neun ab, geht das in Ordnung? Wohnt deine Mutter immer noch im selben Haus?«
»Ja, ja.« Lincoln lächelte. »Selbes Haus, wie immer. Dann bis morgen um neun.«
Justin fuhr in dem riesigsten Geländewagen vor, den Lincoln je gesehen hatte. Knallgelb mit getönten Scheiben. »Kumpel, steig ein, du bist heute Beifahrer.«
Hinten im Wagen saßen bereits drei oder vier Typen. Lincoln meinte, Justins kleinen Bruder wiederzuerkennen. Der sah genauso aus wie Justin, nur ein wenig größer, ein wenig frischer. Justin selbst hatte sich seit der Highschool nicht groß verändert. Ein eher kleiner Typ mit Falten rund um die Augen und aschblondem Haar. Ein sauberes Polohemd. Schlichte Jeans. Eine makellose Baseball-Kappe. Im Wohnheim hatte er damals so ein Teil, das den Schirm perfekt der Kappen-Rundung anpasste.
»Lass dich mal anschauen.« Justin grinste. Er konnte mit Zigarette im Mund lächeln und reden. »Meine Fresse.«
»Schön, dich zu sehen«, rief Lincoln, allerdings nicht laut genug, um die Musik im Wagen zu übertönen. Guns ’N Roses, Welcome to the Jungle. Lincoln konnte die Verstärker nicht entdecken, aber es hörte sich so an, als wummerten sie direkt unter ihm.
»Wo sind denn die Lautsprecher?«, brüllte Lincoln. »In den Sitzen?«
»Ja, genau. Wahnsinn, oder? Als würde dir Axl Rose in den Hintern kriechen.«
»Das hättest du wohl gerne, was?«, rief jemand vom Rücksitz. Hinten war Platz für drei Leute. Justin zeigte ihnen nur den Stinkefinger und redete weiter.
»Beachte diese kleinen Schmarotzer gar nicht. Die musste ich mitbringen, ich bin heute der Fahrer. Aber die machen uns keine Konkurrenz, die sehen sich eher in der Kinderabteilung um.«
»Kein Problem«, meinte Lincoln.
»Was?«
»Kein Problem!« Lincoln machte sich da keine Sorgen, er hatte nicht vor, jemanden abzuschleppen.
Sie fuhren aus der Stadt hinaus und hielten bei einem Einkaufszentrum, vor einem Lokal namens Steel Guitar.
»Ist das nicht ’ne Country-Kneipe?«, fragte Lincoln.
»War’s früher mal, als Line Dancing plötzlich total in war. Inzwischen ziehen sie die Nummer nur noch ein Mal die Woche ab. Donnerstags, glaub ich.«
»Und was läuft hier sonst?«
»Das Übliche. Hier gehen die Mädels hin, also treten auch wir hier an.«
Es war bereits rappelvoll. Auf der Tanzfläche bewegten sich Leute, und es wurde Hip Hop gespielt – und zwar der üblen Art, dröhnende Bässe und Rumgekeife über fette Autos. Justin entdeckte einen Tisch direkt an der Tanzfläche und winkte einer der Kellnerinnen zu, die einen Patronengurt voller Schnapsgläser trug. An ihrem Gürtel baumelten Flaschen mit alkoholischen Getränken. Das sah so aus, als müsste es irre viel wiegen. »Zwei Jägermeister, Miss«, bestellte Justin. »Danke.«
Er schob Lincoln ein Schnapsglas zu und erhob sein eigenes.
»Auf dich, Lincoln. Auf den Absolventen!«
Lincoln stieß mit ihm an, und es gelang ihm, das Glas auf ex zu leeren.
»Ich dachte, du wärst heute der Fahrer«, bemerkte Lincoln.
»Bin ich auch.« Justin zündete sich eine neue Zigarette an.
»Ich dachte, das heißt, dass man nichts trinkt.«
»Nein, das heißt lediglich, dass man sich nicht betrinkt. Oder sich so früh betrinkt, dass der Effekt wieder verpuffen kann …« Justin bestellte bereits zwei neue Schnäpse und begann, die Kneipe unter die Lupe zu nehmen.
Sie war riesig wie eine Höhle oder ein Stollen, und alles war schwarz gestrichen. Irgendwo musste eine Nebelmaschine stehen, und alles war in Schwarzlicht getaucht. Unter der Decke hing im Dunkeln eine Metallskulptur, die eine Gitarre darstellte und ziemlich teuer aussah.
Und da waren dann auch noch die Frauen. Die meisten tanzten allein oder mit einer Freundin. Mitten auf der Tanzfläche bildete eine Junggesellinnenparty einen Kreis. Das war keine gute Musik, um zu tanzen; man konnte nicht viel mehr machen, als vornübergebeugt im Takt zu nicken. Die Mädels sahen alle so aus, als würden sie derselben traurigen Geschichte lauschen. »O ja, ja, ja, wie schrecklich. Ja, ja, ja.«
Ein paar von ihnen waren auf die erhobenen schwarzen Plattformen im hinteren Teil der Tanzfläche geklettert, unter einer Reihe blitzender grüner Lichter. Sie rieben beim Tanzen ihre Hüften aneinander, umfingen das Becken der anderen mit den Oberschenkeln und bogen den Oberkörper nach hinten. Es war unangenehm antörnend, als würde man auf einem Dixieklo masturbieren.
Auch Justin sah ihnen zu. »Fiese Dinger«, kommentierte er und schüttelte den Kopf. »Als wir in dem Alter waren, hätten die Mädchen noch nicht einmal mit den Jungen so getanzt.
Guck mal da hinten«, fuhr Justin fort und zeigte in Richtung Tür. »Das ist unsere Garde. Die sind sich zu schade, um ihrer besten Freundin mit der Hüfte einen runterzuholen, aber nicht, um unsere Einladung auszuschlagen.«
Justin war bereits auf dem Weg, also folgte Lincoln ihm. Sie blieben an einem Tisch stehen, an dem zwei Frauen saßen und im Takt der Musik nickten. Bei diesem Licht hätte Lincoln nicht sagen können, wie alt sie waren. Er konnte sie ja kaum auseinanderhalten. Sie waren beide jung und eher blond, in derselben typischen Samstagabendaufmachung – Trägershirt, BH-Träger in Bonbonfarben, zottelige schulterlange Haare und blassbeige Lippen.
»Hallöchen!«, grüßte Justin. »Dürfen wir uns dazusetzen? Die Runde geht auf meinen Freund Lincoln hier.«
Die Mädchen lächelten und griffen nach ihren schwarzen Rucksack-Handtaschen, um Platz zu machen. Lincoln setzte sich da hin, wo Justin sich nicht hingesetzt hatte, und lächelte das Mädchen neben sich an. Seltsamerweise war er überhaupt nicht nervös. Dieser Ort und dieses Mädchen waren so weit von seinem alltäglichen Leben entfernt, dass sie gar nicht echt zu sein schienen. Weniger real jedenfalls als all die Frauen, denen er sonst so auf dem Bürgersteig und in Korridoren aus dem Weg ging. Außerdem war er ja mit Justin da, der die Initiative ergriff, das Eis brach und Getränke bestellte. Aber was hatte der bloß mit dem Jägermeister? Und wie viele Gläschen davon hatte Lincoln bereits runtergeschüttet? Zwei? Drei? Also mindestens drei.
»Ich bin Lisa«, stellte sie sich vor und hielt ihm ihre kleine, manikürte Hand entgegen.
»Lincoln«, antwortete er und lächelte. »Kann ich dir was zu trinken holen?«
»Dein Freund hat gerade für uns bestellt.«
»Oh, stimmt, sorry, ja …«
»Aber vielleicht hast du ja eine Zigarette für mich.«
»Tut mir leid«, entgegnete er. »Ich rauche nicht.«
»Das ist schon okay. Ich eigentlich auch nicht. Ich meine, ich rauche schon, in der Kneipe oder auf Partys und so. Ich hasse den Geruch. Aber ich denke immer, wenn ich sowieso nach Rauch stinken werde, dann kann ich mir genauso gut auch eine anstecken.«
»Mein Kumpel hat Kippen …« Lincoln drehte sich zu Justin um, aber der war schon mit seinem Mädchen auf dem Weg in Richtung Tanzfläche. Verdammt. Tanzen wollte Lincoln nun wirklich nicht.
»Egal, vergiss es«, sagte Lisa.
»Willst du tanzen?«, fragte Lincoln.
»Ja, schon. Und du?«
»Eigentlich nicht. Ist das okay?«
»Klar.« Sie nickte. »Da kann man sich dann sowieso nicht unterhalten.«
Jetzt war Lincoln dann doch nervös. Justin hatte den ganzen Kick des Abends mit auf die Tanzfläche genommen. »Also«, fragte er das Mädchen, »womit verdienst du denn deine Brötchen?«
»Ich bin Zahnhygienikerin. Und was machst du so?«
»Computer.«
Sie nickte und lächelte. »Computer«, echote sie. »Das ist toll.« Ihr Blick begann, durch den Raum zu schweifen. Sie tranken aus, und Lincoln bestellte noch eine Runde, nur um etwas zu tun zu haben. Er hätte vorher was essen sollen. Wirklich blöd, dass das keine Country-Kneipe mehr war, in Country-Kneipen hatten sie doch immer Erdnüsse, oder? Vielleicht war das nur in Filmen so, damit die Schauspieler etwas mit ihren Händen anzufangen wussten …
Lisa zerriss ihren Bierdeckel in kleine Schnipsel und rappte im Flüsterton mit. Er überlegte, aufzustehen und zu gehen, damit sie die Chance hatte, noch jemand anderen kennenzulernen. Sie würde sicher noch jemand anderen treffen. Sie war hübsch … vermutlich. In diesem Schwarzlicht mit grünen Blitzen sah sie eher aus wie ein eine Woche alter blauer Fleck. Genauso wie alle anderen.
»Das ist wirklich ein übler Ort, um Leute kennenzulernen«, meinte Lincoln.
»Was?« Lisa lehnte sich zu ihm vor.
»Das ist wirklich ein übler Ort, um Leute kennenzulernen«, wiederholte er, diesmal lauter.
Lisa sog an ihrem winzigen Strohhalm. Sie hielt inne, den Trinkhalm noch immer im Mund, und sah ihn an, als überlege sie, ob sie augenblicklich aufstehen und gehen oder doch besser auf ihre Freundin warten sollte. Das konnte ganz schön dauern. Justin und das andere Mädchen hatten inzwischen die Tanzfläche verlassen und sich in eine Ecke verzogen. Als der Scheinwerfer sich drehte, konnte Lincoln sehen, dass sie sich küssten. Justin hielt noch immer eine brennende Zigarette und eine Flasche Bier in der Hand.
»Tut mir leid«, beteuerte Lincoln. »Ich wollte damit nicht sagen, dass du übel bist. Es ist einfach ein übler Ort, um überhaupt jemanden kennenzulernen.« Lisa starrte ihn immer noch aus zusammengekniffenen Augen an. »Findest du es hier etwa gut?«, fragte er sie schließlich.
»Ist doch okay hier.« Sie zuckte mit den Achseln. »Wie jede andere Kneipe auch.«
»Eben. Die sind doch alle schrecklich.«
»Wie viel hast du eigentlich getrunken?«, erkundigte sie sich. »Du bist doch hoffentlich nicht einer von denen, die einen Depri schieben, wenn sie getrunken haben, oder?«
»Keine Ahnung, ich bin nicht so oft betrunken. Aber hier drinnen muss man doch einfach depressiv werden, meinst du nicht?«
»Also, ich werde hier nicht depressiv«, erwiderte sie.
»Dann hast du vielleicht nicht gut genug hingesehen.« Er brüllte, damit sie ihn über den Lärm hinweg hörte, aber das ließ ihn aggressiv wirken. »Ich meine, schau dich doch mal um! Und hör dir diese Musik an!«
»Donnerstags spielen die hier auch Country. Magst du denn keinen Rap?«
»Nein«, bestätigte er und schüttelte heftig den Kopf. Jetzt war er wütend. Eigentlich nicht auf Lisa. Einfach nur wegen der ganzen Situation. Er kam sich vor wie Martin Luther, plötzlich war ihm das alles zu viel. »Es geht mir gar nicht um die Musik«, meinte er. »Es ist nur, na ja, du bist doch sicher hergekommen, um jemanden kennenzulernen, oder? Einen Typen?«
»Stimmt.«
»Vielleicht den Typen, richtig?«
Sie senkte den Blick und starrte auf ihren Drink. »Stimmt.«
»Und wenn du an diesen Typen denkst – und der bin ich ganz bestimmt nicht, das wissen wir beide –, wenn du daran denkst, wie du den triffst, stellst du dir euer erstes Zusammentreffen dann so vor? In so einem üblen Loch? Wo es so laut ist? Willst du etwa, dass er nach Jägermeister und Zigaretten riecht? Willst du, dass euer erster Tanz von einem Song über Stripper begleitet wird?«
Sie sah sich im Lokal um und zuckte wieder mit den Achseln. »Vielleicht.«
»Vielleicht? Nein, natürlich nicht, ganz bestimmt nicht.«
»Erzähl du mir nicht, was ich will«, knurrte Lisa und kramte auf der Suche nach einer Zigarette in der Tasche ihrer Freundin.
»Du hast recht«, sagte Lincoln. »Tut mir leid.«
Sie fand eine Kippe und steckte sie sich in den Mund. Da hing sie dann unangezündet an ihren Lippen. »Wo soll ich denn sonst einen Typen finden?«, fragte sie und schaute den Leuten auf der Tanzfläche zu. »Vielleicht im Park?«
»Ein Park wär doch super«, sagte er. »Ich würde für einen Single-Park sogar Eintritt bezahlen.«
»Das hört sich an, als würde es die Kirchengemeinde meiner Mutter organisieren.« Sie wühlte wieder in der Tasche ihrer Freundin. »Ich denke, wenn ich einen Typen kennenlernen würde, du weißt schon, den Typen, dann wäre es mir egal, wo wir sind oder wie er riecht. Dann wäre ich einfach nur, na ja, eben glücklich …
Hör mal«, fuhr sie fort und stand auf. »Es war schön, dich kennenzulernen. Ich werd mal schauen, ob irgendwer Feuer für mich hat.«
»Oh … hm, okay …« Er wollte aufstehen, stieß mit dem Kopf aber gegen eine Budweiser-Reklame-Leuchte und setzte sich wieder. »Hat mich auch gefreut, dich kennenzulernen.«
Er verspürte schon wieder das Bedürfnis, sich zu entschuldigen, aber er sagte nichts mehr.
Und er sah ihr auch nicht nach.
Als Justin eine Stunde später zurückkam, saß Lincoln immer noch am selben Tisch. »Alter, du musst mir einen Gefallen tun. Ich bin viel zu voll, um mich ans Steuer zu setzen, kannst du meinen Wagen zurückfahren?«
»Hm, ich bin nicht so sicher, ob …«
»Linc, im Ernst.« Justin legte seinen Schlüsselbund auf den Tisch. »Ich gehe mit Dena nach Hause.«
»Aber was ist denn mit den anderen, dein Bruder …«
»Ich glaube, die sind eh schon weg.«
»Was?«
»Ich hole den Wagen morgen früh ab. Schließ ihn einfach ab und leg den Schlüssel unter die Fußmatte.«
»Ich glaube wirklich nicht …« Lincoln griff nach den Schlüsseln und versuchte, sie Justin zurückzugeben, aber der war schon weg.
Eve saß am Küchentisch, als Lincoln am nächsten Nachmittag runterkam. Er hatte die Nacht auf einem der Rücksitze in Justins Wagen verbracht und war im Morgengrauen nach Hause gefahren. Sein Nacken fühlte sich immer noch so an, als läge er auf einer Armlehne, und er hatte einen üblen Geschmack im Mund, nach Lakritz und verfaultem Fleisch.
»Was machst du denn hier?«, fragte er seine Schwester.
»Na, guten Morgen, Sonnenschein. Ich hab die Jungen mitgebracht, damit sie ein wenig mit Mom spielen.«
Er sah sich in der Küche um und ließ sich dann schwerfällig auf einem Stuhl neben seiner Schwester nieder.
»Sie sind hinterm Haus und bauen eine Festung«, erklärte sie. »Im Ofen sind Frühlingsrollen. Und wir haben auch gebratenen Reis, hast du Hunger?«
Lincoln nickte, machte aber keine Anstalten, sich zu bedienen. Er dachte bereits über all die Dinge nach, die er tun würde, wenn er endlich die Energie hatte, aufzustehen. Wie zum Beispiel, wieder ins Bett zu gehen. Das stand auf seiner Liste ganz oben.
»Meine Güte.« Seine Schwester lachte und stand auf, um ihm etwas zurechtzumachen. »Du musst ja eine harte Nacht hinter dir haben.«
Wie sie da am Herd stand und im Reis herumrührte, sah seine Schwester aus wie eine jüngere Ausgabe ihrer Mutter – eine ältere jüngere Ausgabe. Mit sechsunddreißig Jahren sah Eve aus wie ihre Mutter mit sechsundvierzig. »Von Verantwortung kriegt man Falten«, sagte seine Schwester oft, wenn ihre Mutter nicht dabei war. »Eve sieht immer so müde aus«, kommentierte seine Mutter oft, egal ob Eve dabei war oder nicht.
»Mum meinte, du wärst erst um sieben nach Hause gekommen«, sagte Eve und reichte ihm einen Teller. »Sie ist übrigens stinksauer.«
»Warum sollte sie sauer sein?«
»Weil du nicht angerufen hast. Weil sie die halbe Nacht wach geblieben ist und auf dich gewartet hat.«
Lincoln aß einen Bissen und wartete einen Moment ab, um zu sehen, ob sein Magen ihm schon vergeben hatte. »Was ist denn in den Frühlingsrollen drin?«, fragte er.
»Ziegenkäse, glaube ich, und vielleicht Lachs.«
»Die sind echt lecker.«
»Ich weiß«, stimmte sie zu. »Ich hab vier davon verputzt. Jetzt hör schon auf, mich hinzuhalten, und erzähl, wo du die ganze Nacht gesteckt hast.«
»Ich war mit Justin auf der Piste.«
»Und, hast du jemanden kennengelernt?«
»Genau genommen ja«, erklärte er mit vollem Mund.
»Hast du die Nacht bei einer Frau verbracht?«
»Nein. Ich hab betrunken auf dem Rücksitz von Justins Auto geschlafen. Steht da immer noch ein gelber Geländewagen in der Auffahrt?«
»Nein.« Eve sah enttäuscht aus.
»Warum guckst du mich so an?« Lincoln fühlte sich schon wieder besser. Vielleicht würde er sogar schnell noch duschen, bevor er wieder ins Bett ging. »Würdest du lieber von mir hören, dass ich die ganze Nacht lang außerehelichen Sex mit einem Mädchen hatte, das ich gerade erst im Steel Guitar aufgerissen habe?«
»Was machst du denn in einer Country-Kneipe?«
»Country spielen sie da mittlerweile nur noch donnerstags.«
»Oh. Okay.« Eve schnappte sich eine seiner Frühlingsrollen. »Du hättest die ganze Nacht wach bleiben und dich mit einem Mädchen unterhalten können, das du gerade erst im Steel Guitar kennengelernt hast. Das würde ich nur zu gerne hören.«
»Okay«, grunzte er und stand auf, um sich Nachschub zu holen. »Nächstes Mal werde ich dir genau das erzählen.«