Kapitel 37
Sie hatte ihn verlassen. Das war alles. So schlimm war es auch nicht gewesen. Sie waren ja schließlich nicht verheiratet gewesen. Es war ja nicht so, als hätte sie ihn vor dem Altar stehen lassen oder sich mit seinem besten Freund und den Ersparnissen für ihren Lebensabend davongemacht.
Sie hatte ihn verlassen. Es werden ständig Leute verlassen. Vor allem im College. Und die schmeißen dann nicht die Uni. Verschwinden nicht von der Bildfläche. Und nutzen während der nächsten zehn Jahre nicht jede sich bietende Gelegenheit, um wieder daran zu denken.
Wenn Lincolns erstes Jahr an der Uni eine Folge der Serie Zurück in die Vergangenheit gewesen wäre, dann wäre Scott Bakula nach Weihnachten wieder mit dem Bus zurückgefahren, hätte das Jahr zu Ende gebracht wie ein Mann und dann bei der Universität von Nebraska angerufen, um sich dort nach finanzieller Unterstützung zu erkundigen. Oder vielleicht hätte er die Uni überhaupt nicht gewechselt. Vielleicht wäre Scott Bakula in Kalifornien geblieben und hätte die hübsche Kommilitonin aus Lincolns Lateinkurs gefragt, ob sie nicht mit ihm einen Susan-Sarandon-Film anschauen wollte.
»Magst du Bassets?«
Lincoln saß im Pausenraum des Courier, aß hausgemachte Kartoffelsuppe und dachte immer noch über Scott Bakula und Sam nach, als Doris ihn ansprach. Sie füllte den Automaten hinter ihm mit Pepsi auf.
Lincoln war sich nicht so ganz sicher, was Doris eigentlich für eine Aufgabe hatte. Wenn er sie sah, dann füllte sie immer gerade einen Automaten auf, aber das konnte ja wohl kein Vollzeitjob sein. Sie war über sechzig, hatte kurzes, gelocktes Haar und trug eine rote Weste, so eine Art Uniform, und eine große Brille.
»Wie bitte?«, fragte er und hoffte, höflich zu klingen und nicht nur verwirrt.
»Bassets«, wiederholte sie und zeigte auf die offene Zeitung vor ihm. Darin gab es ein Foto von einer Frau, die einen Dachshund auf dem Schoß hatte.
»Ich würde mir niemals einen Basset zulegen, wenn ich so nah am Meer wohnen würde«, sagte sie. Lincoln schaute sich das Foto an. Er konnte nirgendwo das Meer sehen. Doris dachte vermutlich, dass er den Artikel schon gelesen hatte.
»Die können nämlich nicht schwimmen«, erklärte sie. »Das sind die einzigen Hunde, die nicht schwimmen können. Sie sind zu fett, und ihre Beine sind zu kurz.«
»Wie Pinguine«, bemerkte Lincoln ein wenig einfältig.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass Pinguine schwimmen können«, widersprach Doris. »Ein Basset hingegen würde schon in einer Badewanne ertrinken. Wir hatten mal eine Basset-Hündin namens Jolene. Oh, sie war so ein süßes kleines Ding. Ich hab die ganze Nacht geweint, als wir sie verloren haben.«
»Ist sie ertrunken?«, hakte Lincoln nach.
»Nein«, seufzte Doris, »Leukämie.«
»Oh, das tut mir leid.«
»Wir haben sie einäschern lassen. Und eine hübsche Kupferurne für sie ausgesucht. Die ist nur so groß«, erklärte sie und hielt eine Dose Wildkirsch-Pepsi hoch. »Kannst du dir das vorstellen? Ein ausgewachsener Hund wie Jolene in einer winzigen, winzigen Urne? An uns allen ist ja wohl nicht viel dran, wenn das ganze Wasser fehlt. Was meinst du, wie viel ist dann noch von einer Person übrig?« Sie wartete auf eine Antwort.
»Wahrscheinlich weniger als zwei Liter«, erwiderte Lincoln, der immer noch das Gefühl hatte, es wäre unhöflich, sich so zu benehmen, als wäre das irgendetwas anderes als eine ganz normale Unterhaltung.
»Wahrscheinlich hast du recht.« Doris nickte traurig.
»Wann ist sie denn gestorben?«, erkundigte er sich.
»Das war, als Paul noch lebte, mal sehen, also vor sechzehn Jahren. Danach hatten wir noch zwei andere Bassets, aber die waren nicht wie Jolene … Schätzchen, wenn du noch Wechselgeld brauchst, jetzt hab ich die Maschine gerade offen.«
»Nein, danke«, lehnte Lincoln ab.
Doris schloss den Pepsi-Automaten wieder. Sie redeten noch ein bisschen über Jolene und über Doris’ verstorbenen Ehemann, Paul, den sie zwar vermisste, an den sie aber nicht so oft dachte wie an Jolene. Paul hatte geraucht und getrunken und sich geweigert, Gemüse zu essen. Selbst Mais.
Als sie schließlich bei Dolly, ihrem ersten Basset, und Al, ihrem ersten Ehemann, ankamen, hatte Lincoln längst vergessen, dass er sich eigentlich nur aus Höflichkeit mit Doris unterhielt.
Am nächsten Tag ging er nicht ins Büro. Stattdessen besuchte er seine Schwester und half ihr, die Weihnachtsdekoration vom Dachboden zu holen. »Warum bist du denn nicht bei der Arbeit?«, fragte sie, während sie eine Kette mit Plastikpreiselbeeren entwirrte. »Hattest du einfach Lust, dir mal eine Pause zu gönnen?«
Er zuckte mit den Achseln und griff nach einer anderen Schachtel. »Ja. Eine Pause vom Pausemachen.«
»Was ist denn los?«, fragte sie.
Er hatte bei Eve vorbeigeschaut, weil er wusste, dass sie das fragen würde. Und er hatte gehofft, dass er eine Antwort parat hatte, wenn sie fragte. In ihrer Gegenwart fügten sich häufig die Puzzleteilchen zusammen.
»Ich weiß auch nicht«, erwiderte er. »Ich hab einfach das Gefühl, dass ich irgendwas tun muss.«
»Was denn?«
»Keine Ahnung. Und genau da liegt das Problem. Oder das ist zumindest ein Teil des Problems. Ich komme mir vor, als würde ich schlafwandeln.«
»Du siehst auch wie ein Schlafwandler aus«, stimmte sie zu.
»Und ich weiß nicht, wie ich wieder aufwachen kann.«
»Tu irgendwas«, riet Eve ihm.
»Was denn?«
»Verändere irgendwas.«
»Hab ich doch«, meinte Lincoln. »Ich bin wieder zu Hause eingezogen und habe mir Arbeit gesucht.«
»Dann hast du vielleicht noch nicht das Richtige geändert.«
»Wenn das ein Film wäre«, murmelte er, »dann würde ich mein Leben umkrempeln, indem ich mich als Freiwilliger für die Arbeit mit behinderten Kindern oder mit alten Menschen melde. Oder vielleicht anfange, in einem Gewächshaus zu arbeiten … oder nach Japan umziehe, um dort Englisch zu unterrichten.«
»Ja? Und, wirst du irgendwas davon machen?«
»Nein. Ich weiß nicht. Vielleicht.«
Eve sah ihn ungerührt an.
»Vielleicht solltest du dich im Fitnessstudio anmelden«, schlug sie vor.