Kapitel 68
Als Lincoln aufwachte, schneite es. Er sollte Doris um zehn Uhr bei ihrer Wohnung treffen, aber er schaffte es nicht vor zehn Uhr fünfzehn. Er fand vor einer Bäckerei einen Parkplatz und wünschte, er hätte Zeit, um kurz reinzugehen.
Es gab in der Stadt nicht viele Viertel wie dieses. Eine Mischung aus teuren, alten Häusern, großen Backsteinbauten mit Mietwohnungen, schicken Shops und Restaurants. Doris’ Gebäude war ein gelber Ziegelbau, vierstöckig mit Innenhof und einem kleinen Springbrunnen.
Lincoln rannte die Vordertreppe hinauf, wischte sich den Schnee aus den Haaren und drückte auf den Knopf neben ihrem Namen.
Sie drückte den Türöffner. »Dritter Stock«, rief sie von oben herunter. »Komm rauf!« Im Treppenhaus roch es gut. Staubig. Alt. Lincoln fragte sich, wie Doris es wohl jeden Tag mit ihrem bösen Knie die Treppen hoch geschafft hatte. Sie wartete an der Tür auf ihn.
»Schön, dass du da bist«, begrüßte sie ihn. »Die haben die Heizung schon abgestellt, und ich friere mir hier einen ab. Die Vitrine steht da drüben.«
Die Wohnung war leer bis auf die Vitrine, die in Blisterfolie eingepackt war. Lincoln sah sich im Wohnzimmer um, betrachtete die hohe Decke und die Wände mit cremefarbenem Putz. Der Holzfußboden war dunkel und zerkratzt, und die Lampen hätte man eher in einem alten Opernhaus erwartet. »Hast du hier lange gewohnt?«, fragte er.
»Seit unserer Hochzeit«, erklärte sie. »Wie wär’s mit dem großen dreißigsekündigen Rundgang?«
»Gerne.«
»Na ja, das ist eigentlich auch schon alles. Da hinten ist das Schlafzimmer.« Lincoln trat durch eine Tür in einen sonnendurchfluteten Raum. Hinter einer weiteren Tür befand sich ein winziges Bad, mit einer freistehenden Badewanne und einem altmodischen Waschbecken (klein, mit zwei Hähnen für warmes und kaltes Wasser).
»Da hinten ist die Küche«, erläuterte Doris. »Alles uralt. Die Arbeitsflächen sind hier schon seit dem Zweiten Weltkrieg drin. Du solltest mal meine neue Küche sehen – überall nur Corian.« Lincoln schaute sich die Küche an. Der Kühlschrank war neu, aber der Rest der Einrichtung kannte tatsächlich noch den Unterschied zwischen Red Skelton und Red Buttons. An der Wand hing ein Telefon mit Drehscheibe. Lincoln streckte die Hand aus, um den Hörer aus Bakelit zu berühren.
»Wirst du die Wohnung vermissen?«, fragte er.
»Oh, wahrscheinlich«, meinte Doris. »Wie das eben so ist.« Sie öffnete die Schubladen in der Küche, um nachzusehen, ob sie auch wirklich nichts vergessen hatte. »Die Heizöfen werde ich jedenfalls nicht vermissen. Oder den Durchzug. Oder diese verdammten Treppen.«
Lincoln sah aus dem Fenster und hinunter in den Innenhof. »Ist es eigentlich schwierig, hier reinzukommen?«
»Na ja, das Gebäude ist ziemlich sicher.«
»Ich meine, wenn man hier was mieten will.«
»Warum, suchst du etwa eine Wohnung?«
»Ich … na ja …« Suchte er etwa eine?
Nein.
Aber wenn er eine suchen würde … dann hätte er nach genau so einer Wohnung gesucht.
»Auf dem Weg nach draußen können wir ja mal mit Nate, dem Hausmeister, sprechen. Der ist ein anständiger Typ. Einer von diesen trockenen Alkoholikern. Wenn er vergisst, die Toilette zu reparieren, dann macht er das anderweitig wieder gut.«
»Ja«, sagte Lincoln, »klar, lass uns mal mit ihm reden.«
Als er die Vitrine hochhievte, mahnte Doris: »Geh schön in die Knie.«
Nate erklärte, dass sich schon ein paar Leute nach der Wohnung erkundigt hatten, sie aber immer noch frei war, solange niemand ihm einen Scheck über die Kaution ausstellte. Lincoln hatte kein Scheckbuch dabei, aber Doris. »Ich weiß, dass du kreditwürdig bist«, versicherte sie.
Nate nahm Doris’ Schlüssel und reichte ihn Lincoln. »Das war heute aber leicht verdientes Geld«, bemerkte er.
Lincoln fuhr mit Doris zu ihrem Alterswohnsitz. Er trug ihr die Vitrine nach oben, lernte ihre Schwester kennen und bewunderte ihre Corian-Küche. Dann reichte Doris abgepackten Kuchen aus dem Supermarkt, und sie schauten sich Fotos von Paul und ihr und einer Reihe Bassets an.
»Mensch, ist das aufregend«, meinte sie, als sie ihn zu seinem Auto zurückbrachte. »Damit bleibt die Wohnung ja quasi in der Familie. Ich muss dich unbedingt allen Nachbarn vorstellen.«
Als sie davonfuhr, lief Lincoln zurück ins Gebäude, hinauf in den dritten Stock und öffnete die Tür zur Wohnung. Zu seiner Wohnung.
Er ging langsam von Raum zu Raum und versuchte, alles in sich aufzunehmen. Jeden einzelnen Winkel. Im Schlafzimmer gab es eine Fensterbank, die war ihm vorher gar nicht aufgefallen, und Lampen, die aus der Wand wuchsen wie Callas. Das Wohnzimmer hatte hohe Fenster mit Rahmen aus Eichenholz, und im Flur gab es einen Bereich, in dem Kacheln Besucher auf Deutsch »Willkommen« hießen.
Er würde sich ein Sofa kaufen müssen. Und einen Tisch. Und Handtücher.
Und er würde es seiner Mutter sagen müssen.